Bayerisches Staatsministerium des Innern G S U N S S Z F A T E R H U T V SC CH R I B 00 E 1 2 VERFASSUNGSSCHUTZ BERICHT 20 B AY E R N 01 Bayerisches Staatsministerium des Innern Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern, Odeonsplatz 3, 80539 München Gedruckt auf Recyclingpapier aus 100% Altpapier Hinweis: Der Verfassungsschutzbericht Bayern 2001 ist auch über das Internet abrufbar: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/sicherleben.htm http://www.verfassungsschutz.bayern.de Vorwort 3 Die menschenverachtenden Angriffe islamischer Terroristen auf Ziele in den USA am 11. September 2001 haben den Menschen in der westlichen Welt auf entsetzliche Weise vor Augen geführt, wie brüchig unsere vermeintliche Sicherheit ist. An die Stelle der 1989/90 zu Ende gegangenen Bedrohung durch kommunistisch regierte Staaten ist die Bedrohung von Freiheit und Sicherheit durch den islamischen Fundamentalismus getreten. Die Tatsache, dass einige der Attentäter zuvor jahrelang völlig unauffällig und legal in Deutschland lebten, belegt, dass Deutschland nicht nur als Ruhe-, sondern auch als Vorbereitungsraum diente. Die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden haben gezeigt, dass islamische Fundamentalisten in Europa ein weit verzweigtes Netz geschaffen haben und auch europäische Ziele anvisiert hatten. Daneben wollen vordergründig gewaltfrei operierende islamische Fundamentalisten auch in Deutschland einen Islamstaat errichten. Um dieser gestiegenen Bedrohung unserer wehrhaften Demokratie Rechnung zu tragen, wurde die Beobachtung des Ausländerextremismus im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz durch interne Umstrukturierung und durch die Bereitstellung von 50 neuen Stellen im Rahmen des Bayerischen Sicherheitspakets verstärkt. Die Bedrohung unserer Demokratie durch den Ausländerextremismus, insbesondere durch den islamischen Fundamentalismus, sowie die Reaktionen von Extremisten aller Art auf die Anschläge vom 11. September stellen einen Schwerpunkt dieses Berichts dar. Jedoch muss betont werden, dass von den in Deutschland lebenden Muslimen nur ein kleiner Teil als extremistisch und ein noch geringerer Teil als gewaltbereit einzustufen sind. Eine pauschale Verurteilung der in Deutschland lebenden Muslime wäre deshalb verfehlt. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsschutzes ist nach wie vor die Beobachtung des Rechtsextremismus. Auch während des Verbotsverfahrens hat die NPD ein aggressiv-kämpferisches Verhalten gezeigt und durch ihren Prozessvertreter Horst Mahler die Terrorangriffe des 11. September in unglaublicher Weise mit antisemitischen Äußerungen gerechtfertigt. Die NPD hat damit neues Beweismaterial für das Verbotsverfahren geliefert. Die aktuelle Diskussion über den Einsatz von so genannten V-Leuten in der NPD ist wichtig. Es muss klar werden, dass ein Nachrichtendienst nicht auf diese Quellen verzichten kann und diese ein legales Mittel darstellen, Informationen über die teilweise abgeschottete extremistische Szene zu sammeln. Mit der Funktion als Informationsquelle erschöpft sich dann aber auch die Aufgabe dieser V-Leute; eine Steuerung des Beobachtungsobjekts oder die Schaffung von Beweismaterial für ein Verbotsverfahren (Stichwort "agent provocateur") gehen damit nicht einher. Dies ist durch entsprechende Dienstvorschriften abgesichert. Der Verfassungsschutzbericht enthält daneben auch eine ausführliche Darstellung des Linksextremismus und zeigt die Notwendigkeit der weiteren Beobachtung der Scientology-Organisation sowie der Spionage-Aktivitäten und der Organisierten Kriminalität durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz. Unser besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, die vor allem als Folge der Anschläge vom 11. September einen enormen Arbeitsaufwand bewältigen müssen. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag für die Innere Sicherheit in unserem Lande. München, im März 2002 Dr. Günther Beckstein Hermann Regensburger Staatsminister Staatssekretär 4 Inhaltsverzeichnis 1. Abschnitt Verfassungsschutz in Bayern 1. Gesetzliche Grundlagen ............................................ 13 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes ............................ 13 3. Informationsbeschaffung ........................................... 14 4. Kontrolle ................................................................... 15 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ............ 16 6. Infound Beratungstelefone ...................................... 16 2. Abschnitt Entwicklung des politischen Extremismus im Jahr 2001 1. Rechtsextremismus .................................................... 18 2. Linksextremismus ....................................................... 20 3. Ausländerextremismus ............................................... 21 4. Scientology-Organisation ........................................... 22 5. Neue Erfassungskriterien für extremistisch motivierte Strafund Gewalttaten .............................................. 23 6. Graphische Darstellungen .......................................... 25 3. Abschnitt Rechtsextremismus 1. Allgemeines .............................................................. 27 1.1 Merkmale des Rechtsextremismus .............................. 27 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................ 28 1.3 Rechtsextremistische Gewalt ...................................... 30 2. Parteien, Organisationen und Verlage ......................... 31 2.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ...... 31 2.1.1 Ideologisch-politischer Standort ................................ 31 2.1.2 Organisation ............................................................. 36 2.1.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 38 2.1.4 Reaktionen auf die Verbotsinitiative ........................... 38 Inhaltsverzeichnis 5 2.1.4.1 Unvereinbarkeitsbeschluss ......................................... 38 2.1.4.2 Beratung der Verteidigungstaktik ............................... 39 2.1.4.3 Erwiderungsschriftsätze und weitere Prozesshandlungen .................................................... 40 2.1.5 Sonstige Aktivitäten .................................................. 45 2.1.5.1 "Wortergreifungsstrategie" ........................................ 45 2.1.5.2 Kundgebungen und sonstige Aktionen ...................... 45 2.1.6 Junge Nationaldemokraten (JN) ................................ 48 2.2 Deutsche Volksunion (DVU) ....................................... 50 2.2.1 Ideologisch-politischer Standort ................................ 51 2.2.2 Organisation ............................................................. 53 2.2.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 53 2.2.4 Aktivitäten ................................................................ 54 2.3 Die Republikaner (REP) .............................................. 55 2.3.1 Ideologisch-politischer Standort ................................. 55 2.3.2 Organisation .............................................................. 57 2.3.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 57 2.3.4 Interne Richtungskämpfe ........................................... 59 2.3.5 Aktivitäten in Bayern ................................................. 60 2.3.6 Verwaltungsgerichtsverfahren .................................... 61 2.4 Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee/ Deutsche Aufbau-Organisation .................................. 62 2.5 Aktivitas der Burschenschaft Danubia (München) ....... 63 2.6 Sonstige Organisationen ........................................... 64 2.7 Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH (DSZ-Verlag) 65 2.8 Nation Europa Verlag GmbH ..................................... 66 3. Organisationsunabhängiger Neonazismus .................. 67 3.1 Allgemeines .............................................................. 67 3.2 Neonazi-Kameradschaften ......................................... 68 3.2.1 Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) .................................. 69 3.2.2 Neonazi-Kreis um Sven Schlechta (Kameradschaft Schwabach) ..................................... 69 3.2.3 Bund Frankenland ..................................................... 70 3.2.4 Aktionsbüro Nationaler Widerstand/Freilassing ........... 70 3.3 Informationelle Vernetzung ........................................ 71 3.4 Aktivitäten zum 14. Todestag von Rudolf Heß ............ 72 4. Skinheads ................................................................. 74 4.1 Überblick ................................................................... 74 6 Inhaltsverzeichnis 4.2 Politische Ausrichtung ............................................... 74 4.3 Strukturen ................................................................. 76 4.4 Anziehungskraft für Jugendliche ................................ 77 4.5 Skinhead-Musik und Skinhead-Magazine ................... 78 4.6 Strafverfahren, Urteile und Exekutivmaßnahmen ........ 80 5. Rechtsextremistisch motivierte Straftaten ................... 82 5.1 Gewalttaten .............................................................. 82 5.2 Sonstige Straftaten .................................................... 85 6. Revisionismus ............................................................ 87 6.1 Ziele .......................................................................... 87 6.2 Entwicklung und Träger der Revisionismus-Kampagne 87 7. Verbindungen zum ausländischen Rechtsextremismus 89 8. Übersicht über erwähnenswerte rechtsextremistische Organisationen und Verlage sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse ...................................................... 91 4. Abschnitt Linksextremismus 1. Allgemeines .............................................................. 93 1.1 Merkmale des Linksextremismus ................................ 93 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................ 94 1.3 Linksextremistische Gewalt ........................................ 94 2. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 96 2.1 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) ............. 96 2.1.1 Ideologische Ausrichtung ........................................... 97 2.1.2 Organisation ............................................................. 102 2.1.3 Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften .. 102 2.1.3.1 Kommunistische Plattform (KPF) ................................ 103 2.1.3.2 Arbeitsgemeinschaft Junge GenossInnen in und bei der PDS .................................................... 104 2.1.3.3 Marxistisches Forum (MF) .......................................... 104 2.1.4 Jugendverband 'solid ................................................. 105 2.1.5 PDS Landesverband Bayern und seine Organisationseinheiten .............................................. 105 2.1.6 Teilnahme an Wahlen ................................................ 107 2.1.7 Kommunistischer Internationalismus .......................... 107 Inhaltsverzeichnis 7 2.1.8 Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten .......... 108 2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ...................... 110 2.2.1 Ideologische Ausrichtung ........................................... 110 2.2.2 Organisation .............................................................. 112 2.2.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 112 2.2.4 Umfeld der DKP ......................................................... 113 2.2.4.1 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ........ 113 2.2.4.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) ............ 114 2.3 Linksruck-Netzwerk (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) ......................... 115 2.4 Münchner Bündnis gegen Rassismus .......................... 116 2.5 Sonstige orthodoxe Kommunisten und andere revolutionäre Marxisten ............................................. 117 3. Gewaltorientierte Linksextremisten ............................. 118 3.1 Autonome Gruppen .................................................. 118 3.1.1 Überblick .................................................................. 118 3.1.2 Ideologische Ausrichtung und Aktionsformen ............ 119 3.1.3 Strukturen ................................................................. 120 3.1.3.1 Autonome in Bayern .................................................. 120 3.1.3.2 Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) ..................................................................... 122 3.1.4 Informationelle Vernetzung ........................................ 122 3.1.5 Autonome Publikationen ........................................... 123 3.1.6 Schwerpunktthemen und Aktionen ............................ 123 3.1.6.1 Strategiedebatte - neue Gewaltdiskussion .................. 124 3.1.6.2 Antifaschismus .......................................................... 126 3.1.6.3 Anti-Globalisierungs-Proteste ...................................... 128 3.1.6.4 Weitere Aktionen ...................................................... 130 3.1.6.5 Einflussnahme auf die Antikernkraftbewegung .......... 131 3.1.6.6 Reaktionen auf die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die "Antifa" Passau ....... 132 3.2 Gewalttaten in Bayern ............................................... 133 3.3 Sonstige militante Linksextremisten mit internationalistischer Orientierung ............................. 133 4. Übersicht über erwähnenswerte linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse ................ 136 8 Inhaltsverzeichnis 5. Abschnitt Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern 1. Allgemeines .............................................................. 139 1.1 Merkmale des Ausländerextremismus ......................... 139 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................ 139 1.3 Integrationsfeindlichkeit des islamischen Extremismus 141 1.4 Gewalttaten .............................................................. 143 2. Türkische Gruppen .................................................... 143 2.1 Islamische Extremisten ............................................... 143 2.1.1 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) ....... 143 2.1.2 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) ................................. 148 2.2 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) .................. 151 2.3 Linksextremisten ........................................................ 152 2.3.1 Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) .............................. 152 2.3.2 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) .................................................................... 155 2.3.3 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 157 2.3.4 Proteste gegen die türkische Gefängnisreform ........... 157 3. Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) .................................. 159 3.1 Ideologie ................................................................... 159 3.2 Organisation .............................................................. 161 3.3 Strategie ................................................................... 162 3.3.1 Kampagne der YEK-KOM zur Aufhebung des PKK-Verbots .............................................................. 163 3.3.2 Identitätskampagne der PKK ...................................... 163 3.3.3 Gründung des Internationalen Kurdischen Arbeitgeberverbands .................................................. 164 3.4 PKK-interne Opposition ............................................. 164 3.4.1 Kämpfer für die revolutionäre Linie der PKK ............... 165 3.4.2 Freiheitsinitiative ........................................................ 165 3.4.3 National Demokratische Initiative Kurdistans .............. 165 3.5 Aktivitäten und Gewalttaten ...................................... 165 3.6 Strafverfahren und Exekutivmaßnahmen .................... 168 4. Arabische Gruppen .................................................... 170 Inhaltsverzeichnis 9 4.1 Internationale Islamische Front Arabischer Mudschahedin (Al Qaeda/Usama Bin Laden) ............... 170 4.2 Muslimbruderschaft (MB) in der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) ..................... 170 4.3 Islamische Heilsfront (FIS) - algerischer Zweig der MB .. 172 4.4 Hizb Allah (Partei Gottes) ........................................... 172 5. Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) ....................... 173 6. Übersicht über erwähnenswerte extremistische Organisationen von Ausländern sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse ................................... 177 6. Abschnitt Die Terroranschläge vom 11. September in den USA und die Reakionen extremistischer Gruppen 1. Die Terroranschläge vom 11. September in den USA .. 181 2. Ermittlungen in der Bundesrepublik Deutschland ....... 182 3. Internationale Islamische Front Arabischer Mudschedin (Al Qaeda/ Usama Bin Laden) .................................... 183 3.1 Allgemeines .............................................................. 183 3.2 Entstehung der Bewegung der arabischen Mudschahedin .......................................................... 183 3.3 Usama Bin Laden ....................................................... 184 3.4 Al Qaeda (Die Basis) und das internationale Netzwerk 187 3.5 Die Entwicklung in Europa ......................................... 188 3.6 Ausblick .................................................................... 191 4. Reaktionen von Extremisten in Deutschland auf die Terroranschläge in den USA ....................................... 191 4.1 Rechtsextremismus .................................................... 191 4.1.1 Rechtsextremistische Parteien und Gruppen ............... 192 4.1.1.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ...... 192 4.1.1.2 Deutsche Volksunion (DVU) ........................................ 193 4.1.1.3 Die Republikaner (REP) ............................................... 194 4.1.1.4 Deutsches Kolleg (DK) ............................................... 195 10 Inhaltsverzeichnis 4.1.2 Militanter Rechtsextremismus - Neonaziund Skinheadbereich ........................................................ 196 4.1.2.1 Neonazi-Szene ........................................................... 196 4.1.2.2 Skinhead-Szene ......................................................... 197 4.1.3 Rechtsextremistisch motivierte Resonanzstraftaten auf die Anschläge in Bayern ...................................... 197 4.2 Linksextremismus ...................................................... 198 4.2.1 Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) .............. 198 4.2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ...................... 201 4.2.3 Autonome und antiimperialistische Szene .................. 201 4.3 Ausländerextremismus ............................................... 203 4.3.1 Türkische Gruppen .................................................... 203 4.3.1.1 Islamische Extremisten ............................................... 203 4.3.1.2 Türkische Linksextremisten ......................................... 204 4.3.1.3 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) .................................. 205 4.3.2 Arabische Gruppen .................................................... 206 7. Abschnitt Scientology-Organisation (SO) 1. Zur Geschichte der SO ............................................... 208 2. Ideologie und Aktivitäten ........................................... 209 2.1 Schriften der SO ........................................................ 210 2.1.1 Errichtung einer scientologischen Gesellschaft ........... 210 2.1.2 Lenkung der Regierungen durch Scientology ............. 211 2.1.3 Einführung eines scientologischen Rechtssystems ....... 211 2.1.4 Bekämpfung von Kritik an Lehre und Praxis - aggressive Expansionspolitik .................................... 212 2.2 Aktivitäten der SO ..................................................... 213 2.2.1 Angriffe auf Repräsentanten des Staates ................... 213 2.2.2 Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung ..... 213 2.2.3 Ausforschung und Bekämpfung von Kritikern ............ 214 2.2.4 Kampagne gegen Schutzerklärung ............................ 214 2.2.5 Nutzung des Internets ............................................... 215 2.2.6 Aktivitäten im Ausland .............................................. 215 2.3 Bewertung der Schriften und Aktivitäten .................... 217 Inhaltsverzeichnis 11 3. Organisationsund Kommandostruktur der SO .......... 217 3.1 Weltweite Kommandostruktur der SO ....................... 217 3.2 Organisation der SO in Deutschland .......................... 219 3.2.1 "Church"-Sektor........................................................... 219 3.2.2 WISE-Sektor .............................................................. 220 3.2.3 ABLE-Sektor .............................................................. 221 3.2.4 Office of Special Affairs (OSA) ................................... 222 4. Mitglieder der SO ...................................................... 223 5. Veranstaltungen der SO ............................................. 224 5.1 Ausstellung "Was ist Scientology?" ............................ 224 5.2 PR-Aktionen im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA ..................................... 224 6. Verwaltungsgerichtsverfahren .................................... 225 7. Vertrauliches Telefon und Informationsangebot im Internet ................................................................ 225 8. Abschnitt Spionageabwehr 1. Ausgangslage ............................................................ 226 2. Wirtschaftsspionage - Ausforschung von Wissenschaft und Technik ......................................... 227 3. Spionage im Bereich der Kommunikationstechnik ...... 228 4. Proliferation .............................................................. 228 5. Schutzmaßnahmen - Beratung durch den Verfassungsschutz ..................................................... 229 6. Ausblick .................................................................... 230 9. Abschnitt Organisierte Kriminalität 1. Ausgangslage ............................................................ 231 2. Beobachtungsschwerpunkte ...................................... 231 3. Ausblick .................................................................... 237 12 Verfassungsschutz in Bayern 1. Abschnitt Verfassungsschutz in Bayern Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Verfassung eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie. Der Staat kann gegen Bestrebungen, die freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen, die in der Verfassung vorgesehenen Abwehrmittel einsetzen, z.B. durch ein Parteioder Vereinsverbot. Dies setzt voraus, dass er solche Bestrebungen oder Aktivitäten, die als "extremistisch" oder als "verfassungsfeindlich" bezeichnet werden - diese Begriffe sind gleichbedeutend -, rechtzeitig erkennen kann. Hier setzt die Aufgabe des Verfassungsschutzes ein. Er dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie dem Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Ordnung zu verstehen, die unter Ausschluss jeglicher Gewaltund Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören mindestens: - die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, - die Volkssouveränität, - die Gewaltenteilung, - die Verantwortlichkeit der Regierung, - die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, - die Unabhängigkeit der Gerichte, - das Mehrparteienprinzip, - die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. Verfassungsschutz in Bayern 13 1. Gesetzliche Grundlagen Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich genau festgelegt. Das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt die von Bund und Ländern auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben. Es ist zugleich Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesamts für Verfassungsschutz. Neben diesem Bundesgesetz bestehen in allen Ländern eigene Verfassungsschutzgesetze. In Bayern regelt das im Anhang abgedruckte Bayerische Verfassungsschutzgesetz die Aufgaben und Befugnisse des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, das seinen Sitz in München hat und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet ist. Für das Landesamt wurden im Haushaltsplan 2001 insgesamt 400 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter ausgewiesen; das Haushaltsvolumen 2001 betrug 20,65 Millionen Euro. 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes Nach dem Bayerischen Verfassungsschutzgesetz hat das Landesamt für Verfassungsschutz im Wesentlichen den Auftrag der Beobachtung von - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, - sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht (Sabotage und Spionage), - Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und - Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität. Darüber hinaus wirkt das Landesamt für Verfassungsschutz u.a. bei Sicherheitsüberprüfungen mit. Rechtsgrundlage hierfür ist das Bayerische Sicherheitsüberprüfungsgesetz. Im Mittelpunkt der Beobachtung stehen Aktivitäten von extremistischen Organisationen. Dazu müssen zwangsläufig auch die Mitglieder und Unterstützer erfasst werden. Aber auch die Beobachtung von Einzelpersonen ist zulässig. 14 Verfassungsschutz in Bayern Der Verfassungsschutz beobachtet verfassungsfeindliche Bestrebungen im Inland. Er informiert die politisch Verantwortlichen und die Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Beobachtung, vor allem über mögliche Gefahren. Er versetzt die zuständigen staatlichen Stellen des Bundes und der Länder in die Lage, verfassungsfeindlichen Kräften rechtzeitig und angemessen zu begegnen. Die Erkenntnisse bilden die Grundlage für Exekutivmaßnahmen wie beispielsweise Verbote von Vereinen, Verbotsanträge gegen Parteien - wie sie von Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gestellt wurden -, Verbote von Versammlungen, Verhinderung finanzieller oder sonstiger Förderung, Verweigerung erforderlicher Erlaubnisse (z.B. für Sammlungen, Info-Stände). Im Gegensatz zum Verfassungsschutz beschafft der Bundesnachrichtendienst (BND) Informationen über das Ausland, die für die Bundesrepublik Deutschland außenund sicherheitspolitisch von Interesse sind. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) nimmt Verfassungsschutzaufgaben im Bereich der Bundeswehr wahr. 3. Informationsbeschaffung Zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags ist der Verfassungsschutz verpflichtet, Informationen zu beschaffen, auszuwerten und zu speichern. Diese Nachrichten werden zum weit überwiegenden Teil aus offenen Quellen gewonnen (z.B. aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen, Broschüren und sonstigem Material extremistischer Organisationen sowie bei deren öffentlichen Veranstaltungen). Etwa 20 % der Informationen erhält der Verfassungsschutz durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel. Zu diesen Mitteln gehören im Wesentlichen - der Einsatz von verdeckt arbeitenden V-Leuten ("V" steht für "Vertrauen") in extremistischen Organisationen, - das Beobachten verdächtiger Personen (Observation) sowie - verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Öffnen von Briefen, Abhören von Telefongesprächen) sind besonders strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterworfen. Sie sind in einem eigenen Gesetz geregelt, das nach dem Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses "Artikel 10-Gesetz" (G 10) genannt wird. Ein Verfassungsschutz in Bayern 15 Verfahren mit mehreren voneinander unabhängigen Kontrollinstanzen stellt sicher, dass in dieses Grundrecht nur eingegriffen wird, wenn die im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegen. Rechtsstaatliche Sicherungen gelten auch für den Einsatz besonderer technischer Mittel im Schutzbereich des Art. 13 des Grundgesetzes, also für den Einsatz von Abhörgeräten oder versteckten Kameras in Wohnungen und Büros. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeilichen Befugnisse zu. Polizeibehörden und Verfassungsschutz sind voneinander getrennt. Deshalb dürfen die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes keinerlei Zwangsmaßnahmen, wie z.B. Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw., durchführen. Verfassungsschutzbehörden dürfen auch keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden. Dies steht aber einer informationellen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung nicht entgegen. Im Gegenteil sind diese unabdingbare Voraussetzungen für eine effiziente Arbeit der Sicherheitsbehörden. Erscheint aufgrund der dem Verfassungsschutz vorliegenden Informationen ein sicherheitsrechtliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Sicherheitsbehörde unterrichtet. Diese entscheidet dann selbständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 4. Kontrolle Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehört die allgemeine parlamentarische Kontrolle, die durch die Berichtspflicht des verantwortlichen Ministers gegenüber dem Landtag im Rahmen von aktuellen Stunden, Anfragen von Abgeordneten, Petitionen usw. ausgeübt wird. Eine besondere Kommission des Bayerischen Landtags, das Parlamentarische Kontrollgremium, überwacht die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die G 10-Kommission überprüft die Maßnahmen zur Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs. Die Verwaltungskontrolle obliegt dem Innenminister im Rahmen der Dienstund Fachaufsicht, ferner dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und dem Bayerischen Obersten Rechnungshof. Diese Kontrollen werden ergänzt durch eine mögliche gerichtliche Nachprüfung belastender Einzelmaßnahmen sowie durch die Öffentlichkeit in Form von Presse, Funk und Fernsehen. 16 Verfassungsschutz in Bayern 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die freiheitliche demokratische Grundordnung kann auf Dauer nicht ohne die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Die Tätigkeit des Verfassungsschutzes gewährleistet, dass Regierung und Parlament, aber auch die Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert werden. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes werden der Verfassungsschutzbericht sowie weitere Informationsmaterialien zur Verfügung gestellt. Das Informationsmaterial erhalten Sie kostenlos beim Bayerischen Staatsministerium des Innern - Sachgebiet Verfassungsschutz -, Odeonsplatz 3, 80539 München (Telefax: 0 89 / 2 19 21 28 42). Die meisten Materialien, insbesondere der jährliche Verfassungsschutzbericht und auch Informationen zur Scientology-Organisation, sind zusätzlich im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/sicherleben.htm Das Internet-Angebot des Bayerischen Staatsministeriums des Innern wird durch die unter der Adresse http://www.verfassungsschutz.bayern.de erreichbare Homepage des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz ergänzt. 6. Infound Beratungstelefone Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat seit Oktober unter der Nummer 0 89 /31 20 14 80 ein Kontakttelefon für Hinweise zur Bekämpfung des internationalen, insbesondere des islamisch-fundamentalistischen, Terrorismus eingerichtet. Dort besteht außerdem seit Februar im Rahmen der von Bund und Ländern erarbeiteten Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten ein Beratungsund Hinweistelefon. Das Telefon, das ebenso der Aufklärung rechtsextremistischer Aktivitäten in Bayern dienen soll, ist für Verfassungsschutz in Bayern 17 Bürger und aussteigewillige Extremisten - nicht nur Rechtsextremisten - unter der Nummer 0 18 02 00 07 86 zu erreichen. Seit Jahren unterhält auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ein "vertrauliches Telefon" für Opfer und Aussteiger der Scientology-Organisation (SO) sowie für Angehörige von SO-Mitgliedern. Das Amt nimmt Informationen und Hinweise unter der Nummer 0 89 / 31 20 12 96 entgegen. 18 Entwicklung des politischen Extremismus 2. Abschnitt Entwicklung des politischen Extremismus im Jahr 2001 1. Rechtsextremismus Die öffentliche Diskussion um die menschenverachtenden Gewalttaten von Neonazis und Skinheads sowie das gegen die NPD anhängige Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht veranlassten das rechtsextremistische Spektrum zur Erörterung "offensiver" Gegenmaßnahmen. Neue Agitationsthemen dienten dem Versuch, öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung zu finden. Hervorzuheben sind insbesondere Bestrebungen, soziale Fragen zu thematisieren und die Globalisierungskritik im Sinn nationalistischer und völkischer Vorstellungen zu instrumentalisieren. Dem rechtsextremistischen Lager fehlt es jedoch nach wie vor an einer allgemein akzeptierten Führungsperson. Der organisierte Rechtsextremismus wird von den Parteien Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), Deutsche Volksunion (DVU) und Die Republikaner (REP) geprägt. Sowohl die REP als auch die DVU haben bundesweit einen leichten Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Die NPD verlor zwar Mitglieder in Bayern, konnte aber insgesamt den Stand des Vorjahrs annähernd halten. Schwerer als die Verluste von Mitgliedern wiegen für die Parteien die empfindlichen Wahlniederlagen. So verloren die REP bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg ihre einzige Fraktion in einem Parlament. Die DVU scheiterte bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft ebenfalls deutlich an der 5 %-Hürde. Die rechtsextremistischen Parteien griffen in ihrer Agitation aktuelle politische Probleme auf, so zum Beispiel die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Europäischen Union (EU), die Einführung des EURO sowie die Problematik der Zuwanderung von Ausländern. Der Globalisierung, die von der NPD im Wesentlichen auf den Aspekt "Antiamerikanismus" reduziert wird, stehen Rechtsextremisten grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die Verknüpfung obiger The- Entwicklung des politischen Extremismus 19 men mit nationalistischen Parolen brachte nicht die erhofften Erfolge bei Wahlen. Die NPD intensivierte ihren fundamentaloppositionellen "Kampf um die Straße" im Rahmen ihres "Drei-Säulen-Konzepts" und verfolgte ihre extremistischen Ziele in aggressiv-kämpferischer Weise weiter. Durch den von der Partei im Verbotsverfahren bestellten Prozessvertreter Horst Mahler erlangte die NPD zeitweilig große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Aufgrund ihrer vor mehreren Jahren eingeleiteten Öffnung gegenüber Neonazis und Skinheads entwickelte sie sich zu einer Nahtstelle zum gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrum. Vor allem die in jüngster Zeit gewachsene Bedeutung der Partei als Anziehungsund Kristallisationspunkt für militante Rechtsextremisten veranlasste alle zuständigen Verfassungsorgane, nämlich Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, Verbotsanträge gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Die DVU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt konnte ebenso wenig Akzente setzen wie die Mitte Februar 2000 von der DVU abgespaltene Freiheitliche Deutsche Volkspartei (FDVP) oder die brandenburgische DVU-Fraktion; sachorientierte Arbeit findet kaum statt. Ursache ist vor allem der absolute Machtanspruch des Parteivorsitzenden Dr. Gerhard Frey, der eine innerparteiliche demokratische Willensbildung nicht duldet und Andersdenkende als "Verräter und Agenten" ausgrenzt. Nach den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft ist die DVU von der angestrebten Führungsrolle im rechtsextremistischen Parteienspektrum weiter entfernt als noch vor einem Jahr. Die Situation der REP ist maßgeblich durch anhaltende Richtungskämpfe geprägt. Fehlende Wahlerfolge und Niederlagen in Verwaltungsprozessen gegen die Beobachtung der Partei durch die Verfassungsschutzbehörden bedingen eine zunehmende Resignation der Mitglieder. Während die organisierte neonazistische Szene in Bayern wiederum nur relativ geringe politische Aktivitäten entfaltete, nahmen bundesweit die von Neonazis organisierten Demonstrationen zu. Ebenso stieg die Zahl der von rechtsextremistischen Skinheads und Neonazis gegen Ausländer, Farbige, "Linke" und andere Feindbilder verübten Gewalttaten in Bayern auf 72 Delikte (2000: 60). Die dabei demonstrierte Brutalität und Menschenverachtung sind nach wie vor erschreckend. Auch die Anzahl sonstiger Straftaten, insbesondere der Propagandadelikte, hat in Bayern deutlich zugenommen. Zu berücksichti- 20 Entwicklung des politischen Extremismus gen ist dabei allerdings auch, dass Vergleiche mit den Vorjahreszahlen aufgrund neuer bundeseinheitlicher Erfassungskriterien nur bedingt möglich sind. Terroristische Ansätze sind in Bayern nicht erkennbar. Das im Februar vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz eingerichtete Hinweistelefon (0180/200 0 786) wurde von rund 100 Personen genutzt. Meist handelte es sich bei den Anrufern um Bürger, die Hinweise auf rechtsextremistische Bestrebungen gaben. In einigen Fällen bekundeten Rechtsextremisten ihren Willen zum Ausstieg. Erfolg versprechend ist das vom Landesamt für Verfassungsschutz gestartete aktive Aussteigerprogramm. Hierbei wurden Personen angesprochen, von denen etwa 30 als potentielle Aussteiger bezeichnet werden können. Sowohl die passive als auch die aktive Komponente des Aussteigerprogramms werden fortgesetzt. 2. Linksextremismus Auch der gewaltbereite Linksextremismus stellt nach wie vor eine Gefahr für die Innere Sicherheit dar. Die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten in Bayern blieb nach dem starken Anstieg im Vorjahr mit 39 Gewalttaten konstant. Das linksextremistische Gewaltpotenzial wird zu 80 % von Gruppen und Einzeltätern aus dem autonomen und anarchistischen Spektrum gestellt. Im Rahmen des "Antifa-Kampfs" richteten sich diese Gewalttaten in Bayern fast ausschließlich gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. Das eigentliche Angriffsziel der Autonomen ist jedoch der demokratische Staat und seine Repräsentanten. Besonders "verhasst" bei den Autonomen sind dabei die Polizei und andere Sicherheitsbehörden, denen vorgeworfen wird, rechtsextremistische Veranstaltungen zu schützen. Dass das grundsätzlich auch für Extremisten jeglicher Couleur geltende Versammlungsrecht verfassungsrechtlich gesichert ist und garantiert werden muss, wird nicht akzeptiert. Das Aktionsfeld "Anti-Globalisierung" wurde zum weiteren Aktionsschwerpunkt der Autonomen. Angehörige dieser Szene beteiligten sich nicht nur an den zunehmend militanteren Protesten gegen internationale Gipfeltreffen, sondern diskutierten auch über die inhaltlichen und strategischen Perspektiven einer "Anti-Globalisierungs-Bewegung". Am 27. April stellte die PDS-Parteivorsitzende Gabriele Zimmer den Entwurf eines neuen Parteiprogramms vor. Das Positionspapier, das eine Veränderung und Überwindung der gegenwärtigen Verhältnisse Entwicklung des politischen Extremismus 21 anstrebt, stieß bei der Kommunistischen Plattform der PDS (KPF) auf heftige Ablehnung, da es auch geringe Zugeständnisse an die bestehende Wirtschaftsordnung formulierte. Die Diskussionen bezüglich der Erklärungen der Parteiführung zum 55. Jahrestag der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED sowie zum 40. Jahrestag des Beginns des Mauerbaus in Berlin zeigten, dass es der Partei nach wie vor Schwierigkeiten bereitet, ihr historisches Erbe aufzuarbeiten. Die KPF und Teile der Parteibasis lehnten die Erklärungen ab. Der Parteitag vom 6. bis 7. Oktober in Dresden bot der PDS die Gelegenheit, sich als Antikriegspartei darzustellen. In dem "Dresdner Friedensappell" erteilte sie Militäreinsätzen jedweder Art eine klare Absage. Das Ergebnis der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober, bei der die PDS 22,6 % der Zweitstimmen erhielt, führte Anfang des Jahres 2002 zu einer Koalitionsregierung mit der SPD. Die frühere SED regiert damit in zwei Bundesländern (Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) mit und toleriert in Sachsen-Anhalt eine SPD-Landesregierung. 3. Ausländerextremismus Die besondere Gefahr, die der islamische Fundamentalismus für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt, wurde durch die Terroranschläge vom 11. September in den USA überdeutlich, auch wenn nur ein geringer Teil der islamischen Fundamentalisten in Deutschland derzeit Gewaltbereitschaft zeigt. Aufklärungsschwerpunkt der Sicherheitsbehörden sind seitdem Personen im Umfeld der Al Qaeda des Usama Bin Laden. Zu islamistischen Vereinigungen und Gruppen bekennen sich in Bayern neben Personen aus arabischen Ländern vor allem 5.000 Mitglieder der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG). Diese ist ständig bemüht, öffentliche extremistische Aussagen zu vermeiden. Ihr Fernziel bleibt aber die Islamisierung Europas und die Bildung einer weltweiten Union islamischer Staaten. Der islamische Fundamentalismus ist überaus integrationsfeindlich, da er auf die Errichtung einer islamischen Parallelgesellschaft abstellt. Das Bundesministerium des Innern erließ im Benehmen mit den Innenministerien der Länder mit sofort vollziehbarer Verfügung am 12. Dezember ein Verbot der islamistischen Vereinigung des Kalifatsstaats (Hilafet Devleti) einschließlich siebzehn ihm zuzuordnender 22 Entwicklung des politischen Extremismus Teilorganisationen. Darunter waren auch alle vier bayerischen Verbände. Das Vermögen der Organisation wurde beschlagnahmt und eingezogen. Das Verbot wurde erst jetzt aufgrund einer Gesetzesänderung möglich. Die Beschlüsse des "Präsidialrats" der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sich künftig nur noch um eine politische Lösung der Kurdenfrage zu bemühen, setzten die nach der Inhaftierung Öcalans eingeleitete Trendwende in der Politik der PKK fort. Jedoch artikuliert bzw. entwickelte sich in den Reihen der PKK-Anhänger eine bislang noch schwache Opposition zum eingeschlagenen Friedenskurs. Nach Definition des PKK-Präsidialrats geht der nationale kurdische Befreiungskampf der PKK in eine neue Phase über. Nach der "gelebten Revolution", also dem Bürgerkrieg gegen die türkischen Streitkräfte, legte die PKK den Themenschwerpunkt auf eine im Mai gestartete so genannte Zweite Friedensoffensive. In deren Verlauf wurde auch eine "Identitätskampagne" eröffnet. Dabei sollen auf Anordnung der Parteiführung PKK-Anhänger den deutschen Sicherheitsbehörden ihre Zugehörigkeit zur Organisation schriftlich anzeigen. Das in Deutschland seit 1993 bestehende PKK-Verbot soll durch die vielen Selbstbezichtigungen konterkariert werden. Ihre nach wie vor intakten konspirativen Strukturen sowie die Mobilisierungsfähigkeit zu Großveranstaltungen mit mehreren 10.000 Teilnehmern stellte die PKK mehrfach unter Beweis. Die Aktivitäten türkischer Linksextremisten konzentrierten sich im Berichtszeitraum wie bereits im Vorjahr auf europaweite Solidaritätskundgebungen und -aktionen für die inhaftierten Gesinnungsgenossen in der Türkei. Die seit Herbst 2000 andauernde Protestwelle gegen die türkische Gefängnisreform, bei der insbesondere die Massenzellen durch Kleinzellen ersetzt werden sollen, dauert an. Der Höhepunkt war allerdings bereits zum Jahreswechsel 2000/2001 erreicht, nachdem türkische Sicherheitskräfte eine Gefängnisrevolte am 19. Dezember 2000 gewaltsam beendeten. 4. Scientology-Organisation Die Scientology-Organisation (SO) will die Staaten der Welt letztlich nach eigenen Regeln beherrschen und regieren. Diese Regeln missachten insbesondere die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatsprinzip und Entwicklung des politischen Extremismus 23 Demokratieprinzip. Ihre Verwirklichung würde darüber hinaus auch zu einer massiven Beeinträchtigung der Menschenrechte führen, da Nicht-Scientologen im Rechtssystem der SO rechtlos wären. Auch im Jahr 2001 diffamierte die SO Aufklärungsund Abwehrmaßnahmen des Staates, indem sie versuchte, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich gleichzusetzen. Nach wie vor war sie bestrebt, sich der Öffentlichkeit als unterdrückte Minderheitsreligion darzustellen. Dazu führte sie zahlreiche Info-Stände, Ausstellungen und sonstige propagandistische Aktionen durch, um die Bürger über ihre wirklichen verfassungsfeindlichen Absichten zu täuschen und neue Mitglieder zu werben. Diese Aktionen stoßen international in der Öffentlichkeit auf zunehmende Ablehnung. 5. Neue Erfassungskriterien für extremistisch motivierte Strafund Gewalttaten Die diesem Bericht zugrunde liegenden Zahlen über die Entwicklung extremistischer Strafund Gewalttaten werden erstmals nach den neuen Erfassungsmodalitäten erhoben und dargestellt, welche die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 9./10. Mai 2001 beschlossen und als neues Definitionssystem zur politisch motivierten Kriminalität in Kraft gesetzt hat. Rückwirkend zum 1. Januar 2001 ersetzt der Kriminalpolizeiliche Meldedienst Politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) den Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Staatsschutzsachen (KPMD-S). Ziel ist es, eine bundeseinheitliche Erfassung und Bewertung politisch motivierter Straftaten sicherzustellen. Im Mittelpunkt der neuen Definition der politisch motivierten Kriminalität steht die tatauslösende, politische Motivation des Täters. Hierbei werden Straftaten, denen zwar ein politisches Motiv, nicht aber zwingend eine gefestigte Ideologie zugrunde liegt, unterschieden. Die Taten werden hinsichtlich des Begründungszusammenhangs (Motiv) einem oder mehreren Themenfeldern (z. B. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit) zugeordnet. Diese Themenfelder sind in einem bundeseinheitlichen Katalog festgelegt und bilden die Grundlage für die einheitliche Erfassung und Auswertung. Darüber hinaus werden Straftaten einem Phänomenbereich zugeordnet (politisch motivierte Kriminalität - Links -, politisch motivierte Kriminalität - Rechts -, politisch motivierte Ausländerkriminalität und sonstige bzw. nicht zu- 24 Entwicklung des politischen Extremismus zuordnende Delikte. Erst danach werden bezüglich der einzelnen Delikte Feststellungen zum Extremismus getroffen. Extremistisch motivierte Strafund Gewalttaten (und nur diese sind aufgrund des gesetzlichen Auftrags der Verfassungsschutzbehörden in diesem Bericht enthalten) sind lediglich eine Teilmenge (allerdings die weit überwiegende) der gesamten politisch motivierten Strafund Gewalttaten. Aufgrund der neuen Erfassungsmodalitäten ist ein Vergleich der Entwicklung extremistisch motivierter Strafund Gewalttaten mit den Vorjahreszahlen nur bedingt möglich, insbesondere weil Propagandadelikte (SSSS 86, 86 a StGB) nun grundsätzlich bundeseinheitlich als extremistische Straftaten zu werten sind. Entwicklung des politischen Extremismus 25 6. Graphische Darstellungen Rechtsextremisten Entwicklung Linksextremisten der MitgliederAusländische Extremisten zahlen extremisMitglieder Scientology-Organisation Deutschland tischer Organi80.000 sationen 60.000 59.150 49.700* 41.900 40.000 39.800 32.900** 33.500 20.000 Deutschland 10.000 5.500*** 0 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 * Die Republikaner 1994 erstmals erfasst. ** Die Kurve beruht auf den Zahlen des Bundesamts für Verfassungsschutz, das von den Mitgliedern der PDS nur die der Kommunistischen Plattform (KPF) erfasst. Die PDS hatte im Jahr 2001 bundesweit 83.000 Mitglieder, davon 1.500 in der KPF. *** Scientology-Organisation 1998 erstmals konkret erfasst; Angaben für die Vorjahre geschätzt. Rechtsextremisten Linksextremisten Ausländische Extremisten Mitglieder Scientology-Organisation 12.000 10.450 10.000 8.000 8.030* 5.425 6.000 4.870 4.000 3.485 3.960 3.000 2.600** 2.000 Bayern 0 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 * Die Republikaner 1994 erstmals erfasst. ** Scientology-Organisation 1998 erstmals konkret erfasst; Angaben für die Vorjahre geschätzt. 26 Entwicklung des politischen Extremismus Entwicklung politisch 1999 2000 2001 72 motivierter 70 Gewalttaten 60 in Bayern 60 56 50 39 39 40 30 25 20 20 11 10 3 0 linksextremistisch rechtsextremistisch Gewalttaten durch motivierte motivierte ausländische Gewalttaten Gewalttaten Extremisten Rechtsextremismus 27 3. Abschnitt Rechtsextremismus 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Rechtsextremismus Der Rechtsextremismus weist keine gefestigte einheitliche Ideologie auf. Die Bestrebungen rechtsextremistischer Organisationen in Deutschland sind im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie die Grundlagen der Demokratie ablehnen und statt dessen - aus taktischen Gründen meist nicht offen erklärt - eine totalitäre Regierungsform unter Einschluss des Führerprinzips anstreben, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbaren ist. Bestimmende Merkmale des organisierten Rechtsextremismus sind vor allem - die pauschale Überbewertung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Einzelnen, die zu einer Aushöhlung der Grundrechte führt (völkischer Kollektivismus), - ein den Gedanken der Völkerverständigung missachtender Nationalismus, - die offene oder verdeckte Wiederbelebung rassistischer Thesen, unter anderem des Antisemitismus, die mit dem Schutz der Menschenwürde und dem Gleichheitsprinzip nicht vereinbar sind, - immer wiederkehrende Versuche, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblich positiver Leistungen des Dritten Reichs zu rechtfertigen, die Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren und die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen. Hinzu kommt die allen Extremisten gemeinsame planmäßige Verunglimpfung der bestehenden Staatsform und ihrer Repräsentanten. Ziel dieser Angriffe ist es, die eigene Organisation und ihre Repräsen- 28 Rechtsextremismus tanten als die alleinigen Wahrer der Interessen von Staat und Bürgern darzustellen, was im Ergebnis auf die Ablehnung des Mehrparteienprinzips und des Rechts auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition hinausläuft. Diese Merkmale sind nicht gleichmäßig bei allen Rechtsextremisten zu beobachten. Manchmal sind nur Teilaspekte bestimmend; auch die Intensität und die Strategie des Kampfs gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sind unterschiedlich. Seit einigen Jahren treten in der Propaganda von Rechtsextremisten sozialund wirtschaftspolitische Themen zunehmend in den Vordergrund. Durch Verknüpfung sozialer Problemfelder mit rechtsextremistischen Theorie-Elementen hoffen Rechtsextremisten, aus den Fragen der Bevölkerung nach der Sicherheit des Arbeitsplatzes, des Wettbewerbs und der Finanzierung der Renten Kapital schlagen zu können und in der politischen Auseinandersetzung akzeptiert zu werden. Teile des rechtsextremistischen Spektrums bedienen sich immer offensiver des "Antikapitalismus". Sie propagieren einen "volksbezogenen Sozialismus" mit dem Ziel, in sozialistisch orientierte Wählerschichten einzudringen. Organisierte und unorganisierte Rechtsextremisten sind sich einig in der Ablehnung der "One-World-Ideologie" der Weltmacht USA. Ihr lagerübergreifendes, im Antiamerikanismus begründetes Feindbild ist die westliche Werteordnung. Sie empfinden diese als wesensfremd, da sie den Deutschen von der "amerikanischen Fremdherrschaft" aufgezwungen worden sei. Ebenso ablehnend stehen sie dem freien Welthandel und der zunehmenden Globalisierung gegenüber, die sie als Einebnung nationaler Vielfalt verstehen und somit als eine Gefahr für die nationalstaatlichen Strukturen erachten. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Entwicklung der Zahl rechtsextremistischer Organisationen in Bayern und deren jeweilige Mitgliederstärke ist aus den nachfolgenden Übersichten zu ersehen. Bei erkannten Mehrfachmitgliedschaften wurde die Person nur bei einer Organisation mitgezählt. Die NPD konnte den anfänglichen Mitgliederzuwachs aufgrund ihrer Werbekampagne "Argumente statt Verbote - Nein zum NPD-Verbot" in der zweiten Jahreshälfte nicht halten und verlor im Vergleich Rechtsextremismus 29 Zahl und Mit1999 2000 2001 gliederstärke rechtsextremisAnzahl der Organisationen 30 33 38 tischer Organisationen in Mitgliederstärken Bayern Die Republikaner (REP) 4.200 4.000 4.000 NPD mit JN und NHB 950 1.050 980 Deutsche Volksunion (DVU)* 1.800 1.800 1.600 Neonazistische Organisationen 60 60 70 Sonstige Organisationen 250 330 300 7.260 7.240 6.950 Neonazistische Einzelaktivisten 60 100 180 Rechtsextremistische Skinheads 650 780 900 Rechtsextremisten insgesamt 7.970 8.120 8.030 * Die Zahlen umfassen die Mitglieder der Partei und des gleichnamigen Vereins. Mitglieder 70.000 Deutschland * 60.000 50.000 49.700 40.000 41.900 30.000 20.000 Bayern * 10.000 8.030 4.870 0 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 * Republikaner 1994 erstmals erfasst. 30 Rechtsextremismus zum Vorjahr in Bayern sogar Mitglieder. Ihre Verknüpfung mit der Neonaziund Skinhead-Szene hat sich verfestigt. Die REP sind in Bayern weiterhin die personell größte Partei, in der rechtsextremistische Bestrebungen verfolgt werden. Trotz aufwendiger, teils aggressiver und provokanter Wahlpropaganda gelang es weder der DVU noch den übrigen rechtsextremistischen Parteien, bei Wahlen nennenswerte Erfolge zu erzielen. Bündnisbestrebungen zwischen rechtsextremistischen Parteien wurden im Jahr 2001 nicht weiter verfolgt. Sowohl die Führung der REP als auch der DVU lehnen die NPD nach wie vor als Bündnispartnerin ab. Ebenso blieben Bemühungen einer im vergangenen Jahr gegründeten Deutschen Aufbau-Organisation um ein Bündnis mit "patriotischen und nationalen Parteien" auch im Jahr 2001 erfolglos. Der weitgehend inaktive organisierte Neonazismus sucht nach einem Konzept zur Überwindung der eigenen politischen Isolation und Ohnmacht. Sozialistische Ideologiemerkmale wurden erneut stärker betont. Die Skinhead-Szene ist zwar strukturell nicht gefestigt, die Zahl ihrer Anhänger aber erheblich gestiegen. 1.3 Rechtsextremistische Gewalt Im Bundesgebiet ist die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten nach vorläufiger Beurteilung voraussichtlich annähernd gleichgeblieben. In Bayern stieg die Zahl der Gewalttaten auf 72 (2000:60). Auch die Zahl sonstiger rechtsextremistisch motivierter Straftaten ist auf 1.768 gestiegen (2000: 1.574). Die Mehrzahl der Gewalttaten geht nach wie vor von Skinheads aus. Besonders schwerwiegend waren der Angriff von Skinheads auf einen griechischen Staatsangehörigen am 13. Januar in München und ein Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim am 21. November in Aystetten, Landkreis Augsburg. Daneben wurden 67 Körperverletzungen, ein Landfriedensbruch und zwei sonstige Gewalttaten erfasst. Die in der Gesamtzahl enthaltenen Zahl der Gewalttaten mit fremdenfeindlicher Motivation ist von 45 auf 39 gesunken. Die Zahl der Angriffe auf politische Gegner ist dagegen von fünf auf 20 gestiegen. Antisemitisch motivierte Gewalttaten wurden keine bekannt. Rechtsextremismus 31 2. Parteien, Organisationen und Verlage 2.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Deutschland Bayern Mitglieder: 6.500 900 Vorsitzender: Udo Voigt Ralf Ollert Gründung: 1964 Sitz: Berlin Publikationen: Deutsche Stimme (DS), Deutsche Stimme EXTRA 2.1.1 Ideologisch-politischer Standort Neonazistische und nationalrevolutionäre Thesen sind integraler Bestandteil des ideologischen Spektrums der NPD geworden und haben deren Erscheinungsbild nachhaltig verändert. Die bereits seit mehreren Jahren erkennbare und in den Verfassungsschutzberichten dokumentierte Entwicklung der NPD zu einem Sammelbecken gewaltbereiter Skinheads und Neonazis hat sich fortgesetzt. Die Parteiführung hält an einer Zusammenarbeit mit den "Freien Nationalisten" fest. Das von der Partei vertretene Staatsund Menschenbild steht in krassem Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Für die NPD resultiert die Würde des Einzelnen nicht aus dem freien Willen des Individuums, sondern sie ist von biologisch-genetischer Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig. Die NPD sieht das Volk als eine "biologische Einheit" und entsprechend die Volksgemeinschaft "als Lebensgemeinschaft körperlich, geistig und seelisch verwandter Menschen, die durch Raum, Zeit und Blut zu einer kapitalismus-resistenten Schutz-, Solidarund Notgemeinschaft verwachsen sind, ... (...) Diese Idee und Realität der Volksgemeinschaft ist das höchste irdische Gesetz, der letzte Wert, ..." (Deutsche Stimme Nummer 9/2001, Seite 22) Außerdem stünden Volksgemeinschaft und Staat über der Gesellschaft: " ... auf staatlicher Ebene, über der Gesellschaft stehend, werden Freiheit und Gleichheit zu einem höheren Ganzen, der Volksgemeinschaft, vereint." (Deutsche Stimme Nummer 9/2001, Seite 4) 32 Rechtsextremismus Diese Auffassung von Volksgemeinschaft ist das wichtigste ideologische Bindeglied zum Nationalsozialismus. "Wenn es zur Beweisaufnahme kommt, wird die Partei zeigen können, dass der Nationalsozialismus noch 56 Jahre nach seinem Untergang verteufelt wird und nicht wegen der Verbrechen, für die die Reichsregierung unter Adolf Hitler verantwortlich gemacht wird, sondern wegen seiner realistischen Vision einer selbstbewussten solidarischen Volksgemeinschaft, in der die Wirtschaft nicht mehr der grenzenlosen Bereicherung einer winzigen Minderheit, sondern dem Gemeinwohl dient, in der die sittlichen Werte des Geldes untergeordnet und dadurch zerstört sind." (Horst Mahler in Deutsche Stimme Nummer 5/2001, Seite 1) So sind gelegentliche Distanzierungen vom Nationalsozialismus wie "Für uns gibt es keinen Grund, etwas wiederbeleben zu wollen, was vor der Geschichte versagt hat." (Udo Voigt in Deutsche Stimme Nummer 4/2001, Seite 2) als rhetorische Pflichtübung vor dem Hintergrund des laufenden Verbotsverfahrens zu bewerten. Eine mit dem Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes unvereinbare, rassistisch und nationalistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit ist elementarer Bestandteil der Parteiideologie vom "lebensrichtigen Menschenbild", das sich insbesondere gegen "Fremdbestimmung" und "Überfremdung" wendet. Bezeichnend ist auch die weitgehende Gleichsetzung von Asylanten mit "ghanesischen Drogendealern und vietnamesischen Zigarettenschmugglern, also dem Schnitt der asylsuchenden Menschen in Deutschland." (Deutsche Stimme Nummer 4/2001, Seite 24) Auch ein abgedruckter Fortsetzungsroman verzichtete nicht auf rassistische Aussagen: "Aber trotz allem muss auch er immer wieder die blonde Schönheit mustern. Diese unglaubliche Ausstrahlung, dieser Rassentypus - nordisch-germanisch, und das ohne Übertreibung!" (Deutsche Stimme Nummer 12/2000-01/2001, Seite 13) Rechtsextremismus 33 Der Antisemitismus der NPD wurde insbesondere bei Angriffen gegen Repräsentanten jüdischer Institutionen deutlich, ohne die offenbar nicht einmal eine Filmbesprechung auskommt: " ... natürlich gibt es einen brutalen Widersacher, der sich Mühe gibt, so eklig wie Michel Friedman zu erscheinen." (Deutsche Stimme Nummer 4/2001, Seite 20) Vor allem Horst Mahler verbindet häufig antisemitische Ideologie mit Verschwörungstheorien und Agitation gegen die ökonomische Globalisierung: "Es ist der die gläubigen Juden auf die Erlangung der Weltherrschaft durch Geldleihe ausrichtende Jahwe-Kult, der dem kapitalistischen System gegenwärtig seine tödliche Dynamik verleiht." (Deutsche Stimme Sonderausgabe Nummer 9/2001, Seite 3) In besonderer Weise bekämpft die Partei die parlamentarische Demokratie. Dabei tritt an die Stelle konstruktiver Kritik eine bewusst entstellende und überspitzt verallgemeinernde Form der Darstellung: "Für jeden Nationalisten gilt es heute, nicht tatenlos zuzusehen, wie eine kleine Clique um ihre Pfründe bangender Politbonzen schamlos den freiheitlichen Rechtsstaat aushebeln will. Jetzt gilt es, gegen das in Deutschland schreiende Unrecht politischen Widerstand zu leisten!" (Deutsche Stimme Nummer 12/2000 - 1/2001, Seite 5) "Diätenerhöhungen, Postenschacherei, Schwarzkonten und Korruption bestimmen vielfach den politischen Alltag; Politiker brechen ihren Eid, betrügen die Allgemeinheit um Millionenbeträge, lassen sich von den Konzernen kaufen und wundern sich doch über die Politikverdrossenheit der Bundesbürger." (Deutsche Stimme Nummer 5/2001, Seite 1) Diese diffamierende Polemik zeigt deutlich, dass die NPD die Prinzipien des Mehrparteiensystems und der Chancengleichheit der Parteien trotz ihres formalen Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt. Darüber hinaus offenbart die Diktion der NPD, insbesondere der häufige Gebrauch des Begriffs "System", den bereits die NSDAP zur Diffamierung der Weimarer Republik eingesetzt hatte, eine Wesensverwandtschaft mit der Terminologie der NSDAP: "Eine Jugend, für die dieses System nichts als Beschimpfungen übrig hat, eine Jugend vielfach ohne Lehrstellen, ohne Aussicht auf einen Arbeits- 34 Rechtsextremismus platz, deren Zukunft bereits zerstört ist, bevor sie begonnen hat, wenn es in Deutschland nicht bald eine neue, eine gerechtere Ordnung gibt." (Deutsche Stimme Nummer 9/2001, Seite 2) NPD und JN lehnen die Wertordnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der bestehenden Form als "überholt und handlungsunfähig" ab und wollen sie deshalb beseitigen. Um dem Ziel der politischen Machtergreifung näher zu kommen, hat die Partei zur Verfolgung ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen ein auf drei "strategische Säulen" gestütztes Konzept entwickelt, nämlich - Programmatik: Schlacht um die Köpfe, - Massenmobilisierung: Schlacht um die Straße, - Wahlteilnahme: Schlacht um die Wähler. Ausdruck der an Etappenzielen ausgerichteten aggressiven Strategie der NPD ist auch das Konzept der "Nationalen Außerparlamentarischen Opposition" (NAPO). Der NPD-Vorsitzende Voigt umschrieb dies als Synonym für den "Nationalen Widerstand" und erklärte, die Partei habe den "Kampf um die Straße" als "Speerspitze der Nationalen Außerparlamentarischen Opposition" aufgenommen. Innerhalb ihres "Drei-Säulen-Konzepts" räumt die NPD trotz des anhängigen Verbotsverfahrens deshalb dem "Kampf um die Straße" Priorität ein. Dabei zielt sie insbesondere auf Jugendliche, die sie als Aktionspotenzial nutzen kann. Die Partei bietet sich dabei als "Ordnungsfaktor" an. Wie umfangreich das strategische Konzept "Kampf um die Straße" in die Praxis umgesetzt werden konnte, zeigt die Tatsache, dass seit Voigts Amtsantritt im November 1996 die Zahl der von der NPD getragenen Versammlungen erheblich zunahm. So fanden inzwischen mehr als 500 - zunehmend mit Neonazis und Skinheads durchgeführte - Demonstrationen und öffentliche Aktionen mit bis zu 4.000 Teilnehmern statt. Nach dem äußeren Erscheinungsbild waren dabei kaum noch Unterschiede zwischen Neonazis und Angehörigen der NPD auszumachen. Insbesondere die Präsenz von Neonazis und Skinheads prägt häufig die Veranstaltungen der NPD. Sie wollen - nach NS-Vorbildern - mit massiver Häufung uniform auftretender, vielfach kahlgeschorener sowie schwarz gekleideter Demonstrationsteilnehmer einen martialischen, aggressiven und Furcht einflößenden Eindruck vermitteln. Mit Parolen wie "Arbeit nur Rechtsextremismus 35 für Deutsche", "Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen", "Widerstand lässt sich nicht verbieten" und "Die Straße frei der NPD" werden Ängste vor Arbeitslosigkeit, Fremdbestimmung oder Überfremdung verstärkt und ausgenutzt. Damit soll eine Krisenstimmung geschürt werden, die den Angriff gegen den sozialen Rechtsstaat und die freiheitliche Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen soll. Die Demonstrationen der NPD, verstärkt durch militante Skinheads und Neonazis, sind deshalb äußerer Ausdruck des aggressiven Bestrebens der NPD, über den außerparlamentarischen Kampf politische Macht in Deutschland zu erringen. Voigt hält weiter an der Strategie fest, die NPD auf eine möglichst breite Basis zu stellen und unterschiedlichste Strömungen des "Nationalen Widerstands" zu bündeln. Hierbei genießt die themenund aktionsbezogene Zusammenarbeit mit Neonazis Priorität. Dem aus 20 Personen bestehenden NPD-Bundesvorstand gehören derzeit drei ehemalige Aktivisten verbotener neonazistischer Gruppierungen an. In den NPD-Landesverbänden sind viele Personen mit neonazistischem Vorlauf bekannt, die zum Teil herausgehobene Funktionen ausüben. Darüber hinaus betrachtet die NPD Skinheads als natürliche Bündnispartner. Ihre Nähe zur gewaltbereiten Skinhead-Szene entspricht ihrem eigenen Verhältnis zur Gewalt. So kam es am 19. Mai in Herzogenaurach nach Beendigung einer NPD-Veranstaltung, an der überwiegend Personen der Skinhead-Szene teilnahmen, zu tätlichen Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten. Ein Teilnehmer zeigte den Hitler-Gruß. Die Ende Juli von Anhängern der NPD in Nürnberg gegründete "Bürgerinitiative Ausländerstopp" nominierte den wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Aufstachelung zum Raßenhass mehrfach vorbestraften ehemaligen NPD-Bundesvorsitzenden Günter Deckert für die Kommunalwahl 2002 als Bewerber um das Amt des Nürnberger Oberbürgermeisters. Die Kandidatur scheiterte, weil es die NPD versäumt hatte, für Deckert eine eigene Unterschriftenliste auszulegen. Bei einer Kundgebung der Bürgerinitiative am 27. Oktober in Nürnberg standen den 350 Teilnehmern etwa 3.000 Gegendemonstranten gegenüber. Die Polizei nahm mehrere Personen sowohl aus dem rechts - als auch aus dem linksextremistischen Spektrum vorläufig fest bzw. in Gewahrsam. Die aktiv-kämpferische und aggressive Grundhaltung der Partei spiegelt sich auch in ihrer Rhetorik wider. So erklärte der stellvertretende 36 Rechtsextremismus Parteivorsitzende Dr. Eisenecker in einem Rundschreiben zur aktuellen Lage der Partei vom 21. September: "Wir werden unsere Freiheit nur gegen die herrschenden US-Interessen und ihre Vasallen durchsetzen können. Mit 'Liebsein', bürgerlicher Anpassung und Anständigkeit, Leisetreterei usw. ist das Ziel nicht zu erreichen. Nur eine feste innere Überzeugung von unseren Werten, Zielklarheit, Opferbereitschaft, disziplinierte Härte und Unbeirrbarkeit kann uns und unseren Kampf zu einem erfolgreichen Ende führen." In dem aggressiv und provokant geführten Wahlkampf im Oktober in Berlin sprach Udo Voigt von einem "nationalen Sturm auf Berlin", der jetzt begonnen habe. Die NPD wolle "die herrschenden Politiker austauschen, bevor Politkriminelle uns Deutsche gegen Ausländer ausgetauscht haben". Darüber hinaus agierte die Partei mit Parolen wie "Die Polit-Kriminellen aus dem Abgeordnetenhaus direkt in den Knast!", "Deine Rache - NPD" und "Unsere Parole heißt Angriff!". Mit einer Neuorientierung hin zum "Nationalen Sozialismus", einer Verknüpfung von "Nation" und "Sozialismus", wirbt die NPD insbesondere in den neuen Bundesländern um Anhänger. Zugleich sieht sich die Partei als Anführerin einer breiten sozialen Protestbewegung, die in öffentlichen Aufmärschen auf der Straße gemeinsam mit Neonazis und Skinheads ihre auf die Überwindung des Systems gerichteten Ziele verfolgt. Sie bietet mit ihrer Organisation der Neonazi-Szene eine legale Organisationsform an und ist somit mitverantwortlich für ein geistiges Klima, das den Boden für Übergriffe von Rechtsextremisten auf Ausländer und andere Minderheiten bereitet. Zugleich hat sich ihre verbale Ablehnung des parlamentarischen Verfassungsstaats verschärft. Staatliche Maßnahmen, die Verbotsdebatte und ein breiter Widerstand in der Bevölkerung gegen den Rechtsextremismus lassen jedoch das Konzept der Partei und der von ihr im "Nationalen Widerstand" geführten "unabhängigen Kameradschaften" nicht aufgehen. 2.1.2 Organisation Die Verbotsdiskussion löste im rechtsextremistischen Spektrum zunächst eine Solidarisierung aus, die der NPD vorübergehend neuen Zulauf brachte. Von diesem Effekt konnte die Partei allerdings nicht nachhaltig profitieren. Ende 2001 zählte die NPD wie im Vorjahr rund 6.500 Mitglieder. Die Partei mit Sitz in Berlin gliedert sich in 15 Lan- Rechtsextremismus 37 desverbände, die wiederum in Bezirksund Kreisverbände unterteilt sind. Bundesvorsitzender ist seit März 1996 Udo Voigt; seine Stellvertreter sind Holger Apfel, Jürgen Schön und Dr. Hans-Günther Eisenecker. Auf dem außerordentlichen Bundesparteitag am 3. und 4. März in der Vilsgau-Halle in Lichtenhaag, Landkreis Landshut, stand die "Verteidigungsstrategie" des Horst Mahler, der die NPD im anhängigen Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt, im Mittelpunkt. Neuwahlen fanden nicht statt. Redaktion und Anzeigenabteilung des Parteiorgans "Deutsche Stimme" (DS) befinden sich in Riesa/Sachsen. Der Landesverband Bayern mit derzeitiger Adresse in Geiselhöring, Landkreis Straubing-Bogen, zählt rund 900 (2000: 975) Mitglieder, darunter zahlreiche Angehörige der Neonaziund Skinhead-Szene. Er gliedert sich in sieben Bezirksund rund 50 Kreisverbände, von denen aber mehr als die Hälfte nicht aktiv ist. Der Landesverband wird von Ralf Ollert geleitet, seine Stellvertreter sind Franz Salzberger und Sascha Roßmüller. Zwei Beisitzer haben Verbindungen zur Skinhead-Szene. Der Kontakt zur parteiinternen oppositionellen "Revolutionären Plattform - Aufbruch 2000" (RPF) bestand bis zu deren Auflösung weiter fort. Die NPD verfügt mittlerweile über das umfassendste Angebot aller rechtsextremistischen Parteien im Internet. Sie bietet als Provider über eine Domain "npd.net" in Bochum einen eigenen Zugangsservice in das Internet an und verbreitet aktuelle Informationen zu besonders bedeutenden Veranstaltungen. Die Netzseite verfügt über mehrere Diskussionsforen sowie ein eigenes Textarchiv mit Schlagwortsuchmodus, über den alle bislang von der NPD veröffentlichten Texte verfügbar sind. Die meisten NPD-Landesverbände verfügen über eigene Internet-Seiten. Über eine Linkliste sind alle Angebote von Untergliederungen der NPD und ihrer Jugendorganisation zugänglich. Die NPD und ihre Jugendorganisation unterhalten Verbindungen zu gleichgesinnten Personen und Organisationen im westeuropäischen Ausland, insbesondere nach Österreich und Italien. Allerdings ist die NPD ihrem Ziel der Bildung einer nationalistischen nordeuropäischen Allianz nicht näher gekommen. 38 Rechtsextremismus 2.1.3 Teilnahme an Wahlen Die Partei konnte ihr Konzept, das gegen sie anhängige Verbotsverfahren für ihre Wahlwerbung propagandistisch zu nutzen, nicht in nennenswerte Stimmengewinne ummünzen. Sie büßte bei den Kommunalwahlen in Hessen am 18. März sogar etwa zwei Drittel ihrer kommunalen Mandate ein. Bei der Landtagswahl von Baden-Württemberg am 25. März erhielt die NPD 0,2 % der Stimmen. Die Wahlkampfveranstaltungen der Partei hatten bei der Bevölkerung wenig Resonanz gefunden. An der Landtagswahl 1966 hatte sich die NPD nicht beteiligt. In Rheinland-Pfalz erzielte die Partei bei der dortigen Landtagswahl am 25. März einen Stimmenanteil von 0,5 % und konnte damit das Ergebnis von 1996 (0,4 %) nur geringfügig verbessern. Spitzenkandidat der NPD bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober war der Bundesvorsitzende Udo Voigt. In einem mit aggressiven und provokanten Parolen geführten Wahlkampf versuchte die NPD, die Terroranschläge vom 11. September in den USA für ihre Propaganda zu instrumentalisieren und sich als "nationale Friedenspartei" zu präsentieren. Dennoch erreichte sie lediglich 0,9 % der Stimmen (1999: 0,8 %) und verfehlte damit ihr Ziel, die REP zu überflügeln und mit einem Mindestergebnis von 1,0 % an der staatlichen Teilfinanzierung der Parteien zu partizipieren. Darüber hinaus beteiligte sich die NPD anlässlich der im Jahr 2002 anstehenden Kommunalwahlen an parteiübergreifenden Wahlbündnissen wie der "Bürgerinitiative Ausländerstopp" in Nürnberg und dem ebenfalls im Sommer gegründeten "Augsburger Bündnis - Nationale Opposition". 2.1.4 Reaktionen auf die Verbotsinitiative 2.1.4.1 Unvereinbarkeitsbeschluss Angesichts des gegen die Partei angestrengten Verbotsverfahrens war die NPD-Führung zunächst bestrebt, die sie belastenden Argumente zu entkräften, indem sie unter anderem formal auf Distanz zu neonazistischen Kräften ging. Die im Vorjahr als Oppositionsgruppe innerhalb der NPD gegründete "Revolutionäre Plattform - Aufbruch 2000" (RPF) lehnte dagegen jede Abgrenzung gegenüber Neonazis Rechtsextremismus 39 und neonazistischen Skinheads ab und setzte sich für den kompromisslosen "Kampf um die Straße" sowie eine radikal am Nationalsozialismus ausgerichtete Ideologisierung ein. Die Parteiführung versuchte zunächst Stärke und Handlungsfähigkeit gegenüber der RPF zu beweisen. So fasste der Parteivorstand Anfang Dezember 2000 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die RPF und drohte Mitgliedern bei Zuwiderhandlung mit Parteiausschluss. Diese Maßnahme hatte jedoch kaum länger Bestand als der taktisch motivierte vorübergehende Verzicht auf öffentliche Auftritte mit Skinheads und Neonazis, den die Parteispitze bereits im Vorjahr als Zugeständnis an die interne Opposition wieder aufgegeben hatte. Als Fürsprecher der RPF und aktiver Vermittler in der NPD engagierte sich der ehemalige RAF-Anwalt Horst Mahler, wobei er vor allem die wichtige Scharnierfunktion der RPF zwischen der NPD und den nicht parteigebundenen Neonazis und Skinheads betonte. Vertreter des NPD-Parteivorstands und der RPF unterzeichneten schließlich am 24. Januar in Sachsen eine Übereinkunft, nach der sich die RPF als eigenständige Organisation auflöst und eine offizielle Arbeitsgemeinschaft beim Parteivorstand der NPD bildet. Im Gegenzug hob der NPD-Parteivorstand den Unvereinbarkeitsbeschluss zur RPF auf. Offensichtlich wollte die Parteiführung weitere Konflikte vermeiden, um ihren Einfluss auf die relativ starken Oppositionskräfte nicht völlig zu verlieren. 2.1.4.2 Beratung der Verteidigungstaktik Die Bundesregierung beantragte am 29. Januar beim Bundesverfassungsgericht, die Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und ihrer Jugendorganisation JN festzustellen. Bundestag und Bundesrat reichten entsprechende Verbotsanträge am 30. März ein. Mit Beschluss vom 3. Juli hat das Gericht die Anträge zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Vor dem Hintergrund des Verbotsverfahrens fand am 3./4. März in Lichtenhaag, Landkreis Landshut, unter dem Motto "Kampf für Deutschland" ein außerordentlicher Bundesparteitag statt. An der Veranstaltung nahmen etwa 400 Personen teil, darunter über 200 Delegierte. Im Vorfeld des Parteitags hatte es auch im Bundesvorstand heftige Kontroversen um die Verteidigungsstrategie bzw. die Prozessführung durch den im November 2000 mit der Vertretung der 40 Rechtsextremismus NPD beauftragten Rechtsanwalt und ehemaligen Linksterroristen Horst Mahler gegeben. Der Bundesvorsitzende Udo Voigt bezeichnete den Verbotsantrag der Bundesregierung gegen die NPD als "willkürliche Verfolgung" einer gerade unter jungen Menschen erfolgreichen Partei und kündigte eine "Propagandaoffensive" an. Mahler stellte den Delegierten sein von Voigt unterstütztes Konzept einer "offensiven" Verteidigung vor, das schließlich die breite Zustimmung der Delegierten fand. Ein Bekenntnis der NPD zum Grundgesetz sei demnach nicht erforderlich, weil dieses verändert werden könne und nur eine "begrenzte Geltungsdauer" aufweise. Etwaige Programmänderungen oder Programmergänzungen würden ohnehin nur als Alibihandlungen und letztlich als Schuldeingeständnis bewertet. Einige Funktionäre warfen Mahler vor, seine neonazistische Position führe die NPD zwangsläufig in das Verbot, da sie die Argumente der Antragsteller geradewegs bestätige. Mahlers Kritiker konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Die Delegierten billigten ferner mit großer Mehrheit einen Leitantrag des Parteivorstands "Die NPD und das politische System der BRD", der eine "nationaldemokratische Abrechnung" mit dem "System" enthält. Die NPD bekräftigte damit die Fortführung ihres aktionistischen "Kampfs um die Straße". Resümierend stellte Voigt fest, dass der Parteitag den Kurs der Führung bestätigt und "reaktionären Kräften" innerhalb und außerhalb der Partei eine Abfuhr erteilt habe. 2.1.4.3 Erwiderungsschriftsätze und weitere Prozesshandlungen In den Stellungnahmen zu den Verbotsanträgen der drei Verfassungsorgane beantragte die NPD jeweils die Nichtzulassung des Hauptverfahrens und verfolgte insgesamt die zuvor öffentlich angekündigte offensive Prozessstrategie. Zum Antrag der Bundesregierung erklärte sie mit Schriftsatz vom 20. April, die Bundesregierung missbrauche ihr Antragsrecht, um die NPD als Konkurrentin auszuschalten. Der Verbotsantrag diene nicht dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sondern dem Schutz einer gescheiterten Politik, deren Ziel die "Multiethnisierung" der Bevölkerung in der Mitte Europas als "nicht mehr debattierbares Schicksal unseres Volkes" sei. Zudem ergäben die dem Gericht von der Antragstellerin unterbreiteten Ermittlungsergebnisse Rechtsextremismus 41 keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein Verbot. So seien öffentliche Versammlungen im Rahmen des "Kampfs um die Straße" nicht Ausdruck aggressiv-kämpferischen Verhaltens, sondern legitime Ausübung des Demonstrationsrechts. Die der NPD angelasteten Äußerungen einzelner Mitglieder bzw. Funktionäre stünden unter dem Schutz der Meinungsfreiheit oder seien als "bloße Entgleisungen" der Partei nicht zurechenbar. Auch die Zusammenarbeit mit Skinheads sei nicht zu beanstanden; andernfalls würden "unbescholtene Bürger" kollektiv verfemt und junge Menschen durch Hasspropaganda aus der menschlichen Gemeinschaft ausgegrenzt. Die NPD und die von ihr verfolgten Ziele seien nicht nur nicht verfassungswidrig, sondern vielmehr Ausdruck eines sich gerade innerhalb der deutschen Jugend immer stärker manifestierenden Volkswillens. Demgegenüber seien die Vertreter der "Systemparteien" in Wahrheit die Feinde der Volkssouveränität sowie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie seien die "Gehilfen einer Fremdherrschaft über das deutsche Volk", die "die Wiederbelebung des Deutschtums unter allen Umständen verhindern" und deshalb die NPD verbieten lassen wollten. Folglich sei auch das Konzept der wehrhaften Demokratie und speziell Art. 21 GG verfassungswidrig, da beides Instrumente illegitimer, den freien Volkswillen unterdrückender Machterhaltungsstrategien seien. Zahlreiche Erkenntnisse gingen überdies auf "agents provocateurs" zurück, was zu gegebener Zeit mit entsprechenden Beweisanträgen belegt werde. Mit Schriftsatz vom 30. Mai äußerte der NPD-Prozessbevollmächtigte Mahler zum Verbotsantrag des Bundestags, es sei eine Schande, die NPD wegen "Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus" verbieten zu wollen. Ein derart begründeter Antrag spiegele letztlich nur die nach wie vor bestehende Unfreiheit der Deutschen zur Betrachtung der eigenen Geschichte wider und sei deshalb "im Namen des deutschen Volkes kraft seiner Souveränität" zurückzuweisen. Zur weiteren Begründung war in einer verschwörungstheoretisch-revisionistischen Betrachtung angeführt, es sei bereits seit der Präsidentschaft Roosevelts das Ziel der von der (jüdischen) "Ostküste" beeinflussten Politik der USA gewesen, die "nationalsozialistische Systemkonkurrenz" und den von ihr beschrittenen "Dritten Weg" der "Überwindung des Liberalkapitalismus durch die Volksgemeinschaft" zu vernichten. Dies sei zunächst - unter gezielter und systematischer Vorbereitung - militärisch geschehen und anschließend durch "spirituelle Waffensysteme" wie Umerziehungsprogramme 42 Rechtsextremismus und "Verschleierung" durch die Politische Wissenschaft" erfolgt. Hierbei handele es sich um "Quacksalberei zum Zwecke der Herrschaftssicherung zugunsten der US-Ostküste". Auf diese Weise sei der Glaube verordnet worden, dass "im Nationalsozialismus das Reich des Bösen reale Gestalt angenommen" habe. Die Stellungnahme der NPD vom 19. Juni zum Verbotsantrag des Bundesrats wurde vom Leiter der NPD-Rechtsabteilung und stellvertretenden Bundesvorsitzenden Dr. Hans-Günter Eisenecker verfasst, den die NPD zur Unterstützung von Mahler nachträglich zum zweiten Prozessbevollmächtigten bestimmt hatte. Wie zuvor Mahler beantragte auch Dr. Eisenecker die Nichtzulassung des Verbotsantrags. Er bewertete die vorgebrachten Verbotsargumente als unbegründet, ihre Zusammenstellung als willkürlich und den Verbotsantrag in seiner Gesamtheit als politisch motiviert und interessengeleitet. Eigentliches Ziel sei, der Öffentlichkeit ein Bedrohungsszenario vorzugaukeln. Der Antrag sei daher rechtsmissbräuchlich. Im Wesentlichen kritisierte Dr. Eisenecker die angeblich fehlende rational begründete Methodik des Antragstellers. Daraus ergäben sich elementare Missverständnisse des Wesens und der Ziele der NPD. Diese sei als Weltanschauungspartei mit einem "kosmozentrischen Weltbild" unter dem Stichwort "lebensrichtiges Menschenbild" bestrebt, die "zeitlos gültigen Lebensbedingungen des Menschseins zu erfassen". Da der Antragsteller dies nicht erkannt habe, stülpe er ungerechtfertigterweise sein eigenes Begriffskorsett der NPD über und mache dieser dann die daraus entstandenen Fehlinterpretationen zum Vorwurf. So habe beispielsweise der Begriff "Revolution" nichts mit Umsturz oder Gewalt zu tun, sondern sei "geistig zu verstehen". Wenn die NPD die Überwindung des "Systems" propagiere, sei damit die Abschaffung des "liberalkapitalistischen Systems" und nicht etwa die Beseitigung der bestehenden demokratischen Staatsform gemeint. Die der NPD vorgehaltene Zusammenarbeit mit Neonazis und Skinheads sei Teil eines von ihr ernst genommenen Verfassungsauftrags; damit werde die Jugendszene, die mit der "rechten Gewalt" in Verbindung gebracht werde, in "politisch konstruktive Bereiche" kanalisiert. Bei verbalen wie strafrechtlichen Entgleisungen spielten zudem "Spitzel, Einflussund Provokationsagenten diverser Auftraggeber" eine beachtliche Rolle. Die Schriftsätze sind im Internet auf der von Mahler eigens für das Verbotsverfahren eingerichteten Seite abrufbar. Mahler veröffentlichte darin auch einen von ihm verfassten Antrag an das Bundesverfas- Rechtsextremismus 43 sungsgericht vom 21. Februar auf Aussetzung des Verbotsverfahrens und Vorlage beim Europäischen Gerichtshof. Diesen Antrag begründete er unter anderem damit, dass es sich bei der NPD wegen ihrer Teilnahme an Europawahlen um eine europäische Partei handele. Als solche könne sie nicht von einem Mitgliedsstaat aufgrund eines einzelstaatlichen Gesetzes verboten werden. Das Bundesverfassungsgericht wies den Antrag am 22. November als unbegründet zurück und stellte dazu fest, dass das EU-Recht keine Vorschriften über das Verbot politischer Parteien enthalte. Außerdem gehe es in diesem Parteiverbotsverfahren nicht um die Anwendung von EU-Recht; daher sei die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs nicht gegeben. Die Staatsanwaltschaft Berlin führte im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen den Prozessbevollmächtigten der NPD Rechtsanwalt Horst Mahler unter anderem wegen Verdachts der Volksverhetzung am 11. Juni Hausdurchsuchungen durch. Die Exekutivmaßnahmen bezogen sich auf die Privatund Kanzleiräume sowie auf das Büro von Mahler in der NPD-Parteizentrale in Berlin, das er auch als Vertreter der NPD im Verbotsverfahren gegen die Partei nutzt. Mahler stellte daraufhin einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht, das Parteiverbotsverfahren gegen die NPD auszusetzen. Nach Auffassung von Mahler sollen die Hausdurchsuchungen planmäßig und rechtswidrig der Ausspähung der Verteidigungsstrategie der NPD gedient haben. Das Bundesverfassungsgericht ordnete mit Beschluss vom 3. Juli an, alle sichergestellten elektronischen Daten, Datenträger und Unterlagen unverzüglich an Mahler zurück zu geben, da die Sicherstellung von Verteidigungsunterlagen bei dem Prozessbevollmächtigten eine Gefährdung des anhängigen Parteiverbotsverfahrens als möglich erscheinen lasse. In einem weiteren Beschluss vom 4. Dezember wurde diese einstweilige Anordnung aufrechterhalten. Am 13. Juli beantragte Rechtsanwalt Mahler die endgültige Einstellung des Verfahrens mit der Begründung, das Land Berlin habe sich unter einem Vorwand Einsicht in die Planung der Verteidigung der NPD gegen die Verbotsanträge der Verfassungsorgane verschafft. Am 1. Oktober beschloss der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass die Verhandlung über die Anträge des Deutschen Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) für verfassungswidrig zu erklären, 44 Rechtsextremismus durchzuführen sei. Damit war das Vorverfahren abgeschlossen mit dem Ergebnis, dass die Anträge der Verfassungsorgane zulässig und hinsichtlich der Eröffnung der Hauptverhandlung hinreichend begründet sind. Dazu erklärte die NPD in einer Pressemitteilung vom 4. Oktober, die Parteiführung habe diesen Beschluss mit "großer Erleichterung" zur Kenntnis genommen. Immer wieder hätten die Etablierten mit der "Verbotskeule" gegen die älteste nationale Partei Deutschlands opponiert. Die NPD habe "nun erstmals die Möglichkeit, sich vor dem obersten deutschen Gericht gegen die Lügen und Verleumdungen durch Verfassungsschutzämter und Innenminister zu verteidigen. In diesem Verfahren wird endlich Klarheit darüber geschaffen werden, ob die Demokratie der BRD auch eine fundamentale Oppositionspartei vertragen kann." Mit Beschluss vom 22. Januar 2002 hob das Bundesverfassungsgericht die am 5. Dezember 2001 für Februar 2002 angesetzten Verhandlungstermine wieder auf, nachdem ein Beamter des Bundesinnenministeriums einem Richter des Bundesverfassungsgerichts informell fernmündlich mitgeteilt hatte, dass eine der vom Gericht geladenen 14 Auskunftspersonen aus dem Bereich der NPD ein V-Mann des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen war, der Bitte des Gerichts um eine formelle schriftliche Information aber nicht Folge leistete. Trotz vorübergehend positiver Auswirkungen auf den Mitgliederbestand führte die Verbotsdiskussion zu einer erheblichen Destabilisierung der NPD. Die Partei hat sowohl mit organisatorischen als auch starken finanziellen Belastungen zu kämpfen. Die von Funktionären der NPD selbstbewusst zur Schau getragene Siegeszuversicht scheint nur fingiert zu sein. Der Parteivorsitzende Udo Voigt sieht sich heftiger Kritik seitens der oppositionellen RPF, aber auch aus der eigenen Anhängerschaft, ausgesetzt. Sein bedingungsloses Eintreten für Horst Mahler ist in den Reihen des NPD-Vorstands überaus umstritten. Voigt bezeichnet den Prozessvertreter der NPD als "Kamerad Mahler" bzw. als "eine Person der Zeitgeschichte, die konsequenterweise den Weg zur NPD gefunden hat". Diese Haltung ist der Parteibasis nur schwer vermittelbar. Der Prozessbevollmächtigte der NPD sah in der Absetzung der Verhandlungstermine ein gewolltes Ergebnis einer Strategie der Antrag- Rechtsextremismus 45 steller. Diese hätten erkannt, dass die Verbotsanträge nicht zum Ziel führen würden und versuchten deshalb, das Verfahren auf diese Weise zu beenden. 2.1.5 Sonstige Aktivitäten 2.1.5.1 "Wortergreifungsstrategie" Im Berichtszeitraum häufte sich die Beteiligung von Rechtsextremisten an öffentlichen Veranstaltungen, so Anfang Mai bei Podiumsdiskussionen in Coburg und Regensburg sowie am 10. Mai bei einem Vortragsabend in Cham. Meist versuchten die rechtsextremistischen Wortführer, die Referenten durch provokante Fragen zu verunsichern und damit die Zuhörer, aber auch die eigenen Gesinnungsgenossen, zu beeindrucken. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei Funktionäre der NPD und ihrer Jugendorganisation. Ihr Verhalten entspricht dem strategischen "Drei-Säulen-Konzept", mit dem die NPD insbesondere im "Kampf um die Straße" politischen Einfluss gewinnen will. Schon im Herbst 2000 hatte der NPD-Vorsitzende Udo Voigt eine "Gegenoffensive" in der Verbotsdiskussion angekündigt, insbesondere gegen die "Diffamierungen, Hetze, Beleidigungen und Schmähkritik", denen die NPD staatlicherseits ausgesetzt sei. Auf dem Bundesparteitag im März 2001 forderte er den verstärkten Besuch von Veranstaltungen politischer Gegner und die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen zum NPD-Verbot unter dem Motto "Argumente statt Verbote", damit solle das Ansehen der Partei gehoben werden. Gerade wegen des gegen die NPD eingeleiteten Verbotsverfahrens ist in dem provozierenden Auftreten von Rechtsextremisten auch eine "Trotzreaktion" zu sehen, mit der sich außerdem ein anderweitig kaum mögliches Echo in den Medien erzielen lässt. Strafrechtlich relevante Vorgänge, insbesondere gewaltsame Ausschreitungen, sind bei solchen Aktionen trotz des mitunter martialisch wirkenden Erscheinungsbilds der rechtsextremistischen Besucher bisher nicht bekannt geworden. 2.1.5.2 Kundgebungen und sonstige Aktionen Im strategischen "Drei-Säulen-Konzept" der NPD liegt der Schwerpunkt der politischen Aktivitäten derzeit beim "Kampf um die Straße". Die Partei will mit zahlreichen öffentlichen Kundgebungen Präsenz demonstrieren und der Bevölkerung das Bild einer durchsetzungsfähigen politischen Kraft vermitteln. 46 Rechtsextremismus Um ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, veranstaltete die NPD unter dem Motto "Arbeitsplätze zuerst für Deutsche" in Berlin, Dresden, Mannheim, Essen und Augsburg fünf Kundgebungen zum 1. Mai. Der Anteil der Skinheads unter den insgesamt rund 3.300 Teilnehmern betrug mehr als 40 %. Die NPD hatte zuvor teilweise erfolgreich vor Verwaltungsgerichten gegen Versammlungsverbote geklagt. Die Verbote gegen die Demonstrationen in Augsburg und Essen wurden erst durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben. An der Kundgebung in Augsburg nahmen rund 200 Personen teil, unter ihnen der JN-Bundesvorsitzende Sascha Roßmüller, der bayerische NPD-Landesvorsitzende Ralf Ollert und Per Lennart Aae, der damals für rechtliche Angelegenheiten im NPD-Landesverband zuständig war. Die Redner behandelten unter anderem die Themen "Globalisierung" und "EU-Erweiterung". Sie betonten, die NPD wolle mit dem Konzept einer Nationalen Volkswirtschaft ein Zeichen für den Erhalt der Arbeitsplätze für Deutsche in Deutschland setzen, während die Politik der etablierten Parteien immer mehr Arbeitsplätze im Inland vernichte. Die Zusammenarbeit zwischen der NPD und rechtsextremistischen Skinheads zeigte sich unter anderem bei einer von Ralf Ollert für den 19. Mai angemeldeten "Mahnwache" in Herzogenaurach, Landkreis Erlangen-Höchstadt. Diese Veranstaltung wurde von der Skinhead-Gruppierung "Fränkische Aktionsfront" (F.A.F.) unterstützt, die unter dem Motto "Linker Terror in Herzogenaurach!" Flugblätter an Haushalte verteilte. Am 16. Juni demonstrierten in Göttingen zahlreiche NPD-Anhänger im Schulterschluss mit rechtsextremistischen Skinheads und Angehörigen von neonazistischen Kameradschaften. Udo Voigt äußerte in seiner Rede seine Zufriedenheit über die Teilnehmerzahl von insgesamt rund 550 Personen, unabhängig davon, ob es sich um Anhänger der Partei oder der "Freien Kameradschaften" handele. Horst Mahler forderte protestierende Gegendemonstranten auf, sich mit der NPD gegen den gemeinsamen Feind, die "Globalisierungs-Befürworter", zu stellen. Die Polizei löste schließlich die Versammlung auf. Anlässlich des Schlesiertreffens am 14./15. Juli in der Nürnberger Frankenhalle zeigten drei NPD-Mitglieder während des Vortrages von Bundesinnenminister Otto Schily ein Tuch mit der Aufschrift "NPD - die Rechtsextremismus 47 Bonzen lügen alle gleich - mit uns kehrt Schlesien heim ins Reich". Die Teilnehmer der Veranstaltung distanzierten sich von der Aktion. Das Tuch wurde sichergestellt und die Personen des Saals verwiesen. In einem lagerübergreifenden Schulterschluss versammelten sich am 3. Oktober in Berlin rund 1.000 Rechtsextremisten zu einem von der NPD und dem rechtsextremistischen "Bündnis Rechts" veranstalteten Aufzug unter dem Motto "Deutschland ist mehr als die Bundesrepublik - Frieden für Deutschland - keine Stimme den Kriegsparteien". Unter den Teilnehmern befanden sich der Parteivorsitzende Udo Voigt, der NPD-Prozessbevollmächtigte Horst Mahler, der NPD-Bundesgeschäftsführer Frank Schwerdt und der führende Neonazi Christian Worch. Die Redner polemisierten gegen die USA und bezeichneten die Terroranschläge vom 11. September als deutliche Zeichen des "Widerstands der unterdrückten Völker" gegen die Globalisierung und den "US-Imperialismus". Schwerdt verlas in diesem Zusammenhang eine von Mahler vorbereitete Erklärung "Den Völkern Freiheit - Den Globalisten ihr globales Vietnam". In der am Vortag auf einer gemeinsamen Arbeitssitzung von Neonazis und Vertretern der NPD einstimmig verabschiedeten Deklaration hieß es: "Der Krieg ... ist in sein Endstadium getreten. (...) Der Luftschlag vom 11. September 2001 ist die Markierung der Globalisten als Aggressoren der geschundenen und abgeweideten Völker. (...) In diesem Kampf ... erweist sich die Berufung der Deutschen zum welthistorischen Volk." Trotz nach wie vor bestehender Differenzen mit den neonazistischen "Freien Nationalisten" gelang es der NPD mit einem Aufzug am 1. Dezember in Berlin erneut, in ihrem "Kampf um die Straße" ein breites Bündnis des "Nationalen Widerstands" zu vereinen. An der Kundgebung gegen die neu konzipierte Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht - Dimension des Vernichtungskriegs" beteiligten sich rund 3.500 Rechtsextremisten, darunter auch etwa 400 Personen aus Bayern. Der Anteil rechtsextremistischer Skinheads betrug etwa 70 %. Die Demonstranten skandierten Parolen wie "Reemtsma lass das Hetzen sein, pack die Koffer und fahr heim" und "Schützt unsere Väter - Stoppt die Verräter". Als Gäste waren der österreichische Revisionist Herbert Schweiger und der Vorsitzende der rechtsextremistischen italienischen "Forza Nuova" Roberto Fiore erschienen, der 48 Rechtsextremismus ein Grußwort überbrachte und Solidarität mit der NPD bekundete. Der Parteivorsitzende Udo Voigt, der die "Wehrmachtsausstellung" als "Diffamierungsveranstaltung", "pseudowissenschaftliche Hetze" und "historischen Betrug" kritisiert, rief dazu auf, die "einseitige Vergangenheitsbewältigung" zu beenden, und erklärte, gerade unter dem Eindruck einer solchen Ausstellung lehne die NPD eine deutsche Beteiligung an "völkerrechtswidrigen, kriegerischen Terrorhandlungen der USA" ab. 2.1.6 Junge Nationaldemokraten (JN) Deutschland Bayern Mitglieder: 350 75 Vorsitzender: Sascha Roßmüller Stefan Göbeke-Teichert Gründung: 1969 Sitz: Riesa/Sachsen Publikation: Der Aktivist Mit den JN verfügt die NPD als einzige rechtsextremistische Partei über eine noch relativ bedeutende Jugendorganisation. Die JN bekennen sich in Ideologie und Zielsetzung zum Programm ihrer Mutterpartei. Sie verstehen sich als "weltanschaulich geschlossene Jugendbewegung neuen Typs mit revolutionärer Ausrichtung" und wollen die "Volksgemeinschaft" in einer "neuen nationalistischen Ordnung" verwirklichen. So betonen sie die "zwingende Notwendigkeit des nationalistischen Befreiungskampfs" und streben danach, das "Leitbild des politischen Soldaten zu verkörpern". Ihre Aktivitäten gehen im Aktionismus der Mutterpartei auf. Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Vorbereitung und Durchführung der von NPD/JN organisierten Demonstrationen und Großveranstaltungen. Auch ihrer frühere Funktion als Nahtstelle zwischen NPD und neonazistischen Organisationen haben sie in die NPD transformiert. Mittlerweile sind etliche neonazistische JN-Aktivisten in hohe NPD-Funktionen aufgerückt und pflegen nun von dort aus intensive Kontakte zur Neonazi-Szene und zum Skinhead-Spektrum. Der Anteil der Neonazis und Skinheads unter den JN-Mitgliedern liegt nahezu unverändert bei etwa 40 %. Die Zusammenarbeit mit NPD und JN ermöglicht es den neonazistischen "Freien Nationalisten", unter dem organisatorischen Dach einer Partei unbehelligt an Demonstrationen teilzu- Rechtsextremismus 49 nehmen und sich an der politischen Arbeit zu beteiligen. Der JN -Bundesvorsitzende Roßmüller, der kraft Amts dem NPD-Parteivorstand angehört, beschreibt diese Situation wie folgt: "In den meisten Fällen existiert eine konstruktive, freundschaftliche Zusammenarbeit mit unabhängigen Kameradschaften. Das ist gut so und wird von uns natürlich weiterhin gefördert. Am ehesten kann man wohl sagen, dass wir partiellen Kooperationen mit allen politikfähigen Nationalisten aufgeschlossen gegenüber stehen, die ihr Augenmerk auf die Gestaltung der Zukunft richten und erkennen lassen, dass in der Kooperation zwischen parteigebundenen und ungebundenen Kräften nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame zu suchen ist." Zu den Auswirkungen des gegen die Mutterpartei eingeleiteten Verbotsverfahrens zählt neben organisatorischen Defiziten auch der diesjährige Verzicht der JN auf die Durchführung des "Europäischen Kongresses der Jugend", der gegenüber der Öffentlichkeit alljährlich den Eindruck einer regen internationalen Zusammenarbeit erwecken sollte. Der JN -Bundesvorsitzende Sascha Roßmüller kritisierte im Vorfeld des 30. JN-Bundeskongresses im September in Mecklenburg-Vorpommern die täglich zunehmende "Gesinnungsschnüffelei, die Pogromstimmung" sowie den staatlichen und medialen "Verfolgungsdruck gegen jegliche nationale Regung in unserem Volk." Dennoch erteilte er jeglicher Resignation eine Absage; der "Kampf um Deutschland" sei noch nicht beendet. Vielmehr unterstrichen die existierenden Missstände die "immense Bedeutung der Existenz einer im Völkischen verwurzelten, authentisch nationalistischen Opposition, die sich die Zukunft erobern will". Solche Durchhalteparolen vermögen allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die JN ihre Funktion als "Speerspitze des nationalen Widerstands" verloren haben. Die durch Inaktivität und fehlende Integrationspersönlichkeiten gekennzeichnete Krise der JN als eigenständige Organisation wurde auch im Landesverband Bayern deutlich. Nach dem Rücktritt des erst im Januar 2000 gewählten Landesvorsitzenden Frederick Seifert wurde der Landesverband seit Mitte des Jahres kommissarisch von Alexander Feyen geleitet. Die jetzige Zusammensetzung des am 8. Dezember mit nur wenigen Teilnehmern in Schwenningen, Landkreis Dillingen a.d. Donau, gewählten Landes- 50 Rechtsextremismus vorstands mit dem neuen Vorsitzenden Göbeke-Teichert lässt eine starke neonazistische Ausrichtung erkennen. Einige seiner Stellvertreter entstammen neonazistischen Vereinigungen und sind durch Verbindungen zum Skinhead-Spektrum sowie einschlägige Straftaten bekannt geworden. Göbeke-Teichert kündigte bereits im Vorfeld an, er halte die "Arbeit in der Partei" für sinnvoller als ein Agieren in "freien Verbindungen". Sollte sich allerdings der Abwärtstrend der JN weiter fortsetzen, ist damit zu rechnen, dass sich ihre Anhänger zunehmend in unstrukturierten "Kameradschaften" zusammenschließen. Anfang Juni veranstalteten die JN in Dreisen/Rheinland-Pfalz ihr diesjähriges Pfingstlager mit insgesamt etwa 90 Teilnehmern. An dem bundesweiten Treffen beteiligten sich auch etwa 20 Aktivisten aus Schweden und einige Personen aus Österreich. Die rückläufige Teilnehmerzahl lässt erkennen, dass der Ausbau des ein Jahr zuvor euphorisch propagierten "Grundstocks für eine nationalistische nordeuropäische Allianz" bisher nicht vorangekommen ist. Unter dem Motto "Globalisierung stoppen - stoppt die Weltmacht USA" führten die JN am 27.Oktober in Heidelberg eine Demonstration durch. Ihren rund 200 Anhängern standen rund 1.500 Gegendemonstranten gegenüber, die sowohl die Rechtsextremisten als auch die eingesetzten Polizeikräfte mit Flaschenund Dosenwürfen massiv attackierten. Das in Bayern verbreitete JN-Propagandamaterial enthielt Parolen wie "Den Imperialismus durch revolutionären Nationalismus besiegen!", "Kämpft mit uns! JN gegen Scheinasylantentum und Überfremdung" und "Zerschlagt die Antifa!". Die offensichtlich wegen des NPD-Verbotsverfahrens aus taktischen Gründen reduzierte Propagandatätigkeit dürfte demnächst wieder zunehmen. 2.2 Deutsche Volksunion (DVU) Deutschland Bayern Mitglieder: 15.000 1.800 Vorsitzender: Dr. Gerhard Frey Bruno Wetzel Gründung: 1987 Sitz: München Publizistisches Sprachrohr: National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) Rechtsextremismus 51 2.2.1 Ideologisch-politischer Standort In ihrem Programm bekennt sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, doch will sie einige für alle Menschen gültige Grundrechte, beispielsweise den Schutz der Familie, zu Bürgerrechten reduzieren, die ausschließlich Deutschen zustehen sollen. Die rechtsextremistische Grundeinstellung der Partei wird in Äußerungen führender Funktionäre sowie im Inhalt der im Verlag des Bundesvorsitzenden Dr. Gerhard Frey erscheinenden National-Zeitung deutlich. Wie bisher zählt die Kritik an der "extrem einseitigen Vergangenheitsbewältigung" zu den Schwerpunkten der Programmatik. "Es genügt eben nicht, immer nur im Schulunterricht zu erzählen, die Deutschen seien schlecht, haben unerhörte Verbrechen begangen und die anderen seien gut und engelsgleich. (...) Wir verlangen, dass endlich wahrheitsgemäß unterrichtet wird. Und wir alle haben es satt, ständig kollektiv-verantwortlich gemacht zu werden. Noch unsittlicher und unmoralischer ist es, dass kommende Generationen der Deutschen dafür büßen sollen." (Dr. Frey auf der jährlichen Großveranstaltung der DVU am 29. September in Passau) "Wenn es darum geht, dem deutschen Volk wegen der zwölfjährigen NS-Zeit für alle Zeiten ein Kainsmal aufzudrücken, scheint politisch Herrschenden hier zu Lande nichts zu teuer. Mit einem Riesenaufwand an Steuergeldern wurden inzwischen über 5000 Mahnund Gedenkstätten einschließlich komplett renovierter KZ-Anlagen bundesweit eingerichtet. Einen Schwerpunkt einschlägiger 'Erinnerungskultur' bildet die deutsche Hauptstadt Berlin. Auf Schritt und Tritt rufen dort Gedenktafeln, Monumente und museale Einrichtungen einseitig deutsche Schuld aus jener Ära in Bewusstsein, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ihr Ende fand." (NZ vom 19. Januar, Seite 13) Dabei werden die Verbrechen der Nationalsozialisten zwar nicht ausdrücklich geleugnet, doch wird versucht, diese durch wiederholte Hinweise auf historische Verbrechen anderer Völker zu relativieren. "Die USA beschwören zwar unentwegt deutsche Schuld u.a. durch den Bau von jetzt schon über 100 Holocaust-Museen und -Mahnmalen für 52 Rechtsextremismus deutsche Untaten, sind aber nicht bereit, die Verantwortung für ihre eigenen Völkermorde auf sich zu nehmen. Die in elenden Verhältnissen vegetierenden Nachkommen der wenigen Überlebenden bei der Ausrottung der Indianer, denen ein ganzer Kontinent geraubt wurde, spielen nirgendwo auch nur die kleinste Rolle - weder in Regierungen noch in Medien, noch in Banken, noch sonstwo." (NZ vom 3. August, Seite 1) Die DVU vermeidet offenen Antisemitismus, doch wird ihre antisemitische Grundhaltung in ihrem publizistischen Sprachrohr deutlich, dessen Berichterstattung über Israel und die Juden vielfach negativ gefärbt ist: "Mit einem Gehabe, als sei er der Größte, spielt sich Michel Friedman, Stellvertretender Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland ... , zum moralischen Richter über die Deutschen auf. (...) 'Versöhnung' ist nach seinen Worten 'ein absolut sinnloser Begriff', da den Deutschen ,als Erben des judenmordenden Staates' gar nichts anderes zukomme, 'als die historische Verantwortung auf sich zu nehmen, generationenlang, für immer'." (NZ vom 7. September, Seiten 1 und 5) Häufig werden demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten diffamiert. Auf diese Weise soll das Vertrauen in diese Institutionen und den von ihnen getragenen demokratischen Rechtsstaat untergraben werden: "Nicht wenige in der heutigen Politik befindliche Gestalten sind korrupt und bereichern sich - unter pharisäerhaften Sprüchen vom Gemeinwohl - im Übermaß. Derartiges findet sich leider in allen Parteien. Der Überdruss des Normalbürgers, den diese Raffgier anwidert, hat zu einer immer mehr ausufernden Politikverdrossenheit geführt." (NZ vom 9. Februar, Seite 5) Nach wie vor ist die Partei bestrebt, das Ausmaß rechtsextremistisch motivierter Militanz zu relativieren. "In Wahrheit gehen Anschläge auf Türken in der Bundesrepublik in aller Regel auf die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit Kurden oder vielfach auch auf Versicherungsbetrug zurück, mit Sicherheit aber nicht auf die angebliche Ausländerfeindlichkeit der Deutschen." (NZ vom 7. September, Seite 5) "Keine Lügengeschichte ist zu durchsichtig und kein Argument zu oberflächlich, um nicht als 'Beweis' für die 'neonazistische Gefahr' ins Feld Rechtsextremismus 53 geführt zu werden. Immerhin gelingt es einem üblen Schweinejournalismus, 'Nachahmungstäter' in mehrfacher Hinsicht zu züchten - einmal solche, die sich zur Begehung von Straftaten animieren lassen, aber auch solche, die an sich selbst begangene 'rechtsextremistische' Übergriffe erfinden." (NZ vom 2. Februar, Seite 3) 2.2.2 Organisation Die Mitgliederzahl der DVU ist um etwa 2.000 Personen auf 15.000 zurückgegangen. Die Partei hat keine Jugendorganisation und betreibt keine Jugendarbeit. Sie verfügt in allen Bundesländern nominell über Landesverbände, die jedoch nach außen kaum in Erscheinung treten. Auf Kreisund Ortsebene ist die DVU ebenfalls kaum vertreten. Der bedingungslose Machtanspruch des Vorsitzenden Dr. Frey lässt den Unterorganisationen keinen Handlungsspielraum. Im Verlag des Parteivorsitzenden erscheint als Werbeträger und publizistisches Sprachrohr der DVU die "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ). Der Schuldenstand der Partei bei ihrem Vorsitzenden hat sich auf rund acht Millionen DM reduziert. Die Personalunion von Vorsitzendem und Kreditgeber verleiht Dr. Frey eine ungewöhnliche Machtfülle. Die Kontakte der DVU zu ausländischen Rechtsextremisten haben an Bedeutung verloren. 2.2.3 Teilnahme an Wahlen Die Taktik des DVU-Vorsitzenden, nur bei sicher zu erwartenden Erfolgen zu kandidieren, ist bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft am 23. September nicht aufgegangen. Die DVU erreichte lediglich einen Stimmenanteil von 0,7 % (1997: 4,9 %). Mit einem ähnlich dürftigen Ergebnis verlor sie ihre bisherigen 13 Mandate in den Bezirksversammlungen (Kommunalparlamenten). 54 Rechtsextremismus Die DVU hatte ihren Wahlkampf vor allem mit ausländerfeindlicher Agitation geführt. Zur Senats-Wahl in Berlin am 21. Oktober trat die DVU nicht an. 2.2.4 Aktivitäten Am 3. Februar führten die DVU-Landesverbände Bayern, Baden-Württemberg und Saarland in München ihre Landesparteitage als gemeinsame "Großveranstaltung" mit rund 250 Teilnehmern durch. Die Neuwahl der Landesvorstände wurde wie üblich als reine Formalität behandelt: Die vom Bundesvorsitzenden Dr. Frey vorgeschlagenen Kandidaten, darunter auch der bisherige bayerische Landesvorsitzende Bruno Wetzel, wurden ohne persönliche Vorstellung oder Konkurrenz akzeptiert; ebenso unterblieb eine Bekanntgabe der Stimmergebnisse. Dr. Frey wandte sich in seiner Rede gegen die "Polit-Versager der Altparteien", die das eigene Volk nach Strich und Faden belögen und deutsche Interessen verrieten. Es sei "nicht hinnehmbar, dass Asyl-Betrüger und andere kriminelle Fremde durch die herrschende Politik gewissermaßen noch gefördert" würden. Unerträglich sei auch die "Überfremdungspropaganda von Polit-Bonzen". Die anhaltende Hetzkampagne gegen deutsche Rechte werde die DVU nur noch stärker machen. Daran könnten auch "hinterhältige Machenschaften von Geheimdiensten wie dem so genannten Verfassungsschutz" nichts ändern. Zur zentralen Veranstaltung der DVU am 29. September in Passau fanden sich etwa 1.200 Personen ein, während an der Kundgebung im Vorjahr noch rund 2.200 Besucher teilgenommen hatten. Die unerwartet geringe Resonanz war offenbar auf die deutliche Niederlage der Partei bei der Bürgerschaftswahl am 23. September in Hamburg zurückzuführen. Als Gäste waren mehrere Funktionäre des rechtsextremistischen Vlaams Blok (VB) aus Belgien anwesend; einer von ihnen verlas ein Grußwort. Angesichts der Terroranschläge in den USA vom 11. September erweiterte der stellvertretende Parteivorsitzende Bruno Wetzel in seiner Eröffnungsrede das ursprüngliche Veranstaltungsmotto "Wir sind stolz Deutsche zu sein" um den Zusatz "Stopp der Einwanderung - Kampf dem Terror - Rettet Deutschland vor dem Krieg". Als Hauptredner warf der DVU-Bundesvorsitzende Dr. Frey den Verfassungsschutzbehörden eklatantes Versagen vor, da sie zwar "Erfindungen gegen Rechts" konstruierten, aber die Vorbe- Rechtsextremismus 55 reitung der Terroranschläge in Deutschland nicht erkannt hätten. Dr. Frey stellte militärische Gegenschläge der USA als verständlich hin, warnte jedoch eindringlich vor einem überzogenen Rachefeldzug, der in einen Dritten Weltkrieg münden könnte. Ferner wandte er sich gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Viele Millionen Türken kämen auf diese Weise nach Österreich und Deutschland und drohten, unser Land orientalisch zu machen. Eindringlich forderte Dr. Frey das Ende der unkontrollierten Einwanderung, Völker mit anderer Hautfarbe und anderer Kultur sollten in ihren eigenen Ländern bleiben. Den mit 10.000 DM dotierten Freiheitspreis der National-Zeitung erhielt der in Südafrika lebende Publizist Dr. Claus Nordbruch. Die DVU bewertete die Veranstaltung in öffentlichen Verlautbarungen als Erfolg; dies entsprach jedoch nicht der internen Stimmungslage .An vier friedlichen Protestkundgebungen gegen die DVU-Versammlung beteiligten sich insgesamt rund 3.000 Personen, darunter auch Autonome sowie Anhänger der PDS. 2.3 Die Republikaner (REP) Deutschland Bayern Mitglieder: 11.500 4.000 Vorsitzender: Dr. Rolf Schlierer Johann Gärtner Gründung: 1983 Sitz: Berlin Publikation: Der Republikaner 2.3.1 Ideologisch-politischer Standort In den öffentlichen Verlautbarungen der REP wurden wie in den letzten Jahren Aussagen mit eindeutig rechtsextremistischer Zielsetzung weitgehend vermieden. Äußerungen der Partei lassen aber immer wieder einen übersteigerten Nationalismus, verbunden mit Ressentiments gegen fremde Staaten und Minderheiten erkennen. So hieß es in einer regionalen REP-Zeitung unter der Überschrift "Entschädigungswahn in Dachau": "Weit über 100 Mrd. Mark hat Deutschland seit Kriegsende als Wiedergutmachung bezahlt. Jetzt kommen weitere 10 Mrd. einer als 'Entschädigung für Zwangsarbeiter' getarnten Schutzgelderpressung aus den USA 56 Rechtsextremismus dazu. In Dachau hat sich vor kurzem eine linke Politmehrheit nicht entblödet, die Stadt zu einer zusätzlichen Zahlung von 50.000 Mark an diesen seltsamen Fonds zu zwingen. Dabei ist doch klar: Wer einmal zahlt, bleibt den Erpressern bekanntlich für alle Zeiten hilflos ausgeliefert." (Publikation "AmperRechts" des REP-Kreisverbands Dachau/Fürstenfeldbruck, Ausgabe 4/2001) In einem Flugblatt mit der Überschrift "Deutsche Interessen zuerst !!!" äußerte ein REP-Kandidat bei der Kommunalwahl in Wiesbaden: "Wiesbaden hat zur Zeit ca. 50.000 (in deutschen Worten: FÜNFZIGTAUSEND) Ausländer, das sind ca. 20 % der Bevölkerung. Diese Ausländer werden in der Regel als 'ausländische Mitbürger' bezeichnet, sind es jedoch sehr oft nicht. (...) Wollen Sie auch Asylbewerber, abgelehnte Asylbewerber und ihre Haftstrafe in Deutschland verbüßende Ausländer als 'Mitbürger'? (...) Die Indianer konnten die 'Einwanderer' nicht stoppen. Jetzt leben sie in Reservaten. Wenn Sie ihren Kindern und Enkelkindern das ersparen wollen, dann wehren Sie sich im Rahmen der zur Zeit noch vorhandenen 'freiheitlich demokratischen Grundordnung'." (Flugblatt zur Kommunalwahl in Hessen im März 2001 ) In einer regionalen REP-Zeitung für Mittelfranken erklärte der Vorsitzende des REP-Kreisverbands Nürnberg zum Aufruf einer Vereinigung der jüdischen Siedler in den Palästinensergebieten zum "Mord an Jassir Arafat": "Für uns Deutsche ist es schwer verständlich, bzw. sogar unerträglich, wenn auf der einen Seite ein Herr Friedman oder Herr Spiegel vor der 'angeblichen' Gefahr von rechts warnen, aber auf der anderen Seite kommentarlos Mordaufrufe ihrer Glaubensbrüder in Israel hinnehmen. Hier wäre einmal ein klares Wort der beiden Wächter unserer Moral angebracht." (Publikation "Die Republikaner in Mittelfranken informieren", Ausgabe 03/2001) Die Kontakte von REP-Mitgliedern zu anderen Rechtsextremisten zeigen, dass der Abgrenzungsbeschluss von 1990 nicht mehr konsequent umgesetzt wird. So traf sich auf Einladung von Dr. Alfred Mechtersheimer im April in Stuttgart der Sprecherkreis der rechtsextremistischen "Deutschen Aufbau-Organisation" mit baden-würt- Rechtsextremismus 57 tembergischen Spitzenvertretern der REP, darunter drei bisherige REP-Landtagsabgeordnete und zwei frühere Europaabgeordnete der Partei. Nach einer ausführlichen Analyse des Wahlergebnisses in Baden-Württemberg beschlossen die Teilnehmer in offener und freundschaftlicher Atmosphäre, die Kontakte zu intensivieren. Nach einem in der Zeitschrift "Nation & Europa" (NE vom Juni) abgedruckten Bericht lud der REP-Kreisverband Ravensburg-Biberach den NE-Mitherausgeber Harald Neubauer zu einer Vortragsveranstaltung ein. Zu dieser Veranstaltung erschienen namhafte REP-Amtsund Mandatsträger aus Württemberg, dem Bezirksvorstand Schwaben und dem Kreisverband Kempten. Außerdem fanden in diesem Jahr wieder Treffen zwischen Republikanern und Vertretern des rechtsextremistischen Vlaams Blok (VB) statt. So führte der REP-Kreisverband Wiesbaden-Biebrich am 24. Februar im Zusammenhang mit der bevorstehenden Kommunalwahl eine Wahlkampfveranstaltung mit dem VB-Senator Wim Verreycken durch. Dieser trat ferner auf einer öffentlichen Veranstaltung des REP-Bezirksverbands München am 3. Oktober vor rund 70 Personen als Referent auf. 2.3.2 Organisation Mitgliederverluste als Folge anhaltender Erfolglosigkeit bei Wahlen kennzeichnen die derzeitige Entwicklung. Ende 2001 gehörten der Partei im Bundesgebiet rund 11.500 (2000: 13.000) Mitglieder an. Die Schwerpunkte liegen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Parteivorsitzender ist seit Ende 1994 Dr. Rolf Schlierer. Der von Johann Gärtner geleitete Landesverband Bayern zählt etwa 4.000 Mitglieder. Der Bundesverband, der Landesverband Bayern, die Republikanische Jugend und weitere REP-Gliederungen sind im Internet mit einer Homepage vertreten. 2.3.3 Teilnahme an Wahlen Die Wahlergebnisse der REP machten deutlich, dass die Partei über keine konstante Stammwählerschaft verfügt und es ihr derzeit auch 58 Rechtsextremismus nicht gelingt, sich Protestwählern als Alternative anzubieten. Der Abwärtstrend der REP zeichnete sich bereits bei den hessischen Kommunalwahlen am 18. März ab, wo die REP mehr als die Hälfte ihrer Mandate verloren. Bei den Landtagswahlen am 25. März erlitten die REP vor allem in Baden-Württemberg herbe Verluste. Sie erreichten lediglich einen Stimmenanteil von 4,4 % (1996: 9,1 %, 1992: 10,9 %). Damit ist die Partei nach zwei aufeinander folgenden Legislaturperioden nicht mehr im Stuttgarter Landtag vertreten. In Rheinland-Pfalz erhielten die REP 2,4 % (1996: 3,5 %) der Zweitstimmen. Die Partei hatte vor den Wahlen vor allem dem Ergebnis in Baden-Württemberg existentielle Bedeutung zugemessen. Nach der Wahlniederlage sprach das REP-Bundespräsidium in einer Pressemitteilung vom 28. März dem Bundesvorsitzenden Dr. Schlierer zwar das Vertrauen aus. Gleichwohl bedeutet das Wahlergebnis eine persönliche Niederlage für den Bundesvorsitzenden, der den Wahlkampf sehr stark auf seine Person ausgerichtet hatte. Durch seinen Versuch, die Partei für bürgerliche Schichten wählbar zu machen, verloren die REP an Profil gegenüber rechtsextremistisch orientierten Wählern und konnten diese nicht mehr erfolgreich ansprechen. Dr. Schlierer selbst machte für das schlechte Wahlergebnis seiner Partei die "monatelange Hetzkampagne gegen Rechts" und die Benachteiligung in der Medienberichterstattung verantwortlich; möglicherweise habe sich auch die Diskussion um ein Verbot der NPD negativ ausgewirkt In Hamburg mussten bei der Bürgerschaftswahl am 23. September neben der DVU auch die REP unerwartet hohe Verluste hinnehmen. Auf die Partei entfielen nur noch 0,1 % (1997: 1,8 %) der Stimmen. Bei den Wahlen zu den sieben Bezirksversammlungen erzielten die REP jeweils Anteile um 0,1 %, während sie 1997 dort noch bis zu 3,5 % errungen hatten. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin am 21. Oktober wirkte sich nicht einmal der Verzicht der DVU auf eine Kandidatur zugunsten der REP aus. Mit einem Stimmenanteil von 1,3 % (1999: 2,7 %) verfehlten die REP erneut den Einzug ins Landesparlament; sie übersprangen jedoch die für die staatliche Parteienfinanzierung maßgebliche Hürde. Eine ähnliche Niederlage erlitten sie bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen mit dem völligen Verlust der 1999 gewonnenen acht Mandate. Rechtsextremismus 59 Der Landesgeschäftsführer Detlef Britt beschuldigte "die Medien", sie hätten seine Partei im Wahlkampf ignoriert. Der stellvertretende Bundesvorsitzende und langjährige Berliner Landesvorsitzende Dr. Werner Müller bezeichnete das Wahlergebnis als eine herbe Niederlage, aber keineswegs als Katastrophe: "Der Kampf um mehr Demokratie in Deutschland geht weiter. Gerade jetzt kommt es in Berlin auf den Widerstand gegen eine linke Hegemonie an." 2.3.4 Interne Richtungskämpfe Die REP befinden sich in einer anhaltenden Krise. Das Scheitern bei Wahlen führte zu internen Querelen über Personen und Inhalte. Die Partei wirkt derzeit zerstritten und konzeptionslos. Insbesondere das Wahldebakel in Baden-Württemberg löste gegenseitige Schuldzuweisungen und Machtkämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern der Abgrenzung zu rechtsextremistischen Organisationen aus. Die innerparteilichen Widersacher von Dr. Schlierer erhielten durch das Wahlergebnis Auftrieb und übten zum Teil massive Kritik an dessen Kurs. Dr. Schlierer zufolge wird es auch weiterhin keine Zusammenarbeit oder Zusammengehen der REP mit anderen "rechten" Parteien geben. Er denke auch nicht ans Aufgeben, da er nicht zu jenen Leuten zähle, die "nach einer Niederlage alles hinwerfen und davon laufen". Ziel sei es, in Deutschland eine politische Erneuerung herbei zu führen. Ohne eine demokratische Rechtspartei sei die Demokratie unvollkommen. Nach Meinung des Bundesgeschäftsführes Tempel wäre es verfehlt, dem Bundesvorstand oder nur dem Bundesvorsitzenden die volle Verantwortung für das Wahldebakel zuschieben zu wollen. Auch der Parteivorstand unterstützt deshalb weiter die politische Ausrichtung der Partei durch den Bundesvorsitzenden. Für den REP-Landesverband Bayern teilte der Landesvorsitzende Gärtner "anläßlich der drei Wahlpleiten in Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg" allen Kreisvorsitzenden und Parteifreunden am 29. März unter anderem mit: "Wer jetzt glaubt, so wie manchen Presseartikeln zu entnehmen ist, die Republikaner wären am Ende, dem kann man sagen, daß ein Auf und Ab in unserer Partei immer wieder zu einem 'Jetzt erst recht' führte. 60 Rechtsextremismus Erstaunlich an diesen Wahlen ist, daß nach eingehender Analyse klar festzustellen ist, daß alle ... unter verschiedenen Konzepten geführt wurden; und keines dieser Konzepte war erfolgreich. (...) Es wäre unsinnig, Niederlagen schön zu reden, aber noch unsinniger ist es, jetzt sich selbst zu köpfen, denn ein Torso ist nicht mehr in der Lage zu denken und zu agieren." Nach einer Resolution des Bundesvorstands vom 8. April soll die Partei bereits in naher Zukunft mit eigenen Kernthemen offensiv in die Öffentlichkeit gehen, die Jugendarbeit verstärken und sich in einem neuen Programmentwurf als moderne, zukunftsorientierte, demokratisch legitimierte und wählbare Partei darstellen. Im Gegensatz zum REP-Bundesvorstand, der uneingeschränkt hinter Dr. Schlierer steht, haben im REP-Landesverband Baden-Württemberg die Befürworter einer "Vereinigten Rechten" wieder die Oberhand gewonnen. Auch in anderen Landesverbänden steigt deren Einfluss. So wird der Abgrenzungskurs des Bundesvorsitzenden im bayerischen Landesverband von etwa einem Drittel der Mitglieder abgelehnt. Trotz des Autoritätsverlusts von Dr. Schlierer ist jedoch die Formierung einer qualifizierten Opposition oder der Aufbau einer geeigneten Alternative nicht in Sicht. Das Ausscheiden aus dem badenwürttembergischen Landtag wird den REP wegen der nunmehr reduzierten staatlichen Wahlkampfkostenerstattung erhebliche Probleme bereiten. Ungeachtet der nunmehr eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten und der auch in Bayern stärker aufkommenden internen Opposition ist die Situation der Partei aber noch relativ stabil. Auch sind in absehbarer Zeit weder ein Führungswechsel noch anderweitige inhaltliche Konsequenzen zu erwarten. 2.3.5 Aktivitäten in Bayern An der Aschermittwochsveranstaltung der REP am 28. Februar in Geisenhausen, Landkreis Landshut, nahmen wie in den beiden Vorjahren etwa 800 Personen teil. Während der bayerische Landesvorsitzende Johann Gärtner das Krisenmanagement der bayerischen Staatsregierung am Beispiel der LWS-Affäre kritisierte, griff der Parteivorsitzende Dr. Rolf Schlierer die Bundesregierung an. Den Bundesminister Joschka Fischer bezeichnete er als Hochverräter, der auch heute noch mit der Gewalt kokettiere. Weitere Themen waren die Zuwanderung, die Ausländerpolitik sowie Spendenund Finanzaffären anderer Parteien. Beide Redner zeigten sich optimistisch hinsichtlich der Chancen der REP bei anstehenden Landtagswahlen. Rechtsextremismus 61 Am 1. Dezember hielt der REP-Landesverband Bayern in Stockstadt a. Main, Landkreis Aschaffenburg, seinen Parteitag ab. An der Veranstaltung beteiligten sich 108 Delegierte; als Gast war der Bundesvorsitzende Dr. Rolf Schlierer anwesend. Der bisherige Landesvorsitzende Johann Gärtner wurde mit großer Mehrheit wieder gewählt. Seine Stellvertreter sind Martin Huber, Sonja Weczerek, Johann Weinfurtner und Bertold Seifert. Die Kritiker des Landesvorsitzenden, der Dr. Schlierers Kurs unterstützt, konnten ihre Wahlvorschläge nicht durchsetzen. 2.3.6 Verwaltungsgerichtsverfahren Mit Beschluss vom 1. Juni hat das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der REP wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 19. Oktober 2000 als unzulässig verworfen. Das Gericht hatte die Beobachtung des REP-Landesverbands Niedersachsen mit nachrichtendienstlichen Mitteln für zulässig erklärt. Insbesondere bestätigte das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsauffassung der Berufungsinstanz, wonach es ausreiche, dass die Gesamtschau aller vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen rechtfertige. Das Verwaltungsgericht Berlin lehnte mit Beschluss vom 28. Juni einen Antrag des REP-Bundesverbands auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Erwähnung der Partei im Verfassungsschutzbericht 2000 des Bundesministeriums des Innern ab. Durch die von den REP beantragte einstweilige Anordnung sollte das Bundesministerium des Innern verpflichtet werden, die REP im Verfassungsschutzbericht 2000 nicht länger darzustellen und die Behauptung zu unterlassen, bei den REP handele es sich um eine rechtsextremistische Partei, bei der verfassungsfeindliche Tendenzen festzustellen seien. Dazu stellte das Gericht fest, das Bundesministerium des Innern sei befugt, die ihm zur Aufklärung der Öffentlichkeit gelieferten Informationen bereits bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung auszuwerten und in den Bericht aufzunehmen. Es sei nicht erforderlich, dass sich diese Anhaltspunkte zur Gewissheit im Sinn tatsächlich festgestellter verfassungsfeindlicher Bestrebungen verdichtet haben. Hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen der REP gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung lägen in einer 62 Rechtsextremismus nicht nur bei einem einzelnen Ortsverband vorhandenen, sondern weite Teile der Partei kennzeichnenden fremdenfeindlichen Ausrichtung und Haltung. Ausländer würden pauschal und diffamierend etwa für den Verlust der deutschen Identität, für Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Wohnungsnot und steigende Sozialkosten verantwortlich gemacht. 2.4 Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee/ Deutsche Aufbau-Organisation Deutschland Bayern Mitglieder: 150 80 Vorsitzender: Dr. Alfred Mechtersheimer Gründung: 1990 Sitz: Starnberg Publikationen: Pressespiegel mit "Frieden 2000 - Nachrichten für die Deutschland-Bewegung" Die 1990 in Berlin gegründete, heute in Starnberg ansässige Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee (einschließlich Deutsche Aufbau-Organisation) ist bundesweit organisiert und umfasst in Bayern etwa 80 Personen in lokalen Kleingruppen. Im Oktober wurde das "Friedenskomitee 2000" in "Friedenskomitee" umbenannt. Die Aktivitäten beschränken sich auf Treffen einiger weniger Personen mit Schwerpunkten in München, Augsburg und Niederbayern. Die politische Position der Gruppierung ergibt sich aus dem regelmäßig erscheinenden Organ "Pressespiegel", der Publikation "Frieden 2000" sowie aus Flugblättern, die unter anderem mit Parolen wie "Deutschlands Politik gefährdet unser Land und unsere Freiheit" oder "Leser wehrt euch gegen Desinformation, Bevormundung und Halbwahrheit! Boykottiert Zeitungen und Sender" ein demokratiefeindliches, nationalistisch geprägtes Deutschland propagieren und die Abschaffung des "Parteienstaats" fordern. Im Strategieorgan "Nation & Europa" erklärte Dr. Mechtersheimer unter der Überschrift "Das Regime braucht einen Feind": "Wie jede Herrschaftsform hat auch Demokratie ein Verfallsdatum. (...) Die Wahlen verlieren im Bewußtsein des Volkes deshalb an Wert, weil es nichts mehr auszuwählen gibt." Rechtsextremismus 63 Demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates werden pauschal verunglimpft: "Die gegenwärtige Parteienherrschaft ist nicht mehr von der Verfassung gedeckt. Die politische Klasse hat ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit geschaffen. Von Demokratie, Föderalismus und Gewaltenteilung bleibt nur mehr eine leere Hülle." Mit der Herausgabe der Publikation "Neues Schwaben" (Augsburg) soll die Gründung einer Aktionseinheit von rechtsextremistischen Organisationen und Parteien für die Kommunalwahlen 2002 initiiert werden. Presserechtlich verantwortlich für diese Publikation zeichnet ein rechtsextremistischer Multifunktionär, der auch als ein Sprecher der Deutschland-Bewegung bekannt ist. Der Vorsitzende der Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee Dr. Alfred Mechtersheimer arbeitet mit bekannten rechtsextremistischen Funktionären bzw. Aktivisten verschiedenster Gruppen zusammen und versucht, seine Gruppierung zu einer Sammlungsbewegung auszubauen. Dabei bedient er sich auch der im Frühjahr 2000 als Teilorganisation der Deutschland-Bewegung gegründeten "Deutschen Aufbau-Organisation", die langfristig auf die Bildung einer Sammlungspartei abzielt und die bisherige Zersplitterung der rechtsextremistischen Parteienszene überwinden möchte. 2.5 Aktivitas der Burschenschaft Danubia (München) Seit einiger Zeit waren verstärkte Bemühungen des rechtsextremistischen Spektrums erkennbar, auf studentische Burschenschaften mit verfassungsfeindlichen Thesen und personellen Beziehungen einzuwirken und dadurch auch im Hochschulbereich Einfluss zu gewinnen. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung bei der Münchener Burschenschaft Danubia, deren Aktivitas Rechtsextremisten wiederholt ein Podium für verfassungsfeindliche Auftritte bot. So referierten im Haus der Burschenschaft in der Möhlstraße 21 unter anderem der Cheftheoretiker des rechtsextremistischen Deutschen Kollegs Dr. Reinhold Oberlercher, der jetzige NPD-Funktionär und frühere RAF-Terrorist Horst Mahler und der Vordenker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite") Alain De Benoist. Der in Italien in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte ehemalige Südtirol-Aktivist Peter Kienesberger, der über den Nürnberger "Buchdienst Südtirol" rechtsextremistisches Gedankengut verbreitet, 64 Rechtsextremismus sprach am 17. Februar zum Thema "Geschichte und Perspektiven der Deutschen in Südtirol". Er behauptete, die Situation der Südtiroler in den 60er Jahren habe man nur durch Gewalt ändern könne. Am 18. Juni referierte vor rund 30 Zuhörern der Neonazi und frühere NPD-Aktivist Alexander von Webenau zur Person des von den Nationalsozialisten als "Freiheitskämpfer" verehrten Albert Leo Schlageter. Ferner konnten in der von der Burschenschaft herausgegebenen "Danubenzeitung" Rechtsextremisten des öfteren nationalistische, antidemokratische oder revisionistische Positionen vertreten. So veröffentlichte die Schrift kommentarlos einen von Horst Mahler verfassten "Offenen Brief" vom 9. November 1999 an den Bundeskanzler. Darin hieß es, dieser führe als "Befehlsempfänger" Großbritanniens und der USA eine "Vasallenregierung". Der Brief agitierte ferner mit zahlreichen revisionistischen Thesen gegen das "Lügengespinst, mit dem die Feinde Deutschlands unser Volk niederhalten und aussaugen". Er schloss mit der Aufforderung, als Bundeskanzler zurückzutreten und danach aus dem Exil den "Aufstand des deutschen Volkes gegen die Fremdherrschaft" zu organisieren. Ein in derselben Ausgabe abgedruckter Leserbrief eines "Bundesbruders" versuchte darzulegen, dass am 1. September 1939 "Polen im Ergebnis von Deutschland zwar angegriffen, aber keineswegs überfallen" wurde. Anschließende Zitate polnischer Politiker und Militärs sollten als indirekte Rechtfertigung des deutschen Angriffs die damalige "Kriegsbereitschaft" Polens dokumentieren. Die inzwischen umgestaltete Homepage der Burschenschaft im Internet enthielt zuvor zahlreiche automatisierte Verknüpfungen ("links") zu rechtsextremistischen Publikationen ("Nation & Europa", "Staatsbriefe", "Werkstatt Neues Deutschland") sowie zum rechtsextremistischen "Nationalen Info-Telefon (NIT)". Die verbale Distanzierung der Burschenschaft von diesen Inhalten war offensichtlich rein taktisch motiviert. Dem mutmaßlichen Haupttäter des Skinhead-Angriffs auf einen Griechen in München (vgl. auch Nummer 5.1 dieses Abschnitts) wurde in der Tatnacht im Danubenhaus eine Übernachtungsmöglichkeit verschafft. 2.6 Sonstige Organisationen Die teils regional, teils bundesweit tätigen sonstigen rechtsextremistischen Organisationen sind vielfach nur publizistisch aktiv. Etwaige Rechtsextremismus 65 Aktivitäten beschränken sich im Allgemeinen auf interne Veranstaltungen, die kaum Außenwirkung entfalten. Zu nennen sind hier insbesondere die Gruppierungen - Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) - Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) - Freundeskreis Ulrich von Hutten - Deutsches Kolleg. Weitere rechtsextremistische Organisationen sind unter Nummer 8 dieses Abschnitts aufgeführt. 2.7 Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH (DSZ-Verlag) Der 1958 gegründete, von Dr. Gerhard Frey geleitete DSZ-Verlag in München ist weiterhin das bedeutendste rechtsextremistische Propagandainstrument in Deutschland. Die wöchentliche Auflage der im Verlag erscheinenden "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) beträgt wie im Vorjahr rund 45.000 Exemplare. Als publizistisches Sprachrohr der DVU vertritt die NZ deren nationalistische, rassistische und revisionistische Grundhaltung. Die Beiträge sind geprägt von Vereinfachung, Schematisierung und dem Aufbau von Freund-Feind-Bildern. In einer festen Kolumne der NZ schreibt der Publizist und ehemalige REP-Vorsitzende Franz Schönhuber. "Bei einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wäre eine Masseneinwanderung Dutzender Millionen Türken und Kurden nach Mitteleuropa allenfalls um wenige Jahre aufzuschieben, jedoch nicht aufzuhalten. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich ihren Namen behielten, so müsste sich doch binnen ganz kurzer Zeit eine rasch zunehmende morgenländische Bevölkerungsminderheit und schließlich - mehrheit ergeben. Das Ende Deutschlands wäre dann gekommen." (NZ vom 3. August, Seite 2) "Zu den vielen Privilegien von Juden gehört in Deutschland beispielsweise auch der - mehrmals verschärfte - Volksverhetzungsparagraf des Straf- 66 Rechtsextremismus gesetzbuches. Gegen die deutsche Mehrheitsbevölkerung hingegen ist jede Lüge und Fälschung erlaubt." (NZ vom 5. Januar, Seite 4) Zur Verurteilung des ehemaligen SS-Scharführers Malloth wegen Mordes an jüdischen Häftlingen hieß es: "Die Vorgänge, die Malloth angelastet wurden, liegen fast zwei Generationen zurück. Seine Resozialisierung ist seit Jahrzehnten vollzogen. Man fragt sich, warum der sieche Greis keine Hilfe finden soll, während Millionen Kriegsverbrecher der Sieger nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen, sondern mit höchsten Auszeichnungen dekoriert wurden." (NZ vom 31. August, Seite 7) Typisches Kennzeichen der NZ ist ihr ständig betonter Wahrheitsanspruch, mit dem sie alle anderen Meinungen indirekt der Unwahrheit bezichtigt: "Informieren Sie sich Woche für Woche über die wahren Hintergründe des politischen und historischen Geschehens aus der NATIONAL-ZEITUNG. NATIONAL-ZEITUNG-Leser wissen die Wahrheit." (NZ vom 19. Januar, Seite 10) 2.8 Nation Europa Verlag GmbH Der Nation Europa Verlag in Coburg wurde 1953 gegründet. Ein Jahr später konstituierte sich der mit den politischen Interessen des Verlags eng verbundene Verein Nation-Europa-Freunde e.V., dem derzeit etwa 200 Mitglieder angehören. Herausgeber der im Verlag erscheinenden Monatsschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" sind die Rechtsextremisten Peter Dehoust und Harald Neubauer, die auch als Funktionäre der Deutschen Liga für Volk und Heimat (DLVH) bekannt sind. Mit einer Auflage von 14.500 Exemplaren gehört die Zeitschrift zu den wichtigsten rechtsextremistischen Theorieorganen. Sie bietet insbesondere Rechtsextremisten eine publizistische Plattform. "Nation & Europa" verbreitet sowohl revisionistische als auch latent rassistische Thesen. Als Strategieorgan tritt die Schrift seit Jahren ohne Erfolg dafür ein, die Zersplitterung des rechtsextremistischen Rechtsextremismus 67 Lagers durch die Orientierung an ausländischen Sammlungsparteien wie dem Vlaams Blok (VB) in Belgien zu überwinden. So befürwortete sie in der Ausgabe Nummer 5/01 in mehreren Beiträgen die Ablösung des REP-Bundesvorsitzenden, der die REP mit einem profillosen Schmusekurs gegenüber den etablierten Parteien und anbiederischen Reaktionen auf Äußerungen des Verfassungsschutzes zu Grunde gerichtet habe. Aktuelle Umfragen bewiesen indes, dass rechte Wähler nicht ausgestorben seien, sondern nur nach neuen Kräften suchten. 3. Organisationsunabhängiger Neonazismus 3.1 Allgemeines Der Neonazismus umfasst alle Aktivitäten und Bestrebungen, die ein offenes Bekenntnis zur Ideologie des Nationalsozialismus darstellen und auf die Errichtung eines vom Führerprinzip bestimmten autoritären bzw. totalitären Staates gerichtet sind. Schwerpunktthemen waren wie im Vorjahr die angebliche staatliche Verfolgung des "nationalen Lagers", die Ausländerund Asylpolitik der Bundesregierung sowie rassistische und antisemitische Agitation. Die Anschläge vom 11. September in den USA lösten vielfach antiamerikanisch geprägte Reaktionen aus (vgl. auch den 6. Abschnitt). Die Gewinner der seit den Verboten neonazistischer Organisationen im Jahre 1992 einsetzenden Ideologieund Strategiedebatte des "nationalen Lagers" sind die NPD und die JN bzw. deren aus dem neonazistischen Spektrum stammende Führungskader. Insbesondere dem JN-Vorsitzenden Sascha Roßmüller ist es in den letzten Jahren gelungen, das aus jüngeren Neonazis und Skinheads bestehende Klientel an die NPD heranzuführen. Seine neonazistischen und nationalrevolutionären Gedankenelemente sind inzwischen integraler Bestandteil des ideologischen Spektrums der NPD geworden und haben deren Erscheinungsbild nachhaltig verändert. Das Verhältnis zwischen der NPD, Neonazis und Skinheads ist als Zweckbündnis zu charakterisieren. Insbesondere bei Demonstrationen kann sich die NPD die Aktionsstärke der Neonazis und Skinheads zunutze machen. Andererseits verbuchen es neonazistische Initiativen als ihren Erfolg, die NPD und deren Umfeld als Anmelder und Teilnehmer von Demonstrationen zu instrumentalisieren. Da im Auftreten und äußeren Erscheinungsbild kaum noch Unterschiede bestehen, profitieren beide Lager wechselseitig voneinander. 68 Rechtsextremismus Ausdruck einer zunehmenden Verzahnung des rechtsextremistischen Spektrums ist der Schulterschluss zwischen der NPD, neonazistischen Kameradschaften und politisch agierenden rechtsextremistischen Skinhead-Szenen. Grund für diese Entwicklung ist nach Ansicht der Initiatoren der ungeheure staatliche Druck auf alle "Nationalen", dem man nur mit Geschlossenheit begegnen könne, um weitere Verbote von Parteien und Organisationen zu verhindern. Trotz vieler Gemeinsamkeiten gibt es mitunter auch Spannungen zwischen den einzelnen Lagern. So versuchte die NPD vergeblich, den Auftritt ihres schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden bei einer vom Umfeld der neonazistischen "Freien Nationalisten" organisierten Kundgebung am 1. Mai in Frankfurt am Main zu verhindern. Führende Neonazis, wie etwa Christian Worch und Thomas Wulff aus Norddeutschland, konnten ihr Konzept der Vernetzung autonomer nationaler Gruppen bisher nicht entscheidend voranbringen. Das dem neonazistischen Lager zuzurechnende Potenzial umfasst in Bayern rund 250 (2000: 160) Personen; davon sind etwa 70 in neonazistischen Organisationen aktiv. Daneben sind rund 900 (2.000: 780) rechtsextremistisch orientierte Skinheads bekannt. Die Differenz gegenüber dem Vorjahr beruht zum Teil auch auf einem verbesserten Erkenntnisstand. Insgesamt beträgt das gewaltbejahende rechtsextremistische Potenzial in Bayern rund 1.150 Personen. Weiterhin bestehen in verschiedenen Regionen Bayerns strukturlose Gruppen mit rechtsextremistischen Verhaltensweisen, die sich aus Skinheads und Neonazis, aber auch aus sonstigen "rechtsorientierten" Jugendlichen zusammensetzen. Hierbei handelt es sich um jugendliche Mischszenen, die sich von rechtsextremistischen Parolen leicht beeinflussen und mobilisieren lassen. Die Anzahl und Auflagenstärke neonazistischer Publikationen war weiter rückläufig, was in erster Linie auf eine verstärkte Nutzung des Internets zurückzuführen ist. 3.2 Neonazi-Kameradschaften Nach dem Verbot zahlreicher rechtsextremistischer Organisationen seit 1992 entwickelten führende Neonazis das Konzept strukturloser Zusammenschlüsse. Dadurch sollten staatliche Gegenmaßnahmen erschwert werden. Bei diesen Kameradschaften gibt es weder eine formelle Mitgliedschaft, noch Vorstandspositionen. Anführer ist meist Rechtsextremismus 69 ein engagierter Rechtsextremist, der es versteht, seinen Gefolgsleuten die den ideologischen Zusammenhalt stärkenden "Feindbilder" zu vermitteln. Der früher unter der Bezeichnung "Katakombenakademie" bekannte Neonazi-Kreis um Friedhelm Busse ist zerfallen. Die bisher von Busse vertriebene Publikation "Nachrichten - Informationen - Meinungen" (NIM) erschien im Berichtszeitraum nicht mehr. Ebenso wurde der Betrieb seines "Nationalen Info-Telefons Bayern" (NIT) eingestellt. In Bayern sind folgende neonazistische Kameradschaften erwähnenswert: 3.2.1 Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) Der 1996 gegründete FZV zählt wie im Vorjahr rund 15 Mitglieder, die sich unter dem Einfluss des ehemaligen "Bereichsleiters Süd" der "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF) in der Tradition des verstorbenen Neonazis Michael Kühnen sehen. Die Aktivitäten des FZV beschränkten sich bisher auf kleinere Veranstaltungen wie Fußballturniere und Stammtische, zum Teil mit Verbindungen nach Österreich. Der FZV hat sich als einzige in Bayern bekannte Neonazi-Kameradschaft als eingetragener Verein eine formelle Struktur gegeben. Der FZV führte am 12. Januar in einer Münchener Gaststätte ein Stammtischtreffen durch, zu dem sich auch etwa 50 Skinheads einfanden. In der Nacht zum 13. Januar wurde aus dem Kreis der Skinheads ein griechischer Staatsangehöriger vor dem Lokal angegriffen und schwer verletzt (vgl. auch Nummer 5.1 dieses Abschnitts). 3.2.2 Neonazi-Kreis um Sven Schlechta (Kameradschaft Schwabach) Bei dem Neonazi-Kreis handelt es sich um eine unorganisierte Gruppe von etwa fünf Personen. Der Führer der Kameradschaft Schwabach Sven Schlechta sieht sich in der Tradition des verstorbenen Rechtsextremisten Michael Kühnen und pflegt in diesem Rahmen regionale und überregionale Kontakte zu führenden Neonazis. Die Kameradschaft organisiert Veranstaltungen wie "Aktionstage für Gottfried Küssel" und Feiern anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler. 70 Rechtsextremismus 3.2.3 Bund Frankenland Der am 21. Dezember 1991 als Partei gegründete Bund Frankenland (BF) wurde am 29. Januar 1992 als eingetragener Verein registriert. Vorstandsmitglieder waren zu diesem Zeitpunkt die bekannten Rechtsextremisten Jürgen Schwab und Uwe Meenen. Ziel des BF war die Beseitigung des Grundgesetzes und der parlamentarischen Demokratie sowie die Schaffung eines "Vierten Deutschen Reiches" nationalistisch-rassistischer Prägung. Am Jahrestag der deutschen Kapitulation von 1945 verbreitete der "Bund Frankenland - Kameradschaft Heinrich II" in Bamberg zahlreiche Flugblätter mit der Überschrift "Der Zweite Weltkrieg: Von den Westmächten entfesselt! Tatsachen zum 8. Mai 1945". Darin sollte mit Hinweisen auf die "Deutschen Kriegsverluste" der Eindruck erweckt werden, dass im 2. Weltkrieg die Deutschen nicht Täter, sondern Opfer waren. Im September gab Jürgen Schwab den Zusammenschluss des Bund Frankenland Bamberg mit der NPD-Vorfeldorganisation "Staatsbürgerliche Runde Nürnberg" bekannt; diese Bündelung gleichgerichteter Kräfte sei erforderlich, um in der fränkischen Region die politische Bildungsarbeit vorantreiben und die Kampagnenfähigkeit verbessern zu können. Schwab kündigte in diesem Zusammenhang eine Reihe von Gemeinschaftsveranstaltungen an. 3.2.4 Aktionsbüro Nationaler Widerstand/Freilassing Der Neonazi Norman Bordin initiierte zusammen mit seinem im FZV aktiven Gesinnungsgenossen Manfred Eichner und dem Rechtsextremisten Steffen Holzmüller in Freilassing das "Aktionsbüro Nationaler Widerstand/Freilassing". In der Gründungsmitteilung vom 29. Mai 2000 versteht sich das Aktionsbüro als "unabhängiger Bestandteil des nationalen Widerstands/Deutschland" und verweist bei der Frage nach seinen politischen Vorstellungen auf die im Internet eingestellten Veröffentlichungen. Der darin propagierte Grundsatz "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" ist gleich lautend mit Ziffer 24 des "25-Punkte-Programms der NSDAP" vom 24. Februar 1920, wonach der "jüdisch-materialistische Geist" zur "dauernden Genesung unseres Volkes" zu bekämpfen sei. Die Aktivitäten des Aktionsbüro sind in den letzten Monaten deutlich zurückgegangen. Rechtsextremismus 71 3.3 Informationelle Vernetzung Seit mehreren Jahren nutzen Rechtsextremisten auch moderne Kommunikationstechniken, insbesondere um die nach den Verboten neonazistischer Organisationen weggefallenen Kontaktmöglichkeiten zu ersetzen. Der Zugriff auf das Internet - einem weltweiten, rechtlich und tatsächlich schwer fassbaren Raum - bietet Rechtsextremisten eine willkommene Plattform zur Verbreitung verfassungsfeindlicher Ziele. Insbesondere die Einschaltung ausländischer Provider vermindert das Risiko der Strafverfolgung. Zu den Schwerpunkten des Angebots gehören einschlägige Literatur und Musik, Propagandamaterialien aus dem Inund Ausland, Informationen über rechtsextremistische Organisationen, deren Postanschriften und Telefonnummern, so genannte "Schwarze Listen" mit den Namen politischer Gegner sowie Verzeichnisse weiterer Internet-Inhalte mit rechtsextremistischen Bezügen. In zunehmendem Maße dient das Internet aber auch der Mobilisierung der rechtsextremistischen Szene. So wurden auf einigen Homepages Flugblätter mit Aufrufen zu verschiedenen Demonstrationen eingestellt. Derzeit sind rund 1.000 (2000: 800) rechtsextremistische Homepages deutschen Ursprungs bekannt. Deutsche Rechtsextremisten werben für ihre verfassungsfeindlichen Ziele mit immer anspruchsvollerer Technik. So binden sie aufwendige Grafiken ein und bieten sogar indizierte Skinhead-Musik über Tondateien an, die auf dem heimischen PC gespeichert und vervielfältigt werden können. Die attraktiven Gestaltungsmöglichkeiten des "world wide web" (www) mit Farbgrafiken, Audiound Videosequenzen machen dieses kostengünstige Medium für rechtsextremistische Organisationen zu einem wichtigen Werbeund Propagandaträger, mit dem sich ungefiltert neue Interessentenkreise, vor allem Jugendliche, ansprechen lassen. Dem Internet kommt daher bei der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts sowie bei der Koordinierung von Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene eine weiterhin steigende Bedeutung zu. Die zunehmende Anonymisierung der Homepage-Benutzer und die Nutzung ausländischer Provider (z.B. in den USA) erschweren die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden. Rechtsextremisten, die ihre politischen Inhalte über Dienste in Deutschland anbieten, halten sich im Allgemeinen an die deutschen Gesetze. Bei Nutzung ausländischer Anbieter, beispielsweise in Übersee, geben sie ihre Zurückhaltung 72 Rechtsextremismus auf. So werden rassistische, revisionistische und volksverhetzende Aufrufe verbreitet, etwa durch den kanadischen Revisionisten Ernst Zündel, dessen Propaganda auch mit Tonund Videosequenzen abrufbar ist. Zum rechtsextremistischen Internet-Spektrum zählen ferner detaillierte Anleitungen zur Herstellung von Sprengund Brandsätzen sowie sonstiger Sabotagemittel, aber auch gezielte Aufforderungen zur Gewaltanwendung gegen politische Gegner bis hin zu Mordaufrufen. Allerdings sind selbst anonyme Homepage-Benutzer identifizierbar, wenn auch mit großem Aufwand. Strafbare Inhalte führten daher wiederholt zu Strafverfahren. Der informationellen Vernetzung von Rechtsextremisten dienen auch die Nationalen Info-Telefone (NIT), die mittels Anrufbeantworter Meldungen verbreiten und die Möglichkeit bieten, Nachrichten zu hinterlassen. Die Betreiber mobilisieren damit die rechtsextremistische Szene insbesondere zu bestimmten Anlässen und Großveranstaltungen. Daneben fungieren die NIT auch als eine Art Binde-Element und Motivationsinstrument innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Neben dem NIT Franken und dem NIT Schwaben hat auch das NIT Bayern des Neonazi Friedhelm Busse den Sendebetrieb eingestellt. Derzeit existieren in Bayern noch das Info-Telefon "Bündnis Rechts" des Dennis Oliver Entenmann aus Iphofen, Landkreis Kitzingen, dessen Aussagen teilweise mit den Texten des von Dieter Kern in Lübeck betriebenen Info-Telefons "Bündnis Rechts" identisch sind, und seit Anfang 2002 das Nationale Info-Telefon Süddeutschland des Neonazi Norman Bordin. Die Meldungen enthalten vor allem Hinweise auf regionale und überregionale Veranstaltungen. Mobiltelefone (Handys) werden insbesondere zur Steuerung von Anreisenden zu konspirativen Treffen oder nicht angemeldeten Versammlungen genutzt. Das Short-Message-System (SMS) der Handy-Betreiber dient daneben vielfach der Verbreitung von volksverhetzenden und antisemitischen Texten. 3.4 Aktivitäten zum 14. Todestag von Rudolf Heß Am 18. August veranstalteten über 800 Rechtsextremisten aus dem NPDund Neonazispektrum in Wunsiedel einen Aufzug zum Gedenken an Hitlers ehemaligen Stellvertreter Rudolf Heß. Nach einer von Trauermusik begleiteten Auftaktkundgebung marschierten die Rechtsextremisten, darunter der bayerische NPD-Landesvorsitzende Rechtsextremismus 73 Ralf Ollert, der Neonazi Friedhelm Busse sowie der JN-Funktionär und ehemalige Aktivist der verbotenen Skinheadorganisation "Blood & Honour" Christian Hehl rund 40 Minuten durch das Stadtgebiet. Als Redner der Schlusskundgebung traten der Versammlungsleiter Jürgen Rieger und der Hamburger Neonazi Thomas Wulff auf. Die Polizei nahm im Laufe des Demonstrationszugs 14 Rechtsextremisten wegen verschiedener Straftaten vorläufig fest und stellte Gegenstände wie eine Eisenstange, ein CS-Reizgassprühgerät und Baseballschläger sicher. An einer Gegendemonstration unter dem Motto "Kein Nazi-Aufmarsch in Wunsiedel", die zeitlich vor der Veranstaltung der Rechtsextremisten stattfand, beteiligten sich rund 150 Personen, darunter auch linksextremistische Autonome aus dem nordbayerischen Raum. Die Polizei nahm zwei vermummte Teilnehmer der Gegendemonstration vorläufig fest. Gewalttätige Auseinandersetzungen blieben aus. Anmelder der Versammlung war der Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen Rieger. Das Landratsamt Wunsiedel hatte die Veranstaltung zunächst verboten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof stellte am 17. August die aufschiebende Wirkung des von Rieger erhobenen Widerspruchs wieder her mit der Begründung, dass von der Demonstration keine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Das Gericht zog damit die Konsequenz aus der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Bereits wenige Stunden nach der Entscheidung wurde die Zulässigkeit der Veranstaltung von Rechtsextremisten im Internet und über "Nationale Info-Telefone" verbreitet und nachdrücklich zur Teilnahme aufgerufen. Teile der Neonaziszene reagierten euphorisch auf die Aufhebung des Versammlungsverbots, nachdem es seit Jahren nicht mehr gelungen war, eine größere Kundgebung zum Todestag von Rudolf Heß legal durchzuführen. Die Veranstalter hatten allerdings erheblich mehr Teilnehmer erwartet. Zu den nicht verbotenen "Heß-Märschen" waren Anfang der 90er Jahre zwischen 1.300 und 2.000 Heß-Anhänger erschienen. Die trotz der wochenlangen Mobilisierung relativ geringe Beteiligung weist auf die gegenwärtige Schwäche der neonazistischen Szene hin. Letztlich kam die Gerichtsentscheidung wohl auch für die Rechtsextremisten zu überraschend. Mit Blick auf den Urteilsspruch ist jedoch künftig von einem intensiveren Engagement führender Neonazis auszugehen. 74 Rechtsextremismus Außerhalb Bayerns kam es zu mehreren kleineren Propagandaaktionen von Rechtsextremisten. So wurden in nahezu allen Bundesländern Heß-Transparente, -Plakate und -Aufkleber öffentlich angebracht. In einigen Bundesländern löste die Polizei kleinere, konspirativ vorbereitete Aufmärsche auf. 4. Skinheads 4.1 Überblick Kaum eine andere Protestbewegung der Jugend hat in der Bundesrepublik Deutschland für so viel politische Aufmerksamkeit gesorgt wie die der Skinheads seit der Wiedervereinigung. Die öffentliche Beachtung, die ihnen in den Medien zuteil wird, ist auf ihre brutalen und menschenverachtenden Gewalttaten gegen Ausländer und Asylbewerber zurückzuführen. Die Skinhead-Bewegung entstand in Großbritannien und trat erstmals Ende der 70er Jahre auch im Bundesgebiet in Erscheinung. Sie war ursprünglich eine jugendliche Subkultur, die durch ihr Auftreten eine extreme Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft signalisierte. Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Haarschnitt lassen heute keine eindeutigen Schlüsse auf eine Zuordnung zur Skinhead-Szene mehr zu, da mittlerweile auch viele unpolitische Jugendliche ein entsprechendes Aussehen zeigen. 4.2 Politische Ausrichtung Die politischen Ansichten dieser Subkultur reichen von den so genannten Redskins (linksextremistisch beeinflusste Skinheads) über die so genannten SHARPs (Skinheads against racial prejudice - Skinhead gegen rassistische Vorurteile) und die Oi-Skins ("unpolitische Skinheads") bis hin zur Mehrheit der rechtsextremistischen Skinheads einschließlich der so genannten White-Power-Skinheads. Die entsprechende politische Überzeugung bildet sich je nach Einzelfall nicht selten erst nach Beitritt in die Szene stärker aus. Skinheads sind deshalb zunächst zu einer rational bestimmten politischen Meinungsbildung kaum fähig und an einer fundierten politischen Auseinandersetzung nicht interessiert. In ihren Kreisen hat sich eine vom organisierten Rechtsextremismus unabhängige diffuse rechtsextre- Rechtsextremismus 75 Rechtsextremistische Skinhead-Szenen Raum in Bayern 2001 Raum Coburg Coburg Aschafffenburg Raum ca. 30 Bayreuth/Hof ca. 60 Aschaffenburg ca. 30 Bayreuth Würzburg Raum Bamberg Raum Würzburg/Schweinfurt ca. 20 Raum ca. 50 Raum Amberg/Weiden Erlangen Nürnberg ca. 40 ca. 50 Großraum Nürnberg Raum ca. 70 Cham/Roding ca. 20 Regensburg Raum Angehörige der Ingolstadt Skinhead-Szenen ca. 30 Ingolstadt Raum Augsburg/ Passau Friedberg/Aichach Landshut Raum Passau/ ca. 20 Deggendorf/ Neu-Ulm Augsburg Straubing Raum Neu-Ulm/ ca. 40 Krumberg/Dillingen Großraum Raum Landsberg/ München Fürstenfeldbruck München ca. 25 ca. 210 ca. 30 Großraum Raum Rosenheim/ Rosenheim Freilassing/Bad Reichenhall Oberallgäu/ Unterallgäu ca. 50 ca. 90 Raum Weilheim/ Garmisch-Partenkirchen ca. 40 mistische Weltanschauung herausgebildet. Sie ist von rassistisch motivierter Fremdenfeindlichkeit sowie übersteigertem Nationalbewusstsein geprägt und knüpft insofern an wesentliche Elemente des Nationalsozialismus an. Diese Einstellung spiegelt sich in meist spontanen Gewalttaten wider. Opfer sind nach wie vor Ausländer, aber auch Personen aus sozialen Randgruppen sowie "Linke", also alle zu ihren "Feindbildern" zählenden Menschen. Skinheads dienen rechtsextremistischen Organisationen vor allem als Mobilisierungspotenzial für öffentlichkeitswirksame Aktionen. Grund- 76 Rechtsextremismus sätzlich herrscht in der Szene eine Abneigung gegen organisatorische Bindungen. Allerdings werden Aktionen der NPD und JN von Skinheads massiv unterstützt; frühere Vorbehalte der Skinheads gegenüber diesen Organisationen haben stark abgenommen. So gehört ein Großteil von Besucher der NPD-Großkundgebungen der Skinhead-Szene an. Enge Kontakte bestanden insbesondere in Nordbayern sowie in Cham/Roding, Straubing und Weilheim in Oberbayern zwischen den dortigen Skinhead-Szenen und den JN bzw. der NPD. Versuche von Neonazis, Skinheads für eine längerfristige ernsthafte politische Tätigkeit zu gewinnen, waren bislang wenig erfolgreich, da Skinheads einer intensiven ideologischen Schulung kaum zugänglich sind. 4.3 Strukturen Die Skinhead-Szene unterliegt einer starken Fluktuation und kennt in der Regel weder feste Organisationsstrukturen noch formelle Mitgliedschaften. Die Bindungen zur Gruppe reichen von losen gelegentlichen Kontakten über regelmäßige Beteiligung an Aktionen bis zur vollen sozialen Integration oder der Wahrnehmung von Führungsfunktionen. Diese informellen Führer wandern später häufig in andere rechtsextremistische Gruppierungen ab. In Bayern sind rund 900 Skinheads mit rechtsextremistischem Hintergrund bekannt. Im Jahr 2001 wurden in Immenstadt/Sonthofen, Dillingen und dem Großraum Landsberg neue Szenen bekannt, in denen rechtsextremistisches Gedankengut artikuliert wird. Diese neuen Szenen und zusätzlich durch verstärkte Aufklärungsarbeit der Sicherheitsbehörden bekannt gewordene Skinhead-Szenen erklären die zahlenmäßige Steigerung auf 900 (Vorjahr: 780). Der Schwerpunkt der Gewalttaten lag erneut in den Großräumen München und Nürnberg. Aufgrund des Verbots der Skinhead-Organisation "Blood & Honour" am 14. September 2000 durch das Bundesministerium des Innern sowie der Selbstauflösungen einiger Skinhead-Kameradschaften wie "Skingirl - Freundeskreis Deutschland" (SFD) und umfangreicher Präventionsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden kam es auch im bayerischen Skinhead-Spektrum zu strukturellen Veränderungen. Ehemals Rechtsextremismus 77 gefestigte regionale Szenen lösten sich auf und zerfielen in mehrere kleine Gruppierungen. Dies gilt insbesondere für den schwäbischen Raum sowie für die Landeshauptstadt München. Die Skinheads sind kommunikativ sehr mobil und in der Lage, in kürzester Zeit gemeinsam Aktionen bzw. Veranstaltungen durchzuführen. Bei äußerst konspirativer Vorbereitung von Großveranstaltungen werden Hunderte von Skinheads in einen vorher bestimmten Großraum des Veranstaltungsobjekts dirigiert. Erst unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn wird die konkrete Örtlichkeit bekannt gegeben, zum Teil über Mobiltelefone. Damit erreichen die Skinheads, dass auch die Sicherheitsbehörden erst relativ spät den tatsächlichen Veranstaltungsort erfahren und konkrete Gegenmaßnahmen treffen können. Schwerpunkte im Skinhead-Spektrum in Bayern sind nach wie vor die Großräume München und Nürnberg. Im Großraum Nürnberg ist im Frühjahr eine politisch agierende Skinhead-Gruppierung, die "Fränkische Aktionsfront" (F.A.F.) entstanden. Dahinter verbergen sich namhafte Skinheads aus der Nürnberger Szene, die enge Kontakte zum Redaktionskollektiv des Fanzines "Landser" und zum dortigen NPD-Kreisverband, insbesondere zum Landesvorsitzenden Ralf Ollert, pflegen. In ihrem Flugblatt mit dem Titel "Linker Terror in Herzogenaurach" rief die F.A.F. in Anlehnung an linksextremistische Antifa-Kampagnen zu Aktionen gegen "Linke" auf. Auf dem Flugblatt war ein "linksextremistischer Rädelsführer" mit ausführlicher Personenbeschreibung abgebildet. Ein Aufkleber der F.A.F. zeigte unter anderem einen vermummten, mit einer Steinschleuder bewaffneten Palästinenser, der die linke Hand zum "Victory-Zeichen" erhebt. Der Aufkleber trug den Titel: "Den Zionismus gemeinsam bekämpfen!" Erkenntnisse, dass Skinheads derzeit mit ausländischen Extremisten gegen israelische bzw. jüdische Organisationen tatsächlich zusammenarbeiten, liegen nicht vor. 4.4 Anziehungskraft für Jugendliche Die Anziehungskraft dieser Szene insbesondere auf männliche Jugendliche hält an. Die Beweggründe, die junge Menschen in diese Subkultur treiben, sind vielfältig: jugendliche Protesthaltung, Provokation und Tabubruch, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit den häufigen Folgen einer Entwurzelung und zunehmenden Entfremdung vom Elternhaus, Perspektivlosigkeit in Verbindung mit wirtschaftlichen Problemen und tatsächlichem oder befürchtetem sozia- 78 Rechtsextremismus lem Abstieg. Hinzu kommt das durch die Szene vermittelte Gemeinschaftserlebnis und das daraus folgende Gefühl eigener Stärke und Anerkennung in einer sozialen Gruppe. Den Jugendlichen werden einfache Erklärungen und einfache Lösungen für komplexe Probleme angeboten. Skinheads entstammen zu einem erheblichen Teil, aber nicht ausschließlich, den unteren sozialen Schichten. Die meisten Skinheads finden sich in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahren. Ältere Szeneangehörige sind die Ausnahme. Der Anteil der unter 16 Jahre alten Skinheads wächst jedoch ständig; die so genannten "Jungglatzen" sind erst 12 bis 13 Jahre alt. Auch Mädchen, die Reenes, gehören dieser Subkultur an, sind jedoch zahlenmäßig in der Minderheit. Ihr Anteil beträgt je nach Szene bis zu 20%. Die rechtsextremistische Skinhead-Szene erfährt zudem seit Jahren verstärkt Zulauf durch Jugendliche, die sich für Skinhead-Musik als Stilrichtung der Rockmusik interessieren. Dieser Bereich ist somit auch für unpolitische Jugendliche attraktiv. Daneben finden manche Jugendliche Spaß an dem in dieser Szene üblichen exzessiven Lebensgenuss einschließlich des enormen Alkoholkonsums unter dem Motto "Fun & Froide". Die Grenzen zur eindeutig rechtsextremistisch geprägten Skinhead-Szene sind deshalb vielfach fließend. 4.5 Skinhead-Musik und Skinhead-Magazine Die Skinhead-Musik vermittelt die subkulturellen Botschaften der Skinhead-Szene. In den Liedern werden Eigenverständnis und Abgrenzung der Szene gegenüber der Gesellschaft beschrieben, Kritik am Establishment formuliert und andere politische Themen aufgegriffen. Rechtsextremistische Skinhead-Bands verbreiten in ihren Liedtexten neonazistische Ideologiefragmente und rufen zum Hass gegen Skinhead-Feindbilder wie Ausländer, "Linke" und Juden auf. In Bayern bestehen nach wie vor zehn derartige Musikgruppen. Skinhead-Musik wird daneben auch von fünf (2000: neun) rechtsextremistischen Tonträgervertrieben angeboten. Von bayerischen Skinhead-Bands wurden lediglich drei Tonträger gegenüber zwei im Vorjahr neu produziert. Die Zahl der Skinhead-Konzerte in Bayern ging auf vier gegenüber fünf im Vorjahr zurück. Die Sicherheitsbehörden in Bayern treffen bei solchen Konzerten die erforderlichen Maßnahmen, um Rechtsextremismus 79 Straftaten zu verhindern. An den Veranstaltungen nahmen zwischen 80 und 600 Personen teil. Aufsehen erregte ein Skinhead-Konzert am 26. Mai in Steinach, Landkreis Straubing-Bogen. Das Treffen war als Geburtstagsfeier von Christian Hehl verbunden mit einem Skinhead-Konzert organisiert und äußerst konspirativ ohne vorherige Anmeldung vorbereitet worden. Hehl ist Funktionär der Jungen Nationaldemokraten (JN) und rechtsextremistischer Skinhead aus Rheinland-Pfalz. Obwohl die Planung der Veranstaltung in den Grundzügen bekannt war, gelang es den Sicherheitsbehörden erst unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn, die konkrete Örtlichkeit in Erfahrung zu bringen. Insgesamt nahmen an der Veranstaltung rund 600 Skinheads, darunter auch Personen aus den Benelux-Staaten, Frankreich, Österreich und der Schweiz teil. Die Veranstaltung war, wie die späteren Ermittlungen ergaben, von Christian Hehl und Sascha Roßmüller organisiert und durchgeführt worden. Roßmüller ist NPDund JN-Funktionär sowie früherer Aktivist des 1993 verbotenen Nationalen Blocks (NB). Die Polizei löste das ungenehmigte Konzert und die damit verbundene Ansammlung in den frühen Abendstunden auf. Drei Polizeibeamte wurden durch massive Widerstandshandlungen der Skinheads leicht verletzt, mehrere Einsatzfahrzeuge wurden leicht beschädigt. Fünf Personen, davon vier mutmaßliche Steinewerfer, wurden vorläufig festgenommen. Mit den massiven Drohungen und den Widerstandshandlungen gegen die eingesetzten Polizeikräfte zeigte sich auch in Bayern eine bereits im Bundesgebiet mehrfach bekannt gewordene Entwicklung, dass sich Skinheads zunehmend auch mit Gewalt gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr setzen. Mit den Aktivitäten rechtsextremistischer Skinhead-Bands beschäftigen sich auch die Fan-Magazine , auch "Fanzines" oder "Zines" genannt. Durch Interviews und Bandvorstellungen wird diesen ein Forum zur ausführlichen Selbstdarstellung gegeben. Erlebnisberichte aus der Szene über Konzertveranstaltungen, Feste und gemeinsame Aktivitäten festigen zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Szene. Weiterer Bestandteil vieler Fanzines sind die ausführlichen Rezensionen sowie Bestelladressen für Tonträger, andere Fanzines und diverse Szene-Artikel wie z.B. T-Shirts, Buttons oder Aufkleber. Fanzines erreichen Auflagenhöhen von bis zu 1.000 Stück. Häufig enthalten sie kein Impressum; die Kontakte erfolgen über Postfachadressen. In Bayern werden derzeit mit Schwerpunkt Nordbayern fünf (2000: zehn) verschiedene rechtsextremistische Fanzines herausgegeben. 80 Rechtsextremismus Die Publikation "Landser" der "Nationalisten Nürnberg", enthält neben typischen Skinhead-Themen wie Konzertberichten auch politische Beiträge zu neonazistischen Themen. Einen breiten Raum nimmt in der Ausgabe 8 ein zehnseitiger Beitrag zur "Anti-Antifa" in Nürnberg ein. Neben Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens werden darin insbesondere Aktivisten der "Antifa-Szene" namentlich benannt und öffentlich zum Widerstand aufgerufen. Solche Aufrufe sind geeignet, die latent schwelenden Auseinandersetzungen zwischen "Linken" und "Rechten" erneut anzuheizen. Die Herausgeber von Fanzines nutzen auch das Internet. Das aus Bamberg stammende Magazin "Lokalpatriot" verfügt als einziges bayerisches Fanzine über eine eigene Homepage im Internet. Diese Alternative zur Verbreitung der Fanzines hat für die Herausgeber viele Vorteile. Zum einen liegen die Kosten für die Einrichtung einer neuen Homepage weit unter den herkömmlichen Druckkosten, zum anderen können die ins Internet eingestellten Fanzines weltweit abgerufen werden und sind damit einem breiten, weit über die Szene hinausgehenden potenziellen Interessentenkreis zugänglich. Hinzu kommt, dass durch den freien und relativ problemlosen Zugang zum Internet die Hemmschwelle gerade bei Jugendlichen zum Konsum solcher Schriften sinkt. 4.6 Strafverfahren, Urteile und Exekutivmaßnahmen Das Amtsgericht Bamberg verurteilte am 17. Januar den ehemaligen fränkischen Sektionsleiter der im September 2000 verbotenen Skinhead-Organisation "Blood & Honour" wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 70 DM. Der Verurteilte hatte im März 2000 ein in seiner Region ansässiges Unternehmen mit dem Druck von etwa 3.000 Exemplaren des Blood & Honour-Magazins Nummer 9 beauftragt. Diese Ausgabe verherrlichte in einigen Beiträgen führende militärische und politische Repräsentanten des Nationalsozialismus und würdigte rechtsextremistische Propaganda aus Interviews mit Skinhead-Musikgruppen. Am 5. April verbot der Sächsische Staatsminister des Innern die Gruppierung "Skinheads Sächsische Schweiz" (SSS) und deren "Aufbauorganisation" (SSS-AO). Das Verbot erstreckte sich auch auf eine Rechtsextremismus 81 Gruppierung "Nationaler Widerstand Pirna", in die sich zumindest Teile der SSS umbenannt haben. Die SSS und die SSS-AO versuchten, ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch mit kriminellen Mitteln zu verfolgen. Das Weltbild der verbotenen Organisation orientierte sich an der nationalsozialistischen Ideologie und enthielt starke rassistische Elemente. Feindbilder waren neben Ausländern und jüdischen Mitbürgern auch politische Gegner, die aus der sächsischen Schweiz vertrieben werden sollten. Das Vermögen der SSS/SSS-AO wurde beschlagnahmt und eingezogen. Die Polizei stellte Schriftmaterial, Fotos, einen PC und eine Gotcha-Waffe sicher. Bereits im Vorjahr hatte die Polizei zahlreiche Objekte von Anhängern der SSS durchsucht und dabei auch größere Mengen Waffen und Sprengstoff sichergestellt. Das Bundesverwaltungsgericht wies am 13. Juni die Klagen gegen das Verbot der Vereinigungen "Blood & Honour" beziehungsweise "White Youth" als unzulässig ab. Die mit Verfügung vom 12. September 2000 durch das Bundesministerium des Innern gegen "Blood & Honour - Division Deutschland" und deren Jugendorganisation "White Youth" ausgesprochenen Vereinsverbote sind damit unanfechtbar. Am 27. Juni durchsuchte die Polizei aufgrund eines Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Nürnberg die Wohnung eines 23-jährigen Skinheads in Nürnberg sowie ein weiteres Objekt in Fürth. Dem Skinhead wird vorgeworfen, öffentlich zu Straftaten, unter anderem gegen Polizeibeamte und politische Gegner, aufgefordert zu haben. Im Rahmen der Durchsuchung konnte umfangreiches Propagandamaterial der "Fränkischen Aktionsfront" (F.A.F.) aufgefunden werden, darunter rund 30.000 Plakate, Flugblätter und Aufkleber. Auf den meisten dieser Druckwerke zeichnete der Skinhead presserechtlich verantwortlich. Zwischen dem 30. September und dem 5. Oktober nahmen mehrere Landeskriminalämter im Auftrag des Generalbundesanwalts sowohl vier Mitglieder der Berliner Skinhead-Band "Landser" als auch einen Vertreiber und Produzenten rechtsextremistischer Musik fest. In allen fünf Fällen erging Haftbefehl. Im Rahmen der Maßnahmen durchsuchte die Polizei zudem über 20 Objekte in Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Hierbei konnte die Polizei umfangreiches Beweismaterial beschlagnahmen, das die Bandstruktur sowie die Beteiligung der Beschuldigten an CD-Herstellung und Vertrieb belegt. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen Mitglieder der Skinhead-Band und ihrer Unterstützer wegen des Verdachts der Mit- 82 Rechtsextremismus gliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Ziel der Gruppe sei es - nach dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder - den "Soundtrack zur arischen Revolution" zu liefern. Hierzu, so der Generalbundesanwalt, produziere und vertreibe die Band Musikstücke, in denen sie zur Begehung schwerer Straftaten, so auch zu Brandstiftung und Mord, aufrufe. 5. Rechtsextremistisch motivierte Straftaten 5.1 Gewalttaten Bundesweit stellten Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation nach wie vor den Schwerpunkt extremistisch motivierter Gewalttaten. In Bayern betrug die Gesamtzahl der Gewalttaten 72 (2000: 60). Die rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten sind überwiegend der äußerst gewaltbereiten Skinhead-Szene zuzurechnen. Dies zeigt die erschreckende kriminelle Energie und Brutalität dieses Personenkreises. Von 179 ermittelten Tatverdächtigen waren 120 zur Tatzeit jünger als 21 Jahre. Der Anteil der erstmals in Erscheinung getretenen Gewalttäter liegt bei 65 % (117 Tatverdächtige). Die Gewalttaten wurden ganz überwiegend nicht von Einzeltätern, sondern mit anderen gemeinsam begangen. Dabei entstand der Tatentschluss vielfach spontan aus gruppendynamischen Prozessen, gefördert durch Alkohol und Musik mit rechtsextremistischen Texten. Räumliche Schwerpunkte waren die Großstadtregionen München und Nürnberg. Rechtsextremistisch motivierte Gewalttäter sind überwiegend nicht in politischen Gruppen oder Parteien organisiert. Eine überregionale Steuerung durch rechtsextremistische Organisationen konnte in keinem Fall festgestellt werden. Rechtsterroristische Strukturen sind in Bayern nicht bekannt geworden. Das typische Ablaufmuster für rechtsextremistisch motivierte Gewalt ist gleich geblieben. Nach gezielten anfänglichen Provokationen der Angreifer kommt es bei geringstem Anlass zu Tätlichkeiten und massiver Gewaltanwendung gegen die Opfer. So zum Beispiel am 27. März in der Münchner S-Bahn, am 26. April in Fürth und am 17. Juni in Oberasbach, Landkreis Fürth. Die Opfer werden brutal geschlagen, getreten oder mit gefährlichen Gegenständen wie Gläsern beworfen und zum Teil erheblich verletzt. Rechtsextremismus 83 In der Nacht zum 13. Januar griffen in München mehrere Skinheads vor der Gaststätte "Burg Trausnitz" einen griechischen Staatsangehörigen massiv tätlich an. Der Grieche erlitt durch Faustschläge und Fußtritte erhebliche Verletzungen. Als dem Griechen mehrere türkische Staatsangehörige zu Hilfe kamen und ihn damit vor Schlimmerem bewahrten, wurden auch sie angegriffen. Die Skinheads hatten an einer Geburtstagsfeier in der Gaststätte, in der zeitgleich ein Treffen des rechtsextremistischen Vereines "Freizeitverein Isar 96 e.V." stattfand, teilgenommen. Die Polizei konnte insgesamt über 50 Rechtsextremisten ermitteln, die entweder an der Tat beteiligt waren oder zumindest an der Feier teilgenommen hatten. Der mutmaßliche Haupttäter Christoph Schulte wurde ebenfalls verletzt und von Gesinnungsgenossen zunächst in den Räumen der Münchner Burschenschaft Danubia untergebracht, flüchtete aber anschließend über mehrere Stationen in die Niederlande. Dort konnte er am 2. Februar festgenommen werden. Das rechtsextremistische "Thule-Netz" veröffentlichte unter der Überschrift "Türkenschläger - Deutscher bewusstlos geprügelt" fünf Fotos der türkischen Mitbürger, die dem Griechen geholfen hatten, und stellten dabei die Täter als Opfer dar. Der Thule-Netz-Text endet mit dem zynischen Hinweis: "Das Netz ... vertraut auf die Kraft der argumentativen Auseinandersetzung und verbindet mit der Veröffentlichung dieser Information keinen Aufruf zur Gewalt." Bereits am 10. Mai verurteilte das Jugendschöffengericht des Amtsgerichts München vier beteiligte Deutsche im Alter von 18 bis 23 Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung zur Zahlung von Schmerzensgeld, Jugendstrafen von einem Jahr, ausgesetzt zur Bewährung, bis hin zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung. Am 30. August verurteilte das Landgericht München zwei weitere Mittäter unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren und vier Monaten bzw. zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, und Zahlung von 1.600 DM an ein Kinderheim. Bei einem der Verurteilten ordnete das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Gegen einen dritten Mitangeklagten stellte das Gericht das Verfahren ein. Am 1. März 2002 verurteilte das Landgericht München den Haupttäter Christoph Schulte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren. Seine zur Tatzeit 17-jährige Lebensgefährtin wurde wegen des gleichen Vorwurfs zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt. 84 Rechtsextremismus Zwei Mitangeklagte verurteilte das Gericht unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten bzw. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Einen weiteren Mitangeklagten verurteilte das Gericht zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Am 19. Januar griffen in München zwei Deutsche einen Homosexuellen türkischer Abstammung tätlich an, nachdem sie ihn zuvor massiv beschimpft hatten. Die Polizei konnte die zwei Tatverdächtigen noch in Tatortnähe bzw. kurze Zeit später festnehmen. Am 24. Februar geriet in Regensburg ein Taxifahrer mit seinen Fahrgästen, unter denen sich ein NPD-Mitglied mit Kontakten zur Regensburger Burschenschaft Teutonia befand, in Streit, nachdem sie beim Verlassen des Taxis den Hitlergruß gezeigt und "Heil Hitler" gerufen hatten. Im Lauf der verbalen Auseinandersetzung schlugen und traten zwei der Fahrgäste massiv auf den Taxifahrer ein. Die Angreifer konnten festgenommen werden. Einer davon war auch als Tatverdächtiger an dem tätlichen Angriff auf einen griechischen Staatsangehörigen am 13. Januar in München festgenommen worden. Etwa zehn der Skinhead-Szene zuzurechnende Jugendliche griffen am 2. März in Regensburg vor einem Lokal einen 17-jährigen türkischen Schüler tätlich an. Sie schlugen dem jugendlichen Türken eine Flasche über den Kopf und traten ihn mit Stiefeln, wobei sie "Fürs deutsche Vaterland - Scheiß Kanake" brüllten. Die Polizei konnte die Tatverdächtigen am 4. März festnehmen. In einem Münchner U-Bahnhof wurde am 19. September eine farbige Frau von einer unbekannten weiblichen Person angegriffen. Die Angreiferin trat der Frau gegen den Unterschenkel und sagte: "Pass auf, Du scheiß Neger". Anschließend schubste sie die Frau in Richtung Gleise und flüchtete. Am 28. Oktober versuchten drei Skinheads in einer Tankstelle in Regensburg ein Schriftstück mit einem Hakenkreuz auszuhängen. Anschließend fuhren sie mit einem Linienbus, in dem sich ein farbiges Mädchen befand, weg. Sie beleidigten das Mädchen mit den Worten "Scheiß Neger" und verletzten ein drei Monate altes Baby durch einen absichtlichen Ellbogenstoß. Einen älteren Herrn beleidigten sie mit den Worten "Du gehörst ja nach Auschwitz". Bei der Rechtsextremismus 85 anschließenden Durchsuchung wurde ein Zettel mit der Aufschrift "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein" aufgefunden. Am 21. November warfen zwei rechtsextremistische Jugendliche mehrere Molotowcocktails in den Eingangsbereich eines Asylbewerberwohnheims in Aystetten, Landkreis Augsburg, in dem 18 Asylbewerber schliefen. Ein durch die Hilfeschreie der Hausbewohner alarmierter Nachbar konnte den Brand löschen. Die Ermittlungen ergaben, dass die Täter als weitere Brandmittel Molotowcocktails und Benzin zurückgelassen hatten. Die der örtlichen Skinhead-Szene zuzurechnenden Tatverdächtigen wurden in einem benachbarten Ort festgenommen. Der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Augsburg erließ Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten Mordes in 18 Fällen und schwerer Brandstiftung. Am 29. November wurden in Cham drei Kosovo-Albaner von vier Skinheads mit Fäusten, zerbrochenen Flaschenhälsen und einem Messer attackiert. Während der Auseinandersetzung fielen Worte wie "Scheiß Ausländer - Scheiß Muslemi - Ausländer müssen weg". Nach der Tatausführung flüchteten die Skinheads, konnten jedoch von der Polizei festgenommen werden. 5.2 Sonstige Straftaten Die Gesamtzahl der in Bayern bekannt gewordenen sonstigen neonazistischen, antisemitischen und rassistischen Straftaten beträgt 1.768 (2000: 1.574), darunter 339 (2000: 333) fremdenfeindlich motivierte Delikte. Dabei handelte es sich wie im Vorjahr vielfach um Sachbeschädigung, Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung und insbesondere das Verbreiten von Propagandamitteln bzw. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. So wurden Parolen wie "Sieg Heil" und "Ausländer raus" gerufen und antisemitische Pamphlete verbreitet. Anonyme Schmierschriften wie "Heil Hitler", "Deutschland den Deutschen", "Kauft nicht bei Juden", "Juden killen!" und "Türkenschweine in die Gaskammer" wurden vielfach in Verbindung mit Hakenkreuzen und SS-Runen angebracht. Wie schon im Vorjahr bedienten sich Rechtsextremisten zunehmend des Short-Message-Systems (SMS) der Mobilfunkbetreiber, um volksverhetzende Propaganda an Besitzer von Mobiltelefonen zu über- 86 Rechtsextremismus mitteln. So erhielt eine 50-jährige Deutsche in Kleinostheim, Landkreis Aschaffenburg, am 17. Februar auf ihrem Handy folgende SMS-Nachricht: "Aufgrund der Machtübernahme der NSDAP haben wir Ihre SIM-Karte gesperrt. Der Grund - Nigger, Juden, Schwule und Türken dürfen kein Telefon besitzen". Beispiele für die im Berichtszeitraum verübten Straftaten sind auch folgende Vorfälle: Ein 16-jähriger Skinhead besprühte in den Nächten zum 17. und zum 22. Januar das Denkmal für einen jüdischen Arzt in Bad Reichenhall jeweils mit einem Hakenkreuz und den Worten "Jude verrecke". Der Täter stellte sich am 23. Januar der Polizei. Unbekannte Täter schmierten am 20. Januar in Regensburg auf ein Plakat der Volkshochschule die Worte "Ausländer vergasen". Zwei alkoholisierte Skinheads skandierten am 26. Februar im Hauptbahnhof in Nürnberg die Parolen "Ausländer raus" und "Neger raus". Einem Farbigen gegenüber äußerten sie: "Was willst du hier? Man müsste alle Neger killen; alle Neger müssen raus aus Deutschland." Am 25. Februar wurde in Ingolstadt eine Einladung zu einer Aschermittwochsveranstaltung der ÖDP mit einem Plakat zum Gedenken an den am 23. Februar 1930 ums Leben gekommenen SA-Sturmführers Horst Wessel beklebt. In der Nacht zum 11. März warfen unbekannte Täter in Weiden in der Oberpfalz eine Flasche mit weißer Farbe gegen einen Gedenkstein zur Erinnerung an den Holocaust. Am 14. April wurden an einer Autobahnbrücke im Raum Erlangen und an drei Unterführungen in Nürnberg Transparente mit den Aufschriften "Blut und Ehre", "NS-Verbot aufheben", "Rotfront verrecke", "Wehrt Euch" und "Jude verrecke" festgestellt. Unbekannte Täter beschmierten am 17. April im Bahnhof Planegg bei München die Windfänge der Sitzgruppen mit Hakenkreuzen, SS-Runen sowie den Parolen "Sieg Heil" und "Juda verrecke". Am 21. Mai wurde an einem Grabstein im jüdischen Friedhof in Georgensgmünd, Landkreis Roth, ein Hakenkreuzaufkleber der NSDAP-AO mit der Aufschrift "Kauft nicht bei Juden!" festgestellt. Rechtsextremismus 87 Unbekannte Täter sprühten am 8. Juli in Ingolstadt Hakenkreuze, SS-Runen und Parolen wie "Heil Hitler" und "Die Juden sind eine Krankheit". Ein 32-jähriger Militariahändler fuhr am 30. August auf einem Kraftrad durch Schwabach. Er trug eine braune Uniform, einen schwarzen Stahlhelm und einen Anstecker mit Reichsadler und Hakenkreuz. Der zunächst unbekannte Täter konnte durch Halterfeststellung und Lichtbildvorlage identifiziert werden. Unbekannte Täter beschmierten Anfang Oktober ein Verkehrszeichen im Veldensteiner Forst, Landkreis Bayreuth, mit den Worten "Hängt alle Juden, diese Kriegstreiber. Dachau mach die Tore auf, nimm alle Juden auf". Auf einem weiteren Verkehrsschild wurde die Parole "Scheiß Juden" festgestellt. Am 3. Dezember ging der Jüdischen Gemeinde Regensburg ein anonymes Schreiben mit folgendem Text zu: "Juden sind schädliche Wanzen! Deutsche: Wehrt euch gegen das jüdische Ungeziefer!" Unbekannte Täter schmierten Anfang Dezember in einem Schulhof in Hausen, Landkreis Miltenberg, Hakenkreuze und SS-Runen sowie die Parolen "Heil Hitler" und "Scheiß Türken". 6. Revisionismus 6.1 Ziele Der Revisionismus, der die Geschichtsschreibung über die Zeit des Dritten Reichs ändern will, ist zu einem Bindeglied zwischen den unterschiedlichsten rechtsextremistischen Strömungen geworden. Seinen Repräsentanten geht es allerdings nicht um die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern gezielt um die mittelbare Rechtfertigung bzw. Aufwertung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch einseitige, relativierende oder verharmlosende Darstellung des NS-Regimes. Im Mittelpunkt der revisionistischen Agitation stehen die Leugnung des nationalsozialistischen Massenmords an europäischen Juden in Gaskammern deutscher Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs (Holocaust) sowie die Behauptung, Deutschland trage keine Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Auf diese Weise soll das auf seriöser Forschung beruhende Geschichtsbild propagandistisch unterminiert werden, um die Deutschen von ei- 88 Rechtsextremismus nem vermeintlich aufgezwungenen "Schuldkomplex" zu befreien. Revisionisten machen sich zunutze, dass das Wissen über den Nationalsozialismus gerade bei Jugendlichen oft nur bruchstückhaft vorhanden ist. 6.2 Entwicklung und Träger der Revisionismus-Kampagne Revisionismus war von Anfang an eine internationale Erscheinung, wobei der Anstoß zunächst aus Frankreich und den USA kam. Seit Beginn der 50er Jahre erschien eine große Anzahl von Büchern, die den historischen Nachweis führen wollten, dass es entgegen der Feststellung seriöser Forscher und Zeitzeugen keine Tötung von Juden in Gaskammern gegeben habe. Hervorzuheben ist hierbei das 1989 veröffentlichte "Gutachten" des Amerikaners Fred A. Leuchter, wonach es in Auschwitz und einigen anderen Konzentrationslagern aufgrund der technischen Gegebenheiten nicht möglich gewesen sei, Menschen in Gaskammern zu töten. Dieselbe Behauptung stellte der Diplomchemiker Germar Scheerer geb. Rudolf, ein ehemaliges REP-Mitglied, in seinem 1994 verbreiteten "Gutachten über die Bildung und Nachweisbarkeit von Zyanidverbindungen in den 'Gaskammern' von Auschwitz" auf. Im April erschien in seinem Verlag "Castle Hill Publishers" in Hastings/Großbritannien eine überarbeitete und stark erweiterte Zweitauflage dieses Pamphlets. Die international aktivsten Revisionisten weichen zunehmend in Länder aus, in denen Strafbestimmungen gegen das Verbreiten und die Veröffentlichung revisionistischen Gedankenguts fehlen. So setzte sich der deutsche Revisionist Germar Scheerer im Frühjahr 1996 nach einer Verurteilung unter anderem wegen Volksverhetzung ins Ausland ab, wo er seine revisionistische Agitation fortsetzte. Derzeit hält er sich in Großbritannien auf. Der wohl bekannteste Vertreter des Revisionismus ist der international agierende britische Schriftsteller David Irving, der 1993 aus Deutschland ausgewiesen wurde. Gegen ihn besteht seither ein Einreiseverbot. Erhebliches Aufsehen erregte Anfang des Jahres 2000 seine erfolglose Verleumdungsklage in London gegen die US-Wissenschaftlerin Deborah Lipstadt, die ihn in einem Buch als "aktiven Holocaust-Leugner, Antisemiten und Rassisten" bezeichnet hatte. Ein weiterer Protagonist des Revisionismus ist der deutsche Staatsangehörige Ernst C. F. Zündel, der 1958 nach Kanada übersiedelte. In Rechtsextremismus 89 Toronto besitzt Zündel den Verlag Samisdat Publishers Ltd. Er unterhält internationale Kontakte und verfasst und verschickt zahlreiche Publikationen, darunter in erster Linie den "Germania"-Rundbrief, der neonazistische und antisemitische Thesen enthält und auch über das Internet abrufbar ist. Im Internet erscheint ferner seit mehreren Jahren der Beitrag "Good morning from the Zündelsite", der - so Zündel - monatlich von mehr als 10.000 Interessenten eingesehen wird. Dort sind unter anderem Bücher, die in Deutschland der Beschlagnahme unterliegen bzw. von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurden, mit vollem Text eingestellt, darunter das "Rudolf-Gutachten" von Germar Scheerer und "Starben wirklich sechs Millionen?" von Richard Harwood. Im Februar gab Zündel im "Germania"-Rundbrief bekannt, dass er in die USA übergesiedelt sei, da er in Kanada wegen der Einstellung der "Zündelsite" ins Internet strafrechtlich verfolgt werde. Das 1979 unter rechtsextremistischer Beteiligung gegründete Institute for Historical Review (IHR) mit Sitz in Kalifornien/USA pflegt Verbindungen - auch über das Internet - zu Rechtsextremisten in allen Kontinenten. Mit seiner Zeitschrift "Journal of Historical Review" und vor allem mit seinen jährlichen Kongressen bietet es eine Plattform, um gegen die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung zu polemisieren. Das monatlich im Verlag des britischen Rechtsextremisten Antony Hancock in Uckfield erscheinende "National Journal", das ebenfalls mit einer Homepage im Internet vertreten ist, betreibt massive Hetze gegen Ausländer und Juden und leugnet oder bagatellisiert den Holocaust. Der Herausgeberkreis führt die Bezeichnung "Die Freunde im Ausland" (DFiA). Die 1985 in Antwerpen gegründete, in Berchem/Belgien ansässige Organisation Vrij Historisch Onderzoek (V.H.O.) hat sich inzwischen zu einer bedeutenden Vertreiberin revisionistischen Propagandamaterials entwickelt. Sie verfügt über weltweite Kontakte zu führenden Revisionisten und bietet nahezu alle wichtigen, in Deutschland teilweise beschlagnahmten oder indizierten revisionistischen Veröffentlichungen an. Seit Anfang 1997 gibt die V.H.O. die revisionistische Zeitschrift "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" (VffG) heraus. Autoren sind unter anderen David Irving, Robert Faurisson und Germar Scheerer; letzterer fungiert seit September 1999 auch als Herausgeber. Die Schrift rechtfertigt die Politik des Dritten Reichs und leugnet 90 Rechtsextremismus den Völkermord an den europäischen Juden. Ferner polemisiert sie gegen die angeblich ungerechtfertigte Verfolgung der Revisionisten. 7. Verbindungen zum ausländischen Rechtsextremismus Der amerikanische Neonazi und Propagandaleiter der NSDAP-Auslandsund Aufbauorganisation (NSDAP-AO) Gary Rex Lauck tritt nach seiner Haftentlassung und Abschiebung in die USA im März 1999 nach wie vor durch den Versand neonazistischer Propagandamittel in Erscheinung. Bereits im Vorjahr warb Lauck in seiner Publikation "NS Kampfruf" für seine im Sommer 2000 gestartete "Internet Offensive". Bestandteil dieser Werbekampagne sind neonazistische Computerspiele, die gratis zum Herunterladen zur Verfügung stehen. Auch Musikdateien sind online verfügbar. Seit August wird auf der NSDAP/AO-Homepage das neue Spiel "Der SA-Mann" angeboten. Der Spieler soll in der Rolle des "SA-Manns" möglichst viele "Hakenkreuz-Flugblätter" in seiner "Nachbarschaft" verteilen. In einem bestimmten zeitlichen Rhythmus flüchten jüdische Bewohner aus ihrem Ghetto und versuchen, den "SA-Mann" zu behindern. Der "SA-Mann" kann "Hakenkreuz-Versammlungen" aufsuchen, um mit Hilfe seiner Kameraden die entflohenen Juden zu eliminieren; ist der "SA-Mann" alleine, können ihn die Entflohenen ausschalten. Sind alle Flugblätter verteilt, startet die nächste Spielebene. Gegen Lauck wird strafrechtlich ermittelt. Lauck verurteilte auf seiner Homepage im Internet die Exekutivmaßnahmen gegen die Skinhead-Band "Landser" (vgl. auch Nummer 4.5 dieses Abschnitts). Er erklärte, die NSDAP-AO werde als Zeichen der Solidarität die Lieder dieser "legendären" Musikgruppe weiterhin verbreiten, damit die deutsche Justiz keinesfalls ihr Ziel erreiche, jeden anständigen und mündigen Deutschen zu unterdrücken, indem sie ihm diese Musik "Andersdenkender" verwehre: "Die Judenknechte der brd sollen wissen: Uns bringt ihr nicht zum Schweigen, WIR lassen uns nicht vorschreiben, was wir hören und was nicht! Landser lebt weiter!" Lauck räumte ein, dass die derzeitige Konzentration seiner Aktivitäten auf das Internet zu Lieferschwierigkeiten bei den übrigen Publikationen führen könne. Eine größere Verbreitung des "NS Kampfruf" unter bayerischen Rechtsextremisten war nicht feststellbar. Rechtsextremismus 91 8. Übersicht über erwähnenswerte rechtsextremistische Organisationen und Verlage sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2001 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 1. Parteien einschließlich integrierter Vereinigungen Die Republikaner (REP) 4.000 11.500 Der Republikaner 26.11.1983, Berlin monatlich, 20.000 Nationaldemokratische Partei 900 6.500 Deutsche Stimme (DS) Deutschlands (NPD) monatlich, 10.000 28.11.1964, Stuttgart Deutsche Stimme EXTRA anlassbezogen Junge Nationaldemokraten (JN) 75 350 Der Aktivist unregelmäßig Nationaldemokratischer HochschulFunktionärsgruppe bund (NHB) 1967, Nürnberg Deutsche Volksunion (DVU) 1.800 15.000 (Publizistische Sprachrohre: 05.03.1987, München siehe DSZ-Verlag) Deutsche Volksunion e.V. einschließlich (siehe DVU) Aktionsgemeinschaften 16.01.1971, München 2. Neonazistische Organisationen und Zusammenschlüsse Hilfsorganisation für nationale 70 600 Nachrichten der HNG politische Gefangene und deren monatlich, 600 Angehörige e.V. (HNG) 02.07.1979, Frankfurt am Main Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) 15 1996, München Kameradschaft Schwabach 5 Aktionsbüro Nationaler 5 Widerstand/Freilassing 2000, Freilassing Bund Frankenland 20 1992 NSDAP-Auslandsund Aufbauorganisation NS Kampfruf (NSDAP-AO) zweimonatlich, 500 1972, Lincoln/USA 92 Rechtsextremismus Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2001 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 3. Sonstige Organisationen Deutsche Liga für Volk und Heimat 60 500 (Inoffizielles Organ: (DLVH) siehe Nation Europa Ver03.10.1991, Berlin lag GmbH) Gesellschaft für Freie Publizistik e.V. (GFP) 40 450 Das Freie Forum 1960, München vierteljährlich, 1.500 Freundeskreis Ulrich von Hutten e.V. 30 280 Huttenbriefe - für Volkstum, Februar 1982, Starnberg Kultur, Wahrheit und Recht zweimonatlich, 4.000 Die Artgemeinschaft - Germanische 10 120 Nordische Zeitung (NZ) Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer vierteljährlich, 300 Lebensgestaltung (Artgemeinschaft) Schutzbund für das 200 Deutsche Volk e.V. (SDV) September 1981, München Deutsches Kolleg (DK) Funktionärsgruppe 1994, Berlin/Würzburg Deutschland-Bewegung/ 80 150 Friedenskomitee/Deutsche Aufbau-Organisation 1990, Starnberg 4. Skinheads und sonstige militante Rechtsextremisten 900 10.400 5. Verlage Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH National-Zeitung/Deutsche (DSZ-Verlag), München Wochen-Zeitung (NZ), wöchentlich, 45.000 Nation Europa Verlag GmbH Nation & Europa - 1953, Coburg Deutsche Monatshefte monatlich, 14.500 Verlag Hohe Warte - Franz von Bebenburg KG Mensch und Maß 1949, Pähl zweimal monatlich, 2.000 Denk mit!-Verlag Denk mit! Nürnberg unregelmäßig, 1.000 VGB Verlagsgesellschaft Berg mbH Deutsche Geschichte Stegen zweimonatlich, 10.000 Castel del Monte Verlag Staatsbriefe München monatlich, 1.000 (Ende 2001 eingestellt) Linksextremismus 93 4. Abschnitt Linksextremismus 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Linksextremismus Das ideologische Spektrum der Linksextremisten reicht von Anhängern des "wissenschaftlichen Sozialismus/Kommunismus" in seiner klassischen Form über Sozialrevolutionäre mit unterschiedlichen diffusen Konzeptionen bis hin zu Anarchisten. Theoretische Grundlagen bilden im Wesentlichen die Werke von Marx und Lenin, aber auch von Trotzki, Stalin, Mao Tse-tung und anderen. Die Bestrebungen der Linksextremisten sind darauf gerichtet, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen, die sie als kapitalistisch, rassistisch und imperialistisch ansehen. An deren Stelle solle eine sozialistisch-kommunistische Diktatur oder die Anarchie, eine Gesellschaft frei von jeglicher Herrschaft, treten. Diese Bestrebungen sind verfassungsfeindlich, weil die Ziele und oft auch die Mittel, mit denen sie erreicht werden sollen, gegen die grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen. Die Aktionsformen der Linksextremisten sind breit gestreut: Sie umfassen öffentliche Veranstaltungen, offene Agitation mittels Zeitungen, Flugblättern, elektronischen Kommunikationsmitteln, ferner Versuche der Einflussnahme in "bürgerlichen" Institutionen bis hin zur Beteiligung an Wahlen. Darüber hinaus gibt es Linksextremisten, die politische Gewalt als ein legitimes und geeignetes Mittel sehen, ihre extremistischen Vorstellungen durchzusetzen. In ihrer Propaganda stellen sich Linksextremisten als Vertreter einer hohen Moral, als Kämpfer gegen Unterdrückung und Verfechter von Frieden und sozialer Gerechtigkeit dar. Ihre politische Praxis zeigt jedoch etwas anderes. Sie missachten demokratische Mehrheitsentscheidungen und das Gewaltmonopol des Staates. Sie setzen sich über das Recht der Menschen auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit hinweg, wenn dieses Recht ihren Interessen entgegensteht. Einige der linksextremistischen Gruppierungen bekennen offen, dass ihre Ziele nur unter Anwendung von Gewalt zu erreichen sind. Teil- 94 Linksextremismus weise verüben sie Gewalttaten oder arbeiten zur Erreichung ihrer Ziele mit Gewalttätern zusammen. Dies verstößt gegen den Grundsatz des Ausschlusses jeglicher Gewaltund Willkürherrschaft und verletzt, wenn sich die Gewalt gegen Personen richtet, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die wahren Ziele werden oftmals in Aktionsfelder und Themen eingebunden, die für sich betrachtet nicht extremistisch sind. Durch gewandte Agitation gelingt es Linksextremisten teilweise, den notwendigen Konsens aller Demokraten in der Ablehnung jeder Art politischen Extremismus zu durchbrechen. Für ihre Agitation und Mobilität bei Demonstrationen oder anderen Aktionen nutzen Linksextremisten seit mehreren Jahren zunehmend die Vorteile der modernen Kommunikationsmöglichkeiten wie Handy und Internet. Zentrale Agitationsthemen der Linksextremisten waren Neonazismus/Faschismus, Rassismus, Asylund Abschiebeproblematik, Globalisierung, Arbeitslosigkeit und vermeintlicher Sozialabbau. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Zahl der Mitglieder linksextremistischer und linksextremistisch beeinflusster Parteien und Gruppierungen in Bayern verringerte sich geringfügig. Die Zahl der PDS-Mitglieder und -Sympathisanten blieb gleich. Die Mitgliederzahl der DKP erhöhte sich ebenfalls nicht. Die Zahl der Anhänger autonomer Gruppen nahm ab. Sie werden von anderen linksextremistischen Organisationen wie der PDS zunehmend als Bündnispartner für Aktionen akzeptiert. Die Entwicklung der Zahl linksextremistischer und linksextremistisch beeinflusster Organisationen in Bayern und ihrer Mitgliederstärken ist aus der nebenstehenden Übersicht zu ersehen. Erkannte Mehrfachmitgliedschaften sind jeweils nur bei einer Organisation erfasst. 1.3 Linksextremistische Gewalt In Bayern blieb die Zahl der Gewalttaten mit 39 konstant. Schwerpunkt mit 34 Gewalttaten waren wie im Vorjahr tätliche Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten im Rahmen der Antifa-Bewegung. Die linksextremistischen Gewalttaten wurden wieder zu über 80 % von Gruppen und Einzeltätern aus dem gewalt- Linksextremismus 95 1999 2000 2001 Zahl und Mitgliederstärke Anzahl der Organisationen 40 40 39 linksextremistiMarxisten-Leninisten und scher Organiandere revolutionäre Marxisten sationen in Bayern PDS 600 650 650 DKP 600 600 600 Marxistische Gruppe (MG) 700 700 700 weitere Kernorganisationen 460 460 410 Nebenorganisationen 70 70 70 beeinflusste Organisationen 1.080 1.080 1.080 Anarchisten und Sozialrevolutionäre 500 500 450 Linksextremisten insgesamt 4.010 4.060 3.960 Mitglieder 40.000 33.500 32.900 30.000 Deutschland * 20.000 Bayern 10.000 3.485 3.960 0 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 * Die Kurve für die bundesweite Entwicklung beruht auf Zahlen des Bundesamts für Verfassungsschutz, das von den Mitgliedern der PDS nur die der Kommunistischen Plattform (KPF) erfasst. Die PDS hatte im Jahr 2001 bundesweit 83.000 Mitglieder, davon 1.500 in der KPF. bereiten autonomen und anarchistischen Spektrum begangen. Die Angriffe richteten sich dabei vor allem gegen rechtsextremistische Veranstaltungen. Einzelne "Rechte" wurden auch gezielt angegriffen. Linksextremisten versuchen die Gewalttaten als "Kampf gegen den Faschismus" zu rechtfertigen. Diese Feststellungen dürften allgemein auch bundesweit gelten; konkrete Zahlen und Vergleichsmöglichkeiten zu den Vorjahren liegen nicht vor. Das Thema "Antifaschismus" wird auch in Zukunft eines der wichtigsten Aktionsfelder autonomer Politik und damit auch autonomer Militanz bleiben. 96 Linksextremismus Ziel der gewalttätig agierenden linksextremistischen Gruppen ist nach wie vor der Staat, dem unterstellt wird, "Faschisten" zu schützen, und die Destabilisierung unserer Staatsund Gesellschaftsordnung, in der sie ein "Instrument zur Durchsetzung weltweiter kapitalistischer und imperialistischer Ausbeuterinteressen" sehen. Zu einem neuen Schwerpunkt europaweiter gewalttätiger Proteste entwickeln sich unter der Thematik "Anti-Globalisierung" Aktionen gegen internationale Konferenzen. 2. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten Marxistisch-leninistisch ausgerichtete Organisationen und andere revolutionäre Marxisten bemühen sich weiterhin, durch massive Kritik an den "herrschenden Verhältnissen" und Forderungen nach "Fundamentalopposition" ihren sozialistischen und kommunistischen Zielen näher zu kommen. Dabei gelang es nur begrenzt, die unterschiedlichen Ideologien und Strömungen zu bündeln. Die PDS, die nach dem Zusammenbruch des SED-Unrechtsregimes einen neuen Weg des "demokratischen Sozialismus" zu beschreiten vorgibt, versucht, Linksextremisten aller Richtungen zu integrieren. 2.1 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Deutschland Bayern Mitglieder: 83.000 650 Vorsitzende(r): Gabriele Zimmer Uwe Hiksch, Eva Bulling-Schröter Umbenennung der SED: 16./17.12.1989 Gründung: 11.09.1990 Sitz: Berlin München Publikationen: DISPUT, PDS-Pressedienst, UTOPIE-kreativ, Mitteilungen der KPF, TITEL Die ehemals in der DDR herrschende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hat sich nach der friedlichen Revolution und dem Zusammenbruch ihres Unrechtsregimes nicht aufgelöst. Sie beschloss auf ihrem Sonderparteitag am 16./17.Dezember 1989 in Berlin-Wei- Linksextremismus 97 ßensee, sich in "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS)" umzubenennen. Auf einer Tagung des Parteivorstands der SED-PDS am 4. Februar 1990 wurde der Parteiname endgültig in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) geändert. Der 1. Parteitag der PDS am 24./25. Februar 1990 bestätigte die Namensänderung. 2.1.1 Ideologische Ausrichtung Die PDS versteht sich als linke "Strömungspartei" für sozialistische Gruppen und Personen, die die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kritisieren und ablehnen. Das auf der 1. Tagung des 3. Parteitags der PDS vom 29. bis 31. Januar 1993 in Berlin beschlossene und bis heute gültige Parteiprogramm - ein neues Programm ist in Vorbereitung - stellt fest, die PDS sei ein Zusammenschluss unterschiedlicher linker Kräfte, die - bei allen Meinungsverschiedenheiten - darin übereinstimmten, dass die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums überwunden werden müsse. Die Beseitigung des Kapitalismus, die Überwindung des mit ihm verbundenen politischen Systems der Freiheit und der Demokratie im Sinn unseres Grundgesetzes sowie die Errichtung einer neuen "sozialistischen Gesellschaft" gehören somit, auch wenn die Revolutionsrhetorik des Marxismus-Leninismus vermieden wird, zu den Zielen der Partei, die vor allem außerparlamentarisch erreicht werden müssten. Das Bekenntnis der Partei zum außerparlamentarischen Kampf und zum Widerstand gegen die "Herrschenden" und die "gegebenen Verhältnisse" ist mit der Grundidee der parlamentarischen repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes unvereinbar. Die PDS vertritt einen konsequenten Internationalismus und ist dem Erbe von Marx und Engels, den vielfältigen Strömungen der revolutionären und internationalen Arbeiterbewegung sowie anderen revolutionären und "volks-demokratischen" Bewegungen verbunden und dem Antifaschismus verpflichtet. Die Berufung auf Marx und Engels, die historische Entwicklung der Partei sowie die politische Herkunft ihrer Mitglieder aus kommunistischen Organisationen, insbesondere der SED, müssen auch bei der Auslegung ihrer programmatischen Äußerungen berücksichtigt werden. Die PDS verwendet Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte, die sie auch schon als SED gebraucht hat. Die Realität der DDR bewies jedoch, dass diese Begriffe dort anders, nämlich freiheitsund demokratiefeindlich, definiert 98 Linksextremismus waren. Ursache für die andere Interpretation politischer Begriffe ist deren bewusste Umwidmung im Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus, in dessen Denkschule die Mehrheit der Mitglieder der PDS erzogen wurde. Deshalb besitzen die in ihrer Programmatik verwendeten Begriffe eine Doppeldeutigkeit. Die Parteivorsitzende der PDS Gabriele Zimmer präsentierte der Öffentlichkeit gemeinsam mit dem Europaabgeordneten und Mitglied der PDS-Programmkommission Dr. Andre Brie, dessen Bruder Prof. Dr. Michael Brie von der Parteistiftung "Rosa Luxemburg" und dem Vorsitzenden der PDS-Grundsatzkommission Prof. Dr. Dieter Klein am 27. April in Berlin den Entwurf eines neuen Parteiprogramms. Bereits die Präambel formuliert in Anlehnung an das "Manifest der Kommunistischen Partei", dass sich die PDS das Programm in der Tradition der sozialistischen Bewegungen der letzten zweihundert Jahre gebe. Die Rolle der PDS im "kapitalistischen System" der Bundesrepublik beschreiben die so genannten Reformer wie folgt: "Der moderne Kapitalismus, die Vorherrschaft des 'Nordens' über den 'Süden', das heutige Patriarchat, die exzessive Naturausbeutung und Degeneration der Lebensbedingungen heutiger und zukünftiger Generationen sind Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse. Durch sie werden die Potenziale dieser neuen gesellschaftlichen Entwicklungsweise im Interesse weniger und auf Kosten anderer angeeignet. Wir wollen diese Verhältnisse verändern und letztlich überwinden." Die Parteivorsitzende hielt bei der Vorstellung des Papiers daran fest, dass sich an der "Grundrichtung einer pragmatischen sozialistischen Reformpolitik", von der die PDS seit 1990 geprägt sei, nichts ändern werde. Innerparteilich stieß das Papier trotzdem, vor allem bei orthodox-kommunistischen Kräften, auf heftige Kritik und wurde als "Kniefall vor der SPD" interpretiert. Der Bundessprecherrat der Kommunistischen Plattform der PDS (KPF) verabschiedete am 15. Mai mit der Erklärung "Die PDS ist in Gefahr" eine deutliche Absage an den vorgestellten Programmentwurf. Nach Auffassung der KPF ist an dem Entwurf besonders zu kritisieren, dass "Unternehmertum" und "Gewinninteresse" pauschal zu "wichtigen Bedingungen für Innova- Linksextremismus 99 tion und Effizienz" erklärt werden. Dies entwerte die formulierte Ansicht, dass die gesamtgesellschaftliche Dominanz von Profit mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Partei unvereinbar sei. Das Parteivorstandsmitglied und Mitglied des Bundeskoordinierungsrates der KPF, Sahra Wagenknecht, kündigte gemeinsam mit der Sprecherin der KPF, Ellen Brombacher, in einem in der Tageszeitung "junge Welt" vom 30. April abgedruckten "Widerwort" starken Widerstand an: "Wir werden uns von der Verantwortung, alles dagegen zu tun, dass die PDS sich bis zur Unkenntlichkeit verbiegt, durch nichts und niemanden ablenken lassen." Anlässlich der 2. Tagung des 7. Parteitags vom 6. bis 7. Oktober in Dresden wurde mit der Verabschiedung des Leitantrags des Parteivorstands der weitere Verlauf der Programmdebatte festgelegt; ein überarbeitetes Programm soll erst im Jahr 2003 beschlossen werden. Im Zusammenhang mit dem 55. Jahrestag der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED am 21./22. April 1946 veröffentlichten die Parteivorsitzende der PDS, Gabriele Zimmer, und ihre Stellvertreterin, Petra Pau, auf einer Pressekonferenz am 18. April in Berlin die Erklärung "Vor 55 Jahren: gewollt und verfolgt. Geschichte lässt sich nicht aufrechnen". Das Papier, bei dem es sich um persönliche Erklärungen der Verfasserinnen und nicht um Beschlüsse von Parteigremien handelt, geht vor allem auf das Verhältnis der PDS zur Sozialdemokratie ein. Sie räumen darin ein, dass die Vereinigung von KPD und SPD zur SED mit Zwang verbunden gewesen sei. Im Ergebnis sei die Gründung der SED aber historisch erklärbar und von vielen gewollt worden. Bei der Parteibasis stieß die "Entschuldigung" der beiden Autorinnen auf Widerspruch. Am 2. Juli beschloss der Parteivorstand der PDS eine Erklärung zum 40. Jahrestag des Beginns des Mauerbaus in Berlin am 13. August 1961. Die von der Parteivorsitzenden in einer Pressekonferenz vorgetragene Resolution "gedachte" zwar derer, die an der DDR-Grenze erschossen, verletzt, nach gescheiterter Flucht inhaftiert wurden oder Repressalien ausgesetzt waren, sie vermied aber eine förmliche Entschuldigung des PDS-Parteivorstands gegenüber den Opfern der Berliner Mauer. In der Erklärung heißt es: "An unseren Antworten zu Fragen der Geschichte wollen und sollen die Menschen ersehen, inwieweit wir uns von der SED-Vergangenheit gelöst haben und zu einer kritisch mit der eigenen Geschichte umgehenden, 100 Linksextremismus demokratischen und rechtsstaatlich verlässlichen Partei entwickelt haben. (...) Den 13. August 1961 aus der Geschichte zu erklären, darf nicht heißen, die Mauer politisch oder moralisch zu rechtfertigen. (...) Die Schließung der Sektorengrenze zu West-Berlin am 13. August 1961 lag in der Logik der damaligen weltpolitischen Entwicklungen. Die Mauer war die Antwort auf den drohenden Exodus der DDR und entsprach dem in der Berlin-Krise gefundenen Arrangement der Großmächte über die anhaltende Aufteilung der Welt bei Vermeidung eines neuen Weltkrieges. Der 13. August 1961 setzte den Schlussstein unter die Nachkriegsordnung und verfestigte die im Resultat des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges eingeleitete Aufteilung der Welt. Sie sicherte der Sowjetunion ihre Einflusssphäre bis nach Deutschland hinein und schützte sie nach ihrem Verständnis vor einem erneuten deutschen Überfall wie im Jahre 1941." Gabriele Zimmer führte aus, der Mauerbau sei der "in Beton gegossene Nachweis der Unterlegenheit des stalinistisch geprägten Sozialismustyps in der DDR gegenüber dem realen damaligen Kapitalismustyp in der Bundesrepublik" gewesen. Der permanente Ausnahmezustand an den Grenzen und der Ausbau der Grenzsicherungsanlagen in den darauf folgenden Jahrzehnten habe auch und vor allem der Logik des Machtverständnisses und der Sicherheitsdoktrin der Führungen von KPdSU und SED entsprochen. Dennoch sei die Berliner Mauer keine Lösung gewesen, um die Existenz der DDR zu retten. Internationale Konflikteindämmung und Machterhalt der SED-Führung seien auf Kosten der Freiheit der eingemauerten Bevölkerung der DDR erfolgt. Die Mauer sei weder demokratisch noch sozialistisch gewesen. Im Hinblick auf die Maueropfer äußerte die Parteivorsitzende: "Kein Ideal und kein höherer Zweck kann das mit der Mauer verbundene Unrecht, die systematische Einschränkung der Freizügigkeit und die Gefahr für Freiheit sowie an Leib und Leben, beim Versuch das Land dennoch verlassen zu wollen, politisch rechtfertigen. Auch wegen historischer Umstände vorgenommene Menschenrechtsverletzungen bleiben elementare Menschenrechtsverletzungen. (...) Wir bedauern das von der SED als der dafür verantwortlichen politischen Kraft ausgegangene Unrecht. (...) Die PDS hat sich vom Stalinismus der SED unwiderruflich befreit." Die Erklärung des Parteivorstands rief in der Partei unterschiedliche Reaktionen hervor. So verkündete der stellvertretende Parteivorsitzende Prof. Dr. Peter Porsch: "Die Mauer hat 1961 den Frieden in Europa und der Welt erhalten." Linksextremismus 101 Auch orthodox-kommunistische Kräfte in der Partei kritisierten die Erklärung. Sahra Wagenknecht sprach von "durchschaubarer politischer Opportunität". Nicht die ideologische Unterlegenheit des Sozialismus, sondern der Druck der Sowjetunion und akute Kriegsgefahr hätten zum Mauerbau geführt. An der 2. Tagung des 7. Parteitags vom 6. bis 7. Oktober in Dresden unter dem Motto "Frieden! Gerechtigkeit weltweit!" nahmen rund 450 Delegierte sowie zahlreiche Gäste befreundeter Parteien und Organisationen aus dem Inund Ausland teil. Aufgrund der Terroranschläge in den USA machten es die Sozialisten zu ihrer Maxime, ein deutliches Friedenssignal zu entsenden und die Haltung der Partei als "konsequente Antikriegspartei" zu unterstreichen. Die Delegierten verabschiedeten das Positionspapier "Frieden und Sicherheit in Freiheit und Gerechtigkeit", innerparteilich "Dresdner Friedensappell" genannt, in dem sie unter anderem militärischen Einsätzen in Krisengebieten eine klare Absage erteilen (vgl. auch Nummer 4.2.1 des 6. Abschnitts). Die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer gab in ihrer Rede den "Hauptländern des Kapitalismus" die Verantwortung für Ungerechtigkeiten in der Welt, die Nährboden für Terrorismus seien. Ferner führte sie aus: "Es gehört zur Solidarität mit dem amerikanischen Volk, sich in den Widerstand gegen jene Art kapitalistischer Globalisierung einzureihen, die in vielen Teilen der Erde als Unterordnung unter die ökonomischen, politischen und militärischen Interessen der US-Eliten und der Reichen dieser Erde empfunden wird. (...) Ich bin gegen militärische Gegenschläge." Die Parteichefin forderte die Bundesregierung auf, die Entwicklungshilfe zu erhöhen und den (vorläufigen) Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf einen Sitz im Sicherheitsrat zugunsten eines islamischen Staates zu verkünden. Außerdem solle der Bundesverband der deutschen Industrie Selbstverpflichtungserklärungen bei transnationalen Unternehmen erwirken, die einen kostenlosen Technologietransfer in die ärmsten Länder der Welt vorsehen. Die Gegenfinanzierung solle auf dem Wege freiwilliger Leistungen durch eine Sondervermögensabgabe für deutsche Milliardäre erfolgen. 102 Linksextremismus 2.1.2 Organisation Die PDS ist eine auf Bundesebene organisierte Partei mit Sitz in Berlin. Sie gliedert sich in 16 Landesverbände, deren Gebiete mit den Ländern identisch sind, mit Kreisverbänden und Basisorganisationen. Ein "virtueller 17. Landesverband" im Internet ist in Vorbereitung. Die Partei verfügt bundesweit über 83.000 Mitglieder (Ende 2000: 88.600), davon nahezu 5.000 (Ende 2000: 4.000) in den alten Bundesländern. Die Mitgliederentwicklung ist insgesamt rückläufig. Ursache für den Rückgang der Mitgliederzahl ist weniger der Austritt als vielmehr der Tod älterer Mitglieder. Etwa 68 % der Parteimitglieder sind 60 Jahre und älter; nur 3 % sind jünger als 30 Jahre. Seit Jahren nutzt die PDS die Kommunikationsmöglichkeiten im Internet. Verschiedene Gliederungen der Partei, wie die PDS-Delegation in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament, die Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag, der Bundesvorstand und Einzelpersonen sind neben einer so genannten Startseite der PDS mit eigenen Homepages vertreten. In Bayern nehmen die Kreisverbände Augsburg, München, Nürnberg, Regensburg, Würzburg sowie die Basisorganisationen Bamberg, Dachau, Eichstätt, Moosburg, Passau das Internet in Anspruch. Die PDS-Jugendorganisation AG Junge GenossInnen nutzt in Baden-Württemberg, der PDS-nahe Jugendverband 'solid bundesweit das moderne Kommunikationsmedium. 2.1.3 Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften sowie ähnliche innerparteiliche Zusammenschlüsse sind wesentlich für die Bündnisund Integrationspolitik der PDS. Sie wirken im Rahmen des Statuts in der Partei, können sich eigene Satzungen geben und können ihre politischen Ziele in der Partei offen vertreten. Sie sind integrale Bestandteile der PDS. Die PDS muss sich deshalb die Tätigkeit der Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften wie auch das Wirken der sonstigen innerparteilichen Zusammenschlüsse sowie die Äußerungen ihrer Mitglieder als Gesamtpartei zurechnen lassen. Plattformen sind in der Regel Zusammenschlüsse mit gemeinsamer Ideologie, während Arbeitsund Interessengemeinschaften themenbezogen auf wichtigen Aktionsfeldern tätig werden. Am 1. April verkündete die stellvertretende Parteivorsitzende Petra Pau laut Linksextremismus 103 PDS-Pressedienst Nummer 14, dass in Halle/Saale eine neue Bundesarbeitsgemeinschaft "Demokratie und Bürgerrechte" der PDS gegründet wurde. 2.1.3.1 Kommunistische Plattform (KPF) Die am 30. Dezember 1989 gegründete KPF der PDS - ihr sind etwa 1.500 Mitglieder zuzurechnen - ist eine marxistisch-leninistische Organisation. Sie betrachtet die DKP als natürliche Verbündete und arbeitet auch mit der noch in der DDR gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zusammen. Innerhalb der PDS ist die KPF die Gruppierung, die sich am deutlichsten zum Kommunismus bekennt. Sie strebt die Fortsetzung marxistischer und leninistischer Politik, also die Diktatur des Proletariats, an. In ihren Gründungsthesen betonte sie: "Die revolutionäre Arbeiterbewegung mit dem Wissenschaftlichen Kommunismus, mit dem Marxismus-Leninismus, zu verbinden, aufgrund der marxistisch-leninistischen Analyse der realen Gesellschaftsentwicklung Strategie und Taktik zu bestimmen und Politik zu organisieren - ist vornehmste Aufgabe der Kommunisten und sie bleibt es." Nach einer programmatischen Erklärung vom Februar 1994, verfasst von drei Sprechern der KPF, bildet der Wissenschaftliche Kommunismus, wie er durch Lenin, Luxemburg, Gramsci, Trotzki, Bucharin oder Mao Tse-tung weiterentwickelt worden ist, die Grundlage für die Politik der KPF. Ziel der KPF sei die revolutionäre Transformation der alten, der Klassengesellschaft, in eine neue, klassenlose Gesellschaft. Die KPF strebt eine enge Zusammenarbeit mit anderen kommunistischen Parteien und Organisationen an und sucht die Beteiligung an außerparlamentarischen Initiativen. So veröffentlichte sie in den Mitteilungen der KPF, Heft 5 vom Mai, die Erklärung "Für eine tolerante Gesellschaft - gegen Rechtsextremismus und Rassismus", in der ausgeführt wird: "Es gibt keinen antikommunistischen Antifaschismus! (...) Antifaschismus bedarf breitester Bündnisse. Jede Ausgrenzung ist abzulehnen. Wir sind bereit, ungeachtet ideologischer Unterschiede mit allen zusammenzu- 104 Linksextremismus arbeiten, die gewillt sind, sich aktiv gegen Nazis zu engagieren und sich gegen alle Bedingungen zu wehren, die das Erstarken faschistischer und faschistoider Tendenzen begünstigen. (...) Wir werden unsere Bemühungen spürbar intensivieren, über unsere antikapitalistischen und sozialistischen Positionen mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen." 2.1.3.2 Arbeitsgemeinschaft Junge GenossInnen in und bei der PDS Die AG Junge GenossInnen trat bisher als bundesweiter Zusammenschluss auf, der innerhalb der PDS unter eigenem Namen agierte. Diese Gruppierung, der sich rund 500 Mitglieder und 1.000 Sympathisanten zurechneten - die Hälfte stammte aus den westlichen Ländern -, diente als Bindeglied der PDS zu jugendlichen undogmatischen Linksextremisten, besonders Autonomen. Weil der AG Junge GenossInnen in der Vergangenheit organisatorische Schwächen vorgehalten wurden, ist ein neuer bundesweiter PDS-naher Jugendverband (vgl. auch Nummer 2.1.4 dieses Abschnitts) gegründet worden. Ein offizieller Auflösungsbeschluss der AG Junge GenossInnen ist bisher jedoch nicht bekannt geworden. Landesweite aktive Strukturen finden sich noch in wenigen Bundesländern. In Berlin und Nordrhein-Westfalen beschränken sich Aktivisten der AG Junge GenossInnen auf ein lokales Betätigungsfeld. 2.1.3.3 Marxistisches Forum (MF) Am 6. Juni 1995 konstituierte sich in Berlin das orthodox-kommunistisch ausgerichtete MF. Es will die soziale, ökonomische und politische Situation mit den Mitteln des Marxismus analysieren, die marxistische Theorie weiterentwickeln und zur theoretischen Fundierung der Politik der PDS beitragen. Dazu gehöre neben der marxistischen Aufarbeitung der Geschichte der DDR und des Sozialismus auch die Untersuchung der Dialektik von systemimmanenten und systemüberwindenden Reformen. Außerdem solle auf die notwendige Verstärkung des antimilitaristischen Kampfs aufmerksam gemacht werden. Dem Zusammenschluss innerhalb der PDS gehören rund 60 Parteimitglieder und Personen des Staatsapparats, des Kulturund Wirtschaftsbereichs der ehemaligen DDR an. Das Forum übt Einfluss in der Partei unter anderem über die Mitgliedschaft in verschiedenen Parteigremien (wie Programmkommission und Parteirat) aus. Linksextremismus 105 2.1.4 Jugendverband 'solid Am 19. Juni 1999 wurde in Hannover der Jugendverband 'solid - die sozialistische Jugend gegründet. Der Name steht für "sozialistisch, links und demokratisch". Ziel des Jugendverbands ist es nach der im PDS-Pressedienst Nummer 25 vom 25. Juni 1999 abgedruckten Gründungserklärung, in organisierter Form der "rechten Hegemonie in der Gesellschaft" entgegenzutreten. Man wolle keine "Kampfreserve" der PDS werden, sondern strebe "eine gleichberechtigte Zusammenarbeit auch mit den regionalen und lokalen Jugendstrukturen in und bei der PDS" an; 'solid sei nicht die Jugendorganisation der PDS. Dem Jugendverband gehören in 16 Landesverbänden zwischenzeitlich etwa 1.200 Mitglieder (davon rund 40 in Bayern) an. Etwa 150 Delegierte von 'solid aus Bund und Ländern nahmen vom 9. bis 11. März an der 2. Bundesdelegiertenkonferenz in Kassel teil. Sie verabschiedeten einen bildungspolitischen Leitantrag und beschlossen eine Kampagne unter dem Motto "Bildung ist Zukunft - Für eine emanzipatorische Bildungspolitik". Darin sprachen sich die Mitglieder insbesondere gegen die Privatisierung von Bildung und den Abbau sozialer Sicherungssysteme aus. Organ des PDS-nahen Jugendverbands ist "Die Ware"; es erscheint vierteljährlich. Mit Rouzbeh Taheri, Mitglied des Bundessprecherrats von 'solid, befindet sich ein Funktionär des parteinahen sozialistischen Jugendverbands im Bundesvorstand der PDS. 2.1.5 PDS Landesverband Bayern und seine Organisationseinheiten Die in Bayern seit dem 11. September 1990 bestehende PDS setzt sich aus dem Landesverband, elf Kreisverbänden und 29 Basisorganisationen zusammen. Der Sitz des Landesverbands Bayern befindet sich in München. Die Bundestagsfraktion der PDS unterhält in Nürnberg und München je ein Regional-Büro. Für eine Reihe von örtlichen Strukturen, die keine Basisorganisationen sind, bestehen Kontaktund Anlaufadressen. Aktivisten der KPF arbeiten landesweit in der "AG der Kommunistischen Plattform in Bayern" mit Sitz am Landesbüro der PDS in München. Die KPF ist in Nürnberg mit einer Regionalgruppe und in München mit einer Ortsgruppe vertreten. Ihr gehören etwa 30 Personen an. Der PDS-nahe Jugendverband 'solid verfügt über einen Landesverband mit Ortsgruppen 106 Linksextremismus in Nürnberg, München, Marktleugast und seit Dezember 2000 in Passau. In Bayern ist die Zahl der beitragspflichtigen Mitglieder der PDS einschließlich Plattformen und Arbeitsgemeinschaften in etwa gleich geblieben. Die aktuelle Mitgliederzahl liegt bei rund 450. Die Zahl der Sympathisanten, die den Mitgliedern gleichgestellt sind, blieb mit 200 unverändert. Das Durchschnittsalter der bayerischen PDS-Mitglieder ist deutlich niedriger als das der Parteimitglieder in Ostdeutschland. Insgesamt berief der PDS Landesverband Bayern drei Landesparteitage ein. Auf der Landesversammlung am 10. Februar in Nürnberg stellten die beiden Landessprecher, die Bundestagsabgeordneten Uwe Hiksch und Eva Bulling-Schröter, erste Konzepte für die Kommunalwahlen 2002 in Bayern vor. Die Gäste, der Vorsitzende der PDS-Bundestagsfraktion Roland Claus und der PDS-Bundesschatzmeister Uwe Hobler, plädierten für eine landesweite Öffnung ihrer Partei. Nachdem am 1. Juli anlässlich eines außerordentlichen Parteitags der Landessprecher Uwe Hiksch seinen Rücktritt im Zusammenhang mit der Abwahl des Landesschatzmeisters erklärte, fand am 30. September in Ingolstadt ein weiterer regulärer Landesparteitag statt, bei dem der Landesvorstand neu gewählt wurde. Die Bundestagsabgeordneten Uwe Hiksch und Eva Bulling-Schröter erklärten sich jeweils bereit, das Amt des Landessprechers erneut zu übernehmen. Die Verantwortung für Finanzen und Organisation wurde Anett Lange und Reinhold Rückert übertragen. Der stellvertretende Parteivorsitzende Prof. Dr. Peter Porsch unterstrich als Gastreferent die Bedeutung sozialistischer Kommunalpolitik für die anstehenden Wahlkämpfe. Die am 11. November 2000 in Regensburg gegründete "Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus" veranstaltete im Anschluss an den außerordentlichen Landesparteitag der PDS Bayern am 1. Juli in München eine Konferenz zu dem Thema "Die Linke und die Nation", an der auch der stellvertretende Parteivorsitzende Dr. Diether Dehm und der PDS-Bundestagsabgeordnete Carsten Hübner teilnahmen. Der vom bayerischen Bundestagsabgeordneten Uwe Hiksch gegründete PDS-nahe Kurt-Eisner-Verein mit Sitz in Coburg veranstaltete im Jahr 2001 eine Seminarreihe zur Kommunal-, Gewerkschaftsund Linksextremismus 107 Beschäftigungspolitik, die in Kooperation mit der PDS-Bundesstiftung "Rosa Luxemburg" landesweit durchgeführt wurde. 2.1.6 Teilnahme an Wahlen Am 23. September trat die PDS zur Wahl der Hamburger Bürgerschaft an. Sie erreichte 0,4 % der Zweitstimmen (1997: 0,7 %). Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober erhielt die PDS 22,6 % (1999: 17,7 %) der Zweitstimmen und damit 33 Mandate. Zu den Landtagswahlen am 25. März in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war die PDS nicht angetreten. 2.1.7 Kommunistischer Internationalismus Im Rahmen der so genannten internationalen Solidarität unterhält die PDS vielfältige Verbindungen und Kontakte zu ausländischen kommunistischen Parteien und anderen ausländischen Linksextremisten. Das Parteiprogramm der PDS nennt dies "Internationalismus" und orientiert sich damit an der Idee des Weltkommunismus. Die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer leitet den Koordinierungsrat für Internationale Politik beim Parteivorstand. Im Januar besuchten Dr. Gregor Gysi und Wolfgang Gehrcke die Republik Korea und führten Gespräche mit dem Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen des Zentralkomitees (ZK) der Partei der Arbeit Koreas; bei einem Zwischenaufenthalt in Peking wurden sie von einem Mitglied des Politbüros des ZK der KP Chinas empfangen. Im Februar hielten sich Vertreter der Demokratischen Kommunistischen Partei Italiens (PDCI) in Berlin auf, um außenund sicherheitspolitische Themen mit Funktionären der PDS zu diskutieren. Auf Einladung des ZK der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) reiste eine Delegation der PDS unter Leitung der Parteivorsitzenden Gabriele Zimmer vom 25. März bis 1. April nach Peking, Schanghai und Hangzhou. Beide Seiten vereinbarten, ihre freundschaftliche Kooperation fortzusetzen und regelmäßige Studiendelegationen zu entsenden. Die PDS-Europabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann nahm im April am 9. Parteitag der KP Vietnams in Hanoi als Gast teil. Ein 108 Linksextremismus PDS-Funktionär vertrat ebenfalls im April die PDS auf dem 6. Parteitag der Partei der Demokratischen Revolution (PRD-Mexiko) in Zacatecas. Die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer führte in Begleitung eines weiteren Parteivorstandsmitglieds Ende April Gespräche mit einem Mitglied des Politbüros der KP Griechenland in Athen. Anfang Mai fanden Konsultationen der PDS und der Französischen KP in Berlin statt. Am 6. Mai traf ebenfalls in Berlin ein Vertreter der PDS mit dem Internationalen Sekretär der Ungarischen Sozialistischen Partei zusammen. An der Internationalen Berliner Konferenz unter dem Motto "Gegen Rechtsextremismus und Rassismus - für eine tolerante Gesellschaft" im Rahmen des XX. Treffens des Forums der Neuen Europäischen Linken (NELF), das die PDS vom 12. bis 14. Mai ausrichtete, nahmen 50 ausländische Gäste aus 21 Ländern teil. Das Forum ist ein Zusammenschluss von 17 kommunistischen, linkssozialistischen und alternativen Parteien und Organisationen aus 14 europäischen Ländern; die PDS ist die einzige deutsche Mitgliedsorganisation. Im selben Monat wurde eine Delegation der KP Iraks empfangen. Im Juni führten Repräsentanten der PDS in Berlin Gespräche mit dem Vorsitzenden der KP Bangladeshs und besuchten den Parteitag des Linksbundes in Helsinki. Am Rande des Internationalen Kuba-Solidaritätskongresses in Berlin empfing die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer am 24. Juni den Leiter der kubanischen Delegation, zugleich Mitglied des Politbüros des ZK der KP Kubas, zu einem Meinungsaustausch. 2.1.8 Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten Die PDS pflegt Kontakte zu fast allen anderen inländischen linksextremistischen und linksextremistisch beeinflussten Gruppierungen sowie zu gewaltbereiten Autonomen und arbeitet mit ihnen zusammen. Am 13. Januar fand aus Anlass des 82. Jahrestags der Ermordung der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, eine Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin statt, zu der unter anderem die PDS-nahe Tageszeitung "junge Welt" und die Arbeitsgemeinschaft Cuba Si der PDS eingeladen hatten. Rund 1.000 politisch Interessierte aus dem Inund Ausland nahmen an der Veranstaltung teil. Am 14. Januar legten die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer und der PDS-Ehrenvorsitzende und Europaabgeordnete Dr. Hans Modrow traditionell Kränze am Denkmal der ermordeten Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde nieder. Mehrere zehn- Linksextremismus 109 tausend Menschen, darunter auch politische Aktivisten aus Italien, der Türkei, Spanien, Frankreich, Russland, Israel und anderen Ländern schlossen sich den Ehrungen an, zu denen ein breites linkes, aus PDS, kommunistischen Parteien, Gruppen der autonomen Antifa, linken türkischen und kurdischen Vereinigungen sowie weiteren ausländischen Initiativen gebildetes Bündnis aufgerufen hatte. Auseinandersetzungen zwischen Anhängern türkischer und kurdischer Parteien führten zu mehreren Festnahmen. Am 15. Januar nahmen in Nürnberg rund 20 Personen von PDS und DKP an einer Versammlung auf dem Rosa-Luxemburg-Platz teil. Auch in München gedachten am 20. Januar Anhänger von DKP, PDS und dem Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD der ermordeten Sozialisten. Etwa 100 Personen fanden sich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ein. Am 17. Januar veranstaltete das Münchner Bündnis gegen Rassismus einen Aufzug mit Auftaktund Schlusskundgebung in München. Ungefähr 650 Personen protestierten gegen "Naziterror und Rassismus". An der Veranstaltung beteiligten sich Angehörige der PDS, DKP, MLPD, des Linksruck-Netzwerks, der Antifaschistischen Aktion München, der Gruppe "antifaschistisch kämpfen (münchen)" und der Föderation der demokratischen Arbeitervereine e.V. (DIDF). Am 19. Januar fand auf dem Königsplatz in Augsburg ein Aufzug mit Kundgebung statt, an dem sich auch Aktivisten der PDS und rund 40 Personen des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Augsburg beteiligten. Neben den etwa 150 Teilnehmern forderten auch die Landessprecherin der PDS und Bundestagsabgeordnete, Eva Bulling-Schröter, und die DKP-Funktionärin Isabella Paape in ihren Reden "Solidarität mit den politischen Gefangenen in der Türkei". Aus einer Internet-Veröffentlichung vom März geht hervor, dass das Antifaschistische Aktionsbündnis Augsburg auch über den PDS-Kreisverband Augsburg kontaktiert werden kann. Am 24. April fand in der Innenstadt von München ein Aufzug statt, der sich gegen die rechtsextremistische Szene richtete. Daran nahmen rund 300 Personen teil, darunter Anhänger der PDS, des PDS-nahen Jugendverbands 'solid, der DKP, der "Antifaschistischen Aktion München" und der Gruppe "antifaschistisch kämpfen (münchen)". Die PDS-Bundestagsabgeordnete Eva Bulling-Schröter hielt am 3. August bei einer Demonstration der Antifaschistischen Aktion in Ingolstadt eine Ansprache, wobei sie auf die Vorfälle am Rande des G-8-Gipfeltreffens in Genua und auf das Missverhältnis von Arm und 110 Linksextremismus Reich einging. Unter den Teilnehmern befanden sich rund 40 Angehörige des linksextremistischen Spektrums. Am 11. November veranstaltete der PDS-Kreisverband Augsburg im Internationalen Kulturzentrum (IKZ) eine Versammlung zur Aufstellung der Kandidaten für die Kommunalwahl. Daran beteiligten sich Aktivisten der DKP, der griechischen KP, der griechischen PDS, des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Augsburg (AABA), der Augsburger Friedensinitiative (AFI) und der Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF). 2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Deutschland Bayern Mitglieder: 4.500 600 Vorsitzender: Heinz Stehr Gründung: 26.09.1968 Sitz: Essen Nürnberg und München Publikationen: Unsere Zeit (UZ) Marxistische Blätter 2.2.1 Ideologische Ausrichtung Die bis zur Wende von der SED der DDR ideologisch und materiell abhängige DKP bestätigte ihre gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung in den auf dem 12. Parteitag am 16./17. Januar 1993 in Mannheim beschlossenen "Thesen zur programmatischen Orientierung der DKP". In der Einleitung zu den "Thesen" heißt es, die DKP kämpfe für eine Politik, die im Sozialismus die Zukunft, im Klassenkampf die zentrale Triebkraft der Geschichte und in der Arbeiterklasse die entscheidende soziale Kraft für den gesellschaftlichen Fortschritt sehe. Sie stütze sich auf die materialistische Wissenschaft, die von Marx und Engels begründet und von Lenin weiterentwickelt worden sei. In einem in der PDS-nahen Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 28. September 1998 mit dem Titel "Nötig ist knallharter Klassenkampf" veröffentlichten Interview zum 30-jährigen Bestehen der DKP bestätigte der Parteivorsitzende Heinz Stehr, dass die neue Gesellschaftsordnung, für die die DKP nach wie vor eintrete, Sozialismus "und in der Perspektive Kommunismus" heiße. Linksextremismus 111 Zum 40. Jahrestag der "Sicherung der Staatsgrenze der DDR am 13. August 1961" gab der Parteivorstand der DKP eine im DKP-Zentralorgan "Unsere Zeit" (UZ) Nummer 28 vom 13. Juli publizierte Erklärung heraus, in der es heißt: "Der 'Antifaschistische Schutzwall' trug seine Bezeichnung zu Recht. (...) Der Kapitalismus/Imperialismus ist nicht friedensfähig. Der Kapitalismus/Imperialismus trägt die Möglichkeit faschistischen und rassistischen Terrors und polizeistaatlicher Unterdrückung in sich. Doch er kann zu zivilen Verhaltensformen gezwungen werden, wenn im Klassenkampf die Kräfte des Fortschritts, die sozialistischen Kräfte, genügend Stärke aufbringen können, um den Gegner in seine Schranken zu weisen. Dazu diente auch die Errichtung des 'Antifaschistischen Schutzwalls' vor 40 Jahren. Dafür brauchen wir uns nicht zu entschuldigen. Entschuldigen müssten wir uns höchstens dafür, dass es uns nicht gelungen ist, die DDR gegen die Angriffe des Imperialismus dauerhaft zu verteidigen und den Sozialismus - aus den eigenen Fehlern lernend - beständig zu sichern. Daraus ziehen wir unsere Verpflichtung, auch in Zukunft aktiv gegen Imperialismus, Faschismus und Krieg, für den Sozialismus zu kämpfen!" Unter der Überschrift "Genua brachte die Wende" veröffentlichte die Internationale Kommission beim DKP-Parteivorstand einen in der UZ Nummer 32 vom 10. August abgedruckten Artikel zur "Globalisierung des Kapitalismus". Darin wird dokumentiert: "Wir Kommunisten sind sicher, dass sich diese breite Volksbewegung nicht durch Polizeiwillkür und andere Unterdrückungsmechanismen aufhalten lässt. Wir sind Teil dieser Bewegung, weil auch wir davon überzeugt sind, dass eine bessere Welt möglich und notwendig ist. Die kommunistischen Parteien und revolutionären Bewegungen sind gefordert, eine neue internationale Zusammenarbeit zu entwickeln, denn: Diese andere Welt wird keine kapitalistische sein. Die Idee des Sozialismus steht wieder auf der Tagesordnung!" Die DKP konzentrierte ihre Agitation vor allem auf die Themenbereiche Antikriegstag, Afghanistan, "staatlicher Umgang mit Rechtsextremismus und Neofaschismus", Demokratieund Sozialabbau, Lohnund Rentenpolitik. 112 Linksextremismus 2.2.2 Organisation Die DKP ist eine bundesweit organisierte Partei mit Sitz in Essen. Sie ist in 14 Bezirksorganisationen - zwölf in den westlichen Bundesländern sowie eine in Berlin und eine weitere in Brandenburg, die beide zugleich die Mitglieder in den übrigen vier neuen Bundesländern betreuen - gegliedert, die weiter in 110 Kreisund in 230 Grundorganisationen unterteilt sind. Die Zahl der Mitglieder liegt derzeit bei 4.500, davon etwa 240 in Ostdeutschland. Im 36-köpfigen Parteivorstand befinden sich neben dem DKP-Vorsitzenden Heinz Stehr und den beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden Nina Hager und Rolf Priemer weiterhin vier Funktionäre aus Bayern. In Bayern bestehen zwei Bezirksorganisationen (Nordund Südbayern), zehn Kreisverbände sowie eine Betriebsgruppe. Eine neue DKP-Gruppe wurde in Erlangen gegründet. Die Mitgliederzahl in Bayern stagniert bei rund 600. Die DKP wird überwiegend von Altkommunisten repräsentiert. Die Finanzierung der Parteiarbeit bereitet seit Jahren Probleme. Das DKP-Zentralorgan "Unsere Zeit" (UZ) erscheint aber trotz dieser erheblichen Finanzierungsprobleme nach wie vor wöchentlich. Vom 22. bis 24. Juni wurde in Dortmund das 12. Pressefest des DKP-Zentralorgans "Unsere Zeit" (UZ) durchgeführt. Dort präsentierten sich die Bezirksorganisationen der Partei mit Informationsständen, aber auch "befreundete Organisationen", mit denen die DKP traditionell zusammenarbeitet. Aus dem Ausland waren Vertreter von 35 "Bruderparteien", Angehörige mehrerer Botschaften kommunistisch regierter Staaten sowie ein Abgesandter der Linksfraktion im Europäischen Parlament angereist. Das Pressefest mit seinen politischen und kulturellen Veranstaltungen besuchten mehr als 5.000 Gäste. 2.2.3 Teilnahme an Wahlen Die gesellschaftlich isolierte DKP fand erneut keine Resonanz bei Wahlen. Die Partei trat bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 25. März in sechs der 70 Wahlkreise an, so in den Universitätsstädten Stuttgart, Heidelberg und Freiburg. Sie erzielte dort lediglich Linksextremismus 113 zwischen 0,2 % und 0,5 % der Wählerstimmen und konnte im Vergleich zu den Wahlen von 1996 keine Stimmen hinzugewinnen. Am 15. Juli beschloss die Bezirksorganisation der DKP Berlin ihre Beteiligung an den Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Als Spitzenkandidatin wurde die stellvertretende Parteivorsitzende der DKP, Nina Hager, nominiert. Auf die DKP entfielen bei den am 21. Oktober durchgeführten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 0,1 % der Wählerstimmen. Zur Landtagswahl am 25. März in Rheinland-Pfalz und zur Wahl der Hamburger Bürgerschaft am 23. September trat die DKP nicht an. 2.2.4 Umfeld der DKP 2.2.4.1 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Deutschland Bayern Mitglieder: 5.000 900 Vorsitzende(r): neun Bundessprecher Gründung: 15.-17.03.1974 Sitz: Hannover (Bundesgeschäftsstelle seit 1996) Publikation: antifa-rundschau Die VVN-BdA blieb die zahlenmäßig stärkste Organisation im Spektrum des linksextremistischen Antifaschismus. In ihr wirken unterschiedliche linksorientierte Kräfte zusammen, wobei jedoch nach wie vor aktive und ehemalige Mitglieder der DKP politisch tonangebend sind. Auch in der VVN-BdA Bayern ist auf Landeswie auch auf Kreisebene der Einfluss von Linksextremisten, insbesondere aus der DKP und aus der PDS, maßgeblich. Sie unterstützte weiterhin aus dem linksextremistischen Spektrum initiierte Aktionen. Die VVN-BdA hielt am 19./20. Mai in Braunschweig ihre Bundesausschuss-Sitzung ab. Sie legte dabei - veröffentlicht in der "antifa-rundschau" Nummer 47 - als eines ihrer Teilziele fest: "Die VVN/BdA wird in den Bewegungen auch der etablierten Kräfte gegen Rassismus und gegen rechts ihren Platz behaupten und - wo not- 114 Linksextremismus wendig - beanspruchen. Sie wird zugleich ihre Position gegen jegliche Rechtsentwicklung, gegen Krieg und Demokratieabbau in breiten demokratischen Bündnissen, die sie anstrebt, verdeutlichen." Der für das Jahr 2001 beabsichtigte organisatorische Zusammenschluss der VVN-BdA mit ihrer in den neuen Bundesländern bestehenden Schwesterorganisation VVdN-BdA (Verband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener - Bund der Antifaschisten) wurde nicht vollzogen. In der von beiden Organisationen auf der gemeinsamen Tagung am 16. und 17. Juni in Braunschweig beschlossenen programmatischen Erklärung "Die Kräfte bündeln für einen starken Antifaschismus" wurde aber eine engere bundesweite Zusammenarbeit gegen Nazismus und Rassismus, für Frieden und Demokratie angekündigt. Themenbereiche für die Agitation der VVN-BdA waren Antikriegstag, Afghanistan, Heß-Gedenkmarsch in Wunsiedel, Neofaschismus, Ostermarsch, Rechtsextremismus, Todesfasten in türkischen Gefängnissen und Zwangsarbeiterentschädigung. 2.2.4.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Deutschland Bayern Mitglieder: 300 50 Vorsitzende(r): Jürgen Wangler Tina Sanders Gründung: 04./05.05.1968 Sitz: Essen Publikation: POSITION Die mit der DKP eng verbundene SDAJ versteht sich als eigenständige Organisation von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Auszubildenden und jungen Arbeitenden, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, unabhängig von ihrer Herkunft. Die SDAJ kämpft nach eigener Darstellung für eine Welt ohne Ausbeutung und Rassismus, für eine Welt, in der die Menschen und nicht die Konzerne das Sagen haben. Dem Bundesvorstand der SDAJ gehören 20 Personen an, von denen sechs Personen die Geschäfte des Verbands führen. Wegen der Nach- Linksextremismus 115 nominierung von Tina Sanders als gleichberechtigte Bundesvorsitzende neben Jürgen Wangler wird die SDAJ seit November 2000 von einer Doppelspitze geleitet. Einem Beitrag in den DKP-Informationen Heft 3 vom 28. März zufolge führte die Bundesvorsitzende Tina Sanders im Rahmen ihrer auf der Parteivorstandstagung der DKP am 23. März gehaltenen Rede zum Selbstverständnis der SDAJ aus: "Wir sehen uns, als sozialistischer Jugendverband, als einen Verband, der in der Tradition von Marx, Engels und Lenin steht und auch in ihrem Sinne kämpft. Für unsere Arbeit ist ein klarer Klassenstandpunkt und die Perspektive Sozialismus notwendig." Die SDAJ nahm mit einer Abordnung von 37 Mitgliedern an den "15. Weltfestspielen der Jugend und StudentInnen" in Algier vom 8. bis 16. August teil. Am Rande der Weltfestspiele wurde auch das "Antiimperialistische Tribunal" unter dem Motto "Die Jugend der Welt klagt den Imperialismus an" durchgeführt. Dort verurteilte die SDAJ-Vorsitzende Tina Sanders als erste Rednerin "den deutschen Imperialismus wegen dessen Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien". Nach Angaben der PDS-nahen Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 16. August ging sie ferner mit dem "staatlichen Rassismus in Deutschland, der Duldung von Nazi-Terror und Nazi-Aufmärschen ins Gericht". 2.3 Linksruck-Netzwerk (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.200 40 Gründung: 1993 Sitz: Berlin Publikationen: Linksruck, Sozialismus von unten Die als Linksruck-Netzwerk auftretende trotzkistische Gruppierung SAG bezeichnet sich in ihren auch im Internet veröffentlichten Leitsätzen selbst als "Strömung der revolutionären Sozialisten" und verfolgt das Ziel, eine "antikapitalistische Bewegung in Deutschland" mit einem revolutionären Kern aufzubauen. Sie hat eine bundes- 116 Linksextremismus weite Ausdehnung bei einer weiterhin steigenden Tendenz der Mitgliederzahlen erreicht. Das Linksruck-Netzwerk verfügt in Bayern über Ansprechpartner in München, Regensburg, Nürnberg und Augsburg, die auch in der Publikation "Linksruck" veröffentlicht werden. In München, dem bayerischen Schwerpunkt, wurden die Gruppen "Linksruck in ATTAC", die "Linksruck Hochschulgruppe", die "Linksruck-Kampagnen-Gruppe" und die "Linksruck Anti-Nazi-Gruppe" eingerichtet. Das Linksruck-Netzwerk organisierte Veranstaltungen und beteiligte sich bzw. unterstützte Demonstrationen anderer linksextremistischer Gruppierungen sowie des linksextremistisch beeinflussten Münchner Bündnisses gegen Rassismus. Die Themenbereiche Globalisierung, Militäreinsatz der USA in Afghanistan sowie die Beteiligung der Bundeswehr an diesem wurden verstärkt behandelt. 2.4 Münchner Bündnis gegen Rassismus An dem linksextremistisch beeinflussten Münchner Bündnis gegen Rassismus mit seinen rund 40 Anhängern beteiligen sich linksextremistische Gruppierungen wie die PDS, DKP, der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB), das Linksruck-Netzwerk, die linksextremistisch beeinflusste Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und daneben - anlassbezogen - auch demokratische Gruppierungen. Die Leitung bei Treffen und Veranstaltungen oblag meist Aktivisten der linksextremistischen Gruppierungen. Diese zeichneten auch für Flugblätter des Bündnisses presserechtlich verantwortlich. Das Bündnis fungierte als Träger für eine Vielzahl von Aktivitäten, zu denen kleinere Gruppen alleine nicht in der Lage gewesen wären. Als Schwerpunkte griff das Münchner Bündnis gegen Rassismus die Themen Antirassismus, Antifaschismus sowie "Afghanistan" auf. Hierzu wurden zahlreiche Demonstrationen, Diskussionsveranstaltungen, Flugblattverteilungen, Info-Stände und Mahnwachen durchgeführt. Angesichts der Terroranschläge vom 11. September veranstaltete das Münchner Bündnis gegen Rassismus eine Demonstration mit dem Linksextremismus 117 Thema "Solidarität mit den Opfern - Stoppt die Eskalation der Gewalt" am 22. September mit etwa 1.000 Teilnehmern. Das Münchner Bündnis gegen Rassismus war am "Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz" (38. Münchner Sicherheitskonferenz vom 1. bis 3. Februar 2002) maßgeblich beteiligt. In dem Aufruf "Von Genua nach München - Stoppt die Kriegspolitik der NATO! Gegen das Treffen der Welt-Kriegselite!" wurde für die Teilnahme an der Kundgebung am 1. Februar 2002 auf dem Münchner Marienplatz und an der Demonstration am 2. Februar 2002 mit dem Text "Wir rufen auf zu massiven Protestaktionen, damit diese NATO-Konferenz nicht so störungsfrei wie bisher über die Bühne geht" geworben. 2.5 Sonstige orthodoxe Kommunisten und andere revolutionäre Marxisten Die teils bundesweit, teils regional tätigen sonstigen linksextremistischen Parteien, Organisationen und Bündnisse entfalteten in Bayern kaum Außenwirkung. Dies gilt insbesondere für die Marxistische Gruppe (MG), die trotz ihres bislang nicht widerrufenen Auflösungsbeschlusses vom Mai 1991 bundesweit mit einer Anzahl von rund 10.000 Anhängern fortbesteht. Sie verfügt in Bayern über etwa 4.200 Anhänger, von denen nahezu 700 aktiv sind. Öffentlich trat die MG nur bei regelmäßigen GEGENSTANDPUNKT-Diskussionsveranstaltungen in München und Nürnberg in Erscheinung; die Bezeichnung dieser Veranstaltungen geht auf die seit 1992 von führenden MG-Funktionären herausgegebene Zeitschrift "GEGENSTANDPUNKT" zurück. Die an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen aktive SOZIALISTISCHE GRUPPE ist ebenfalls der MG zuzurechnen. Ferner sind die Gruppierungen Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) und der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) zu nennen. Sie beteiligten sich in Bayern an Demonstrationen, Diskussionsveranstaltungen und anderen Aktionen, wie beispielsweise Flugblattverteilungen. Sie führten Info-Stände durch und hielten Mahnwachen ab. Schwerpunkte ihrer Agitation waren die Themenbereiche Faschismus/Rassismus. Weitere linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen, die dem Bereich "Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten" zuzurechnen sind, werden in Nummer 4 dieses Abschnitts aufgeführt. 118 Linksextremismus 3. Gewaltorientierte Linksextremisten 3.1 Autonome Gruppen Deutschland Bayern Mitglieder: über 6.000 450 Gründung: Ende der 70er Jahre Struktur: meist themenbezogene Zusammenschlüsse, die überwiegend lokalen Charakter aufweisen Publikationen: Szeneblätter, z.B. INTERIM (Berlin); auf lokaler Ebene unter anderem: barricada (Nürnberg) 3.1.1 Überblick Die gewaltbereiten Autonomen bedrohen weiterhin die Innere Sicherheit in Deutschland. Wie in den Vorjahren waren Autonome für die meisten der linksextremistisch motivierten Gewalttaten verantwortlich. Ziel der Autonomen ist die gewaltsame Zerschlagung des Staates und die Errichtung einer "herrschaftsfreien Gesellschaft". Diesem Ziel versuchen sie über eine Reihe von Aktionsthemen näher zu kommen. Dabei nutzen sie aktuelle politische Themen für ihre Zwecke. Durch geschickte Agitation versuchen sie, auch demokratische Protestbewegungen für ihren Kampf gegen den Staat zu mobilisieren. "Antifaschismus" ist bei den Autonomen in Bayern nach wie vor das vorrangige Agitationsund Aktionsfeld. Zusätzlich engagierten sich Autonome verstärkt im Themenfeld "Anti-Globalisierung". Dagegen spielten andere Themenfelder, wie die Asyl-, Ausländerund Flüchtlingspolitik ("Antirassismus") und die Kernenergie ("Anti-Atomkraft") in der politischen Arbeit eine eher untergeordnete Rolle. Die nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September eingeleitete Maßnahmen zur Verbesserung der Inneren Sicherheit und die Beteiligung der Bundeswehr an Militäraktionen der USA gerieten im letzten Quartal unter den Themenfeldern "Antirepression" und "Antimilitarismus" zunehmend in das Blickfeld der Autonomen. In Bayern sind wie in den Vorjahren keine autonomen Zusammenhänge feststellbar, die - nach dem Vorbild terroristischer Gruppierungen wie der "Revolutionären Zellen" (RZ) - Modelle des "Guerillakampfs" propagieren und aus der "Legalität" heraus als so genannte Feierabendterroristen planmäßig terroristische Straftaten verüben. Linksextremismus 119 3.1.2 Ideologische Ausrichtung und Aktionsformen Autonome haben kein einheitliches ideologisches Konzept. Sie folgen unklaren anarchistischen und anarchokommunistischen Vorstellungen. Die einzelnen Gruppen bilden sich meist über Aktionsthemen. Einig sind sich die Autonomen in der Ablehnung von Staat und Gesellschaft. Ihr Ziel ist die gewaltsame Abschaffung des Staates und seiner Institutionen, um an seiner Stelle eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu errichten. Das provozierende Auftreten der Autonomen in der Öffentlichkeit, ihre staatsfeindliche Haltung, die Ablehnung gesellschaftlicher Normen und Werte, aber auch das Bejahen von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Forderungen und Ziele kommen der Protesthaltung mancher junger Menschen entgegen, vor allem, wenn diese mit Problemen im Elternhaus oder in der Schule bzw. Ausbildung konfrontiert werden. Angehörige bzw. Aktivisten der Autonomen unterscheiden sich soziologisch zunächst kaum von anderen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Sie sind Schüler, Studenten und Auszubildende, schließen aber vielfach ihre Lehre oder Studium nicht ab. Autonome machen den Ablauf ihrer Demonstrationen primär von der Einschätzung der Durchsetzbarkeit und des Kräfteverhältnisses gegenüber der Polizei abhängig. Rechtsextremistischen Versammlungen begegnen Autonome nach wie vor mit einer hohen Aggressivität und der Bereitschaft, auch Gewalttaten zu verüben. Die notwendige hohe Polizeipräsenz bei derartigen Veranstaltungen verhinderte, dass autonome Antifa-Gruppierungen ihr Ziel, das verfassungsrechtlich garantierte Versammlungsrecht auch Andersdenkender, insbesondere von Rechtsextremisten, zu torpedieren wie im Vorjahr nicht erreichen konnten. Die Autonomen führen dabei meist keine eigenen öffentliche Veranstaltungen durch ("Minimalkonzept"). Sie mischen sich stattdessen unter die Teilnehmer anderer Gegenveranstaltungen. Die Formierung von so genannten Schwarzen Blöcken bei Demonstrationen als Symbol für militanten Antifaschismus ist nur noch vereinzelt festzustellen. Die zeitweilige Differenzierung zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen wird zunehmend aufgegeben. Die seit den letzten Jahren relativ hohe Zahl der Körperverletzungsdelikte von Linksextremisten gegen "Rechte" oder vermeintlich "Rechte" zeigt, dass die Autonomen Gewaltanwendung gegen politische Gegner als legitimes Mittel ansehen. 120 Linksextremismus 3.1.3 Strukturen 3.1.3.1 Autonome in Bayern Insgesamt gehören den autonomen Strukturen in Bayern knapp 450 Personen an (2000: 500). Im Jahr 2001 traten in Bayern besonders die autonomen Gruppierungen "Organisierte Autonomie" (Nürnberg), "red action nürnberg", "antifaschistisch kämpfen (münchen)", "Antifaschistische Aktion München", und "a.l.d.e.n.t.e. - autonome gruppe mit biss" (Augsburg) in Erscheinung. Örtliche Schwerpunkte der Autonomen in Bayern sind nach wie vor die Großräume Nürnberg und München. Während die Nürnberger Szene mit etwa 140 Anhängern personell stabil blieb, sank die Zahl der Autonomen in der Landeshauptstadt München auf etwa 130 Personen. Die autonome Szene in Nürnberg formiert sich um das "Stadtteilzentrum Schwarze Katze" und die Anlaufstelle "DESI". Für die Münchner Autonomen spielt nach wie vor der autonome "Infoladen" in der Breisacherstraße eine wesentliche Rolle. Daneben bestehen autonome Gruppierungen unter anderem in Aschaffenburg, Augsburg, Bayreuth, Neu-Ulm, Sulzbach-Rosenberg und Würzburg. Auch aus anderen Städten wurden Aktivitäten der autonomen Szene bekannt; dort gibt es meist nur Kleinund Kleinstgruppen. Die ehemals bayernweit aktivsten und bundesweit sehr bedeutenden Passauer Autonomen entfalteten keine nennenswerten Aktivitäten mehr, die früheren Aktivisten sind in die Szenen der Großstädte in ganz Deutschland abgewandert. Autonome Personenzusammenhänge in Bayern, die dem antifaschistischen Spektrum zuzurechnen sind, zeigen eine hohe Bereitschaft zur Organisierung. Obwohl die Organisierungsfrage besonders im autonomen Spektrum sehr umstritten ist, da sie dem ursprünglichen autonomen Selbstverständnis entgegensteht, geht der Trend von anonymen Kleingruppen hin zu einer stärkeren Organisierung mit unterschiedlichen Ausprägungen. Dadurch sollen Handlungsfähigkeit, Effektivität und Kontinuität autonomer Politik verbessert werden. Die ursprüngliche Ablehnung jeglicher Organisationsformen und verbindlicher Strukturen haben die Autonomen damit größtenteils aufgegeben. Seit 1998 tritt das "Antifaschistische Aktionsbündnis Bayern" (AABB) öffentlich in Erscheinung. Dieses Bündnis spiegelt die Vernetzungs- Linksextremismus 121 Autonome in Bayern Hof* 2001 Coburg* (Schwerpunkte) Aschaffenburg Bamberg* ca. 15 Bayreuth Würzburg ca. 15 Blockbuster - ca. 25 Unabhängige Antifa Autonome Antifa WÜ Nürnberg Sulzbach-Rosenberg ca. 20 ca. 140 - red action nürnberg - Organisierte Autonomie Angehörige der - Autonome Jugend Antifa autonomen Szenen Regensburg* Autonome PersonenIngolstadt* zusammenhänge (nicht abschließend) Passau* ca. 25 Landshut* a.l.d.e.n.t.e. *) Neu-Ulm* Augsburg Autonome Kleinstgruppen München ca. 130 - Antifaschistische Aktion München - antifaschistisch kämpfen münchen Rosenheim* - Revolutionärer Aufbau München bemühungen von verschiedenen autonomen Gruppierungen in Bayern wider. Es dient vor allem dazu, den "antifaschistischen Widerstand" in Bayern zu festigen und auszubauen. Die gemeinsamen Treffen der an diesem Bündnis teilnehmenden autonomen Antifa-Gruppierungen bilden die Grundlage für die Koordinierung der politischen Arbeit und der bayernweiten Kampagnen und Aktionen. Im AABB sind rund 20 Gruppierungen organisiert, darunter Gruppen aus Aschaffenburg, Augsburg, Bayreuth, München, Nürnberg, Sulzbach-Rosenberg, Ulm/Neu-Ulm und Würzburg. 122 Linksextremismus 3.1.3.2 Antifaschistische Aktion/ Bundesweite Organisation (AA/BO) Die im Juli 1992 gegründete Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) erklärte im April ihre Selbstauflösung. Die AA/BO hatte in ihrem fast neunjährigem Bestehen wesentliche Bedeutung für die gewaltbereite autonome antifaschistische Szene. Dieser bundesweiten Organisation gehörten autonome Gruppierungen aus rund zehn Städten im Bundesgebiet an. Ihr war es gelungen, im autonomen Bereich eine vergleichsweise dauerhafte Organisationsstruktur zu schaffen. Eine zentrale Rolle in dieser Organisation nahm die militante "Autonome Antifa (M)" in Göttingen ein. In Bayern gehörten der AA/BO zuletzt noch Gruppen aus Nürnberg und Passau an. Die Aktivitäten der Passauer Mitgliedsgruppe waren jedoch bereits im Jahr 2000 deutlich zurückgegangen. Der Spagat zwischen einer eher parteiförmigen, straffen, fast schon hierarchisch strukturierten Organisation und dem ursprünglichen, hierarchiefeindlichen autonomen Selbstverständnis ist mit der Selbstauflösung der AA/BO vorerst misslungen. 3.1.4 Informationelle Vernetzung Die autonomen Zusammenhänge in Bayern sind als Mitgliedsgruppen des bayernweiten autonomen Bündnisses AABB und bis April als Mitgliedsgruppen der bundesweiten AA/BO in den Informationsaustausch autonomer Gruppierungen eingebunden. Für den lokalen, überregionalen und internationalen Informationsaustausch verwenden Autonome darüber hinaus Szenepublikationen, Infoläden, Szenelokale sowie verdeckte informelle Strukturen, wie Telefonketten und Mailboxverbundsysteme, deren Bedeutung jedoch zurückgegangen ist. Infoläden dienen dem autonomen Spektrum nicht nur als zentrale Informations-, Kommunikationsund Anlaufstellen, sondern tragen auch zur Verbreitung und Koordinierung autonomer Aktivitäten bei und haben wesentlichen Einfluss auf die Mobilisierungsfähigkeit der Szene. In Bayern bestehen Infoläden unter anderem in München, Nürnberg, Augsburg und Landshut. Bei bundesweiten Infoladen-Vernetzungstreffen wird über "Konzepte und Perspektiven", aber auch über "Kämpfe und Widerstandsformen" diskutiert. Um die Vernetzung und den Austausch der Infoläden untereinander zu fördern, wurden "zentrale Internet-Seiten" eingerichtet. Linksextremismus 123 Immer häufiger nutzt die autonome Szene das Internet als Kommunikationsmittel und sieht in den entsprechenden Verschlüsselungssystemen ein geeignetes Instrument gegen staatliche Kontrolle. Es werden, zum Teil über ausländische Anbieter, aktuelle Termine, Nachrichten, Diskussionsbeiträge und Publikationen mit teilweise strafbarem Inhalt verbreitet. Die Beiträge umfassen auch Selbstdarstellungen autonomer Zusammenschlüsse, wie z.B. der Gruppierungen "red action nürnberg" und "antifaschistisch kämpfen (münchen)". 3.1.5 Autonome Publikationen Trotz der steigenden Attraktivität der modernen elektronischen Medien haben die bewährten klassischen Publikationen nach wie vor elementare Bedeutung für die autonome Szene. Im Bundesgebiet gibt es über 50 dieser Szenepublikationen, in denen Diskussionspapiere, Aufrufe zu Veranstaltungen, Selbstbezichtigungsschreiben und andere Beiträge veröffentlicht werden. Die Beiträge spiegeln die aktuelle Diskussionen und Aktionen der Autonomen wider. Bundesweite Bedeutung haben dabei nur wenige Schriften, darunter insbesondere die in Berlin erscheinende "INTERIM". Die Mehrzahl der Publikationen hat dagegen einen vorrangig regionalen Verbreitungskreis, wie die in Bayern erscheinenden Druckwerke. Erwähnenswert sind regelmäßig erscheinende Schriften, wie "barricada - zeitung für autonome politik und kultur" (Nürnberg), "Grossraumzeitung - Nürnberg/Erlangen/Fürth", "Out of Control" (München), "Pro.K - Zeitung des revolutionären Aufbau München" und "Antifaschistische Autonome ArbeiterInnen Info Zeitung" (Landshut). Die Publikationen werden oft konspirativ hergestellt und verbreitet. Neben der Berichterstattung über autonome Aktivitäten schüren die Schriften vor allem den Hass gegen die Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie enthalten ferner unverhohlene Aufforderungen und Anleitungen zu Gewalttaten, unter anderem gegen Rechtsextremisten und deren Einrichtungen. 3.1.6 Schwerpunktthemen und Aktionen Schwerpunktthemen waren im Jahr 2001 "Antifaschismus", "Anti-Globalisierung", "Antirepression" und "Antimilitarismus". "Antirassis- 124 Linksextremismus mus" und "Anti-Atomkraft" hatten dagegen geringere Bedeutung. Über diesen Agitationsund Aktionsfeldern der Autonomen in Bayern stand in diesem Jahr eine Debatte über eine Neuorientierung der autonomen Szene in Deutschland. Die seit Jahren andauernden Strategiediskussionen mündeten im April in den bundesweiten "Antifa-Kongress 2001", auf dem Konzepte für künftige autonome Politik erarbeitet wurden. 3.1.6.1 Strategiedebatte - neue Gewaltdiskussion Die im Themenfeld "Antifaschismus" aktiven Autonomen sehen sich zunehmend mit der Problematik konfrontiert, dass ihre staatsund gesellschaftsfeindlichen Ziele mit dem Thema "Antifaschismus" allein immer weniger vermittelbar sind. Je mehr der Staat öffentlichkeitswirksam gegen rechtsextremistische Strukturen vorgeht (zum Beispiel mit dem NPD-Verbotsverfahren), umso mehr kommen Autonome in Erklärungsnot bei ihrer üblichen Argumentationslinie, dass der Staat und das "kapitalistische System" die Rechtsextremisten fördere und für eigene Zwecke instrumentalisiere. Auch gelingt es Autonomen immer weniger, im Rahmen der bürgerlichen und staatlichen Maßnahmen eigenständig wahrnehmbar zu bleiben. Die Autonomen befürchten immer mehr ihr Profil zu verlieren. Dem versuchen Autonome entgegenzuwirken, bisher allerdings ohne Erfolg. Wesentliche Impulse für diese Strategiediskussion sollte der bundesweite "Antifa-Kongress 2001" vom 20. bis 22. April in Göttingen mit bis zu 600 Teilnehmern aus den unterschiedlichen linksextremistischen Spektren bringen. Es wurden verschiedene Ansätze erarbeitet, die sich mittelfristig auf die Inhalte und Strategien autonomer Politik auswirken könnten, langfristig auch eine neue bundesweite Organisationsstruktur fördern könnten. So sollen künftig - die inhaltliche Ausrichtung auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge erfolgen. Jeder autonome "Teilbereich", wie "Antifaschismus", "Antirassismus", "Anti-Atomkraft" etc., ist eingebettet in den gemeinsamen Kampf gegen den Staat und das Kapital. Linksextremismus 125 - die Trennung der einzelnen autonomen "Teilbereiche" überwunden werden, insbesondere zwischen "Antifaschismus" und "Antirassismus". - die Thematik "Anti-Globalisierung" aufgegriffen werden. Auch die "Gewaltfrage" wird erneut von verschiedenen autonomen Zusammenhängen diskutiert, um die bisher im autonomen Spektrum weitgehend vorherrschende Trennung zwischen der akzeptierten "Gewalt gegen Sachen" und der außerhalb des Antifa-Spektrums eher abgelehnten "Gewalt gegen Personen" zu überwinden. Vor dem Hintergrund der Ausschreitungen beim "G-8-Gipfel" vom 20. bis 22. Juli in Genua regten Autonome offenbar aus Berlin in der Szenepublikation "INTERIM", Nummer 538 vom 15. November, eine internationale Diskussion über "linksradikale Politikund Aktionsformen" an. In ihrem "militant manifesto" führen sie dazu aus: "Uns interessiert, wie in Polen, Griechenland, Spanien oder England innerhalb der Militanten darüber diskutiert wird und ob es möglich ist, für kommende Gipfel so etwas wie eine gemeinsame Ebene der Militanten zu finden. (...) Zu unseren Aktionsformen gehört auch die Anwendung politischer Gewalt. (...) Die Anwendung politischer Gewalt bedeutet daher die Übernahme einer hohen Verantwortung für sich selbst wie für andere. Sie darf nie terroristisch, d.h. gegen Unbeteiligte gerichtet sein. Unbeteiligte sind für uns aber nicht diejenigen, die das Herrschaftssytem gewaltsam verteidigen, als Polizisten, Politiker oder Militärangehörige; ebensowenig diejenigen, die die Herrschaftsstrukturen noch verschärfen wollen, als Faschisten, Rassisten, Sexisten; und letztlich auch nicht die 'oberen Zehntausend' ..." Auch eine "militante gruppe" (mg) hatte im Juni Drohschreiben, denen eine scharfe Kleinkaliberpatrone beigelegt war, an Repräsentanten der "Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft" gesandt und einen Brandanschlag gegen eine Daimler-Chrysler-Vertretung in Berlin verübt. Auch dieser Zusammenhang sah darin einen Anstoß zur Belebung der Gewaltdebatte in der "linksradikalen" Szene. Dazu führte die "militante gruppe" in der "INTERIM", Nummer 539 vom 29. November, unter der Überschrift "Ein Debattenversuch" aus: "Es ist eine Diskussion, wie wir in Etappen von dem Angriff auf materielle Objekte zum Angriff auf verantwortliche Subjekte kommen. Dabei liegt im Zusammenhang mit der Aufbereitung der RZ-Politik einiges an Material vor (Stichwort: Knieschüsse) und auch im Antifa-Bereich sind Angriffe gegen Personen durchaus akzeptiert." 126 Linksextremismus Die Hemmschwelle bei der Anwendung von Gewalt gegen Personen droht zu sinken. Gegen politische Gegner ("Beteiligte") wird Gewalt erlaubt. 3.1.6.2 Antifaschismus Im Mittelpunkt der Aktivitäten autonomer Gruppen in Bayern standen wie im Vorjahr Proteste und Aktionen gegen rechtsextremistische Veranstaltungen, aber auch gezielte Angriffe gegen einzelne tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten. Von den 39 in Bayern verübten Gewalttaten entfallen 34 auf diesen Bereich. Linksextremisten spähen ihre politischen Gegner ebenso wie Rechtsextremisten gezielt aus und veröffentlichen seit Jahren entsprechende "Steckbriefe" in ihren Publikationen. Gerade im Rahmen des "Antifaschismus" betreiben Autonome in Bayern eine nach wie vor rege Bündnispolitik. Neben kontinuierlich arbeitenden "Aktionsbündnissen" (Augsburg und Nürnberg) auf zumeist lokaler bzw. regionaler Ebene und überwiegend mit linksextremistischen Gruppierungen und Parteien finden sich dabei auch anlassbezogene Bündnisse, bei denen in der Regel auch demokratische Institutionen vertreten sind. Diese anlassbezogenen Bündnisse dienen primär der Vorbereitung und Koordinierung von Demonstrationen, Versammlungen, Mahnwachen, Informationsständen und anderen Veranstaltungen gegen rechtsextremistische Aktivitäten. Derzeit gelingt es der autonomen Antifa-Szene nur schwer, derartige Bündnisveranstaltungen zu dominieren und als eigenständiges Spektrum ständig wahrnehmbar zu sein. In Bayern beteiligten sich Autonome unter anderem an folgenden antifaschistischen Aktivitäten: Unter dem Motto "Nazistrukturen zerschlagen - das NIT Bayern schließen" riefen die autonomen Gruppierungen "antifaschistisch kämpfen (münchen)" und "Antifaschistische Aktion München" zu einer Demonstration am 28. April in München auf. An der Veranstaltung beteiligten sich bis zu 300 Linksextremisten, darunter neben Autonomen auch Anhänger der PDS, der DKP, des Jugendverbands 'solid und des Münchner Bündnisses gegen Rassismus. Diese Versammlung war Höhepunkt einer Aktionsreihe gegen den in München lebenden Linksextremismus 127 Rechtsextremisten Friedhelm Busse, der damals ein Nationales Info-Telefon Bayern (NIT Bayern) zur informellen Vernetzung von Rechtsextremisten betrieb. Der Aufzug führte am Wohnhaus des Rechtsextremisten vorbei. Die Polizei verhinderte den gewaltsamen Durchbruch einer Gruppe von Autonomen in den abgesperrten Bereich des Anwesens. Die mitgeführten Transparente und skandierten Parolen lauteten unter anderem: "Nazis morden, der Staat schiebt ab, das ist das gleiche Rassistenpack", "BRD - Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt", "Deutsche Polizisten schützen die Faschisten" und "NPD und CSU - lasst Rassisten keine Ruh". Auch Kundgebungen und Demonstrationen von Rechtsextremisten am 1. Mai waren bundesweit Ziel gewalttätiger Protestaktionen von Linksextremisten. Da der 1. Mai für Linksextremisten eine erhebliche symbolische Bedeutung hat, werden Veranstaltungen von Rechtsextremisten an diesem Tag, die in den letzten Jahren verstärkt stattfanden, als besondere Provokation verstanden. Die Mobilisierung zu Gegenveranstaltungen ist deshalb insbesondere in der autonomen Szene besonders hoch. So protestierten in Berlin mehrere hundert gewaltbereite Autonome gegen eine Demonstration der NPD. Ein massives Polizeiaufgebot hielt die Demonstrantengruppen auseinander und verhinderte größere Zwischenfälle. Auch in Frankfurt am Main versuchten mehrere hundert Autonome aus dem Rhein-Main-Gebiet, aber auch etwa 150 linksextremistische Türken mit äußerster Aggressivität eine rechtsextremistische Neonaziund Skinhead-Veranstaltung zu verhindern. In Bayern folgten 250 Teilnehmer dem Aufruf der Autonomen in Augsburg, eine dortige Versammlung der NPD am 1. Mai zu behindern. Sie bewarfen die Teilnehmer der NPD-Abschlusskundgebung mit Steinen, Eiern und anderen Wurfgegenständen und versuchten vergeblich, in Kleingruppen die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen. Insgesamt verübten die Gegendemonstranten in zehn Fällen Körperverletzungsdelikte. Aufgrund starker Polizeipräsenz konnten weitere Störungen verhindert werden. Am 19. Mai protestierten in Herzogenaurach, Landkreis ErlangenHöchstadt, rund 350 Personen, darunter etwa 150 Linksextremisten, gegen Veranstaltungen der rechtsextremistischen NPD. Neben den üblichen Kampfparolen beider Seiten, lautstarken Pfiffen und Buhrufen warfen einzelne Autonome Glasund Plastikflaschen sowie Eier in Richtung Teilnehmer der NPD-Mahnwache. In den darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen "Linken" und "Rechten" wurden sieben Personen verletzt. 128 Linksextremismus 3.1.6.3 Anti-Globalisierungs-Proteste Die gewalttätigen Proteste in Seattle im November 1999 wirkten als Initialzündung für gewaltbereite Globalisierungs-Gegner, die inzwischen fast jedes internationale Gipfeltreffen mit massiven Krawallen überziehen. Auch deutsche Linksextremisten beteiligen sich zunehmend an entsprechenden Aktionen, die ihnen ein erhebliches Mobilisierungspotenzial für ihre extremistischen Ziele, nämlich die Bekämpfung der freiheitlichen Demokratie, bieten. Neben der hohen Gewaltbereitschaft bei den Gipfelprotesten bietet sich den Autonomen dabei auch die Möglichkeit, durch eine internationale Vernetzung die eigene Isolation und Schwäche zu überwinden. In einem Flugblatt der "Organisierten Autonomie" Nürnberg heißt es: "Der Widerstand weltweit wächst. Wichtig ist jetzt und in Zukunft, dass wir unseren Kampf ausdehnen, den staatlichen und medialen Spaltern nicht auf den Leim gehen, uns gegen die kapitalistische Weltordnung organisieren und die länderübergreifende Vernetzung vorantreiben. Vom Gipfelsturm ausgehend muß sich unser Widerstand weiterentwickeln zu einem Kampf gegen die alltägliche Ausbeutung und Unterdrückung." Autonome in Deutschland interessieren sich mittlerweile für nahezu jedes in Europa stattfindende internationale Gipfeltreffen. So kam es im Rahmen des Gipfeltreffens der Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union (EU) und des vorangegangenen Treffens mit dem amerikanischen Präsidenten in der Zeit vom 14. bis 16. Juni in Göteborg/Schweden zu schweren Ausschreitungen. Aus einer Menge von 20.000 Demonstranten heraus verursachten etwa 1.000 Gewalttäter im gesamten Innenstadtbereich erhebliche Sachschäden. In Notwehr machten Polizeibeamte von der Schusswaffe Gebrauch. Drei Personen, darunter ein 20-jähriger Deutscher, wurden verletzt. Insgesamt stellten schwedische Sicherheitsbehörden etwa 250 deutsche Teilnehmer fest; gegen sieben erging Haftbefehl. In Nürnberg und München griffen Linksextremisten ebenfalls das Thema auf. So demonstrierten am 15. Juni in einem Nürnberger Villenviertel rund 80 deutsche Globalisierungs-Gegner und junge türkische Staatsangehörige gegen die "kapitalistische Globalisierung". Während des Aufzugs riefen die Teilnehmer aggressive Parolen wie "Bonzenschweine, raus aus euren Häusern", "Wir haben euch was mitgebracht, Hass, Hass, Hass" und "Nie wieder Deutschland". Am darauffolgenden Tag demonstrierte in Nürnberg die regionale linksextremistische Szene, darunter die auto- Linksextremismus 129 nome "Initiative Neue ArbeiterInnen-Bewegung", zum gleichen Thema vor einzelnen Unternehmen. Die Teilnehmer nutzten die angemeldeten Versammlungen auch, um bei verschiedenen Filialen von Fast-Food-Ketten zu protestieren. Neben akustischen und verbalen Protesten kam es auch zu Blockaden des Verkaufsbetriebs und zu Sachbeschädigungen. Die Polizei nahm in diesem Zusammenhang über 20 Personen vorläufig fest. Ein weiteres Ziel für militante Linksextremisten in Bayern und Deutschland war das Gipfeltreffen des Weltwirtschaftsforums vom 1. bis 3. Juli in Salzburg/Österreich. An der angemeldeten Demonstration am 1. Juli nahmen etwa 1.000 Personen teil. Eine Gruppe von etwa 300 gewaltbereiten Störern drang bis zur polizeilichen Absperrung am Veranstaltungsort vor und griff die dort eingesetzten Polizeibeamten mit Flaschen und Steinen an. Die Polizei nahm insgesamt 13 Gewalttäter, davon drei Deutsche mit bayerischen Wohnsitzen, fest. Bereits bei Vorkontrollen an der Grenze waren über 40 Personen wegen des Verdachts der möglichen Teilnahme an gewalttätigen Protesten gegen die Veranstaltung in Salzburg zurückgewiesen worden. Die Beteiligung deutscher, insbesondere bayerischer Autonomer an den Protesten war jedoch insgesamt verhältnismäßig gering. Hauptziel der bayerischen Autonomen war eine massive Mobilisierung zum G-8-Gipfel, der vom 20. bis 22. Juli in Genua stattfand. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei kam es zu schwersten Ausschreitungen, bei denen unter anderem auch eine Reihe von Fahrzeugen in Brand gesetzt wurden. Der Sachschaden erreichte nach vorläufigen Schätzungen rund 100 Millionen DM. Von einem Polizeibeamten wurde am 20. Juli ein 23 Jahre alter Demonstrant erschossen, als dieser ein Polizeifahrzeug angriff. Über 200 Demonstrationsteilnehmer wurden festgenommen. Unter den Festgenommenen befanden sich auch rund 60 deutsche Staatsangehörige. Die Polizei hatte bundesweit versucht, insbesondere gewaltbereite Personen durch Gefährderansprachen, aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen sowie Passbeschränkungen von der Teilnahme in Genua abzuhalten. In Bayern führte die Polizei 36 Gefährderansprachen durch und veranlasste gegen drei Personen Passbeschränkungen. Der Verlauf der Proteste in Genua wirkte sich auch auf die autonome Szene in Deutschland aus. Die Stimmung der Autonomen ist aggressiver als zuvor. Als Hauptverantwortlichen für die Polizeieinsätze in Genua sieht die Szene den italienischen Ministerpräsidenten Silvio 130 Linksextremismus Berlusconi an. So mobilisierte die linksextremistische, autonome Szene in Nürnberg bundesweit und im benachbarten Ausland für verschiedene Protestaktionen beim CSU-Parteitag vom 12. bis 13. Oktober in Nürnberg, zu dem der italienische Ministerpräsident eingeladen war. In einem Aufruf von linksextremistischen, autonomen Organisationen hieß es: "Es liegt an uns, Berlusconi zu zeigen, dass wir Genua nicht vergessen und für die Freiheit unserer GenossInnen kämpfen! (...) Präsentieren wir Berlusconi die Rechnung für seinen faschistischen Polizeieinsatz in Genua!" Trotz der Absage Berlusconis einen Tag vor Beginn des CSU-Parteitags beteiligten sich an der bundesweiten Bündnisdemonstration am 13. Oktober durch die Nürnberger Innenstadt bis zu 2.500 Personen, darunter ein hoher Anteil von Linksextremisten. Mehrere hundert Angehörige der autonomen Szene formierten sich als so genannter Schwarzer Block und führten die Bündnisdemonstration an. Die starke Polizeipräsenz während der beiden Aktionstage in Nürnberg gewährleistete die Sicherheit. Die sichergestellten Gegenstände (Messer, Zaunlatten, Holzstangen, Nägel, Eisenkette, Metallstange, Pfefferspray und anderes) und ein mit Pflastersteinen gefüllter Kinderwagen vor dem Szene-Objekt "Stadtteilladen Schwarze Katze" wiesen auf eher unfriedliche Absichten der Demonstranten hin. 3.1.6.4 Weitere Aktionen Wie in den vergangenen Jahren verübten Autonome und andere militante Linksextremisten aus Anlass des "Revolutionären 1. Mai" in Berlin schwere Gewalttaten. Bereits im Vorfeld kam es in mehreren Stadtteilen zu Brandanschlägen und Sachbeschädigungen. In der Nacht zum 1. Mai versammelten sich in Berlin bis zu 5.000 Personen. Die Gewalttäter errichteten brennende Barrikaden, bewarfen Polizeibeamte mit Steinen und Flaschen, zündeten Feuerwerkskörper und entfachten mehrere Brände. Nach Beendigung der "1.-Mai-Demonstrationen" kam es im Berliner Bezirk Kreuzberg zu stundenlangen Straßenschlachten. Einige hundert Teilnehmer einer nicht angemeldeten Ansammlung mischten sich unter die etwa 3.000 Besucher eines Straßenfestes. Aus dieser Deckung heraus warfen die Störer, deren Zahl bis auf 1.500 Personen anwuchs, Pflastersteine und Flaschen auf Linksextremismus 131 Polizeibeamte. Ferner wurden Autos in Brand gesetzt und brennende Barrikaden errichtet. In Bayern verliefen die Kundgebungen zum 1. Mai weitgehend friedlich. An der von der autonomen "Initiative Neue ArbeiterInnen-Bewegung" angemeldeten "Revolutionären 1.-Mai-Demonstration" in Nürnberg beteiligten sich bis zu 450 Personen. Während des Aufzugs wurden mehrfach Parolen, wie "Feuer und Flamme für diesen Staat" und "Nie wieder Deutschland - Nie wieder Krieg" skandiert. Mitgeführte Transparente trugen Aufschriften, wie "Fight the System - Für eine autonome Gegenkultur - Antifaschistisches Aktionsbündnis" und "Das System hat keine Fehler - es ist der Fehler". 3.1.6.5 Einflussnahme auf die Antikernkraftbewegung Gewaltbereite Linksextremisten missbrauchten das öffentliche Interesse im Zusammenhang mit dem vom 26. bis 29. März durchgeführten Castor-Transport von La Hague/Frankreich in das Zwischenlager für abgebrannte Kernbrennstoffe in Gorleben/Niedersachsen für ihre Zwecke. Während der Transportphase griffen wiederholt bis zu 800 gewalttätige Autonome die zur Sicherung eingesetzten Polizeikräfte an. Die Gewalttäter bewarfen die Polizeibeamten mit Steinen und schossen mit Signalmunition sowie Stahlkugeln. Ein Einsatzfahrzeug der Polizei wurde in Brand gesetzt und zerstört, weitere durch Steinwürfe oder andere Gewalteinwirkungen schwer beschädigt. Vor und während der Transporttage kam es zudem zu Anschlägen auf Einrichtungen der Deutschen Bahn AG, aber auch auf sonstige, von den Tätern mit den Transporten in Verbindung gebrachte Institutionen. Die Gewalttäter verübten Brandstiftungen an Fahrzeugen, gefährliche Eingriffe in den Bahnund Schienenverkehr (wie Hakenkrallenanschläge) sowie Sachbeschädigungen an Gebäuden und Fahrzeugen. In Bayern griffen Autonome nur vereinzelt das Thema auf. Am 21. März warfen unbekannte Täter Pflastersteine in die Eingangstür der Geschäftsstelle der Partei "Bündnis 90/Die Grünen" in Nürnberg. Türschild und Glasscheiben wurden mit einem "X" als Symbol für den Widerstand gegen den Castor-Transport beschmiert. Bei einem 132 Linksextremismus Sprengstoffanschlag auf einen Schaltkasten der Deutschen Bahn AG am 22. Januar in Regensburg entstand Sachschaden. Am 22. März wurden in Nürnberg themenbezogene Transparente mit Stahlseilen bzw. einer Stahlkette über die Fahrbahnen zweier stark befahrener Straßen gespannt. Der zweite Castor-Transport vom 11. bis 14. November führte ebenfalls vom französischen La Hague zum Zwischenlager Gorleben. Im niedersächsischen Wendland wurde der Transport durch Blockaden mehrfach kurzzeitig verzögert. Auf dem bayerischen Streckenabschnitt gab es am 13. November keine Störungen. Die von Atomkraftgegnern erhoffte bundesweite Beteiligung an den Protestaktionen blieb weitgehend aus. So nahmen an der Auftaktkundgebung am 10. November in Lüneburg statt der von den Organisatoren erwarteten 15.000 Demonstranten nur rund 5.000 Atomkraftgegner, darunter zahlreiche Autonome, teil. Im März hatten noch etwa 8.000 Personen an einer Auftaktkundgebung teilgenommen. 3.1.6.6 Reaktionen auf die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die "Antifa" Passau Der quantitative und qualitative Anstieg von politisch motivierten Straftaten Mitte der 90er Jahre in Passau führte im März 1997 zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts einer Straftat gemäß SS129 StGB (kriminelle Vereinigung innerhalb der "Antifa" Passau), das sich zunächst gegen 25, später gegen 32 Beschuldigte richtete. Bei einer in diesem Zusammenhang am 12. Mai 1998 vollzogenen Durchsuchung von rund 40 Objekten im Bundesgebiet konnte umfangreiches Beweismaterial sichergestellt werden. Obwohl daraus die verfassungsfeindliche Zielsetzung der Passauer "Antifa" deutlich zum Ausdruck kam, konnte damit nach Meinung der Staatsanwaltschaft nicht der Nachweis geführt werden, dass die Begehung von Straftaten, die eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen, ein mehr als untergeordneter Zweck der Vereinigung war. Daher stellte die zuständige Staatsanwaltschaft Anfang Januar 2001 dieses Ermittlungsverfahren ein. Die früheren Aktivisten hatten sich inzwischen in den autonomen Szenen der Großstädte Deutschlands etabliert. Obwohl die Einstellung des SS129-Verfahrens ein triumphales Verhalten der Autonomen hätte erwarten lassen, fielen die Reaktionen im Linksextremismus 133 autonomen Spektrum verhalten aus. Die "Antifaschistische Aktion Berlin", der auch einige Beschuldigte aus Passau angehören, antwortete auf die Verfahrenseinstellung mit einer Presseerklärung vom 11. Januar unter der Überschrift "Passau / Berlin: Antifaschismus jetzt auch in Bayern legal!". 3.2 Gewalttaten in Bayern In Bayern wurden insgesamt 39 (2000: 39) linksextremistisch motivierte Gewalttaten begangen. In 34 Fällen war der "Antifaschismus" Motiv für die von Linksextremisten in Bayern verübten Gewalttaten. Sie stehen im Zusammenhang mit Aktivitäten gegen Versammlungen rechtsextremistischer Organisationen, insbesondere der NPD, und Angriffen gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. Den Schwerpunkt bildete eine Demonstration gegen eine Kundgebung der NPD am 1. Mai in Augsburg, bei der zehn Körperverletzungsdelikte begangen wurden. Bei den unfriedlichen Aktionen gegen eine Kundgebung der NPD am 19. Mai in Herzogenaurach sind in sieben Fällen Körperverletzungen begangen worden. Bei zwei weiteren Aktionen gegen Veranstaltungen der NPD am 19. Oktober in Augsburg und am 27. Oktober in Nürnberg wurden ein Delikt des Landfriedensbruchs und sieben Körperverletzungsdelikte erfasst. 3.3 Sonstige militante Linksextremisten mit internationalistischer Orientierung Neben den Autonomen gibt es nach wie vor gewaltbereite Linksextremisten, die vor allem antiimperialistisch und internationalistisch ausgerichtet sind. Nicht selten handelt es sich dabei um Personen, die der ehemaligen Terrorgruppe "Rote Armee Fraktion" (RAF) nahe standen und aus deren Unterstützerspektrum stammen. Diese Gruppen und Einzelpersonen engagieren sich vor allem für "politische Gefangene" und für den "kurdischen Befreiungskampf", vor allem durch Unterstützung der verbotenen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK). Am bedeutendsten ist in diesem Spektrum die "Initiative Libertad!". Ihr mittelfristiges Ziel ist es, über das Thema "politische Gefangene" ein internationales Netzwerk von linksextremistischen bzw. linksterroristischen Gruppierungen aufzubauen. Sie unterhält mittlerweile 134 Linksextremismus international gefestigte Kontakte zu ausländischen Gruppen, die zu den Themen "politische Gefangene" und "staatliche Repression" agieren. Die Einrichtung eines internationalen Netzwerks übt auf Gruppen der antiimperialistischen Szene eine wachsende Anziehungskraft aus. "Libertad!" ist die einzige seit Jahren kontinuierlich arbeitende Gruppe, in der Angehörige des ehemaligen RAF-Umfelds maßgeblich in Erscheinung treten. In diesem Jahr beschäftigte sich "Libertad!" am 18. März bei dem fast schon traditionellen "Aktionstag gegen die staatliche Unterdrückung" wieder mit dem Aktionsfeld "Häftlingsfrage". Darüber hinaus nahm sie auch zusammen mit dem mehrheitlich aus demokratischen Organisationen bestehenden antirassistischen Netzwerk "kein mensch ist illegal" an der "deportation class-Kampagne" gegen die Deutsche Lufthansa AG teil. Mit einer "online-Demo" - durch einen massenhaften Zugriff sollte eine Art virtuelle Blockade der Internet-Homepage der Lufthansa erreicht werden - wollten die Veranstalter am 20. Juni gegen die Abschiebung von abgewiesenen Asylbewerbern protestieren. Obwohl die "Blockade" nur kurzzeitig gelang, sah es die Szene als ersten Erfolg an. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Nötigung fanden deshalb am 17. Oktober Durchsuchungen in der Wohnung eines Angehörigen von "Libertad!" und im Büro der Initiative in Frankfurt am Main statt. Zum Ende des Jahres begann "Libertad!" mit der Unterstützung von Protestaktionen gegen die Anfang Februar 2002 in München stattfindende "Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik". Das Themenfeld "Kurdistan-Solidarität", bei dem sich Angehörige linksextremistischer Gruppierungen im Rahmen des Internationalismus für die kurdischen Interessen aktiv einsetzen, hat in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Die Gründe liegen vor allem in der Festnahme des Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan im Februar 1999 und in dessen seitdem propagierter Friedenspolitik. Am 15. Februar verurteilte das Landgericht Frankfurt am Main den ehemaligen Angehörigen der linksterroristischen Struktur "Revolutionäre Zellen" (RZ) Hans-Joachim Klein im so genannten OPEC-Prozess wegen gemeinschaftlichen Mordes in drei Fällen, Mordversuchs und Geiselnahme zu einer neunjährigen Haftstrafe. Das Gericht milderte die für Mord zu verhängende lebenslange Freiheitsstrafe aufgrund Linksextremismus 135 der "Kronzeugenregelung" ab. Klein habe unter anderem mit seinem Aussteigerbuch "Rückkehr in die Menschlichkeit" wichtige Aufklärung über Strukturen und Arbeit der RZ geleistet. Beim Überfall am 21. Dezember 1975 auf die Wiener Konferenz der erdölexportierenden Länder (OPEC) waren ein österreichischer Polizeibeamter, ein iranischer Sicherheitsbeamter sowie ein OPEC-Angestellter getötet worden. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte am 15. Mai Andrea Klump wegen versuchten zweifachen Mordes sowie erpresserischen Menschenraubs und Geiselnahme zu einer neunjährigen Freiheitsstrafe. Andrea Klump hatte gestanden, zusammen mit dem mutmaßlichen RAF-Mitglied Horst Ludwig Meyer sowie einem unbekannten weiteren Mann einen Sprengstoffanschlag auf einen US-Stützpunkt in Rota/Spanien 1998 geplant zu haben. Der Anschlag schlug fehl. Die Verurteilte war am 15. September 1999 nach einem Schusswechsel in Berlin, bei dem Meyer tödliche Verletzungen erlitten hatte, festgenommen worden. Der frühere RAF-Terrorist und Angehörige der RAF-Kommandoebene Rolf Heißler wurde am 26. Oktober nach 18 Jahren Haft auf Bewährung freigelassen. Heißler war 1982 wegen gemeinschaftlichen Mordes an zwei Zollbeamten, gemeinschaftlichen schweren Raubes und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung sitzen derzeit noch fünf weitere RAF-Terroristen in deutschen Gefängnissen ein. Die bereits 1998 wegen Haftunfähigkeit vorläufig freigelassene RAF-Terroristin Adelheid Schulz wurde inzwischen vom Bundespräsidenten begnadigt. Der inhaftierte RAF-Terrorist Christian Klar warf der Bundesregierung in einem Interview in Bezug auf die Häftlingsfrage Opportunismus vor, da sie keine Schritte zur Haftentlassung der RAF-Häftlinge unternehme. Klar bekannte sich in diesem Interview auch zu den Zielen der früheren RAF. Die RAF müsse jetzt "durch Fehler und Anstöße" zu einer "Inspiration" für neue "Aufbrüche" werden. 136 Linksextremismus 4. Übersicht über erwähnenswerte linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2001 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 1. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 1.1 Kernorganisationen: Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 600 4.500 Unsere Zeit (UZ) 14 Bezirksorganisationen, aufgeteilt wöchentlich, 10.000 in Kreisund Grundorganisationen Marxistische Blätter 26.09.1968, Essen zweimonatlich, 3.000 Partei des Demokratischen 83.000 Neues Deutschland (ND) Sozialismus (PDS) - PDS-nahe Zeitung - - neuer Name beschlossen werktäglich, 70.000 auf SED-Parteitag am DISPUT 16./17.12.1989 -, Berlin monatlich, 11.000 PDS-Pressedienst wöchentlich, 2.200 UTOPIE-kreativ-Diskussion sozialistischer Alternativen monatlich, 800 Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS monatlich, 1.000 PDS Landesverband Bayern 650 TITEL (Informationsforum mit 11 Kreisverbänden und (einschließlich der PDS Bayern) 29 Basisorganisationen Sympathisanten) unregelmäßig, 500 11.09.1990, München Verein für Arbeiterbildung Nordbayern 50 Nordbayerischer Landbote 28.03.1993, Fürth unregelmäßig, 100 Arbeiterbund für den Wiederaufbau 100 200 Kommunistische der KPD (AB) Arbeiterzeitung (KAZ) 1973, München vierteljährlich Marxistisch-Leninistische 140 2.000 Rote Fahne Partei Deutschlands (MLPD) wöchentlich, 7.500 10 Parteibezirke, über 100 lernen u. kämpfen (luk) Ortsgruppen und Stützpunkte monatlich, 1.000 17./18.06.1982, Essen Linksextremismus 137 Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2001 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) Linksruck-Netzwerk (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) 40 1.200 Sozialismus von unten 1993, Berlin zweimonatlich, 3.500 Linksruck monatlich, 7.000 Marxistische Gruppe (MG) München 700 (Aktive) 10.000 GEGENSTANDPUNKT 1969/70 AK Rote Zellen, München Herausgeber: ehemalige ("aufgelöst" zum 01.06.1991) Funktionäre der MG vierteljährlich, 7.000 1.2 Nebenorganisationen: Nebenorganisation der DKP: Sozialistische Deutsche 50 300 POSITION Arbeiterjugend (SDAJ) unregelmäßig, 1.500 Landesverbände, Kreisverbände und Ortsgruppen, 04./05.05.1968, Essen Nebenorganisation der MLPD: Jugendverband REBELL 20 Rebell - Beilage zur Roten Fahne - 1.3 Beeinflusste Organisationen: DKP-beeinflusst: Vereinigung der Verfolgten des 900 5.000 antifa-rundschau Naziregimes - Bund der Antifaschisvierteljährlich, 7.500 tinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Landesvereinigungen mit Kreisund Ortsvereinigungen 15.-17.03.1947, Frankfurt am Main MLPD-beeinflusst: Frauenverband Courage 20 500 Courage vierteljährlich Trotzkistisch beeinflusst: Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE) 60 No pasaran Vorfeldorganisation der trotzkistischen "Sozialistischen Alternative VORAN" (SAV) 50 300 1992, Köln 138 Linksextremismus Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2001 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 2. Autonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten Autonome etwa über zum Teil unregelmäßig 450 6.000 erscheinende Szeneblätter wie: radikal, INTERIM; auf lokaler Ebene u.a: barricada 3. Von mehreren Strömungen des Linksextremismus beeinflusst Münchner Bündnis gegen Rassismus 40 München Antifaschistisches Aktionsbündnis 20 Nürnberg Münchner Kurdistan-Solidaritätskomitee 20 München Ausländerextremismus 139 5. Abschnitt Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Ausländerextremismus Ausländergruppen werden als extremistisch eingestuft, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Dazu zählen insbesondere die Organisationen islamischer Extremisten, die als Endziel einen islamischen Staat, wie z.B. im Iran, auch in Deutschland errichten und damit wesentliche Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung beseitigen wollen. Der gesetzlichen Beobachtung unterliegen ferner Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind bzw. Gruppierungen von Ausländern, die eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatland anstreben und dadurch auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Gesamtzahl der Mitglieder extremistischer Ausländervereinigungen verringerte sich in Bayern geringfügig von 10.470 im Jahr 2000 auf 10.445. Darin eingerechnet sind rund 1.800 Anhänger der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Wie in den Vorjahren stellten die Organisationen extremistischer Türken (einLinksExtreme Islamische Gesamtzahl Mitgliederstärke extremisten Nationalisten Extremisten Mitglieder extremistischer AusländerKurden 1.950 (1.950) - - - - 1.950 (1.950) organisationen Türken 395 (450) 2.120 (2.100) 5.170 (5.170) 7.685 (7.720) in Bayern Sonstige* 355 (350) 75 (80) 380 (370) 810 (800) Gesamtzahl 2.700 (2.750) 2.195 (2.180) 5.550 (5.540) 10.445 (10.470) (in Klammern die Vergleichszahlen des Vorjahrs) * Albaner, Araber, Inder, Iraner, Srilanker u.a. 140 Ausländerextremismus Entwicklung Mitglieder der Mitglie100.000 derzahlen extremistischer 80.000 AusländerDeutschland organisationen 60.000 59.150 39.800 40.000 20.000 5.425 Bayern 10.445 0 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 Ausländische Extremisten in Deutschland 30.800 35.000 31.950 30.000 Islamische Extremisten 25.000 19.400 20.000 18.250 15.000 Linksextremisten 10.000 8.000 5.000 8.950 Extreme Nationalisten 0 1997 1998 1999 2000 2001 Ausländische Extremisten in Bayern 7.000 5.470 6.000 5.550 Islamische Extremisten 5.000 4.000 3.010 3.000 Linksextremisten 2.700 2.000 1.000 1.570 Extreme Nationalisten 2.195 0 1997 1998 1999 2000 2001 Ausländerextremismus 141 schließlich kurdischer Volkszugehöriger) mehr als 90 % aller ausländischen Extremisten in Bayern. Über die Hälfte aller ausländischen Extremisten ist dem islamischen Fundamentalismus zuzurechnen. Mit den Terroranschlägen in den USA am 11. September hat die aktuelle Gefährdung der westlichen Welt durch fanatische islamische Fundamentalisten eine neue Dimension erreicht. Diese heimtückischen Anschläge sind eine eindeutige Kampfansage an alle, die sich für Freiheit, Demokratie und eine friedliche Weltordnung einsetzen. Langfristig bedeutet der islamische Fundamentalismus im Hinblick auf seine weltweiten Expansionsbestrebungen inzwischen eine größere Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung als die Bestrebungen gewaltbereiter türkischer und kurdischer Linksextremisten. Im Dezember wurde deshalb der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti), die bis dahin größte Organisation militanter islamischer Fundamentalisten, in Deutschland verboten. Die konsequente Durchsetzung der bisher ausgesprochenen Vereinsund Betätigungsverbote in Bayern hat sich bewährt; die relativ geringe Zahl von Gewalttaten in Bayern belegt dies. 1.3 Integrationsfeindlichkeit des islamischen Extremismus Der Islam als Religion und seine Ausübung werden nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Beobachtung unterliegen jedoch Bestrebungen, die von islamischen Gruppen ausgehen und sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand Bayerns bzw. des Bundes richten (islamischer Fundamentalismus), aber auch solche, die durch Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und damit auch das friedliche Zusammenleben der Völker beeinträchtigen. Die im Bundesgebiet aktiven islamisch-extremistischen Gruppierungen wollen die in ihren Heimatländern bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnungen durch ein auf dem Koran und der Scharia (islamisches Rechtssystem) basierendes islamistisches Gesellschaftssystem ersetzen. Zum Teil streben sie sogar die Errichtung eines antilaizistischen Gottesstaats auf der ganzen Welt an. Die Islamisten gehen davon aus, dass mit der Scharia eine alle Lebensbereiche umfassende islamische Gesellschaftsordnung vorgegeben sei, die es überall zu verwirklichen gelte. Ihrer Überzeugung nach 142 Ausländerextremismus entsprechen die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Islamismus wegen ihres göttlichen Ursprungs als einziges gesellschaftliches System in allen Aspekten vollständig der menschlichen Natur. Die Trennung von Staat und Religion in westlichen Staaten wird daher nicht nur als "un-islamisch" abgelehnt, sondern auch aktiv bekämpft. Die Gleichheit der Menschen wird verneint. Nur Muslime sind völlig rechtsfähig und können gleiche Rechte haben, sofern diese nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Menschenrechte nach westlichem Verständnis werden nur zum Teil anerkannt. Die Scharia liefert zudem die Legitimation für unmenschliche Strafen. Der islamische Fundamentalismus ist geprägt von Intoleranz gegenüber Andersgläubigen. Aufgrund seines Absolutheitsanspruchs fordert er einen aktiven Kampf gegen alle "Ungläubigen" und die weltweite Islamisierung, falls nötig durch Unterwerfung aller Nichtmuslime. Westliche Demokratieund Gesellschaftsvorstellungen werden abgelehnt, sofern sie nicht im Einklang mit dem Koran und der Scharia stehen. Dies bedeutet die Ächtung des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität und der Chancengleichheit der Parteien. Ferner gibt es keine Gewaltenteilung, keine Legislative, keine Kontrolle der obersten Staatsgewalt. Eine Eingliederung von Muslimen in demokratische Systeme ist damit wesentlich erschwert. Der islamische Fundamentalismus ist daher zwangsläufig integrationsfeindlich. Islamische fundamentalistische Gruppen wenden sich deshalb massiv gegen eine echte Integration. Sie versuchen, vor allem junge Menschen zu beeinflussen und sie zu einer Ablehnung unserer demokratischen Ordnung und unserer freiheitlichen Gesellschaft zu bewegen. Dazu dienen die privaten Koranschulen extremistischer Organisationen wie auch die Pflicht für Frauen und Mädchen, Kopftücher zu tragen. Die trägt zur bewussten Abgrenzung von westlichen Lebensgewohnheiten bei. Dem Politikverständnis von Islamisten ist auch ein taktisches Verhältnis zur Frage der Gewaltanwendung immanent. Nach Ansicht islamistischer Theoretiker schließt der "Jihad" (wörtlich: Innerer Kampf, Anstrengung) als Instrument zur Verwirklichung der islamistischen Gesellschaftsordnung alle zum Sieg verhelfenden Mittel ein. So befürwortet die Mehrzahl der islamistischen Gruppierungen aus dem arabischen Raum Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Die im Bundesgebiet mitgliederstärkste islamistische Gruppierung, die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Ausländerextremismus 143 Görüs e.V." (IGMG), setzt dagegen auf die Erweiterung ihres politischen Einflusses, um die gesellschaftlichen Ordnungen in der Türkei und in Deutschland ändern zu können. 1.4 Gewalttaten Die Zahl der ausländischen Extremisten zuzurechnenden Gewalttaten ist von drei im Jahr 2000 auf elf gestiegen. Dabei handelt es sich um drei versuchte Spendengelderpressungen zugunsten der PKK, sieben Körperverletzungen und ein Widerstandsdelikt gegen einen Polizeibeamten. Bei Auseinandersetzungen zwischen ausländischen Extremisten und deutschen Rechtsextremisten kam es zu drei Körperverletzungsdelikten, am 18. Mai im Mammendorf, Landkreis Fürstenfeldbruck, am 1. Juni in München und 30. Juni in Landshut. Bei dem Vorfall in München schossen drei türkische Jugendliche auch mehrfach mit Schreckschusswaffen. Bei der Gegendemonstration gegen eine NPD-Kundgebung am 1. Mai in Augsburg versuchte ein ausländischer Extremist die Festnahme einer Demonstrationsteilnehmerin durch die Polizei zu verhindern. Am 8. Juli beleidigte ein Österreicher in München drei Frauen unter anderem mit den Worten "Ausländergesindel" und "Kanakenvolk". Anschließend versuchte er, seinen Hund auf die Frauen zu hetzen. Den vorstehenden fünf Delikten liegen vordergründig rechtsbzw. linksextremistische Motive zugrunde. Aufgrund der neuen bundeseinheitlichen Erfassungskriterien werden sie aber dem Ausländerextremismus zugerechnet. 2. Türkische Gruppen 2.1 Islamische Extremisten 2.1.1 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) Deutschland Bayern Mitglieder: 27.000 5.000 Vorsitzender: Mehmet Sabri Erbakan Gründung: 1985 Sitz: Köln Publizistisches Sprachrohr: Milli Gazete (Nationale Zeitung) 144 Ausländerextremismus Die IGMG ist ein Sammelbecken von Anhängern der seit 1998 in der Türkei verbotenen fundamentalistischen Wohlfahrtspartei (RP) und deren Nachfolgerin, der inzwischen ebenfalls verbotenen Tugendpartei (FP). In Bayern ist die IGMG mit rund 70 Ortsgruppen vertreten. Schwerpunkte sind wie bisher München und Nürnberg. Die IGMG erstrebt die Abschaffung der laizistischen Staatsordnung in der Türkei zugunsten einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran als Grundlage des Staatsaufbaus und als Verhaltenskodex des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ihr Fernziel ist eine weltweite Islamisierung im Sinn eines doktrinären Islam-Verständnisses. Seit November 1999 gibt sich die IGMG nach außen pro-westlich und pro-amerikanisch und tritt offiziell für Menschenrechte und Religionsfreiheit ein. In den Ortsvereinen will sie dagegen die Ideologisierung und Abschottung verstärken. "Vor ungefähr 600 Jahren haben die Osmanen den ersten Versuch gemacht, sie sind aber nur bis Wien gekommen. Und jetzt, jetzt sind wir schon über die Grenze hinüber gekommen. Wir haben den ersten Schritt unseres Zieles geschafft. Ab dem Jahr 2000 haben wir einen Zwanzig-Jahres-Plan (...) In England gibt es ca. sechs Millionen Afghanen und Pakistanis, in Frankreich und Holland ca. fünf Millionen. Wir werden in 20 Jahren zusammen Europa erobert haben und in Europa wird der Islam die größte Religion." (Der damalige IGMG-Generalsekretär Mehmet Sabri Erbakan am 21. April 2000 auf einer Jugendkulturfeier in Nürnberg) Die zumindest latente Gewaltbereitschaft mancher IGMG-Mitglieder zeigte sich bei einer Veranstaltung des IGMG-Gebiets Schwaben am 4. Juni in Neu-Ulm. Als ein Redner die Zuhörer mit Ausführungen zum Tschetschenienund Palästinakonflikt emotionalisierte und dabei Bilder von Prof. Necmettin Erbakan, dem ehemaligen RP-Vorsitzenden und geistigen Führer der Islamisten in der Türkei, eingeblendet wurden, rief die Menge: "Hoca, wenn Du sagst, wir sollen kämpfen, dann kämpfen wir, wenn Du sagst, wir sollen töten, werden wir töten!" Die IGMG ist im Gegensatz zu früher bestrebt, antisemitische Äußerungen weitgehend zu vermeiden. Diese Zurückhaltung ist jedoch Ausländerextremismus 145 rein taktisch bedingt, seit sich der Verband um Anerkennung als legitimer Vertreter der Muslime in Deutschland bemüht. Zwar hat sich der jetzige IGMG-Vorsitzende Dr. Mehmet Sabri Erbakan in letzter Zeit mehrfach für einen jüdisch-islamischen Dialog ausgesprochen und sich von früheren antisemitischen Äußerungen verbal distanziert. Auch der ehemalige IGMG-Funktionär und Vorsitzende des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland e.V. Hasan Özdogan bezeichnete entsprechende Äußerungen als Kinderkrankheiten und räumte laut einem Artikel der TAZ vom 11. Dezember 2000 diesbezüglich "Fehler" in der Vergangenheit ein. Dennoch sind insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen IsraelPalästinakonflikts innerhalb der IGMG nach wie vor anti-israelische bzw. antisemitische Strömungen vorhanden. So beschrieb ein Vorbeter in der IGMG-Zentralmoschee in Hamburg anlässlich eines Freitagsgebets am 6. Oktober 2000 vor rund 600 - 700 Gläubigen die Vertreibung der Muslime durch die Juden; letztere hätten damals wie heute lieber im Meer versenkt werden sollen. Aufgrund der Gutherzigkeit der Muslime hätten die Juden sich ganz Europa und Amerika einverleibt. Dies müsse sich ändern. Er beendete er seine Predigt mit den Worten "Tod allen Juden!". Die Internet-Ausgabe der Milli Gazete vom 16. Februar stellte in einem Beitrag "Die allgemeine Lage und die Protokolle der Weisen von Zion" einen Zusammenhang zwischen einer angeblich weltweiten jüdischen Verschwörung und der Finanzund Wirtschaftskrise in der Türkei her. Ein weiterer Artikel bezweifelte unter der Überschrift "Warum lässt man die Revisionisten nicht reden?" die Zahl der vom NS-Regime ermordeten Juden und schloss mit der Forderung "Freiheit für die Revisionisten!". Im Gegensatz zu anderen islamistischen Organisationen ist die IGMG seit Jahren um ein rechtlich unangreifbares Erscheinungsbild bemüht. Sie gibt vor, nur verfassungskonforme Ziele zu verfolgen und versichert, sie werde das Grundgesetz achten. Zweifel an der Ernsthaftigkeit solcher Äußerungen sind dennoch begründet. Zwar pflegt die IGMG inzwischen zunehmend Kontakte zu Politikern demokratischer Parteien, zu politischen Stiftungen und Personen des öffentlichen Lebens. Obwohl sie sich einer Anpassung an die Lebensverhältnisse in Deutschland widersetzt, empfiehlt sie ihren Mitgliedern sogar den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wegen des damit verbundenen Wahlrechts. Diese Empfehlung ist indes kein Indiz für Inte- 146 Ausländerextremismus grationsbereitschaft, sondern Teil der von der IGMG verfolgten Strategie zur Durchsetzung ihrer islamistischen Positionen im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere lässt die IGMG nach wie vor ein vorbehaltloses Bekenntnis zur bestehenden Rechtsund Gesellschaftsordnung vermissen und macht die Integrationsbereitschaft von der Gewährung "uneingeschränkter" Religionsfreiheit abhängig. Sie ist also überzeugt, dass ihre mit wesentlichen Prinzipien des Grundgesetzes kollidierenden islamistischen und damit politischen Bestrebungen als vom Grundgesetz geschützte Religionsausübung zu gelten haben. Ihr Streben nach verpflichtender Anerkennung von Koran und Scharia steht in unlöslichem Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Trotz taktisch motivierter anders lautender Erklärungen hat sich die Grundhaltung der IGMG also nicht geändert. Die IGMG hielt am 15. April in Hagen/Nordrhein-WestfaEmblem len ihre Generalversammlung ab. An der Veranstaltung der IGMG nahmen neben Vertretern der türkischen Tugendpartei (FP) knapp 1.000 IGMG-Funktionäre teil. Im Gegensatz zu früheren Kongressen waren Repräsentanten anderer muslimischer Organisationen oder deutsche Gäste nicht geladen; Pressevertretern wurde der Zugang verwehrt. Bei der Wahl des neuen Vorsitzenden setzte sich Dr. Mehmet Sabri Erbakan, der Neffe des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten und RP-Vorsitzenden Prof. Necmettin Erbakan, mit deutlicher Mehrheit durch; sein Stellvertreter ist Yavuz Celik Karahan. Der Geschäftsführer des IGMG-Sprachrohrs Milli Gazete (Nationale Zeitung), Dr. Yusuf Isik, der nach dem Rücktritt von Ali Yüksel im April 1999 die IGMG kommissarisch leitete, hatte nicht kandidiert. Seitdem ist die IGMG mit einer breit angelegten Kampagne bestrebt, ihre Mitglieder zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu motivieren. Anders als in offiziellen Verlautbarungen bezweckt sie damit aber nicht die Integration ihrer Anhänger in die deutsche Gesellschaft. Sie erwägt vielmehr langfristig, mit Hilfe eingebürgerter Muslime in Deutschland eine eigene Partei zu gründen und damit islamisch-extremistische Positionen im politischen Spektrum der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu verankern. So wies Erbakan bereits in seiner Rede am 15.April in Hagen darauf hin, dass in Europa derzeit 22 Millionen Muslime lebten und damit einen Bevölkerungsanteil von sieben Prozent stellten. Es gelte nunmehr, den von europä- Ausländerextremismus 147 ischen, insbesondere deutschen Politikern aufgrund der demographischen Entwicklung geforderten Ausländerzuzug zur Stärkung muslimischer Positionen in den europäischen Ländern zu nutzen. Dort werde die Zahl der Muslime bis zum Jahr 2040 durch Heiraten und Geburten auf rund 40 Millionen steigen. Durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit des jeweiligen Gastlandes und die Mitgliedschaft in Parteien verfügten die Muslime dann über eine nicht zu unterschätzende politische Kraft, so dass sie Europa kontrollieren könnten wie die Juden die USA. Explizit erklärte Erbakan: "Die Europäer glauben, dass die Muslime nur zum Geldverdienen nach Europa gekommen sind, aber Allah hat einen anderen Plan." Am 4. Juni fand in Neu-Ulm eine Veranstaltung des IGMG-Gebiets Schwaben statt. Vor rund 1.500 Teilnehmern, darunter auch der IGMG-Vorsitzende Dr. Mehmet Sabri Erbakan, erläuterte dessen Stellvertreter Yavuz Celic Karahan den Fünfjahresplan der IGMG: "Was wir wirklich wollen, werden wir in fünf oder zehn Jahren bekommen." Es gebe in Deutschland etwa sieben Millionen Muslime, die sich legal oder illegal dort aufhielten, darunter rund vier Millionen Türken. In fünf Jahren werde diese Zahl auf rund elf Millionen Muslime angewachsen sein; in weiteren fünf Jahren werde man mit 16 Millionen bereits die Einwohnerzahl der früheren DDR erreicht haben. Mit diesem Potenzial sei man in der Lage, eine islamische Partei zu gründen, die ohne weiteres den Einzug in den Deutschen Bundestag schaffen könne. Grundvoraussetzung dafür sei jedoch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das türkische Verfassungsgericht verbot am 22. Juni die "Tugendpartei" (FP) wegen "anti-laizistischer Aktivitäten". Die FP war mit 102 von 550 Abgeordneten die größte Oppositionsfraktion im türkischen Parlament. Ihre von extremistischen Kräften dominierte Führung hatte - wie auch die Verbandsführung der IGMG - einen totalitären islamistischen Herrschaftsanspruch erhoben. Zwei FP-Abgeordneten wurde das Mandat entzogen. Die IGMG verurteilte in einer Presseerklärung vom 26. Juni das Verbot ihrer Mutterpartei als Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Türkei sei ein "Staat mit behinderter Demokratie" und kein Rechts-, sondern ein "Polizeistaat"; anstelle von Demokratie würden dort "Theaterstücke" aufgeführt. Die IGMG fordere daher eine sofortige 148 Ausländerextremismus Verfassungsänderung, die Menschenrechte, Demokratie, Pluralismus, Meinungsund Religionsfreiheit sowie das Recht auf politische Organisierung garantiere. Aus der FP gingen mittlerweile zwei Nachfolgeorganisationen hervor. Im Juli gründeten Anhänger des "traditionalistischen" FP-Flügels, dem auch die IGMG nahesteht, die Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi -SP-) unter der Leitung des ehemaligen FP-Vorsitzenden Recai Kutan. Als geistigen Führer betrachten die "Traditionalisten" nach wie vor den mit einem politischen Betätigungsverbot belegten früheren RP-Vorsitzenden Prof. Necmettin Erbakan. Als zweite Nachfolgeorganisation der verbotenen FP konstituierte sich in der Türkei Mitte August die Gerechtigkeitsund Aufschwungpartei (AKP). Auf dem Gründungsparteitag wurde der frühere Bürgermeister von Istanbul Recep Tayyip Erdogan zum Vorsitzenden gewählt. Er galt als Führungsfigur des ehemals mit den "Traditionalisten" rivalisierenden "Reformflügels" der FP. Erdogans Verlautbarungen zufolge soll die AKP keine islamistische Partei im traditionellen Sinn sein, sondern eine konservative Gruppierung mit religiöser Orientierung darstellen. 2.1.2 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.100 170 Vorsitzender: Metin Kaplan Gründung: 1984 Verbot: 12. Dezember 2001 Sitz: Köln Publikation: Ümmet-i Muhammed (Die Gemeinde Mohammeds) Das Bundesministerium des Innern verbot am 12. Dezember die Vereinigung "Kalifatsstaat einschließlich der ihm zugeordneten 17 Teilorganisationen" (darunter alle vier bayerischen Verbände) und erklärte diese für aufgelöst. Die Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens des Kalifatsstaats wurde angeordnet. Bayernweit waren vier Vereine (Moscheen) mit insgesamt rund 170 Mitgliedern, nämlich die Vereinigung "Aksa-Moschee" in Nürnberg, die Vereinigung "Ensarullah-Moschee" in Garching bei München, das Islamische Zentrum Ausländerextremismus 149 e.V. in Ingolstadt sowie die Islamische Stiftung "Mevlana-Moschee" in Augsburg vom Verbot, von der Auflösung und weiteren Exekutivmaßnahmen betroffen. In den Moscheen und den Wohnungen von 17 Verbandsaktivisten in Augsburg, Garching bei München, Ingolstadt, Altötting, Bessenbach/Landkreis Aschaffenburg, Nürnberg und Fürth konnte die Polizei große Mengen an Audiound Videokassetten sowie Vereinssymbole, Propagandamaterial, Computer und umfangreiches Schriftgut sicherstellen. In der Wohnung eines Vorbeters in Ingolstadt wurde darüber hinaus eine scharfe Schusswaffe mit 145 Patronen beschlagnahmt. Gegen den Besitzer wurde von der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz eingeleitet. Allein in Garching bei München wurden rund 30.000 DM als Vereinsvermögen eingezogen. Der 1984 gegründete Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) stellte eine am "Führerprinzip" orientierte, streng hierarchisch gegliederte Organisation dar. Sein Endziel war die Weltherrschaft des Islam unter dem Kalifat seines Anführers Metin Kaplan. Als erste Stufe auf dem Weg zu diesem Ziel wurde der gewaltsame Sturz des laizistischen Regierungssystems in der Türkei angestrebt. Der Kalifatsstaat lehnte Demokratie und die Trennung von Politik und Religion strikt ab. Mit Aufrufen zum gewaltsamen Vorgehen gegen den türkischen Staat beeinträchtigte der Verband auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Der islamistische Alleinvertretungsanspruch des Kalifatsstaats, sein Antisemitismus und seine Gewaltbereitschaft gefährdeten zudem die Innere Sicherheit. Mit Nachdruck wandte sich der Kalifatsstaat gegen die Integration türkischer Staatsangehöriger in die deutsche Gesellschaft. Kontakte zur Al Qaeda und auch persönlich zu Usama Bin Laden sind durch einen Reisebericht aus Afghanistan, veröffentlicht in der Organzeitung "Ümmet-i Muhammed" vom Februar 1997, belegt. Das Vereinsleben vollzog sich in kleinen abgeschotteten Zirkeln, zu denen fremde Personen keinen Zugang hatten. Mit seiner totalen Abgrenzungsstrategie gegenüber anderen islamistischen bzw. islamischen Organisationen sowie seinen militanten Aussagen hat sich der Kalifatsstaat selbst in muslimischen Kreisen isoliert. Der "Treue-Eid", auf den alle Anhänger nach eigenen Angaben des Verbands vereidigt sind, belegt, dass viele von ihnen auf Geheiß ihres selbst ernannten "Kalifen" auch zu Gewalttaten bereit sind. Er lautet: "Unser Hodscha! Vor den Augen Allahs schwören wir, dass wir - solange du die im Koran und in den Aussprüchen Mohammeds formulierten Vor- 150 Ausländerextremismus schriften beachtest - deine Befehle, ungeachtet dessen, ob sie uns gefallen, ausführen werden, auch wenn die Ausführung dieser Befehle uns den Tod oder eine Gefängnisstrafe bringen würde." Die Teilnahme an den Freitagsgebeten sowie an verbandseigenen Großveranstaltungen und so genannten "Fernsehabenden in den Moscheen" (in deren Rahmen der Propagandasender des Kalifatsstaats Hakk-TV gesehen wurde), waren für jedes Mitglied obligatorisch. Darüber hinaus durfte nur in den verbandseigenen Lebensmittelmärkten "Kar-Bir" eingekauft werden. Aus diesem Grund waren an die betreffenden Moscheen zahlreiche Lebensmittellager angegliedert. Der Verband betrieb einen intensiven Märtyrerkult. Dieser Märtyrerkult war mit dem Ziel eines baldigen Umsturzes in der Türkei verbunden, der den Übergang zu einer als Ideal gedachten islamischen Ordnung bringen sollte. Die "Ümmet-i Muhammed" vom 17. August führte hierzu aus: "Muslime müssen sich, nachdem sie sich dem Kalifatsstaat angeschlossen haben, anschicken, ihre mit dem Jihad zusammenhängende Pflicht zu erfüllen. Während das Leid der Muslime allmählich ein Ende findet, läuft die Zeit der Ungläubigen, der Hochnäsigen und der Unterdrücker unwiederbringlich ab!" Gegen Abweichler und Abtrünnige ging der Kalifatsstaat massiv vor. Abweichler wurden auch mit dem Tode bedroht. Diese Drohungen wurden in der verbandseigenen Zeitung "Ümmet-i-Muhammed" veröffentlicht und galten bei den Mitgliedern des Verbands als bindende Fetwas (islamisches Rechtsgutachten). In einem von Metin Kaplan verfassten "Verdammungsund Trennungsschreiben" wurden namentlich genannte Mitglieder wegen Vergehen gegen Regeln des Kalifatsstaats "verdammt", mit "Trennungsstrafe" belegt und "verurteilt". Bekannt wurde insbesondere der eindeutige Aufruf zur Tötung des Dissidenten Halil Sofu, eines ehemaligen Vertrauten des verstorbenen Cemaleddin Kaplan. Sofu hatte sich vom Kalifatsstaat getrennt und eine eigene Anhängerschaft um sich geschart. Mitte 1996 hatte sich Sofu in Berlin zum (Gegen-) Kalifen ausgerufen. Er wurde in der Nacht zum 8. Mai 1997 in seiner Wohnung in Berlin von bisher unbekannten Tätern durch mehrere Schüsse getötet. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte Metin Kaplan am 15. November 2000 wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Aus gleichem Grund war bereits der bayerische Gebiets- Ausländerextremismus 151 verantwortliche des Kalifatsstaats, Hasan Pala, am 26. Januar 1999 vom Landgericht Augsburg zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Die Stadt Augsburg sprach im August 2000 ein Verbot der politischen Betätigung gegen ihn aus und beschränkte sein Aufenthaltsrecht auf das Stadtgebiet. Gegen ihn läuft ein Ausweisungsverfahren. Am 27. Dezember wurde Hasan Pala auf dem niederländischen Flughafen Shiphol von den dortigen Sicherheitskräften festgenommen. Pala befand sich auf dem Rückflug von Teheran, wo er vermutlich untertauchen wollte, ihm jedoch aufgrund seines fehlenden Visums die Einreise verweigert worden war. In den Niederlanden bat Pala um politisches Asyl. 2.2 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) Deutschland Bayern Mitglieder: 7.800 2.000 Vorsitzender: Cemal Cetin Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Publikation: Türk Federasyon Bülteni Die ADÜTDF vertritt einen übersteigerten türkischen Nationalismus mit rassistischen Zügen, verbunden mit der Herabsetzung ethnischer Minderheiten. "Nichts wird die Existenz des türkischen Volkes abschaffen. (...) Es kann nichts Wertvolleres geben als unser Volk und unsere Heimat." (Türk Federasyon Bülteni, Ausgabe Nummer 23 vom Juni 2000) Die ADÜTDF ist deshalb auch ein Sammelbecken von Anhängern der extrem nationalistischen türkischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die eine Großtürkei nach osmanischem Vorbild propagiert. "Wir vertreten eine Idee und eine idealistische Auffassung. Im 21. Jahrhundert werden wir in unserer Region eine Supermacht werden, das liegt nicht in allzu weiter Ferne. Wir werden dieses Ziel als Supermacht im Jahr 2023 im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag der türkischen Republik erreichen." (Türk Federasyon Bülteni, Ausgabe Nummer 20 vom Februar 2000) Eigenen Angaben zufolge versteht sich der Verband als eine Bewegung nationalistischer Türken, deren Hauptanliegen die Integrität 152 Ausländerextremismus des Landes ist. Alle persönlichen Belange müssten den Interessen des Volkes untergeordnet und die türkische Fahne, die die Farbe des Blutes der Märtyrer der ADÜTDF trage, hochgehalten werden. Die Führung der Organsiation bekennt sich offen zu ihrer Leitfigur Alparslan Türkes, dem 1997 verstorbenen langjährigen MHP-Vorsitzenden. Die Anhänger der ADÜTDF werden häufig auch als "Graue Wölfe" bezeichnet. Ihr Erkennungszeichen ist ein mit fünf Fingern stilisierter Wolfskopf. In Bayern sind dem Verband knapp 30 Vereine zurechenbar. Nach wie vor bestehen Spannungen zwischen der ADÜTDF und linksextremistischen Türken. Den "Feinden" der Türkei wird Gewalt angedroht. "Jeder, der versucht, dem türkischen Volk zu schaden, wird zerstört werden. Niemand sollte versuchen, die Toleranz des türkischen Volkes auszunutzen. Jeder, der das versucht, wird unsere angemessene Strafe zu spüren bekommen." (Türk Federasyon Bülteni, Ausgabe Nummer 23 vom Juni 2000) Die nationalistische Überzeugung der ADÜTDF bedingt deshalb auch eine rigorose Haltung gegen kurdische Separatisten. Insbesondere die Forderung der MHP-Anhänger, das gegen den PKK-Generalvorsitzenden Öcalan verhängte Todesurteil auch zu vollstrecken, birgt die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen. Das Streben der ADÜTDF nach Dominanz steht einer echten Integration der Türken wie auch der Muslime in die deutsche Gesellschaft entgegen. Zwar rät der Verband den Mitgliedern, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, Motiv hierfür sind aber nur die damit verbundenen größeren Einflussmöglichkeiten. 2.3 Linksextremisten 2.3.1 Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.000 130 Gründung: 1978 in der Türkei (in Deutschland seit 1983 verboten) Die Organisation ist gespalten in: Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Türkische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) (beide Gruppierungen in Deutschland seit 1998 verboten) Ausländerextremismus 153 Die 1978 gegründete und 1983 in Deutschland verbotene revolutionär-marxistische Devrimci Sol versteht sich als eine an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus ausgerichtete Volksbewegung. Sie zählt zu den militantesten türkischen Extremistengruppen, die mit Hilfe einer bewaffneten Revolution auf die Zerschlagung des türkischen Staates zielen und in der Türkei terroristisch aktiv sind. Seit 1993 ist die Devrimci Sol in den "Karatas-Flügel", aus dem die 1994 in Syrien gegründete Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) hervorging, und den "Yagan-Flügel", aus dem sich die Türkische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) entwickelte, gespalten. Das Bundesministerium des Innern hat am 13. August 1998 gegen die DHKP-C als Ersatzorganisation der Devrimci Sol ein Vereinsverbot und gegen die THKP-C Devrimci Sol ein Betätigungsverbot ausgesprochen. Die Verbote sind bestandskräftig. Örtliche Schwerpunkte der DHKP-C mit insgesamt rund 120 Anhängern in Bayern bestehen in Aschaffenburg, München und Nürnberg; für die THKP-C Devrimci Sol sind in Bayern nur Einzelmitglieder aktiv. Schwerpunkt der Aktivitäten der Devrimci Sol waren Protestaktionen gegen die Gefängnisreform in der Türkei (vgl. auch Nummer 2.3.4 dieses Abschnitts). Der Protest richtet sich vornehmlich gegen die Einführung des Zellentyps "F" (Kleinzellen) in den türkischen Haftanstalten, der die bisherigen Großzellen ersetzen soll. In Bayern fand anlässlich des 1. Jahrestags des Beginns des Hungerstreiks (20. Oktober 2000, von den Betreibern als Todesfasten bezeichnet) lediglich eine größere Gedenkveranstaltung der DHKP-C am 21. Oktober in Nürnberg statt. An der von einer Privatperson als Folkloreveranstaltung organisierten Versammlung nahmen rund 800 Personen teil. Die Veranstaltung wurde mit einer Gedenkminute für die Verstorbenen des Hungerstreiks eröffnet. Bis auf einen kurzen Auftritt einer etwa 20-köpfigen Personengruppe am Beginn der Veranstaltung war keine weitere parteipolitische Propaganda in Wort, Bild oder Gesten festzustellen. Schwerpunkt der Veranstaltung bildete das Musikprogramm von "Grup Yorum" (Gruppe Kommentar). Darüber hinaus zeigte die Devrimci Sol kaum Aktivitäten. Anfang des Jahres rief die Türkische Volksbefreiungsfront (DHKC), der militärische Arm der in Deutschland verbotenen DHKP-C, in Flugblättern zur Teilnahme an ihrer Spendenkampagne auf. Darin betonten die Verfasser, dass ihre Mitglieder sowohl in der Türkei als auch auf europäischem Boden für die Befreiung der Völker und die Unabhängigkeit der Türkei kämpften. Die einzige Macht zur Beseitigung der "Repres- 154 Ausländerextremismus salien und des Terrors des Faschismus" sei eine vereinigte revolutionäre Bewegung. Die Weltbevölkerung könne generell nur durch Volksbefreiungskriege und Revolutionen befreit werden. An anderer Stelle heißt es: "Unser Kampf geht weiter, sowohl als Basiskampf als auch als bewaffneter Kampf. (...) Unser Kampf gegen das System ist legal!" Diesem Aufruf folgten in der Türkei im Frühjahr Bombenanschläge und ein Selbstmordattentat am 10. September vor einem Istanbuler Polizeigebäude. Die deutlich zurückgehenden Aktivitäten in Zusammenhang mit dem Hungerstreik und die geringere Beteiligung zeigen, dass die Durchhalteparolen der DHKP-C von einem Teil der Anhängerschaft nicht mehr mitgetragen werden. Selbst zwei Polizeiaktionen am 5. und 13. November im Istanbuler Stadtteil Kücük Armutlu, einer der Hochburgen der DHKP-C außerhalb der Gefängnisse, bei denen mehrere Hungerstreikende ums Leben kamen, führten nur zu vereinzelten, fast ausschließlich friedlich verlaufenden Aktionen von Kleinstgruppen in Deutschland. Die mangelnde Unterstützung des Hungerstreiks kann zur Existenzfrage der DHKP-C werden, auch in Hinblick auf die im Februar 1999 von Dursun Karatas für Deutschland und Europa abgegebene Gewaltverzichtserklärung, wonach Europa politische "Hinterfront" zur Unterstützung des in der Türkei geführten bewaffneten Kampfs ist. Seit 1997 wurden bei Exekutivmaßnahmen in Deutschland und im benachbarten Ausland zahlreiche Führungsfunktionäre und Aktivisten der DHKP-C festgenommen und in einer Reihe von Gerichtsverfahren im Bundesgebiet zu teilweise langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Bundesweit verurteilten Gerichte Funktionäre und Anhänger der Devrimci Sol unter anderem wegen des Vorwurfs der Rädelsführerschaft, Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu teilweise empfindlichen Freiheitsstrafen von bis zu sechs Jahren und sechs Monaten. Urteile ergingen am 5. Januar und 5. Juli vom Oberlandesgericht Hamburg, am 9. Mai vom Kammergericht Berlin und am 17. Mai sowie 12. September vom Oberlandesgericht Düsseldorf. Am 29. Januar nahm die Polizei in Nürnberg zwei türkische Staatsangehörige beim Kleben von Plakaten für die DHKP-C und DHKC Ausländerextremismus 155 fest. Bei der anschließenden Wohnungsdurchsuchung konnten weitere 157 Plakate zum "Todesfasten" sichergestellt werden. Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Vergehens nach dem Vereinsgesetz wurden eingeleitet. Am 22. März verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht einen DHKP-C-Funktionär wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Der 39-jährige Türke hatte zu Prozessbeginn eingeräumt, jahrelang in verantwortlicher Position für die DHKP-C in Österreich und Süddeutschland tätig gewesen zu sein. Er gestand auch, von schweren Straftaten der Gruppe gewusst und diese gebilligt zu haben. Am 9. August verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht einen ehemaligen Funktionär der DHKP-C wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ihm wurden zudem 160 Stunden gemeinnützige Arbeit auferlegt. Der Verurteilte war von Anfang 1997 bis mindestens Anfang 1999 Verantwortlicher der DHKP-C für den Bereich Nürnberg. 2.3.2 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.800 160 Gründung: 1972 in der Türkei Die Organisation ist gespalten in: Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) Partizan-Flügel Die TKP/ML vertritt die Ideologie des Marxismus-Leninismus, ergänzt um die Ideen Mao Tse-tungs. Sie betont den bewaffneten Kampf als Grundform ihres Handelns und ist davon überzeugt, dass der einzige Weg zur Befreiung des türkischen Volkes über den bewaffneten Volkskrieg mit anschließender Bildung einer Volksregierung führt. Ihr militärischer Zweig ist die Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO). 156 Ausländerextremismus Die Entwicklung der TKP/ML ist seit Ende der 70er Jahre durch eine Vielzahl von Fraktionsbildungen und Abspaltungen geprägt. In Deutschland organisierten sich die Anhänger der TKP/ML in der 1976 gegründeten Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) und der Ende 1986 gebildeten Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK), die sich als demokratische Massenorganisationen präsentieren und ihre Verbindungen zur TKP/ML weitgehend tarnen. Die Abspaltung des Ostanatolischen Gebietskomitees (DABK) im Jahr 1994 (nach einer zuvor aufgehobenen erstmaligen Trennung im Jahr 1987) setzte sich in den Basisorganisationen der TKP/ML fort. Um sich vom Partizan-Flügel abzugrenzen, haben sich beide Basisorganisationen des DABK im Sommer 1997 in Föderation der demokratischen Rechte in Deutschland (ADHF) bzw. Konföderation der demokratischen Rechte in Europa (ADHK) umbenannt. Auch die TKP/ML bzw. ihre Anhänger beteiligten sich im Berichtszeitraum schwerpunktmäßig an den Protesten gegen die Gefängnisreform in der Türkei (vgl. auch Nummer 2.3.4 dieses Abschnitts). So verbreitete die ATIK im Juni Flugschriften zur Situation in türkischen Haftanstalten. Darin behaupteten die Verfasser, zwischen türkischen Gefängnissen und den Konzentrationslagern Hitlers bestehe kein Unterschied. Der faschistische Staat Türkei wolle die Meinungsfreiheit, die Persönlichkeit und den Kampfgeist der politischen Gefangenen brechen. Deren Kampf zu unterstützen sei Aufgabe der gesamten Menschheit. Die ATIF, ebenfalls Basisorganisation des Partizan-Flügels der TKP/ML, verbreitete im Mai im Bundesgebiet Flugschriften, in denen sie gegen die Globalisierung der Wirtschaft und für mehr Rechte der Arbeiterklasse eintrat. Der Bundesregierung warf die ATIF darin vor, vermehrt zur Arbeitslosigkeit beizutragen und die sozialen Rechte der Arbeiterklasse zu vernichten. Das "kapitalistische System" wurde als moderne Sklaverei verurteilt. Am 12. Mai führte der Partizan-Flügel der TKP/ML in Ludwigshafen mit mehr als 3.000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet sowie aus dem benachbarten Ausland seine alljährliche Gedenkveranstaltung zu Ehren des Parteigründers Ibrahim Kaypakkaya durch. An einer am 7. Oktober von der ATIF in Augsburg veranstalteten Gedenkund Kulturveranstaltung nahmen rund 500 Personen teil. Im Rahmen des im Mittelpunkt stehenden Folkloreprogramms gingen Redner auch auf den Hungerstreik in der Türkei ein. Ausländerextremismus 157 2.3.3 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) Deutschland Bayern Mitglieder: 600 50 Gründung: 1964 in der Türkei Publikation: Yasamda Atilim (Der Vorstoß im Leben) Die in der Türkei verbotene und terroristisch operierende MLKP entstand 1994 aus dem Zusammenschluss zweier türkischer linksextremistischer Organisationen. Wie die TKP/ML und die Devrimci Sol erstrebt sie die gewaltsame Zerschlagung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer kommunistischen Diktatur. Ihre Basisorganisation ist die Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V. (AGIF) mit Sitz in Köln. Wie bei der DHKP-C und TKP/ML bildeten Versammlungen und die Beteiligung an Protestveranstaltungen gegen die Gefängnisreform in der Türkei (vgl. auch Nummer 2.3.4 dieses Abschnitts) den Schwerpunkt der MLKP-Aktivitäten. Als Aktionskomitee hierfür wurde mit weiteren türkischen linksextremistischen Gruppierungen in der ersten Jahreshälfte 2000 das "Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen in der Türkei" (DETUDAK) gegründet, das von der MLKP dominiert wird. Eigene Veranstaltungen der MLKP und deren Basisorganisation AGIF, die im Bereich Nürnberg am stärksten vertreten sind, waren nicht zu festzustellen. 2.3.4 Proteste gegen die türkische Gefängnisreform Die seit Herbst 2000 in Deutschland andauernde Protestwelle gegen die türkische Gefängnisreform, bei der insbesondere die Massenzellen durch Kleinzellen ersetzt werden, dauert an. Der Höhepunkt war allerdings bereits zum Jahreswechsel 2000/01 erreicht, nachdem türkische Sicherheitskräfte einen Gefängnisaufstand am 19. Dezember 2000 gewaltsam beendeten. Der sich anschließende Hungerstreik hunderter politischer Gefangener, zum Großteil Angehörige der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), der Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) und der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP), wurde inzwischen in ein so genanntes "Todesfasten" umgewandelt. An diesem "Todesfasten", das maßgeblich von DHKP-C Häftlingen sowie 158 Ausländerextremismus deren Angehörigen und Sympathisanten außerhalb der Gefängnisse in der Türkei getragen wird, sind bisher mehr als 40 Personen verstorben. Der Protest in Deutschland wird maßgeblich vom "Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen in der Türkei" DETUDAK, das von der MLKP dominiert wird und dem auch die TKP/ML angehört, sowie dem von der DHKP-C gegründeten "Komitee gegen Isolationshaft" (IKM) getragen. In einer Vielzahl überwiegend kleinerer Solidaritätskundgebungen im gesamten Bundesgebiet protestierten die vorgenannten Gruppierungen gegen die Gefängnisreform. Als Aktionsformen waren neben friedlichen Versammlungen und Informationsständen auch symbolische "Besetzungsaktionen" zu verzeichnen. Zielrichtung des Aktionismus waren insbesondere Medieneinrichtungen, diplomatische Vertretungen, Büros deutscher Parteien oder Flughäfen. Mit Ausnahme von Einzelfällen verliefen diese Protestaktionen gewaltfrei. Als überregionale Veranstaltung fand zwischen dem 11. August und 27. September ein 45-tägiger Solidaritätshungerstreik, jeweils für 15 Tage, beginnend in Frankfurt am Main, anschließend in Köln und zum Abschluss in Straßburg/Frankreich, statt. Solidaritätsveranstaltungen gab es in Bayern insbesondere in Nürnberg (sieben), Regensburg (drei), Augsburg (vier) und München (eine). Sie waren nur zum Teil dem IKM oder DETUDAK zuzurechnen, so die in Regensburg betriebenen Info-Stände; die anderen Veranstaltungen wurden gemeinsam mit deutschen Linksextremisten durchgeführt. So betrieb das DETUDAK am 12. Januar in Augsburg einen vom Antifaschistischen Aktionsbündnis Augsburg (AABA) angemeldeten Info-Stand. Am 19. Januar beteiligten sich türkische Linksextremisten an einer Demonstration des AABA mit insgesamt rund 200 Teilnehmern in der Augsburger Innenstadt; themenbezogene Redebeiträge erfolgten auch vom DETUDAK in deutscher und türkischer Sprache. An Veranstaltungen des "Bündnisses für Internationale Solidarität Nürnberg", in dem neben deutschen auch türkische linksextremistische Gruppierungen vertreten sind, beteiligten sich am 3. Februar und 17. März bis zu 300 Personen. Anlässlich der Selbstverbrennung eines DHKP-C-Aktivisten am 20. April in Regensburg, dessen Ehefrau an den Folgen des Hungerstreiks am 27. September in der Türkei verstorben war, veranstaltete die linksextremistisch beeinflusste Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) am 23. April in Regensburg einen Auf- Ausländerextremismus 159 zug mit Kundgebung, bei dem Handzettel des DETUDAK-Regensburg verteilt wurden. Am 30. Juni führte die ATIK (Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa, Basisorganisation der TKP/ML) eine gemeinsame Veranstaltung mit der PDS in dem der ATIF zuzurechnenden Internationalen Kulturzentrum Augsburg (IKZ) durch. In der zweiten Jahreshälfte waren in Bayern - mit Ausnahme der Veranstaltung am 21. Oktober in Nürnberg - keine weiteren von türkischen Linksextremisten initiierten Veranstaltungen zu verzeichnen. Die Protestwelle türkischer Linksextremisten setzt sich derzeit nur noch deutlich vermindert fort. Mit weiteren entsprechenden Protestund Solidaritätsveranstaltungen türkischer Linksextremisten in diesem Begründungszusammenhang, wenn auch mit deutlich geringerer Intensität, ist weiterhin zu rechnen. 3. Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 3.1 Ideologie Deutschland Bayern Anhänger: 12.000 1.800 Vorsitzender: Abdullah Öcalan Leitung: Präsidialrat Gründung: 1978 in der Türkei (in Deutschland seit 1993 verboten) Publikationen: u.a. Serxwebun (Unabhängigkeit) Die in der Türkei und Deutschland verbotene PKK ist eine gut organisierte, straff geführte, ursprünglich marxistisch-leninistische Kaderorganisation. Ihr Programm ist eine Mischung aus sozialistischem und nationalistischem Gedankengut. Gemäß ihrer Satzung soll sie nach dem Prinzip des "demokratischen Zentralismus" geführt werden. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Generalvorsitzenden Abdullah Öcalan sind in allen Bereichen stark ausgeprägt. Trotz seiner Verhaftung und Verurteilung hat er nichts von seiner Autorität innerhalb der PKK eingebüßt und bestimmt nach wie vor deren politische Ausrichtung. Im Mittelpunkt stand über zwei Jahrzehnte der aktive "revolutionäre Kampf" für ein freies und unabhängiges Kurdistan. Der Organisati- 160 Ausländerextremismus onsaufbau umfasste seither als höchste Organe außer dem Verbandskongress den Generalvorsitzenden, den unter seiner Leitung arbeitenden Vorstand und das Zentralkomitee. Die gesamte Öffentlichkeitsarbeit in Westeuropa erfolgte bis Ende April 2000 unter der Bezeichnung Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK). Dann wurde die ERNK für "aufgelöst" erklärt. Als Ersatz entstand Anfang Mai 2000 die Kurdische Demokratische Volksunion (YDK). Tatsächlich handelte es sich lediglich um eine Umbenennung. Die YDK soll ihre Arbeit auf das "Friedensprojekt" der PKK ausrichten und die "kurdischen Massen" nach "demokratischen Prinzipien" organisieren. In einer Gründungserklärung wird betont, die Lösung der Kurdenfrage künftig mit demokratischen Mitteln anzustreben. Darüber hinaus will die YDK den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Legalisierung kurdischer Institutionen in Deutschland legen. Erklärtes Ziel ist die Aufhebung des seit 1993 bestehenden PKK-Verbots in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser neue Kurs zielt auf einen friedlichen politischen Ausgleich mit der Türkei ab. Verlauf, inhaltliche Ausgestaltung und Endgültigkeit des angekündigten Veränderungsprozesses sind jedoch noch nicht absehbar. Trotz propagierter Friedensoffensive drohte die PKK erst im Dezember der türkischen Regierung in einer Erklärung unverhohlen, "falls der politische Aufstand (Serhildan) nicht ausreichen sollte, würde der bewaffnete Kampf legal werden. Wenn der Krieg gewählt wird, ist die türkische Republik für die daraus entstehenden Folgen verantwortlich." Die Frage, ob der Waffenstillstand (seit September 1999) weiter eingehalten werden soll, wird innerhalb der Organisation kontrovers diskutiert. Auffallend ist, dass die PKK nicht mit der Geschichte des Guerillakrieges bricht, sondern anlässlich des Jahrestags des bewaffneten Kampfs (15. August 1984) - nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Angehörigen gefallener Guerillakämpfer - den früheren bewaffneten Kampf als Voraussetzung für den neuen Kurs darstellt. Die "Arbeiterpartei Kurdistans" beansprucht seit ihrer Gründung die uneingeschränkte Führungsrolle im Kampf der Kurden für einen eigenen Staat. In der Vergangenheit kam es deshalb wiederholt zu militärischen Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Kurdenorganisationen. Diesen Führungsanspruch hat die PKK trotz des Kurswechsels beibehalten. Sie versteht sich wie bisher als die alleinige Vertretung der in Deutschland lebenden rund 500.000 türkischen Ausländerextremismus 161 Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, obwohl sich nur etwa zehn Prozent dieser Volksgruppe zur PKK bekennen. 3.2 Organisation Das 1993 vom Bundesminister des Innern verfügte vereinsrechtliche Betätigungsverbot konnte die PKK auch im Jahr 2001 nicht vollständig daran hindern, trotz erheblich erschwerter Bedingungen weiter aus dem Untergrund heraus konspirativ zu operieren. In Deutschland ist die PKK derzeit in sieben Regionen gegliedert. Die Region Bayern umfasst die Gebiete München, Nürnberg und Ulm mit Teilen Baden-Württembergs. Diese Gebiete sind wiederum in Teilgebiete unterteilt. Den Regionen steht als Regionsverantwortlicher ein professionelles Kadermitglied vor, dem die Gebietsverantwortlichen unterstellt sind. Der Regionsleiter erhält seine Anweisungen von einem aus Führungsfunktionären bestehendem "Koordinationskomitee" (früher "Europäische Frontzentrale" - ACM), das vorwiegend in den Niederlanden tätig ist. Die hauptamtlichen Kader der PKK leben mit häufig wechselnden Aufenthaltsorten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich äußerst konspirativ. Von den rund 1.800 PKK-Anhängern in Bayern können nahezu 1.000 zu Großveranstaltungen mobilisiert werden. Die PKK-Anhängerschaft ist in zahlreichen, der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) angegliederten örtlichen Vereinen organisiert. Diese Vereine, die sich nach außen als reine Kulturvereine darstellen, haben die Aufgabe, Ziele und Politik der PKK unter den Anhängern zu verbreiten und zu fördern. Die in das bundesweite Betätigungsverbot einbezogene YDK (vormals: ERNK) vertritt außerhalb Deutschlands als politischer Arm der Organisation die Interessen und Ziele der PKK. Darüber hinaus bedient sich die PKK zahlreicher vom Betätigungsverbot nicht erfasster Nebenorganisationen ("Y-Gruppen"). Diese haben die Aufgabe, verschiedene Zielgruppen innerhalb der kurdischen Bevölkerung wie Arbeiter, Frauen, Juristen, Lehrer und Jugendliche für die Interessen der PKK zu gewinnen. Aus den Reihen der Union der Jugendlichen aus Kurdistan (YCK) rekrutierte sich bisher mitunter die Guerilla der PKK. Nicht selten wurden dabei in der Vergangenheit Jugendliche gegen den Willen ihrer Eltern zwangsverpflichtet und in 162 Ausländerextremismus Ausbildungslagern im benachbarten Ausland geschult, bevor sie zum Kampfeinsatz in die Türkei geschleust wurden. Die PKK finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, dem Verkauf von Publikationen und den Einnahmen aus Veranstaltungen. Den größten Anteil der Einnahmen erbringt die jeweils von September bis Januar durchgeführte Spendenkampagne. Die Zielvorgabe für Bayern wurde herabgesetzt und lag mit unter einer Million DM niedriger als im Vorjahr (1,5 Millionen DM). Aufgrund der bevorstehenden Währungsumstellung auf Euro war der Beginn der Aktion um einen Monat vorverlegt worden. Trotz aller Bemühungen konnte das angestrebte Spendenziel, wie in den Vorjahren, auch diesmal nicht erreicht werden. Des Weiteren gibt es Hinweise, dass die PKK auch vom Rauschgifthandel profitiert, indem sie beispielsweise kurdische Drogenhändler abschöpft. Ein wichtiges Propagandamedium ist der PKK-nahe Fernsehsender MEDYA-TV, der am 30. Juli 1999 seinen Betrieb aufnahm. Die Beiträge gleichen in wesentlichen Punkten der Berichterstattung seines Vorgängers MED-TV. Der Sender wird von der PKK als Plattform zur Darstellung ihrer politischen Ziele genutzt. Im August wurde anlässlich des dritten Gründungsjahrestags des Senders die Jubiläumsfeier live über MEDYA-TV ausgestrahlt. Als weiteres Propagandainstrument dient der PKK die türkischsprachige Tageszeitung Özgür Politika (Freie Politik), in der regelmäßig Stellungnahmen führender PKK-Funktionäre publiziert werden. Die Zeitschrift versucht, Einfluss auf die Politik im mittleren Osten und den kurdischen Siedlungsgebieten im Sinn der PKK zu nehmen, und versteht sich als Stimme der Kurden, die die Kurdenproblematik in der Türkei dokumentiert. 3.3 Strategie Die Strategie der PKK ist seit der Festnahme ihres Generalvorsitzenden Abdullah Öcalan geprägt von der Anpassung an die veränderte politische und militärische Lage. Nach Verlautbarungen des PKK-Präsidialrats ist der "nationale kurdische Befreiungskampf" in eine neue Phase eingetreten. Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen der Organisation mit den türkischen Sicherheitskräften sei durch Verkündung des einseitigen Waffenstillstands durch den PKK-Generalvorsitzenden Abdullah Öcalan im August 1999 die Erste Friedensphase eingeleitet worden. Darüber hinaus habe der 7. Parteikongress (Januar Ausländerextremismus 163 2000) ein "detailliertes Friedensprojekt" ausgearbeitet, das einen Dialog bzw. eine Zusammenarbeit mit allen "demokratischen Kräften" in der Türkei vorsehe. 3.3.1 Kampagne der YEK-KOM zur Aufhebung des PKK-Verbots Die PKK-nahe Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) forderte in einem Internet-Beitrag am 10. April erneut die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland. Begründet wird dieser Appell mit der Dialogbereitschaft, dem mit der einseitigen Einstellung des "bewaffneten Kampfs" verfolgten Friedenskurs sowie den PKK-Vorschlägen zur Lösung der Kurdenfrage im Zusammenhang mit der "Demokratisierung der Türkei". Bereits im Dezember 2000 hatte die YEK-KOM eine Unterschriftenkampagne zur "Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland" gestartet. Im Rahmen dieser Kampagne sollten Schreiben an den Bundesminister des Innern gesandt werden. 3.3.2 Identitätskampagne der PKK Die so genannte Identitätskampagne als Bestandteil einer "Zweiten Friedensoffensive" wurde offiziell mit einer Großveranstaltung am 12. Mai in Dortmund eingeleitet. Dort demonstrierten rund 35.000 Kurden aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland unter dem Motto "Frieden in Kurdistan - Dialog jetzt". Aus Bayern waren mehrere hundert Versammlungsteilnehmer angereist. Zur Identitätskampagne gehören neben Veranstaltungen und Unterschriftenaktionen auch die Ausgabe von Formblättern an PKK-Mitglieder und Anhänger. Diese sollen sich darauf schriftlich zu Kurdentum und Zugehörigkeit zur PKK bekennen. Damit dokumentiert die PKK die bewusste Negierung der deutschen Rechtsordnung. In dem Text heißt es unter anderem: "Weiterhin erkläre ich, dass ich dieses Verbot nicht anerkenne und sämtliche Verantwortung übernehme, die sich daraus ergibt." Durch das Bekenntnis zur PKK und die massenhafte Abgabe der Selbstbezichtigungen versuchte die Organisation, eine Überlastung der deutschen Polizei und Justiz zu erreichen, um somit die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland zu erwirken. Eine Übergabe von Selbstbezichtigungsschreiben an bayerische Behörden erfolgte nicht. 164 Ausländerextremismus 3.3.3 Gründung des Internationalen Kurdischen Arbeitgeberverbands Vom 19. bis 21. Januar fand in Rotterdam/Niederlande der "1. Kurdische Wirtschaftskongress" statt, in dessen Verlauf durch kurdische Geschäftsleute und Unternehmer der Internationale Kurdische Arbeitgeberverband (KARSAZ) gegründet wurde. Der Satzung des Verbands zufolge will die neue Organisation in den Bereichen Lebensmittelproduktion, Telekommunikation, Immobilien sowie im Versicherungs-, Bankund Kreditwesen aktiv werden. Ziel sei die Aktivierung des kurdischen Kapitals und dessen Anbindung an den Weltmarkt. Der Sitz der Zentrale befindet sich in Frankfurt am Main. Die Vorbereitung und Gründung dieser Organisation wurden von der PKK initiiert. Sie hatte bereits auf ihrem 7. Parteikongress Anfang 2000 beschlossen, ihre Wirtschaftsaktivitäten als eigenständigen Bereich zu betrachten und dafür die erforderliche Organisationsform zu schaffen. Der angestrebte Zusammenschluss kurdischer Unternehmer bietet der PKK unter anderem auch bessere Möglichkeiten, die Gelder aus ihren Spendenkampagnen in den Wirtschaftskreislauf einzuspeisen. Vorbereitungen zur Gründung einer kurdischen Bank in Europa sind bislang nicht über die Planungsphase hinausgekommen. 3.4 PKK-interne Opposition Seit der Verhaftung des PKK-Vorsitzenden am 15. Februar 1999 und der erklärten Absicht der Organisation, künftig einen friedlichen demokratischen Kurs zu verfolgen, haben sich verschiedene Gruppierungen formiert, die die Entwicklung der PKK kritisch hinterfragen. Dabei wird insbesondere der anhaltende und bestimmende Einfluss Abdullah Öcalans auf die Organisation in Frage gestellt und bemängelt, die - aus Sicht der Kritiker - bedingungslose Aufgabe der militärischen Option der PKK sei eine Kapitulation vor dem türkischen Staat. Bisher zeichnen sich drei Gruppierungen von "Oppositionellen" ab, die eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben. Im Einzelnen sind dies die - Kämpfer für die revolutionäre Linie der PKK - Freiheitsinitiative - National Demokratische Initiative Kurdistans. Ausländerextremismus 165 3.4.1 Kämpfer für die revolutionäre Linie der PKK Ende Oktober 1999 wurde erstmals über die Existenz einer in der Türkei bestehenden Gruppierung mit dem Namen Kämpfer für die revolutionäre Linie der PKK berichtet, die sich um zwei ehemalige PKK-Funktionäre gebildet haben soll. Die Gruppe greift die neue politische Grundausrichtung der PKK, insbesondere die Vorgehensweise des Präsidialrats, heftig an. Ihm wird vorgeworfen, zwar im Namen des Vorsitzenden zu handeln, damit aber letztlich die Vernichtung der Organisation zu bewirken. Die Kritiker setzen sich für eine Fortführung des militärischen Kampfs ein. 3.4.2 Freiheitsinitiative Auf dem 7. Parteikongress der PKK im Januar 2000 soll es zu heftigen Auseinandersetzungen über den künftigen Kurs der Organisation gekommen sein. Uneinigkeit bestand angeblich in Bezug auf die Anordnungen des inhaftierten Vorsitzenden, den bewaffneten Kampf einzustellen und die Guerilla aus der Türkei zurückzuziehen. Als Folge habe sich im Mai 2000 eine Gruppe von rund 60 Guerilla-Kämpfern von der PKK abgesetzt. Ein Teil davon gründete die so genannte Freiheitsinitiative. Diese kritisiert in ihren Erklärungen den aktuellen Friedenskurs der PKK und spart dabei auch den Vorsitzenden Abdullah Öcalan nicht aus. Die genaue Anzahl der Kritiker ist bisher nicht bekannt. 3.4.3 National Demokratische Initiative Kurdistans Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von in Europa ansässigen kurdischen "Intellektuellen", zumeist ehemalige Funktionäre der PKK, die jetzt außerhalb der Organisation stehen. Die Initiative ist bislang mit verschiedenen Erklärungen an die Öffentlichkeit getreten. Darin werden die PKK-Mitglieder unter anderem aufgefordert, sich von Abdullah Öcalan zu distanzieren. 3.5 Aktivitäten und Gewalttaten Trotz des seit 1993 verfügten Verbots führten PKK-Anhänger erneut deutschlandweit eine Reihe von Veranstaltungen durch, die in der Regel friedlich verliefen, das nach wie vor vorhandene Mobilisie- 166 Ausländerextremismus rungspotenzial der Organisation jedoch eindrucksvoll dokumentierten. In Bayern wurden vereinzelte Verdachtsfälle von Spendengelderpressungen bekannt, bei denen ein PKK-Zusammenhang anzunehmen ist. Die Polizei musste insbesondere bei Veranstaltungen mehrfach wegen Straftaten nach dem Vereinsgesetz einschreiten. Mehr als 16.000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet darunter mehrere hundert aus Bayern und dem benachbarten Ausland nahmen am 27. Januar in Köln an einer vom Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen in der Türkei (DETUDAK) und der PKK-nahen Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) organisierten Veranstaltung teil. Durch die starke Präsenz von PKK-Aktivisten wurde das Hauptthema "Solidarität mit den politischen Gefangenen in der Türkei", um die Themen "Auseinandersetzung PKK und PUK", das "Schicksal Abdullah Öcalans" sowie die "Lösung der Kurdenfrage" erweitert. Kleine Solidaritätskundgebungen für die Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen hatten bereits am 5. und 6. Januar in München, Nürnberg und Regensburg stattgefunden. Aus Anlass des 2. Jahrestags der Ergreifung Abdullah Öcalans und seiner Verbringung in die Türkei (15. Februar) führte die PKK vom 14. bis 17. Februar bundesweit Aktionen durch, in Bayern unter anderem in München und Nürnberg. In zahlreichen Städten wurden Mahnwachen, Informationsstände, Menschenketten, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, die im Wesentlichen störungsfrei verliefen. Am 26. Februar wurde in Köln auf offener Straße der ehemalige Verantwortliche für das PKK-Gebiet Bielefeld durch einen unbekannten Täter mit einem Messer angegriffen. Der ehemals unter dem Decknamen "Emin" für die PKK konspirativ tätige Funktionär erlitt mehrere Stichverletzungen, unter anderem im Gesicht. Im Vorfeld der Tat hatte sich am 25. Februar ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit der Polizei in Kassel offenbart und erklärt, dass er sich als so genannter "PKK-Aussteiger" bedroht fühle. Er deutete zudem an, dass ein hochrangiger PKK-Aktivist mit dem Decknamen "Emin" aus Bielefeld als "PKK-Aussteiger" bestraft werden solle. Angesichts der Tatumstände kommt auch eine "Bestrafungsaktion" der PKK in Betracht. Der Hinweisgeber übte zumindest von Oktober 1994 bis zu seiner Festnahme am 25. März 1995 in München wegen des Verdachts der versuchten räuberischen Erpressung (Spendengelderpressung für die PKK) die Funktion des stellvertretenden Leiters Ausländerextremismus 167 des PKK-Gebiets München aus. Als fungierender Führungskader der PKK wurde er als einer der Auftraggeber eines Brandanschlags auf ein türkisches Reisebüro am 28. Februar 1995 in München, im Juni 1997 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die PKK-Anhänger feierten am 20. März das Newroz-Fest (kurdisches Neujahrsfest) mit Veranstaltungen in Nürnberg und München. Daran beteiligten sich insgesamt etwa 220 Personen. Die Polizei leitete wegen Skandierens verbotener Parolen bei beiden Kundgebungen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Vereinsgesetz ein und stellte die Personalien der mutmaßlichen Täter fest. Am 22. Juli wurde bei der Kriminalpolizei in Augsburg Anzeige gegen einen mutmaßlichen PKK-Aktivisten erstattet da er einen Landsmann zu einer Zahlung von 5.000 DM für "die kurdische Sache" aufgefordert haben soll. Der Spendengelderpresser wird ferner beschuldigt, sein Opfer zur Bekräftigung der Forderung körperlich misshandelt und ihn und seine Familie bedroht zu haben. Bereits im April und Mai waren in Hallstatt, Landkreis Bamberg, und Unterschleißheim, Landkreis München, zwei weitere versuchte Spendengelderpressungen zugunsten der PKK bekannt geworden. Unter dem Motto "Lasst uns gemeinsam den Frieden säen!" fand am 1. September im Müngersdorfer Stadion in Köln das 9. Internationale Kurdistan-Kulturfestival mit mehr als 45.000 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland statt. Der Vorsitzende der PKK-nahen Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) moderierte die Veranstaltung. Dabei wurde unter anderem die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland gefordert sowie der bisherige Verlauf der PKK-Identitätskampagne als großer Erfolg bewertet. Zur Eröffnung der Verhandlung in dem vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan angestrengten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gegen sein Todesurteil übergaben dessen Anwälte am 28. September umfangreiche Beschwerdeschriften. Um ihre Solidarität mit dem inhaftierten Kurdenführer zu bekunden, demonstrierten PKK-Anhänger im Bundesgebiet sowie dem benachbarten Ausland. In Düsseldorf ketteten sich nach Polizeiangaben 12 kurdische Frauen in Begleitung zweier Kinder in der Innenstadt vor einem Kaufhaus mit stählernen Handfesseln an 168 Ausländerextremismus Fahrradständer an und skandierten Parolen wie "Es lebe Öcalan" und "Es lebe PKK". Rund 600 Anhänger der PKK aus der gesamten Region Bayern gedachten in Nürnberg am 24. November zentral in einer als "Kulturveranstaltung" getarnten Feierlichkeit des "Gründungstags" der Organisation (27. November 1978). Der amtierende PKK-Gebietsverantwortliche für Nordbayern verlas eine Erklärung der Kurdischen Demokratischen Volksunion (YDK - vormals ERNK), in der die Parteigründung als herausragendes Ereignis für das kurdische Volk gewürdigt wurde. Über der Bühne befand sich ein Spruchband mit der Aufschrift "23. Yilda Zafere Daha Yakin". Mit diesem Motto (sinngemäß übersetzt: 23. Jahr - der Sieg rückt noch näher) wurde auch auf den im Vorverkauf angebotenen Eintrittskarten geworben. Diese wurden von der Polizei beanstandet, da auf ihnen ein Symbol der verbotenen PKK-Teilorganisation Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) abgebildet war. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz wurde eingeleitet. 3.6 Strafverfahren und Exekutivmaßnahmen Das Landgericht Dresden verurteilte am 23. Januar einen 37-jährigen PKK-Funktionär wegen Anstiftung zur gemeinschaftlichen Geiselnahme zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Als Regionsverantwortlicher von Berlin hatte er im Februar 1999 dem PKK-Gebietsleiter von Sachsen die Weisung erteilt, anlässlich der Festnahme des PKK-Generalvorsitzenden Abdullah Öcalans in Nairobi/Kenia das griechische Generalkonsulat in Leipzig zu besetzen. Während dieser Besetzung wurden drei Personen als Geiseln genommen. Der Verurteilte wurde im Oktober 1999 in Paris/Frankreich festgenommen und im Januar 2001 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Am 8. Februar verurteilte das Landgericht München einen 25-jährigen PKK-Aktivisten wegen Verstoßes gegen das Vereinsverbot zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung. Der Verurteilte war unter dem Decknahmen "Cebrail" von Mai 1999 bis Mai 2000 als Gebietsleiter der PKK für München tätig gewesen. Am 27. März wurde ein mutmaßlicher PKK-Aktivist von Kroatien an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Er war aufgrund einer internationalen Fahndung im September 2000 bei der Einreise nach Ausländerextremismus 169 Kroatien festgenommen worden und befand sich seitdem in Auslieferungshaft. Auf dem Luftweg wurde der Tatverdächtige nach Hamburg verbracht und dem dortigen Haftrichter vorgeführt, der Untersuchungshaft anordnete. Das Oberlandesgericht Hamburg verurteilte ihn am 2. Januar 2002 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Er wurde für schuldig befunden, am 25. Februar 1986 in Hamburg im Auftrag der Organisation einen PKK-Aussteiger ermordet zu haben. Das Landgericht Bremen verurteilte am 4. April im so genannten "Bunkermordprozess" vier Kurden wegen Totschlags in zwei Fällen bzw. Beihilfe zum Totschlag zu Freiheitsstrafen von neun Jahren und sechs Monaten bis zu 15 Jahren. Dem Urteil zufolge hatte der damalige Gebietsverantwortliche der PKK in Bremen die Tötung eines Ehepaars, das gegen den Willen seiner Familien und ohne Erlaubnis der Organisation nach moslemischen Ritus geheiratet hatte, angeordnet. Die Leichen des Ehepaars waren am 24. August 1999 auf dem Gelände des ehemaligen Bremer U-Boot-Bunkers "Valentin" aufgefunden worden. Die Getöteten waren PKK-Aktivisten bzw. Sympathisanten. Am 23. Mai verurteilte das Oberlandesgericht Celle einen hochrangigen PKK-Funktionär zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Vertreter der Anklage hatten ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen und kriminellen Vereinigung sowie die Anordnung von zwei Besetzungsaktionen im Zusammenhang mit der Festnahme von Abdullah Öcalan im Februar 1999 vorgeworfen. Der Verurteilte war seit 1990 sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Staaten als führender PKK-Funktionär aktiv gewesen. In Deutschland hatte er zeitweise die PKK-Regionen Nord und Süd geleitet. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 20. Juni einen PKK-Funktionär wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung zu zwei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe. Er war beschuldigt worden, in der Zeit von Mai 1999 bis November 1999 die PKK-Region Mitte in Deutschland und ab Dezember 1999 bis zu seiner Festnahme am 30. März 2000 den Sektor Deutschland der PKK geleitet zu haben. Seit dem 18. September steht der ehemalige Verantwortliche der PKK-Region Nord-West in Düsseldorf vor Gericht. Der Funktionär war am 28. August vergangenen Jahres in Köln durch Beamte des Bundeskriminalamts aufgrund eines bestehenden Haftbefehls festgenommen worden, unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der nach Aussage der Staats- 170 Ausländerextremismus anwaltschaft zur europäischen Führungsriege der Arbeiterpartei Kurdistans zählende Kader soll nach der Festnahme des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 Besetzungsaktionen von PKK-Anhängern in Düsseldorf, Köln und Bonn koordiniert haben. Im Landkreis Traunstein wurde am 6. November ein ehemaliger hochrangiger Funktionär der PKK festgenommen. Der nunmehrige PKK-Dissident mit Wohnsitz in Essen war einer der Mitbegründer der PKK. Er war ihm Rahmen einer Kontrolle von Polizeikräften des Bayerischen Landeskriminalamts und des Polizeipräsidiums Oberbayern im Zusammenhang mit einer versuchten Schleusung von vier Personen aufgegriffen worden. Aufgrund seines festen Wohnsitzes wurde er nach Beschuldigtenvernehmung und erkennungsdienstlicher Behandlung wieder entlassen. Der als Journalist tätige Beschuldigte ist Verfasser mehrerer Publikationen, die sich zum Teil äußerst kritisch mit dem derzeitigen Kurs der PKK auseinandersetzen. Er sei deshalb von der Organisation - nach seinen Angaben - bereits massiv unter Druck gesetzt worden. 4. Arabische Gruppen 4.1 Internationale Islamische Front Arabischer Mudschahedin (Al Qaeda/Usama Bin Laden) Für die Terroranschläge vom 11. September in den USA ist die Internationale Islamische Front Arabischer Mudschahedin (Al Qaeda) des Usama Bin Laden verantwortlich. Wegen der besonderen Bedeutung dieser Organisation und des Zusammenhangs mit den Anschlägen sind die Ausführungen zur Al Qaeda im nachfolgenden 6. Abschnitt zusammengefasst. 4.2 Muslimbruderschaft (MB) in der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.200 200 Gründung: 1928 in Ägypten Die von Hassan Al-Banna in Ismailija/Ägypten gegründete sunnitisch-extremistische MB ist eine multinationale Organisation, bei der Ausländerextremismus 171 eine Unterteilung in nationale Sektionen mit unterschiedlichen Tendenzen, insbesondere in der Gewaltfrage, erkennbar ist. Ziel der MB ist unter anderem die Errichtung islamistischer "Gottesstaaten". Die Grundideologie der MB ist in der gesamten muslimischen Welt verbreitet. In ihrem Ursprungsland Ägypten ist die MB verboten; sie wird jedoch inzwischen geduldet. Insbesondere in Wohlfahrtsorganisationen verfügt sie über großen Einfluss. Offiziell haben sich die meisten Zweige von der Gewalt abgewandt. Die Selbstmordattentate ihres palästinensischen Zweigs "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) zeigen aber, dass in der MB Gewalt weiterhin als legitimes politisches Mittel betrachtet wird. Die Anhänger der MB in Deutschland sind bemüht, sich in der Öffentlichkeit als eine gegenüber der deutschen Rechtsordnung loyale muslimische Interessenvertretung darzustellen. Vorbehalte gegenüber den westlichen Demokratien, auch gegenüber der Staatsund Gesellschaftsordnung in Deutschland, kommen in öffentlichen Verlautbarungen nur selten zum Ausdruck. Als deutsche Zentrale der MB gilt die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD). Der IGD sind mehrere Islamische Zentren in Deutschland nachgeordnet. Sie hat ihren Sitz im Islamischen Zentrum München. Die IGD steht unter maßgeblichem Einfluss des ägyptischen Zweigs der MB. Präsident der IGD war bis vor kurzem Dr. Ghaleb Himmat, ein in der Schweiz lebender Syrer. Er ist Mitglied des Vorstands der Firma Al Taqwa in Lugano/Schweiz, deren Firmenräume im November von der Polizei durchsucht wurden. Al Taqwa soll nach US-Angaben Millionenbeträge für die Al Qaeda verschoben haben. Generalsekretär der IGD ist der in der Nähe von München wohnhafte Ägypter Ahmed El Khalifa. Nach außen tritt er Emblem als gemäßigter Muslim auf, der das Gespräch mit allen gesellschaftder MB lichen Kreisen sucht. Intern erweist er sich jedoch als harter, unnachgiebiger Islamist. Seinen Vorstellungen zufolge soll Deutschland ein vom Islam geprägter Staat werden. Viele Mitglieder und Funktionäre der IGD und der Islamischen Zentren stehen der MB und deren Zielsetzung nahe. Deshalb waren aus den Islamischen Zentren wie in den Vorjahren Verlautbarungen und Aufrufe zu vernehmen, die mit der offiziellen gemäßigten Linie der IGD nicht übereinstimmten, sondern die Nähe zur MB verdeutlichten. So referierte am 18. August bei einer Veranstaltung im Islamischen Zentrum Nürnberg (IZN) ein aus Saudi-Arabien stammender Scheich 172 Ausländerextremismus zum Thema "Jihad". Er betonte, dass sich alle Muslime im Krieg gegen Israel befänden; Jerusalem müsse befreit werden. Dringend geboten sei auch ein Boykott gegen alle israelischen und amerikanischen Waren. Die arabischen Völker müssten sich gegen USA-hörige arabische Führer mittels einer "Intifada" auflehnen. 4.3 Islamische Heilsfront (FIS) - algerischer Zweig der MB Deutschland Bayern Mitglieder: 300 45 Gründung: 1989 in Algerien Publikation: Al-Ribat (Das Band) Die FIS ist der algerische Zweig der international tätigen Muslimbruderschaft (MB). Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Staatswesens in Algerien. Als sie 1992 in Algerien verboten wurde, gingen zahlreiche FIS-Funktionäre ins Ausland. Der Leiter der "Exekutivinstanz der FIS im Ausland", Rabah Kebir, hält sich in Deutschland auf. Nach dem Verbot waren die FIS und ihr militärischer Arm "Islamische Heilsarmee" (AIS) für zahlreiche Terroranschläge in Algerien verantwortlich. Seit Oktober 1997 halten sie an dem damals einseitig erklärten Waffenstillstand fest. In Bayern entwickelten die FIS-Anhänger keine öffentlichen Aktivitäten. 4.4 Hizb Allah (Partei Gottes) Deutschland Bayern Mitglieder: 800 Einzelpersonen Gründung: 1982 im Libanon Sitz: Münster Publikation: Al-Ahd (Die Verpflichtung) Die Hizb Allah (auch: Hisbollah/Hizbollah) ist eine auf Initiative des Iran gegründete schiitische Partei, die seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten ist. Sie wird vom Iran finanziell, materiell und ideologisch unterstützt. Zu ihr gehören verschiedene Wohlfahrtsorganisationen sowie der "Islamische Widerstand" (Muqawame Islamiya), der Ausländerextremismus 173 als militärischer Arm der Organisation insbesondere den bewaffneten Kampf gegen israelische Militäreinheiten im libanesisch-israelischen Grenzgebiet führte. Bis Mai 2000 war die von Israel seit 1978 besetzte "Sicherheitszone" im Südlibanon Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen. Zum "1. Jahrestag" des israelischen Rückzugs aus der "Sicherheitszone" im Südlibanon fanden in verschiedenen Städten Deutschlands Gedenkfeiern statt. Bei einer Veranstaltung am 25. Mai in der schiitischen Moschee in der Münchener Innenstadt erinnerte ein Redner die rund 100 Zuhörer an den opfervollen Kampf der Helden des "Islamischen Widerstands", die Israel bezwungen hätten. Ihr Sieg sei ein Signal für die anderen islamischen Länder. Der Kampf müsse nunmehr entsprechend dem erklärten Ziel des iranischen Revolutionsführers Khomeini solange fortgesetzt werden, bis mit der Befreiung von Jerusalem die islamische Revolution vollendet sei. Die Rede endete mit einem Gruß an alle islamischen Märtyrer und Kämpfer in der Welt. Derselbe Redner verurteilte bei einer Freitagsansprache die Anschläge vom 11. September in den USA und bezeichnete ein solches Vorgehen als "un-islamisch". Die von der Hizb Allah früher geforderte Errichtung einer "Islamischen Republik" im Libanon nach dem Beispiel des Iran genießt heute formal keine Priorität mehr. Vielmehr bekundete die Organisation ihre Bereitschaft, sich in das politische System des Libanon zu integrieren, um durch politische Aktivitäten gesellschaftliche Veränderungen im Libanon herbeizuführen. In Deutschland ist die Führung der Hizb Allah weiterhin bestrebt, die Anhängerschaft neu zu organisieren. Diesem Zweck dienen auch häufige Besuche hochrangiger Funktionäre und islamischer "Geistlicher". 5. Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) Deutschland Bayern Mitglieder: 900 100 Aktivisten 300 Sympathisanten Gründung: 1981 in Paris Sitz: Köln Publikationen: Modjahed (Kämpfer), Freiheit für Iran 174 Ausländerextremismus Der NWRI wurde unter Federführung der islamisch-extremistischen Volksmodjahedin als Zusammenschluss iranischer oppositioneller Gruppierungen gegründet. Im August 1993 schuf der NWRI ein Exilparlament und rief die Generalsekretärin der Volksmodjahedin, Maryam Radjavi, zur "künftigen Präsidentin des Iran" aus. Der NWRI unterhält im iranisch-irakischen Grenzgebiet eine mehrere tausend Kämpfer zählende Rebellenarmee, die Nationale Befreiungsarmee (NLA). Trotz umfangreicher propagandistischer Aktivitäten verliert der NWRI - entgegen eigener Darstellung - an Bedeutung. Ursache hierfür ist insbesondere die bei der iranischen Bevölkerung populäre Politik der Regierung Khatami, die den ohnehin geringen Zuspruch der Volksmodjahedin in der iranischen Bevölkerung sowie unter den im Ausland lebenden Iranern weiter mindert. Die Volksmodjahedin sind innerhalb der iranischen Exilopposition seit Jahren isoliert, da sie für sich in Anspruch nehmen, "einzige demokratische Alternative" zum iranischen Regime zu sein. Tatsächlich weist die Organisation jedoch selbst ein erhebliches Demokratiedefizit auf, das mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft gepaart ist. Belege hierfür sind die streng hierarchisch ausgerichtete Kaderstruktur verbunden mit einem sektenartigen Führerkult um das Ehepaar Massoud und Maryam Radjavi, die Propagierung von Gewalt als legitimes Mittel zum Sturz der iranischen Regierung sowie die Durchführung von terroristischen Anschlägen im Iran gegen Repräsentanten des Staates. In Deutschland führt der NWRI zur Finanzierung seiner Aktivitäten umfangreiche, meist illegale Sammlungen durch. Die angeblich für humanitäre Zwecke bestimmten Gelder dienen in Wirklichkeit dem Unterhalt der weltweiten Strukturen der Volksmodjahedin sowie wohl auch der Unterstützung der NLA. Die hauptsächlich in Asylbewerberheimen angeworbenen Aktivisten der Volksmodjahedin sammeln seit Jahren oft unter Verstoß gegen ihre Aufenthaltsbeschränkung und ohne Sammlungserlaubnis. Um die Verwendung der Spenden für den auch mit terroristischen Mitteln geführten Kampf der Volksmodjahedin weitgehend zu verschleiern, bedient sich der NWRI insbesondere folgender auch in Bayern aktiver Tarnvereine: - Flüchtlingshilfe Iran e.V. (FHI) - Iranische Moslemische Studentenvereinigung in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (IMSV) Ausländerextremismus 175 - Frauen für Demokratie im Iran e.V. - Verein Iranischer Demokratischer Akademiker e.V. (VIDA) - Hilfswerk für Kinder e.V. Die Sammler treten meist in kleinen Gruppen von bis zu vier Personen auf. Spender werden unter dem Vorwand der Zusendung einer Spendenbescheinigung veranlasst, persönliche Daten bekannt zu geben. In der Folgezeit werden diese Personen bei Hausbesuchen zur Übernahme von Kinderpatenschaften gedrängt, wobei die jährlichen Kosten rund 4.800 DM pro Kind betragen. Oft bleibt es aber nicht dabei, weil sich manche Spender durch die Behauptung der Existenz weiterer Geschwister zur Zahlung weitaus höherer Beträge überreden lassen. Die geschulten Sammler halten regelmäßigen Kontakt zum Spender. Dieser erhält auch Fotografien und übersetzte Dankesschreiben mit Informationen über das vermeintlich unterstützte Kind. Bei weiteren Besuchen wird beim Spender durch Hinweise auf seine Verantwortung für das Kind ein erheblicher psychologischer Druck erzeugt. Polizeilich sichergestellten Unterlagen ist zu entnehmen, dass eine systematische planmäßige Erfassung von Persönlichkeitsprofilen der Spender stattfindet. Diese Praxis, nicht zuletzt aber auch die bei Spendensammlungen festgestellten Manipulationen wie unverplombte Sammelbüchsen oder verfälschte Überweisungsträger, lassen den Schluss zu, dass der NWRI nicht vorwiegend am Wohl iranischer Kinder, sondern mehr an der Finanzierung seines politischen Kampfs interessiert ist. Die "Flüchtlingshilfe Iran e.V." (FHI) führte am 8. Februar in München eine illegale Haussammlung durch. Dabei konnten zwei NWRI-Anhänger aus Köln und London festgenommen werden, die einen Geschäftsmann in München um eine Spende ersucht hatten. Die Polizei stellte umfangreiches Beweismaterial sicher und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Betrugs und Verstoßes gegen das Bayer. Sammlungsgesetz ein. Der NWRI und seine Hilfsorganisationen erhalten in Bayern grundsätzlich keine Sammlungserlaubnis. Ferner veranstaltete der NWRI weltweit so genannte "Gerichtsverhandlungen", in denen seine Anhänger über Menschenrechtsverletzungen im Iran berichteten. Die gesammelten "Zeugenaussagen" 176 Ausländerextremismus sollen als Protest gegen die iranische Regierung an die UNO weitergeleitet werden. In Deutschland fanden solche Veranstaltungen unter anderem in Hamburg, Karlsruhe, Köln und Nürnberg statt. In Bayern führte der NWRI im April und Mai Unterschriftenaktionen vor dem Bayerischen Landtag in München durch, bei denen Landtagsabgeordnete gebeten wurden, mit ihrer Unterschrift gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran zu protestieren. Ausländerextremismus 177 6. Übersicht über erwähnenswerte extremistische Organisationen von Ausländern sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) 1. Arabische und algerische Gruppen Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) Al Hourriah (Die Freiheit) marxistisch-leninistisch - wöchentlich - Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) Al Hadaf (Das Ziel) marxistisch-leninistisch - wöchentlich - Democratic Palestine - zweimonatlich - Volksfront für die Befreiung Palästinas Ila-Al-Amam (Vorwärts) -Generalkommando(PFLP-GC) - wöchentlich - marxistisch-leninistisch Hizb Allah (Partei Gottes) Al-Ahd (Die Verpflichtung) schiitisch-extremistisch - wöchentlich - Muslimbruderschaft (MB) Risalatul-Ikhwan Zentrale: Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD) - wöchentlich - sunnitisch-extremistisch Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) und Islamischer Bund Palästina (IBP) sunnitisch-extremistisch Islamische Heilsfront (FIS) Al Ribat (Das Band) sunnitisch-extremistisch - wöchentlich - Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) Al-Jamaa (Die Gruppe) sunnitisch-extremistisch - monatlich - Al Quital (Die Schlacht) - wöchentlich - Al-Gamaa Al-Islamiya (GI) sunnitisch-extremistisch Jihad Islami (JI) sunnitisch-extremistisch Internationale Islamische Front und Al-Qaeda sunnitisch-extremistisch 178 Ausländerextremismus Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) 2. Iranische Gruppen Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) Modjahed (Kämpfer) Sitz: Köln - wöchentlich - Freiheit für Iran - unregelmäig - Iranische Moslemische Studenten-Vereinigung Bundesrepublik Deutschland e.V. (IMSV) Sitz: Köln islamisch-extremistisch Union islamischer Studentenvereine in Europa (U.I.S.A.) Qods (Jerusalem) islamisch-extremistisch - unregelmäßig - 3. Kurdische Gruppen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Serxwebun (Unabhängigkeit) marxistisch-leninistisch - monatlich - (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) Kurdistan-Report - zweimonatlich - Teilorganisationen der PKK: Volksverteidigungskräfte bisher: Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) Kurdische Demokratische Volksunion (YDK) bisher: Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) Nebenorganisationen der PKK: Kurdistan-Komitee e.V., Köln (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) Kurdistan Informationsbüro in Deutschland (KIB) (am 02.03.1995 verboten) Föderation der patriotischen Arbeiterund Kulturvereinigungen aus Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (FEYKA-Kurdistan) (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) Kurdistan Informations-Zentrum (KIZ) Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) Haus der kurdischen Künstler e.V. (bisher: HUNERKOM) Ausländerextremismus 179 Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) Partei der freien Frauen (PJA) Jina Serbilind (Die stolze Frau) bisher: Union der freien Frauen aus Kurdistan (YAJK) - vierteljährlich - Union der Journalisten Kurdistans (YRK) Union der patriotischen Arbeiter Kurdistans (YKWK) Union zur Pflege der kurdischen Kultur und Kunst (YRWK) Welate Me (Unsere Heimat) Union der Jugendlichen aus Kurdistan (YCK) Sterka Ciwan (Stern der Jugend) - zweimonatlich - Verband der StudentInnen aus Kurdistan (YXK) Ronahi (Licht) - dreimonatlich - Union der Aleviten aus Kurdistan (KAB) Zülfikar - monatlich - Islamische Bewegung Kurdistans (KIH) Baweri (Glaube) Kurdischer Roter Halbmond (HSK) Roja Kurdistane (Sonne Kurdistans) 4. Türkische Gruppen 4.1 Linksextremisten Türkische Kommunistische Partei/ Isci-Köylü Kurtulusu Marxisten-Leninisten (TKP/ML) (Arbeiter-Bauern-Befreiung) - unregelmäßig - Partizan-Flügel Özgur Gelecek (Freie Zukunft) - vierzehntägig - DABK-Flügel Devrimci Demokrasi (Ostanatolisches Gebietskomitee) (Revolutionäre Demokratie) Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) Frontorganisation der TKP/ML Basisorganisationen der TKP/ML: Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) Sitz: Duisburg -Partizan-FlügelFöderation der demokratischen Rechte in Deutschland (ADHF) -DABK-Flügel- 180 Ausländerextremismus Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) Mücadele (Kampf) -Partizan-Flügel- - unregelmäig - Konföderation der demokratischen Rechte in Europa (ADHK) -DABK-FlügelBolschewistische Partei Nordkurdistan/Türkei Bolsevik Partizan (BP-KK/T) (Bolschewistischer Partisan) (Abspaltung von der TKP/ML) - monatlich - Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) in Deutschland seit 09.02.1983 verboten; nach dem Verbot in zwei Fraktionen (Karatasbzw. Yagan-Flügel) zerfallen Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Özgür Vatan (Freie Heimat) aus dem Karatas-Flügel der Devrimci Sol hervorgegangen; - wöchentlich - in Deutschland seit 13.08.1998 verboten Türkische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) Devrimci Cözüm (Revolutionäre aus dem Yagan-Flügel der Devrimci Sol hervorgegangen; Lösung) in Deutschland seit 13.08.1998 verboten - monatlich - Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei Yasamda Atilim (MLKP) (Der Vorstoß im Leben) - wöchentlich - Basisorganisation der MLKP: Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei Partinin Sesi (Stimme der Partei) in Deutschland e.V. (AGIF) - zweimonatlich - 4.2 Extreme Nationalisten Föderation der Türkisch-Demokratischen Türk Federasyon Bülteni Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) - monatlich - Sitz: Frankfurt am Main 4.3 Islamische Extremisten Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) Publizistisches Sprachrohr: Sitz: Köln Milli Gazete (Nationale Zeitung) - täglich - Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) Ümmet-i Muhammed (Die Gemeinde bisher: Verband der islamischen Vereine und Mohammeds) Gemeinden e.V. (ICCB) - wöchentlich - Sitz: Köln (seit 12.12.2001 verboten) Terroranschläge in den USA 181 6. Abschnitt Die Terroranschläge am 11. September in den USA und die Reaktionen extremistischer Gruppen 1. Die Terroranschläge vom 11. September in den USA Die Vereinigten Staaten wurden am 11. September durch mehrere schwere Terroranschläge erschüttert. Sie forderten etwa 3.000 Todesopfer, darunter 10 deutsche Staatsangehörige. Gegen 08.45 Uhr (Ortszeit) des 11. September flogen im Abstand von etwa 20 Minuten zwei Verkehrsflugzeuge in jeweils einen der beiden Türme des Welthandelszentrums (WTC) in New York; die Türme stürzten gegen 10.30 Uhr ein. Ein weiteres Verkehrsflugzeug stürzte auf das amerikanische Verteidigungsministerium (Pentagon) in Washington/DC. Wenig später wurde aus Pennsylvania der Absturz eines vierten Flugzeuges bekannt, in dem es einen Kampf zwischen den Passagieren und den Entführern gegeben hatte. Die Flugzeuge waren von jeweils vier bis fünf Tätern entführt worden. 19 Selbstmordattentäter wurden von der US-Bundespolizei FBI identifiziert. Sie hatten Messer als Waffen bei sich und drohten mit der Zündung einer Bombe. Einige der Entführer hatten in den USA eine Pilotenausbildung absolviert. Die Täter waren gut vorbereitet und wohl auch ideologisch geschult. Sie hatten neben der Pilotenausbildung auch Detailkenntnisse, so z.B. über die Lage des dem Flugkapitän zuzuordnenden Alarmknopfs und das Unterfliegen des Radarschirms. Die amerikanischen Ermittlungsbehörden und das Bundeskriminalamt gehen von der Verantwortung Usama Bin Ladens, dem Führer des Al Qaeda Netzwerks, für die Anschläge aus. Der Einsatz von Selbstmordattentätern, der Fanatismus der Täter, der hohe logistische Aufwand, die Zielrichtung der Anschläge sowie die Aussagen Usama Bin Ladens auf mehreren Videobändern beweisen seine Urheberschaft. Belege für die Verantwortung Bin Ladens sind außerdem Geldtransfers zwischen Konten des Attentäters Mohamed Atta und einem 182 Terroranschläge in den USA Mann namens Mustafa Ahmed. Ahmed ist der Deckname von Scheich Said, der bei Al Qaeda für die Finanzen zuständig ist. Finanzund Reisepapiere deuten auf die Schulung Attas in afghanischen Trainingslagern in den Jahren 1999 oder 2000 hin. Außerdem soll er sich in Ägypten mit führenden Mitgliedern der Al Qaeda getroffen haben. Mohammed Atef, ein enger Vertrauter Bin Ladens, ist bei einem Bombenangriff in Afghanistan am 15. November ums Leben gekommen; er dürfte der Planer der Attentate vom 11. September gewesen sein. Da die Attentäter der Al Qaeda von der Taliban-Regierung Afghanistans unterstützt wurden und die Anschläge einen Angriff auf einen Mitgliedsstaat der NATO darstellten, hat der NATO-Rat am 2. Oktober in Brüssel den Bündnisfall festgestellt. Gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags sind die NATO-Mitgliedsstaaten im Falle eines von außen geführten bewaffneten Angriffs auf das Gebiet eines Mitgliedsstaats der NATO zur gegenseitigen Unterstützung verpflichtet. Die EU-Kommission hat nach der am 4. Oktober erfolgten Zustimmung des Europaparlaments Bankguthaben von Gruppen und Personen mit Bezug zu Al Qaeda sperren lassen. Am 7. Oktober begannen US-Streitkräfte gegen 18.30 Uhr (MEZ) mit Bombenangriffen gegen Stellungen der Taliban und der Al Qaeda in Afghanistan. Mit Hilfe dieser Luftunterstützung gelang es der mit den USA kooperierenden Nordallianz innerhalb weniger Wochen, den überwiegenden Teil des Landes zu erobern. Am 7. Dezember kapitulierten die Taliban in Kandahar, der letzten von ihnen gehaltenen Stadt. Am 14. Dezember ergaben sich zahlreiche Al Qaeda-Kämpfer in Afghanistan in der Höhlenfestung Tora Bora. Usama Bin Laden konnte jedoch nicht gefasst werden. 2. Ermittlungen in der Bundesrepublik Deutschland Drei der von den USA ermittelten 19 Selbstmordattentäter hatten einen Wohnsitz in Deutschland. Es handelt sich hierbei um Mohamed Atta, Marwan Al Shehhi, und Ziad Jarrah, alle wohnhaft Hamburg. Atta und Al Shehhi haben an der technischen Universität in Hamburg studiert. An der Planung und Unterstützung der Attentate in den USA nahmen in Deutschland neben den oben genannten drei Personen vermutlich mindestens noch vier weitere Personen teil. Es sind dies Said Bahaji, Ramzi Binalshibh, Zakariya Essabar und Mounir Al-Motassadeq. Terroranschläge in den USA 183 Am 13. September leitete der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen Said Bahaji und weitere Personen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Mord und Angriffen auf den Luftverkehr ein. Das Verfahren wurde am 22. September auf Ramzi Binalshibh erweitert. Gegen die beiden Beschuldigten erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof am 20. bzw. 21. September Haftbefehl. Beide sind unbekannten Aufenthalts und zur Öffentlichkeitsfahndung ausgeschrieben. Am 18. Oktober wurde gegen Zakariya Essabar ebenfalls ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, auch er ist flüchtig. Nach mehrwöchiger Observation und Telefonüberwachung nahm das Bundeskriminalamt am 28. November in Hamburg den marokkanischen Staatsangehörigen Mounir Al-Motassadeq fest. Der Verhaftete soll mit den finanziellen Angelegenheiten der Terrorgruppe befasst gewesen sein. Belegbar sind getarnte Banküberweisungen zu den Attentätern in den USA. Er sorgte dafür, dass die Abwesenheit der in den USA befindlichen Täter in Hamburg niemandem auffiel. Das Testament des mutmaßlichen Anführers Mohammed Atta vom 11. April 1996 wurde von Al-Motassadeq als Zeuge unterzeichnet. 3. Internationale Islamische Front Arabischer Mudschahedin (Al Qaeda/ Usama Bin Laden) 3.1 Allgemeines Arabische Mudschahedin sind arabische "Glaubenskämpfer", die an den Kämpfen in Afghanistan oder Tschetschenien teilgenommen oder diese unterstützt haben und zuvor in Lagern ideologisch geschult und militärisch ausgebildet wurden. Die arabischen Mudschahedin sind nicht mit den Volksmodjahedin identisch. Die Volksmodjahedin sind ein Zweig der iranischen Exilopposition, der in Deutschland unter der Bezeichnung Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) auftritt. 3.2 Entstehung der Bewegung der arabischen Mudschahedin Die Anfänge der Mudschahedin reichen bis ins Jahr 1979 zurück, als sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten und das Land besetzten. Der Einmarsch löste weltweite Empörung aus. Innerhalb 184 Terroranschläge in den USA der afghanischen Volksgruppen entstanden zahlreiche Widerstandsgruppen, die mit der Taktik eines Guerillakampfs gegen die Besatzungstruppen vorgingen. Mit Unterstützung der USA, Pakistans und zahlreicher arabischer Staaten entstanden Rekrutierungsund Ausbildungslager für Widerstandskämpfer. In den arabischen Ländern wurden islamistische Freiwillige angeworben, die diese Ausbildungslager durchliefen und am Krieg teilnahmen. Von den Islamisten wurde der Kampf als Krieg gegen die Gottlosen interpretiert. Nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan im Jahr 1989 gerieten zunehmend die USA als einzig verbliebene Supermacht in das Blickfeld der arabischen Mudschahedin. Die USA wurden neben Israel zum ideologischen Hauptfeind. Zusammengeschweißt durch das gemeinsame Kriegserlebnis in Afghanistan bildete sich ein weltweiter Verbund arabischer Extremisten heraus. Ständig wurden neue Leute angeworben, auf ihre Zuverlässigkeit geprüft, ideologisch geschult und terroristisch ausgebildet. Besonders hoch angesehen sind jene Kämpfer, die in Afghanistan, Tschetschenien oder anderen Staaten für die islamische Sache gekämpft haben. Das so entstandene Netzwerk arabischer Mudschahedin besteht aus unabhängig voneinander operierenden Organisationen und Zellen. Die Verbindungen untereinander werden konspirativ unterhalten. Damit kann ein einfacher Anhänger die Hintermänner nicht erkennen. Da sich Islamisten als Angehörige der islamischen Gemeinschaft mit allen Muslimen verbunden fühlen, können sie sich sehr unauffällig bewegen. Es findet sich immer ein "Bruder", bei dem man wohnen kann. Potenzielle Terroristen finden deshalb weltweit logistische Unterstützung. 3.3 Usama Bin Laden Usama Bin Laden, 1957 geboren, stammt aus einer sehr reichen saudi-arabischen Unternehmerfamilie. Sein Vermögen wird auf 300 Millionen US-Dollar geschätzt; das Vermögen seiner Familie auf 38 Milliarden US-Dollar. Er reiste bereits 1979 nach Afghanistan, um den Widerstand gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Dort ließ er die notwendige Infrastruktur schaffen und stellte den kämpfenden Einheiten Geld für Waffen zur Verfügung. Bis zu 70.000 arabische Freiwillige sollen in seinen Lagern ausgebildet worden sein. Durch diese Tätigkeit entwickelte Bin Laden enge Kontakte zu islamistischen Gruppen in der gesamten muslimischen Welt. Terroranschläge in den USA 185 Usama Bin Laden sieht die USA als "Hort des Unglaubens", als "Kopf der Schlange" der abgeschlagen werden muss. Die arabische Welt wird in seinen Augen von Lakaien der USA und Israels regiert. Diese radikale Ansicht verfestigte sich während des Golfkriegs, als die saudi-arabische Regierung 20.000 US-Soldaten in ihrem Land stationieren ließ. Die Anhängerschaft Bin Ladens betrachtet die anhaltende Präsenz amerikanischer Truppen auf dem "ureigenen Boden des Islam" als Sakrileg, da der Prophet Mohammed auf seinem Totenbett die Vertreibung der Juden und Christen aus dem Land der heiligen Stätten befohlen habe. Deshalb erklärte Bin Laden dem Westen und seinen arabischen Verbündeten den Krieg. Im Jahr 1991 setzte er sich in den Sudan ab. Dort entfaltete er dank guter Regierungskontakte rege wirtschaftliche Aktivitäten. Anfang 1994 entstanden auf seine Veranlassung im Sudan Trainingslager für Gefolgsleute der algerischen GIA, der ägyptischen Gruppen Al Gamaa Al Islamiya und Jihad Islami sowie der libanesischen Hizb Allah und der palästinensischen HAMAS. Auf Druck des UN-Sicherheitsrats wurde er im Mai 1995 aus dem Sudan ausgewiesen. Er kehrte nach Afghanistan zurück und trug mit seinen Mudschahedin und seinen Finanzmitteln zur Machtübernahme der Taliban bei. Am 23. August 1996 rief Usama Bin Laden seine moslemischen Brüder in einer in der Form der Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) gehaltenen Erklärung zum "Jihad" ("Heiliger Krieg") gegen die USA auf, die das Land der zwei heiligen Moscheen besetzt hielten. Unter der Bezeichnung "Internationale islamische Front" veröffentlichte er am 23. Februar 1998 gemeinsam mit den verbündeten islamistischen Gruppen Jihad Islami (Ägypten), Al Gamaa Al-Islamiya (Ägypten), Harakat Ul-Ansar (Kaschmir) und Jihad Islami (Bangladesch) ein zweites "Rechtsgutachten", in dem zum Jihad gegen die USA, Israel und gegen die "Kreuzfahrer" aufgerufen wurde. Auch in den folgenden Jahren verbreiteten seine Anhänger Videos von ihm, in denen Opfer des Tschetschenienkriegs und des Palästinakonflikts zur Agitation verwendet wurden. Usama Bin Laden meldete sich nach den Terroranschlägen vom 11. September fünfmal mit Erklärungen zu Wort. Zunächst begrüßte er die Anschläge, bestritt jedoch seine Beteiligung. Später bezeichnete er das Welthandelszentrum als legitimes Ziel. Die Anschläge hätten sich nicht gegen Frauen und Kinder, son- 186 Terroranschläge in den USA dern gegen die Vertreter der ökonomischen Macht Amerika gerichtet. Anschließend bedrohte er den US-Präsidenten Bush und den britischen Premierminister Blair. Schließlich nannte er unter anderem auch Deutschland als mögliches Anschlagsziel. Usama Bin Laden gilt als Drahtzieher folgender weiterer terroristischer Gewalttaten: - Am 26. Februar 1993 wurden bei der Explosion einer Autobombe im Welthandelszentrum in New York sechs Personen getötet und rund 1.000 Personen verletzt. - Am 13. November 1995 starben sieben US-Soldaten in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad durch eine Autobombe. - Am 25. Juni 1996 verloren bei einem Terroranschlag auf US-Einheiten in Dhahran/Saudi-Arabien 19 Menschen ihr Leben, 547 wurden verletzt. - Am 7. August 1998 wurden bei nahezu zeitgleichen Sprengstoffanschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi/Kenia und Daressalam/Tansania 224 Personen getötet und mehrere tausend Menschen verletzt. - Am 12. Oktober 2000 starben bei einem Selbstmordanschlag auf das amerikanische Kriegsschiff USS Cole im Hafen von Aden/Jemen 17 amerikanische Soldaten. Es entstand Sachschaden in Höhe von 240 Millionen US-Dollar. Die USA haben die Belohnung für die Ergreifung Bin Ladens nach den Terroranschlägen vom 11. September von 5 Millionen US-Dollar auf 25 Millionen US-Dollar erhöht. Unter seinen Anhängern gilt Bin Laden als Kriegsheld und religiöse Autorität. Bereits vor der Verkündung des Urteils gegen vier seiner Anhänger in New York wegen der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania 1998 erklärte er in der Zeitung Asharq Al-Awsat vom 13. Mai, die westlichen Staaten müssten damit rechnen, dass Vergeltung für die Unschuldigen verlangt werde. Für die Terrorangriffe, die Usama Bin Laden und der von ihm geleiteten Organisation Al Qaeda zuzurechnen sind, ist eine lange komplexe Planung und eine relativ einfache Tatausführung kennzeichnend. Die Bomben für die Terroranschläge im Jahr 1998 in Afrika wurden in einer Garage zusammengebaut. Der Anschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole im Oktober 2000 wurde von einem mit Sprengstoff belade- Terroranschläge in den USA 187 nen Schlauchboot aus ausgeführt. Die Täter der Terroranschläge vom 11. September waren lediglich mit Messern bewaffnet. Der Gegensatz zwischen den primitiven Mitteln und der maximalen Zerstörung ist auffällig. In der Folge der Anschläge von 1993 bis 2001 wird eine Eskalation sichtbar. Jeder nachfolgende Anschlag zielte auf eine größere Zerstörungswirkung als die vorangegangenen Gewalttaten. In einem von Al Qaeda-Leuten beim Vordringen der Nordallianz fluchtartig geräumten Gebäude Kabuls fand man Literatur über die Herstellung von ABC-Waffen. Dies belegt, dass die Drohung Bin Ladens, gegebenenfalls mit Nuklearwaffen oder Krankheitserregern zurückzuschlagen, einen ernsten Hintergrund hat. Nachweislich haben sich seine Experten mit dieser Problematik beschäftigt. Allerdings dürfte seinen Anhängern bisher das notwendige Spezialwissen fehlen. 3.4 Al Qaeda (Die Basis) und das internationale Netzwerk Für seine politischen Ziele gründete Bin Laden in den 80er Jahren die Organisation Al Qaeda. Ziel war es ursprünglich, für die Mudschahedin in Afghanistan logistische Unterstützung zu leisten. In den Medien wird gelegentlich die gesamte Anhängerschaft Bin Ladens als Al Qaeda bezeichnet. Die Struktur der Al Qaeda besteht aus verschiedenen Komitees bzw. Ausschüssen. Es gibt einen Schura-Rat, ein Religionskomitee, ein Militärkomitee und ein Komitee, das die wirtschaftlichen Aktivitäten überwacht. Der Chef des Militärkomitees Mohamed Atef kam Mitte November bei Kampfhandlungen in Afghanistan ums Leben. Auch der Finanzbeauftragte Ali Mahmoud soll dort einem Bombenangriff zum Opfer gefallen sein. Die Zahl der Anhänger der Organisation wird auf 1.500 bis 3.000 Personen geschätzt. Al Qaeda hat Zweigstellen und Verbindungen in 60 Ländern der Welt. Sie agiert wie die Holding eines multinationalen Konzerns. Das Hauptkennzeichen dieser Vereinigung ist die Verknüpfung moderner Management-Methoden mit einer islamistischen Jihad-Ideologie. Das Netzwerk delegiert sowohl in seinem wirtschaftlichen als auch in seinem terroristischen Zweig Verantwortung und trifft Zielvereinbarungen. Es ist anzunehmen, dass manche Angehörige nicht wissen, für wen sie letztlich arbeiten. Mit Al Qaeda verbündete islamistische Gruppen und Zellen sind nur über einzelne Vertrauenspersonen verknüpft. Jeder weiß über kriminelle Aktivitäten nur das, was er zur Aufgabenerfüllung wissen muss. Der engere Kreis ist durch einen Treueschwur (Bayat) zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. 188 Terroranschläge in den USA Die Organisation hat vielfältige Einnahmequellen, unter anderem Drogenhandel, Schutzgelderpressung gegen Staaten, Diamantenhandel und das Abschöpfen islamischer Hilfsorganisationen. Das Vermögen wird auf 5 Milliarden US-Dollar, das Jahresbudget auf 20 bis 30 Millionen US-Dollar geschätzt. Am 7. November gingen die Sicherheitsbehörden in einer weltweit koordinierten Aktion gegen die beiden Finanznetzwerke Al Taqwa und Al Barakaat vor. In 40 Ländern wurden Verdächtige vernommen. Insgesamt wurden die Vermögenswerte von 62 Personen und Gruppen eingefroren. US-Regierungsvertreter bezifferten das beschlagnahmte Vermögen auf 26 Millionen US-Dollar. Die Firma Al Barakaat soll 1989 von einem Vertrauten Bin Ladens in Somalia gegründet worden sein. Diese Firma operierte nach dem so genannten Hawala-System (Vertrauen). Dabei werden Geldbeträge über Zwischenhändler von einem Land in das andere transferiert, ohne dass es Unterlagen über diese Überweisungen gibt. Die Provisionen der Al Barakaat sollen der Al Qaeda zugute gekommen sein. In Campione /Italien und in Lugano/Schweiz wurden die Villa des Vorstandsvorsitzenden der Al Taqwa, Mustafa Nada, und die Firmenräume der Gesellschaft durchsucht. Die Firma soll nach US-Informationen Millionenbeträge für die Al Qaeda verschoben haben. Ein Hauptaktionär von Al Taqwa ist Medienberichten zufolge Dr. Ghaleb Himmat, ein in der Schweiz lebender Syrer. Dr. Himmat war damals noch Präsident der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD), die unter maßgeblichem Einfluss des ägyptischen Zweigs der Muslimbruderschaft steht. In Deutschland sind nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft (Stand November 2001) 160 Konten mutmaßlicher Unterstützer des islamischen Terrorismus gesperrt. Die Behörden haben damit ein Vermögen von 8 Millionen DM eingefroren. Als eine Säule der mit Bin Laden verbundenen Firmen konnte auch die Wadi Al-Aqiq Holding in Khartum/Sudan identifiziert werden. Zu ihr gehören unter anderem eine Bank, eine Transportfirma, landwirtschaftliche Betriebe, eine Baufirma, und eine Investmentgesellschaft. 3.5 Die Entwicklung in Europa In den vergangenen Jahren galt Deutschland lediglich als Ruheraum, nicht jedoch als Operationsbasis oder Anschlagsziel. Die Festnahme des Mahmdoh Mahmoud Salim 1998 in München belegte aber Kon- Terroranschläge in den USA 189 takte mit in Deutschland lebenden Sympathisanten des internationalen Netzwerks arabischer Mudschahedin. Am 25./26. Dezember 2000 konnten in Frankfurt am Main fünf Personen algerischer Herkunft festgenommen werden, die kurz vor der Ausführung eines Bombenanschlags standen. Die Exekutivmaßnahmen führten zur Sicherstellung von Schusswaffen und erheblichen Mengen sprengfähigen Materials. Die Asservate deuten darauf hin, dass der bis zum 31. Dezember 2000 dauernde Weihnachtsmarkt in Straßburg Ziel des Anschlags sein sollte. Ausgehend von der Frankfurter Gruppe konnte eine weitere Gruppe in London erkannt werden. Außerdem bestätigten sich Verbindungen zwischen den Festgenommenen und einer Gruppierung in Mailand, die ihrerseits Kontakte nach München pflegte. Im Februar nahm die Polizei in London neun islamische Extremisten unter dem Verdacht, ein internationales terroristisches Netzwerk zu unterstützen fest. Gegen sechs der Festgenommenen ergingen Haftbefehle wegen Kreditkartenund Ausweisfälschung. Unter den Festgenommenen befand sich Omar Mahmoud Othman, genannt Abu Qatada. Er gilt als geistiger Führer der militanten islamischen Strömung "Takfir wa'l Hijra" und der "Salafyya-Gruppe für die Mission und den Kampf" (GSPC). Die Sicherheitsbehörden konnten bei den Durchsuchungen eine Vielzahl von Kreditkarten, Ausweispapieren spanischen, französischen, belgischen, slowakischen und deutschen Ursprungs, Geld in englischer, deutscher, französischer und spanischer Währung und Führerscheine aus verschiedenen Staaten sicherstellen. In einem Schreiben aus Indonesien an Abu Qatada wird um Geld zum Waffenkauf für den Jihad gebeten. Die Polizei durchsuchte am 4. April in einer international abgestimmten Aktion zeitgleich in Deutschland und Italien mehrere Wohnungen, unter anderem in Frankfurt am Main sechs Wohnungen und im Raum München/Freising zwei Wohnungen. In der Nähe von Mailand wurden fünf Araber, darunter der Tunesier Sami Ben Khamais Essid, genannt Saber, der als Schlüsselfigur dieser terroristischen Gruppe gilt, festgenommen. Nach Angaben aus Italien soll die Mailänder Gruppe unter anderem einen Anschlag auf die US-Botschaft in Rom geplant und den G-8-Gipfel in Genua im Visier gehabt haben. In Frankfurt am Main wurden der Algerier Abdel Kader, alias Bouzid alias Samir Karimou, unter dem Verdacht festgenommen, an den Anschlagsplanungen vom Dezember 2000 beteiligt 190 Terroranschläge in den USA gewesen zu sein. In Freising durchsuchte die Polizei die Wohnung des libyschen Staatsangehörigen Lased Ben Heni, der sich zu diesem Zeitpunkt im Ausland aufhielt. In München wurde der Iraker Thaer Mansour unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorübergehend festgenommen. In Alicante (Spanien) konnte die Polizei Mitte Juni den mutmaßlichen Anführer der Terrorgruppe festnehmen, die einen Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt geplant hatte. Er war zuvor in Berlin untergetaucht. Am 10. Oktober nahm die Polizei Ben Heni aufgrund eines italienischen Auslieferungsersuchens fest. Er wurde am 23. November den italienischen Behörden übergeben. Der Verhaftete stand bereits einige Zeit im Blickfeld der Sicherheitsbehörden. Es bestätigten sich Kontakte mit der im Dezember 2000 in Frankfurt am Main verhafteten Gruppe und Verbindungen zu Mitgliedern der in Italien verhafteten Mailänder Gruppe. Ben Heni gelangte über das Asylverfahren nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde am 16. August 1994 abgelehnt; da ein Abschiebungshindernis vorlag, erfolgte aber keine Abschiebung nach Libyen. Am 22. September 2000 erschien Ben Heni im deutschen Konsulat von Karatschi/Pakistan und gab an, seinen Pass verloren zu haben; außerdem sei sein Rückflugticket ungültig. Das Konsulat ermöglichte seinen Rückflug nach Deutschland. Es ist anzunehmen, dass Ben Heni im Fernen Osten eine terroristische Ausbildung absolvierte. Im März konnten italienische Sicherheitsbehörden ein Gespräch zwischen einem Mailänder Islamisten und einem unbekannten Tunesier dokumentieren, in dem unter anderem die Begriffe "Gasbombe", "Nägel" oder "schwierig" vorkamen. Bei dem vermeintlichen Tunesier soll es sich um Ben Heni gehandelt haben. Mehrere dokumentierte Gespräche belegen seine Einbindung in das internationale Netzwerk arabischer Mudschahedin. In einem dieser Gespräche erklärte er in Anspielung auf Usama Bin Laden: "Glaube mir: Der Scheich ist nicht nur Zuschauer. Er plant etwas. (...) Es ist kein kleines Ding, was er vorhat. (...) wenn du nach Kandahar fährst, dort in den Grotten - dort sind ja Arsenale, du kannst es dir nicht vorstellen. Massenweise Waffen jeder Art." Ben Heni hatte offensichtlich Zugang zu Zentren der Al Qaeda und kannte mehrere verdeckt operierende Zellen. Dies belegt seine wichtige Rolle. Terroranschläge in den USA 191 Die Ermittlungen gegen mutmaßliche Angehörige des Netzwerks arabischer Mudschahedin haben in Europa inzwischen zu Verhaftungen in Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich, Portugal, Spanien, Italien und Deutschland geführt. 3.6 Ausblick Die Entwicklung hat gezeigt, dass Anschläge auch in Deutschland nicht mehr ausgeschlossen werden können. Gefährdet sind insbesondere US-Einrichtungen, da die Vereinigten Staaten das Hauptangriffsziel der arabischen Mudschahedin sind. Hauptziele in der Vergangenheit waren diplomatische Vertretungen der USA und Einrichtungen der US-Armee. Die Anschläge vom 11. September sollten die Weltmacht USA demütigen. Die Urheber hofften, dass die Anschläge zu einer Konfrontation zwischen dem Westen und der muslimischen Welt führen würden. Der Tod zahlreicher Al Qaeda-Funktionäre und der rasche Zusammenbruch des Taliban-Regimes zeigen, dass die Terroristen die militärischen Möglichkeiten der USA unterschätzt und die Solidarität der Muslime mit dem Terrorismus überschätzt haben. Die Vernichtung der afghanischen Ausbildungslager hat Al Qaeda geschwächt. Damit ist der islamische Terrorismus jedoch noch nicht besiegt. Die Aufklärung der terroristischen Strukturen und die Strafverfolgung bleiben eine langfristige Aufgabe der Sicherheitsbehörden. 4. Reaktionen von Extremisten in Deutschland auf die Terroranschläge in den USA 4.1 Rechtsextremismus Die Reaktionen von Rechtsextremisten umfassten die gesamte Bandbreite des Meinungsspektrums zwischen entschiedener Ablehnung und uneingeschränkter Genugtuung, verbunden mit Bestrebungen, die aus den Terroranschlägen entstandene Stimmungslage in der deutschen Bevölkerung propagandistisch zu nutzen. Ein Großteil der Rechtsextremisten bedauerte den Tod unschuldiger Personen, relativierte diese Haltung aber vielfach mit Hinweisen auf die Opfer der Kriege, in die die USA verwickelt waren. Erkennbar wurde, dass die USA und die angeblich jüdisch dominierte Finanzwelt nach wie vor ein Hauptfeindbild der Rechtsextremisten sind. Vor diesem Hinter- 192 Terroranschläge in den USA grund fanden die Anschläge als Teil des Kampfs gegen die USA und den Kapitalismus insbesondere bei Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads Beifall. Eine Reihe von Rechtsextremisten sah im Erstarken eines militanten islamischen Fundamentalismus aber auch eine Gefährdung für die westliche Werteordnung und warnte vor möglichen Auswirkungen auf Deutschland. Solche Aspekte wurden zunächst von einem antiamerikanisch motivierten Verständnis für die Anschläge überlagert; vereinzelt wurde sogar eine Solidarisierung mit Islamisten im Kampf gegen Judentum, Kapital und USA befürwortet. Eine aktionsorientierte Zusammenarbeit von deutschen Rechtsextremisten und islamischen Fundamentalisten kam dennoch nicht zustande, da die trennenden Elemente, insbesondere kontroverse Absolutheitsansprüche und fremdenfeindliche Aversionen, überwogen. Zum übergreifenden Agitationsfeld der rechtsextremistischen Szene entwickelten sich schließlich Aktivitäten gegen die USA und die NATO sowie gegen einen militärischen Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Konflikt. Rechtsextremisten in den USA erklärten in zahlreichen Beiträgen im Internet die "jüdische Dominanz" zur Ursache der Anschläge am 11. September. Bislang gibt es aber keine Hinweise auf eine Kooperation mit deutschen Rechtsextremisten. 4.1.1 Rechtsextremistische Parteien und Gruppen 4.1.1.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Die NPD reagierte ambivalent auf die Terrorakte. Sie verurteilte zwar die Anschläge, polemisierte jedoch bereits am 12. September auf ihren Internet-Seiten gegen das "internationale Großmachtstreben" der USA. In einer Pressemitteilung vom 13. September forderte die NPD-Führung unter anderem den sofortigen Austritt Deutschlands aus der NATO sowie einen Stopp sämtlicher Bundeswehreinsätze im Ausland und erklärte unter der Überschrift "Mit Rot-Grün in den Krieg!": "Der NPD-Parteivorstand verurteilt den Terroranschlag in den USA und stellt fest, daß Gewalt kein Mittel der Politik sein darf. Allerdings befindet sich Amerika seit Jahrzehnten im Krieg und muß immer mit entsprechenden Gegenreaktionen rechnen. (...) Es muß Aufgabe nationaler Politik sein, sich aus der Hegemonie der USA zu lösen, um nicht in den Sog ihrer verfehlten und alleinzuverantwortenden imperialistischen Politik zu Terroranschläge in den USA 193 geraten. (...) Die kriegswütige rot-grüne Bundesregierung bricht mit der Aktivierung des Art. 5 des NATO-Vertrages das Grundgesetz." In einer vierseitigen Sonderausgabe des Parteiorgans "Deutsche Stimme" verglich die NPD die Terroranschläge in den USA mit den Luftangriffen von 1945 auf Dresden und Hiroshima und versuchte wiederum, eine Schuldzuweisung an die USA zu konstruieren. So behauptete sie, die USA seien keine Opfernation, sondern "eine von kapitalistischen Cliquen beherrschte Täternation". Ihre "bluttriefende Geschichte" sei durch "100 Jahre Kriegstreiberei und Völkerunterdrückung" gekennzeichnet. Daher stelle sich die Frage, ob die USA das Recht hätten, den "Terrorismus" als internationales Unrecht anzuklagen. In derselben Ausgabe war kommentarlos ein vom Prozessbevollmächtigten im NPD-Parteiverbotsverfahren Horst Mahler für das "Deutsche Kolleg" verfasster Beitrag "Independence day live" abgedruckt, in dem die Terroranschläge als legitime militärische Angriffe gegen die "Symbole der mammonistischen Weltherrschaft" glorifiziert wurden. In einer Pressemitteilung vom 6. November bezeichnete sich die NPD als "nationale Friedenspartei" und lehnte eine deutsche Beteiligung an "völkerrechtswidrigen, kriegerischen Terrorhandlungen der USA" ab. Zur Ankündigung der Bundesregierung, Bundeswehreinheiten für einen Militäreinsatz in Afghanistan bereitzustellen, bemerkte sie, Soldaten der "Vasallenstaaten" würden dabei für einen "schmutzigen und unerklärten Krieg der USA" verheizt. Die Bundeswehr entwickele sich zu einer "Söldnertruppe fremder Machtinteressen"; alle deutschen Soldaten sollten daher von ihrem im Grundgesetz garantierten Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch machen. In einer weiteren Pressemeldung vom 13. November wiederholte der NPD-Vorsitzende Voigt diese Aufforderung und erklärte, die USA hätten sich durch Unterstützung der afghanischen Nordallianz "mit Mördern und Räubern verbündet". 4.1.1.2 Deutsche Volksunion (DVU) Die DVU verknüpfte ihre Verurteilung der Anschläge mit fremdenfeindlichen Äußerungen und Agitation gegen die Ausländerpolitik. 194 Terroranschläge in den USA So betonte die Partei in ihrem publizistischen Sprachrohr, die Hamburger Stützpunkte der Attentäter hätten nur "als Folge einer wahnwitzigen Einwanderungspolitik mit unkontrolliertem Ausländerzustrom entstehen" können. "Kriminelle Ausländer und Illegale müssen abgeschoben werden bzw. dürfen gar nicht erst ins Land gelassen werden. Hier haben die etablierten Parteien furchtbare Versäumnisse zu verantworten. (...) Deutsche Politik, wenn sie sich nicht das Markenzeichen des Irrsinns erdienen möchte, muss rasch Schluss machen mit der Umfunktionierung des deutschen Volkes in eine 'multikulturelle Gesellschaft'. Multikulti ist multi-gefährlich. (...) Wir warten allerdings bisher vergeblich auf das Schuldbekenntnis der für die Masseneinwanderung in Deutschland Verantwortlichen." (NZ vom 21. September, Seiten 1 - 3) Diese Agitation setzte sich im Wahlkampf zur Bürgerschaftswahl in Hamburg fort. Dort warb die DVU mit Parolen wie "Unkontrolliert Ausländer rein - das schleppt uns auch den Terror rein!" und "Aber Gesindel darf nicht rein! Und wenn es schon drin ist, muss es raus, und zwar schnell!". Der DVU-Vorsitzende Dr. Gerhard Frey betonte in einem Rundschreiben: "Hätte man doch nur auf die DVU gehört! Dann wäre es nicht zu einer total verrückten Ausländer-Politik gekommen. Sogar Terroristen aus der ganzen Welt hat man uns reingeholt." Unter der Überschrift "Vor dem Dritten Weltkrieg?" wandte sich Dr. Frey gegen eine Beteiligung Deutschlands an bevorstehenden militärischen Aktionen der USA gegen so genannte "Schurkenstaaten": "Gänzlich unverständlich ist es, dass Politiker der etablierten Parteien ankündigen, Deutschland werde bei kriegerischen Auseinandersetzungen dabei sein. (...) Vor allem müssen wir uns davor hüten, uns in fremde Konflikte einzumischen und so den Hass eines oder beider Streitteile auf uns zu ziehen." (NZ vom 21. September, Seite 3) 4.1.1.3 Die Republikaner (REP) Die REP verurteilten die Terroranschläge in den USA als "barbarischen Akt und durch nichts zu rechtfertigendes Verbrechen". Gleichzeitig stellten sie aber fest, dass die "multikulturelle Illusion" mit dem World Trade Center untergegangen sei, und warfen die Frage nach Terroranschläge in den USA 195 der "moralischen Mitverantwortung aller Beteiligten im Nahen Osten" für den Terrorangriff gegen die USA auf. Außerdem forderten sie scharfe Maßnahmen gegen islamistische Organisationen in Deutschland und die sofortige Ausweisung bzw. Abschiebung verfassungsfeindlicher Mitglieder und Funktionäre. Ferner warfen die REP der Bundesregierung in einer Pressemitteilung vom 18. September vor, "Fragen der inneren und äußeren Sicherheit" aus ideologischen Gründen vernachlässigt zuhaben. Nur wenn sich die Bundesregierung vom Ziel der multikulturellen Gesellschaft löse und Zuwanderer einem strengen Wertekanon unterwerfe, seien kulturelle Konflikte in Deutschland zu verhindern. In diesem Zusammenhang forderten die REP die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und ein Verbot der politischen Betätigung für Asylbewerber. Die REP wandten sich gegen eine aktive Teilnahme Deutschlands an einer militärischen Bekämpfung des internationalen Terrorismus, da der Bündnisfall nicht gegeben sei. Zudem sei Deutschland nach "jahrelangen Sparorgien" weder auf einen äußeren noch einen inneren Konflikt vorbereitet. Solange das deutsche Militär als Verbrecherorganisation diffamiert werde und die eigenen Streitkräfte in einem desolaten Zustand seien, verbiete es sich, um jeden Preis den "Welthilfspolizisten" spielen zu wollen. Vielmehr solle die Bundesregierung auf politischer und diplomatischer Ebene "kritische Solidarität" mit den Vereinigten Staaten üben. 4.1.1.4 Deutsches Kolleg (DK) Das Deutsche Kolleg (DK), das sich mit seinen Protagonisten Dr. Reinhold Oberlercher, Uwe Meenen und Horst Mahler als Schulungseinrichtung der "nationalen Intelligenz" versteht und vor allem durch Horst Mahler die antisemitische Ausrichtung der NPD maßgeblich beeinflusst hat, wertete die Anschläge als notwendige und gerechtfertigte Reaktion auf einen von den "Finanz-Eliten der USA" seit 1917 initiierten weltweiten "Krieg ... an unsichtbaren Fronten". In einem Internet-Beitrag mit der Überschrift "Independence-Day live" erklärte Horst Mahler namens des DK, seit der Niederlage des Deutschen Reichs von 1945 sei die Welt schutzlos den "Ausplünderungsfeldzügen der US-Ostküste" ausgeliefert. "Der Luftschlag der noch unbekannten Todeskommandos hat das Herz dieses Ungeheuers getroffen und für einen Tag gelähmt. Die Symbolkraft 196 Terroranschläge in den USA dieser militärischen Operation zerschmettert die Selbstgefälligkeit der auf Heuchelei gegründeten westlichen Zivilisation. (...) Die militärischen Angriffe auf die Symbole der mammonistischen Weltherrschaft sind ... eminent wirksam und deshalb rechtens." Dr. Reinhold Oberlercher, der Chefideologe des DK, veröffentlichte am 1. November einen Internet-Beitrag mit dem Titel "Der Untergang des judäo-amerikanischen Imperiums", in dem es hieß: "Am 11. September 2001 erfolgte der überfällige Generalangriff des islamischen Mittelalters auf die judäo-amerikanische Zivilisation, ... (...) Der Islamismus ist dem Jahwismus geistig und geschichtlich überlegen. (..) Also können die Juden und ihr Kult nur als tolerierter Unglauben unter islamischer Herrschaft überleben, ... (...) Die USA müssen aufgelöst werden! (...) Landraub, Ausrottung der Urbevölkerung, Sklavenimport, zwei Weltkriege gegen Deutschland und der Mord am Deutschen Reich, dem auf Erden daseienden Gott der Deutschen, sind die größten Verbrechen der USA. (...) Alle Schläge, die ... gegen Einrichtungen, Funktionäre oder Kollaborateure der USA geführt werden, sind daher kriegsrechtlich erlaubte Vergeltungsschläge ..." 4.1.2 Militanter Rechtsextremismus - Neonaziund Skinheadbereich 4.1.2.1 Neonazi-Szene Weite Teile des nicht organisierten Neonazi-Spektrums nahmen die Nachricht über die Terroranschläge in den USA mit Begeisterung auf. So äußerte ein bekannter Neonazi: "Hurra, hurra, endlich sind die zwei Türme in Manhattan nicht mehr da! Ich wollte Euch nur kurz meine tiefe Betroffenheit kundtun und alle zur Trauer auffordern. Schlimm finde ich insbesondere, dass New York die mit über zwei Millionen Juden weltgrößte Metropole dieser geliebten Spezies geblieben ist." In zynischen Kommentaren wurde der Anschlag als "Fehlschlag" bedauert, weil das Weiße Haus nicht getroffen worden sei. Interne Sympathiekundgebungen, das Tragen von Palästinenser-T-Shirts und die Absicht eines rechtsextremistischen Versands, Palästinenser-Flaggen zu verkaufen, verwiesen auf die Solidarität von Neonazis mit den Tätern und allen Muslims im Ausland, die sich gegen Amerika und Juden zur Wehr setzen. Terroranschläge in den USA 197 4.1.2.2 Skinhead-Szene Der Islam und die Muslime bilden zwar ein Feindbild der rechtsextremistischen Skinheads; die Terrorakte in den USA richteten sich aber gegen einen aus ihrer Sicht noch größeren Feind. Auch etwaige Anschläge von Muslimen in Deutschland würde man deshalb in der Skinhead-Szene positiv sehen, sofern sie sich gegen Symbole westlicher Wirtschaft und Politik richten. In einer regionalen Skinhead-Szene wurde die Auffassung vertreten, dass Muslime zwar in Deutschland Feindbilder seien, dies gelte aber nicht, wenn sie in Afghanistan oder in den USA gegen die USA und die Juden kämpften. Die Muslime blieben zwar "Kanaken", die Skinheads hätten aber keinen Hass auf sie, solange sie nicht als "Asylbetrüger" nach Deutschland kämen. In der internationalen Hammerskin-Szene wurde während eines "European Officers Meeting" (EOM) am 15. September in Hattingen/Niederlande folgende Meinung der europäischen Hammerskins offenbar: "Der Anschlag gegen die USA ist ein Anschlag zur richtigen Zeit gegen das Großkapital und die Wirtschaftskraft der USA gewesen, weil die USA das Judentum unterstützen." 4.1.3 Rechtsextremistisch motivierte Resonanzstraftaten auf die Anschläge in Bayern Die Anschläge vom 11. September führten auch in Bayern zu rechtsextremistisch motivierten Straftaten: Am 16. September legten bisher unbekannte Täter vor der Moschee des islamischen Kulturvereins e.V. in München einen Brandsatz ab. Es entstand hierbei jedoch weder Personenbzw. Sachschaden, da ein türkischer Staatsangehöriger die brennende Flasche noch rechtzeitig entfernen konnte. In der Zeit vom 15. September bis 7. November wurden insgesamt zehn weitere rechtsextremistisch motivierte Straftaten mit Bezug zu den Terroranschlägen am 11. September bekannt. In der Mehrzahl waren es Schmierereien mit antiamerikanischem und antisemitischem Inhalt. So wurden in der KZ-Gedenkstätte in Dachau am 16. September an zwei Baracken Aufschriften wie "Der Jud ist verantwortlich für die 198 Terroranschläge in den USA Moslemterroranschläge in den USA", "Ami verrecke", "Die Amis sind Kriegstreiber, deutsche Politiker sind Judenund Amilakaien" festgestellt. Derartige Aufschriften wurden auch in Herrsching a. Ammersee an einer Werbetafel aufgefunden, unter anderem auch "Nur ein toter Jude ist ein guter Jude!" 4.2 Linksextremismus 4.2.1 Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) Zu den Terroranschlägen in den USA erklärte die PDS-Vorsitzende Gabriele Zimmer in einer im PDS-Pressedienst Nummer 37 veröffentlichten Pressemitteilung vom 11. September: "Wir sind aufs Äußerste erschüttert und empört. Unser ganzes Mitgefühl gilt den Opfern." Am 12. September führten die Parteivorsitzende Gabriele Zimmer und der Fraktionsvorsitzende der PDS im Deutschen Bundestag, Roland Claus, im Zusammenhang mit der Zustimmung der deutschen Bundesregierung zum Beschluss des NATO-Rats, den Bündnisund Beistandsfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags festzustellen, in einer Presseverlautbarung aus: "Es darf auf gar keinen Fall Gegenschläge geben, denen Unschuldige zum Opfer fallen. Frieden muss neu erkämpft, nicht aber eine Spirale von Gegengewalt und erneuter Gewalt eröffnet werden. Die Schuldigen an dem entsetzlichen, verbrecherischen Anschlag in den USA sind weltweit zu ächten. Sie müssen bestraft werden. Es darf aber keinen weiteren Unschuldigen mehr treffen." Als Reaktion auf die Terroranschläge gaben die beiden bayerischen Bundestagsabgeordneten und Landessprecher des Landesverbands der PDS in Bayern, Uwe Hiksch und Eva Bulling-Schröter, am 14. September in Berlin eine Presseerklärung ab. In den Terrorakten sahen sie ein "barbarisches Blutbad". Die Täter und alle, die diese unterstützten, müssten geächtet, bestraft und vor ein internationales Gericht gestellt werden. Beide lehnten militärische Gegenschläge ab; sie träfen nur die Zivilbevölkerung. Den Verurteilungen der Anschläge folgten aber sogleich Kritik von PDS-Funktionären an den USA, die die Ursache für Terroranschläge in den USA 199 die Terroranschläge selbst gesetzt hätten, sowie Einwände gegen die deutsche Bundesregierung, die diese Ereignisse zur Aufrüstung in der Sicherheitspolitik missbrauchen würde. Unter der Überschrift "Kurs halten als Antikriegspartei und Bürgerrechtspartei" äußerte sich die Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion, Ulla Jelpke, am 4. Oktober im Vorfeld des Dresdner Parteitags auch zu den Ereignissen vom 11. September. In dem in den Mitteilungen der KPF Heft 10 vom Oktober veröffentlichten Beitrag heißt es: "Die PDS ist derzeit die einzige Partei im Bundestag, die sich ausdrücklich gegen eine Spirale der Gewalt und gegen den Abbau von Bürgerrechten ausgesprochen hat. (...) Das 3-Milliarden-DM-Sofortprogramm dient einzig und allein der weiteren Aufrüstung von Militär, Polizei und Geheimdiensten: Es ist wie immer: Statt Ursachen zu bekämpfen, wird die Repression verstärkt. (...) Bundesinnenminister Schily, Leute wie Beckstein und Koch von der CDU/CSU und andere lassen keine Gelegenheit aus, um Hysterie zu schüren und die Innenpolitik unter dem Vorwand der 'Terrorbekämpfung' nach rechts zu verschieben." Die Terroranschläge in Amerika stellten die 2. Tagung des 7. Parteitags vom 6. bis 7. Oktober in Dresden unter veränderte Vorzeichen. Per Akklamation verabschiedeten die Delegierten das Papier "Frieden und Sicherheit in Freiheit und Gerechtigkeit", kurz "Dresdner Friedensappell", genannt. Der Ehrenvorsitzende der PDS und ehemalige Ministerpräsident der DDR, Dr. Hans Modrow, bezeichnete in seiner Eröffnungsrede die Militäreinsätze der NATO in Jugoslawien als "staatlich sanktionierten Terror". Im Hinblick auf die Terroranschläge in den USA begrüßte er die Entscheidung der PDS-Bundestagsfraktion, den NATO-Beschluss über den Bündnisfall nicht mitgetragen zu haben. Auch die Parteivorsitzende Gabi Zimmer brachte in ihrer Rede deutliche Vorbehalte gegenüber den USA zum Ausdruck und rief zum Widerstand gegen die Unterordnung unter die "Interessen der US-Eliten und der Reichen dieser Erde" auf. Parteivorstandsmitglied Sahra Wagenknecht unterstellte indirekt den USA, Staaten der dritten Welt gedemütigt und "unendlich ausgebeutet" zu haben. Auch die deutsche Innenund Sicherheitspolitik kritisierte sie deutlich. Es zeichne sich ein "Horrorprogramm polizeistaatlicher Aufrüstung" ab, "Rechtsaußen lasse grüßen". In einem am 17. September von der PDS München verbreiteten Flugblatt mit der Überschrift "Terror - Gegenterror? Gegen den Krieg als 200 Terroranschläge in den USA Mittel der Politik" wird den Vereinigten Staaten von Amerika eine Mitschuld an den Terrorakten angelastet und die deutsche Sicherheitspolitik diffamiert. In der Flugschrift heißt es dazu: "Diese Form von Terrorismus kann nicht als die isolierte Tat kleiner Splittergruppen begriffen werden. Die Staatspolitik der Westmächte und der USA hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht gescheut, terroristische Hilfstruppen auszurüsten und zur Destabilisierung ganzer Gesellschaften einzusetzen. Die Contras in Nicaragua, die Mujaheddin in Afghanistan und die UCK in Jugoslawien sind nur einige Beispiele für diese skrupellose Politik. (...) Nur die UNO hat die Legitimation, Sanktionen gegen die Verantwortlichen dieser Terrorakte anzuordnen. Jede Einzelaktion der USA oder der NATO sind ein Bruch internationalen Rechts und ein Signal gegen die Zivilisierung von Konflikten." Die Münchner Sozialisten befürchten weiter den "Abbau von Bürgerrechten und den Aufbau eines Überwachungsstaats". Die selbsterklärte "zivilisierte Welt" drohe nicht mit zivilen Mitteln sondern mit massiven Militärschlägen und mit einem eigenen heiligen Krieg der westlichen Kultur gegen die islamische Welt und beweise damit, wie barbarisch sie eigentlich sei. Der Landesvorstand der PDS Bayern verabschiedete auf seiner konstituierenden Sitzung am 14. Oktober in Nürnberg aus Anlass der verheerenden Terroranschläge in den USA und der NATO-Angriffe auf Afghanistan eine "Resolution". In dem in Heft 28 der Publikation "TITEL - Informationsforum der PDS Bayern" vom Dezember veröffentlichten Papier heißt es: "Unsere Wut und unser Entsetzen richtet sich aber genauso gegen die US-Regierung und die NATO, die mit dem Bombenangriff auf Afghanistan eine weitere Spirale der Gewalt in Gang setzten. (...) Wir haben aber kein Verständnis dafür, wenn mit militärischer Gewaltanwendung gegen einen oder mehrere Staaten die Auslieferung einer bestimmten, von der US-Administration vermuteten, Person an die Vereinigten Staaten gefordert wird. Auch Sanktionen gegen Staaten, die Terrorismus unterstützen oder decken, halten wir für richtig und wichtig. Aber gegen Verbrecher und Terrorismus helfen keine militärischen Mittel." Zahlreiche Protestveranstaltungen der PDS in München, Ingolstadt, Passau, Eichstätt, Bamberg, Hof, Weiden, Traunstein und Aschaffenburg forderten jeweils ein Ende der "Gewaltspirale" in Afghanistan und sprachen sich gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Militär- Terroranschläge in den USA 201 einsätzen aus. Zu Ausschreitungen oder Gewaltaktionen kam es nicht. 4.2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Der Parteivorsitzende der DKP, Heinz Stehr, erklärte in einer im DKP-Zentralorgan "Unsere Zeit" (UZ) vom 14. September abgedruckten Stellungnahme, die Terroranschläge hätten nichts mit einem politischen Befreiungskampf zu tun. Für die Täter, wer immer es sei, könne es "nicht den Anflug von Verständnis oder Solidarität geben". Allerdings stehe für ihn fest, "jetzt darf nicht die Stunde der Rache und militärischen Vergeltung oder etwa klammheimlicher Freude sein, sondern der Umkehr zu verstärkten Bemühungen um die politische Lösung der Konflikte im Nahen Osten". In der unter der Überschrift "Kriegsgefahr stoppen - Friedensordnung schaffen" veröffentlichten Erklärung des Parteivorstands der DKP vom 29./30. September - publiziert in der UZ vom 5. Oktober - heißt es: "Die DKP verurteilt diese Terroranschläge aus grundsätzlichen Erwägungen. Sie haben zweifelsfrei Ursachen, die auch in der 'Neuen Weltordnung', in den Beziehungen zwischen den hochentwickelten kapitalistischen Staaten und der Mehrheit der unterentwickelten Staaten liegen. Jedoch sind Terroranschläge, seien sie individuell oder von Staats wegen ausgeübt, durch keine Religion, keine Weltanschauung und kein politisches Ziel zu rechtfertigen. (...) Darum äußern wir unsere tiefe Besorgnis über die Vergeltungsabsichten der USA. Wir protestieren gegen die Haltung der Bundesregierung und des Bundestages gegenüber der Politik 'uneingeschränkter Solidarität'. Die Terroranschläge dienen offensichtlich nicht nur den dominierenden Kräften des US-Kapitals, sondern allen imperialistischen Staaten als Anlass, ihren totalen Herrschaftsanspruch umzusetzen, sich Rohstoff-Ressourcen anderer Staaten und ganzer Regionen zu sichern, die Verteilung von Reichtum und Armut auf der Welt zu zementieren und dafür auch im Innern demokratische Rechte und sozial Erkämpftes beschleunigt abzubauen." 4.2.3 Autonome und antiimperialistische Szene Die Terroranschläge vom 11. September in den USA wurden innerhalb der autonomen, antiimperialistischen Szene in Bayern grund- 202 Terroranschläge in den USA sätzlich positiv bewertet. In Kontinuität mit dem seit Jahrzehnten im linksextremistischen Spektrum vorhandenen "Antiamerikanismus" sahen die Autonomen in Bayern diese Anschläge als "verdienten" Denkzettel für Amerika an. Die Anschläge seien berechtigt gewesen, da die einzig verbliebene Weltmacht USA in der Szene als das Symbol schlechthin für den verhassten Imperialismus und Kapitalismus bzw. die Globalisierung stehe. Die hohe Opferzahl jedoch stieß in autonomen, antiimperialistischen Gruppen in Bayern überwiegend auf Ablehnung. Während man die Angriffe auf die USA insgesamt in ihrer symbolhaften Wirkung begrüßt, wurde die hohe Anzahl ziviler Opfer bedauert. Dabei hatte man vor allem die Ereignisse in New York (World Trade Center) vor Augen. Die Opfer durch den Anschlag auf das Pentagon dagegen wurden in der Szene mehrheitlich nicht bedauert - mit dem Tenor, es hätte dabei ausschließlich Angehörige des militärischen US-Systems getroffen. Vor dem erwarteten militärischen "Gegenschlag" der USA gab es im autonomen, antiimperialistischen Spektrum in Bayern vereinzelt Planungen und Vorbereitungen für den "Tag X". Nachdem die USA am 7. Oktober ihre militärischen Operationen gegen islamistische Terrorstrukturen in Afghanistan begonnen hatten, beteiligten sich auch Autonome in einigen bayerischen Städten (Nürnberg, München, Augsburg) an "spontanen" Protestkundgebungen. Das autonome, antiimperialistische Spektrum sieht in den amerikanischen Luftangriffen auf Afghanistan eine "imperialistische Aggression", um eigene nationale und damit kapitalistische Interessen zu sichern. In einem Flugblatt der linksextremistischen, autonomen "Organisierten Autonomie" (OA) Nürnberg hieß es: "Bei diesem Krieg geht es nicht nur um die Absicherung der weltweiten Herrschaft des Kapitals, sondern auch bereits um die Neuverteilung von Einflußsphären. Es geht langfristig um die Neuverteilung der Welt." Die Autonomen kritisieren, dass auch der deutsche Staat die Anschläge in den USA genutzt habe, um im Bereich der Inneren Sicherheit Gesetze zu verschärfen und neue "Repressionsinstrumente" einzuführen, die sich dann letztlich auch gegen "Linke" richten würden. Das Gleiche gilt für den Bundeswehreinsatz. Da die Bundesregierung die USA auch nach den amerikanischen Militärschlägen auf Afghanistan weiterhin demonstrativ unterstützt und auch eine Beteiligung der Terroranschläge in den USA 203 Bundeswehr beschloss, wurde insbesondere die SPD in der autonomen Szene als "Kriegstreiber" und "Kriegspartei" diffamiert. 4.3 Ausländerextremismus 4.3.1 Türkische Gruppen 4.3.1.1 Islamische Extremisten Innerhalb der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) waren die Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September gespalten. Manche Funktionäre zeigten sich - zumindest offiziell - schockiert. Im Gegensatz dazu nahm die Basis, beispielsweise die Mehrzahl der in der IGMG-Moschee München anwesenden Anhänger, die Anschläge mit einer gewissen Genugtuung auf. Viele sahen darin die logischen Konsequenzen für das nachlassende Engagement der USA im Nahen Osten und die anhaltenden Attacken Israels gegen die Palästinenser. Amerika habe endlich selbst den Schmerz erfahren, den es zuvor vielen Menschen in Palästina und den islamischen Ländern zugefügt habe. In der Publikation Milli Gazete vom 13. September erschien ein Artikel mit der Überschrift "Wer Sturm sät, wird Orkan ernten", in dem die Terroranschläge als Strafe für die Politik der Vereinigen Staaten interpretiert wurden. In einem weiteren Beitrag hieß es, Zionisten beherrschten die Weltwaffenindustrie. Die USA müssten sich vom ausbeuterischen System der neuen Weltordnung befreien, um nicht mehr Handlager des Zionismus zu sein. Der inhaftierte Leiter des Kalifatsstaats Metin Kaplan wurde im Verbandsorgan "Ümmet-i Muhammed" vom 27. September mit einer Erklärung in deutscher Sprache zum Verhältnis der Muslime zum Terrorismus zitiert: "In der Periode der Verkündung [der Botschaft Gottes] bleibt man auf der wissenschaftlichen und ideellen Basis und es wird dabei keine Gewalt und keine terroristische Handlung verübt. (...) Ein Muslim ist niemals Terrorist, und ein Terrorist ist niemals ein Muslim! Denn beide sind zwei verschiedene Angelegenheiten, die einander zuwiderlaufen! (...) Die Soldaten und der Generalstab des Kalifatsstaats dürfen niemals diese Prinzipien überschreiten und individuelle Handlungen wagen!" Wegen der anstehenden Aussetzung von Kaplans Reststrafe zur Bewährung und des früheren Kontakts zu Usama Bin Laden muss diese 204 Terroranschläge in den USA Aussage als taktisch bedingt gewertet werden, denn sie steht im Widerspruch zur bisherigen Verbandsstrategie. Im Propagandasender des Kalifatsstaats HAKK-TV hieß es in einem Bericht zu den Anschlägen, die USA spürten nun den Schmerz in ihrem Herzen. Die USA die bis heute immer im Ausland anderen Staaten den Schmerz spüren ließen, seien nun selbst schmerzlich betroffen. 4.3.1.2 Türkische Linksextremisten Die DHKP-C-Frontorganisation Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) stellte in einer im Internet am 17. September veröffentlichten Erklärung fest, dass "sich auf einer solchen Welt nicht über den Grund für die Aktionen vom 11. September, sondern lediglich darüber, weshalb derartige Aktionen nicht häufiger vorkommen, diskutieren lässt." Der wahre Hintergrund sei im US-Imperialismus und der amerikanischen Weltordnung zu suchen, die "die Weltvölker ohne Nahrung, Arbeit, Gesundheit, Bildung und Gerechtigkeit lassen". "Wenn die USA jetzt dem Terror und seinen Unterstützern den Krieg erklären, dann den zur Arbeitslosigkeit und Armut getriebenen Massen, die diesen vom US-Imperialismus geschaffenen Zustand nicht akzeptieren, ... denn Terror bedeutet für die USA in Opposition zur amerikanischen Weltordnung zu stehen. Damit haben die USA der gesamten Welt den Krieg erklärt!" Mit der Forderung "Erlauben wir nicht, dass unser Land als US-Stützpunkt gegen unterdrückte Völker benutzt wird!" wurde zum gemeinsamen Widerstand und Solidarität mit den "Geschwistervölkern" aufgerufen, namentlich Afghanistan, Irak, Iran, Sudan und Jemen, die sich der pro-amerikanischen Weltordnung widersetzen. Mit der Aufforderung "Vereinigen wir uns und leisten Widerstand für Brot und Gerechtigkeit!" schloss das Pamphlet. Mit einem gemeinsamen Flugblatt, unterzeichnet mit "Initiative gegen den imperialistischen Krieg", forderten die Basisorganisationen beider Flügel der TKP/ML, ATIK (Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa), ATIF (Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V.), ADHK (Konföderation der demokratischen Rechte in Europa) und ADHF (Föderation der demokratischen Rechte in Deutschland) sowie deren Jugendvereinigungen und die MLKP-Basisorganisation AGIF (Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Tür- Terroranschläge in den USA 205 kei in Deutschland e.V.), "sich gegen den imperialistischen Krieg zu wehren und sich der Initiative anzuschließen. Dem "US-Imperialismus" wurde dabei polemisch unterstellt, dass die Militärintervention gegen Usama Bin Laden und die Taliban nur als "Vorwand zum totalen Angriff gegen die unterdrückten Völker", namentlich Afghanistan, benutzt werde, um "unter dem Deckmantel der Demokratie die größten Terrorakte der Welt durchzuführen." Europa, das die USA in diesem "imperialistischen Krieg" unterstütze, wurde vorgeworfen, deshalb "lieber die sozialen Rechte der Bevölkerung zu Gunsten der Anti-Terror-Gesetze abzubauen und sofort Milliarden dem 'Terror' (gemeint sind Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus) zur Verfügung zu stellen, obwohl es in der EU Millionen von Arbeitslosen gibt und Tausende Ausbildungsplätze für Jugendliche fehlen." 4.3.1.3 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Bereits am 13. September äußerte der Präsidialrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in einer der Organisation nahestehenden Publikation zu den terroristischen Anschlägen in den USA, dass es für diesen Gewaltakt keine Rechtfertigung gebe. Die PKK distanzierte sich deutlich von den Anschlägen am 11. September, denn "als Partei lehnen wir solche Vorfälle strikt ab und unterstreichen, dass blinde Gewalt keine Lösung ist." Die in der Vergangenheit von der PKK verübten Gewalttaten seien jedoch in keiner Weise mit den jüngsten Terrorakten vergleichbar. Die Organisation habe stets darauf hingewiesen, dass Gewalt, nach Meinung der PKK, nur legitim sei, solange sie "der Schaffung der nationalen Identität (im Zusammenhang mit der Lösung der Kurdenfrage) und der Durchbrechung der Verleugnung dienlich ist". Als Ursache der Anschläge betrachtete aber auch die PKK das bestehende "Weltsystem", insbesondere aber die bisherige US-Außenpolitik, die für die Terrorakte die größte Verantwortung trage. Die nach dem 11. September vereinzelt in der PKK-Anhängerschaft laut gewordenen Stimmen, die für die Terroranschläge in den USA Sympathie bekundeten, blieben nahezu unbeachtet bzw. erfuhren heftigen Widerspruch. 206 Terroranschläge in den USA 4.3.2 Arabische Gruppen Die Terroranschläge vom 11. September wurden in weiten Teilen des sunnitisch-extremistischen Spektrums zunächst begrüßt. In der El-Salam-Moschee München, im Islamischen Zentrum München (IZM) und in der Omar-Moschee München herrschte freudige bis euphorische Stimmung. Die offiziellen Vertreter islamistischer Institutionen distanzierten sich jedoch umgehend von den Anschlägen. So äußerte der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) Ahmed El-Khalifa Entsetzen über die Terrorakte und betonte die Solidarität der IGD mit den Opfern; intern bekundeten IGD-Mitglieder dagegen weiterhin ihre Genugtuung. Nach einigen Tagen änderte sich die Stimmung aus Sorge, mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht zu werden. Vereinzelt ließen sich Islamisten den Bart scheren; manche Frauen verzichteten auf das Tragen eines Kopftuchs. Die Besucherzahl der Moscheen war rückläufig. In der Szene herrschte die Meinung, die Terroranschläge seien von Israel zu verantworten. Angeblich seien in New York am 11. September Hunderte von Juden nicht zur Arbeit erschienen. Hinter den Verbrechen stehe der israelische Geheimdienst Mossad. Israel und dessen Unterstützer in den USA hätten erkannt, dass der Islam auf dem Vormarsch sei; der Versuch einer Diskriminierung des Islam sei aber gescheitert. Um den Islam aufzuhalten, brauche Israel weltweiten Beistand und einen starken Partner in der Region. Zur Unterstützung Israels und zur Kontrolle des Erdöls blieben die USA deshalb nach der Intervention in Afghanistan weiterhin mit starken Militärbasen in der muslimischen Welt präsent. Die Reaktionen schiitisch-extremistischer Organisationen auf die Anschläge in den USA orientierten sich im Wesentlichen an einer Stellungnahme des iranischen Religionsführers Seyyed Ali Khamenei. Dieser hatte am 17. September die Anschläge verurteilt, aber zugleich gefordert, die USA müssten ihre Position in der Nahost-Politik überdenken. Wenige Tage später distanzierte sich auch Ayatollah Fadlallah, der geistliche Führer der libanesischen Hizb Allah, von den Anschlägen. Die Hizb Allah selbst bedauerte in einer Erklärung die unschuldigen Todesopfer, erinnerte aber auch an die "Leiden des palästinensischen Volkes". In Bayern waren aus diesem Bereich keine öffentlichen Reaktionen zu verzeichnen. Die Prediger der dortigen schiitischen Moscheen wirkten überwiegend mäßigend auf die Gläubigen ein und bezeichneten die Terroranschläge in den USA 207 Anschläge als "un-islamisch". Die Mehrheit der Anhängerschaft schiitisch-extremistischer Organisationen schloss sich dieser Auffassung an. Eine Minderheit sah dagegen in den Anschlägen die Konsequenz aus der amerikanischen Nahost-Politik und relativierte die Leiden der Opfer der Anschläge mit Hinweisen auf die Situation der Palästinenser. Im Unterschied zu den Vorfällen vom 11. September in den USA seien die Anschläge der Palästinenser in Israel keine Terroraktionen, sondern Teil eines legitimen Befreiungskampfs. 208 Scientology-Organisation 7. Abschnitt Scientology-Organisation (SO) International Deutschland Bayern Mitglieder: keine Angaben 5.000 bis 6.000 etwa 2.600 Vorsitzender: David Miscavige Helmuth Blöbaum Gerhard Böhm Gründung: Los Angeles 1952 München 1972 Nürnberg 1982 Church of Scientology Scientology Kirche Scientology Kirche International (CSI) Deutschland e.V. Bayern e.V. Sitz: Los Angeles, USA München München/Nürnberg (in Deutschland unselbständige Teilorganisationen) Publikationen: Freiheit, Impact, Ursprung, Source u.a. 1. Zur Geschichte der SO Im Jahre 1950 veröffentlichte der amerikanische Buchautor L. Ron Hubbard (1911 bis 1986) in den USA das Buch "Dianetik - Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit". Darin stellte er seine "Technologie" zur "Heilung psychosomatischer Krankheiten und geistiger Störungen" vor. In den folgenden Jahren kam es zur Gründung so genannter "Dianetik-Zentren" und schließlich zum Aufbau der SO. Hubbard erklärte sein von ihm entwickeltes Verfahren der Psychomanipulation, das er zusammen mit einer totalitären Organisationslehre und -technik in Form eines Kommandosystems ("Admintech") entwickelt hat, zwei Jahre später zur Religion und gründete die erste "Kirche". Er hoffte, damit seine Organisation gegen staatliche Eingriffe abzusichern. Seit Jahrzehnten liegt Scientology im Konflikt mit den Rechtsordnungen demokratischer Staaten. Die Vorwürfe lauten auf Betrug und Wucher gegenüber Kunden, Bedrohung und Nötigung von Kritikern, auf Verschwörung gegen die Regierung, Steuerhinterziehung und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Am 26. Oktober 1979 wurden neun hohe Funktionäre der "Scientology-Kirche" von einem amerikanischen Bundesgericht wegen Diebstahls und Verschwörung gegen die Regierung verurteilt. Hauptangeklagte war die Ehefrau Hubbards, Mary Sue Hubbard. Das Beweismaterial zur Überführung Hubbards reichte damals nicht aus. Scientology-Organisation 209 In der Folge kam es innerhalb der Organisation zu intriganten Machtkämpfen. Hubbard war krank und musste sich vor den Behörden verstecken. Am 24. Januar 1986 wurde L. Ron Hubbard von der neuen Führungsspitze der Scientology für tot erklärt, wobei die näheren Umstände seines Todes bis heute ungeklärt sind. Auch nach dem Tode Hubbards dauerte der Machtkampf um die Führung der SO an. Schließlich setzte sich David Miscavige durch, der etwa seit Ende der 80er Jahre die SO führt. 1993 erreichte Scientology mit einem Vergleich, von der obersten amerikanischen Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) als gemeinnützig anerkannt zu werden. Nach einem Bericht der "The New York Times" setzte die SO dabei schmutzige Methoden der Einschüchterung und Erpressung ein. Mitarbeiter der IRS wurden bis in die Privatsphäre hinein ausspioniert und zum Teil wegen erfundener Behauptungen mit rund 200 Prozessen überzogen. Die Anleitung für ein solches Vorgehen ist in einem Richtlinienbrief Hubbards vom 15. August 1960 über die Einrichtung eines "Department of Government Affairs" enthalten, der Methoden beschreibt, mit denen Regierungen gefügig gemacht werden sollen. 2. Ideologie und Aktivitäten Nach Feststellung der Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern vom 5./6. Juni 1997 liegen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der SO vor. Sie ergeben sich vor allem aus den Handlungsanleitungen für das so genannte Management, d.h. den Leitungskader, den Äußerungen führender Funktionäre und den weltweiten Aktivitäten der Organisation. Deshalb besteht der gesetzliche Auftrag zur Beobachtung. Ein Bericht über erste Beobachtungsergebnisse wurde der Innenministerkonferenz für ihre Herbstsitzung 1998 vorgelegt. Dieser Bericht ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.verfassungsschutz.nrw.de/dokument.htm Die Ideologie der SO stützt sich ausschließlich auf die Schriften von L. Ron Hubbard, die nach eigenen Aussagen der Organisation unveränderliche Gültigkeit besitzen. Hubbards programmatische Äußerungen werden in den so genannten "policy letters" (Richtlinienbriefen) den Mitgliedern und Mitarbeitern als verbindliche Orientierung vorgegeben. 210 Scientology-Organisation 2.1 Schriften der SO Analysen einer Vielzahl von Primärmaterialien der SO zeigen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass bei der Organisation politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen vorliegen. Dies folgt aus dem generellen Absolutheitsanspruch der scientologischen Ideologie. Dieser bezieht sich nicht nur darauf, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, sondern erfasst den Menschen in all seinen persönlichen sowie zwischenmenschlichen und gesellschaftlich-politischen Lebensbereichen, sobald er in das Kontrollsystem der Organisation eingebunden ist. Bereits vom Grundgedanken von Scientology ergeben sich politische Dimensionen daraus, dass mit scientologischer "Technologie" nicht nur der Einzelne, sondern die gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse im Sinn einer grundsätzlichen Neuordnung der Gesellschaft verändert werden sollen. In diesem Zusammenhang wird eine verfassungsfeindliche Wertordnung nicht nur propagiert, sondern eine solche soll als verbindlicher Ordnungsfaktor für Staat und Gesellschaft etabliert werden. Ziel der SO ist es, zur angeblichen Optimierung des Einzelnen und aller sozialen Bereiche Gesellschaft und Staat in ein nach psychound sozialtechnischen Prinzipien (social engineering) zentral gesteuertes Kommandosystem zu verwandeln. Die SO in Deutschland bekennt sich auch in ihren aktuellen Veröffentlichungen ausdrücklich zur Person und der unveränderbaren politischen Programmatik ihres Gründers. Verschiedene programmatische Äußerungen der SO deuten sogar darauf hin, dass sie ihre Ziele kämpferisch-aggressiv verwirklichen will. Von Mitgliedern wurde entsprechend einer Werbebroschüre der International Association of Scientologists (IAS) erwartet, dass sie "die Zerschlagung von Gruppen unterstützen, die den Zweck verfolgen, die Anwendung der Scientology-Technologie zu verhindern". 2.1.1 Errichtung einer scientologischen Gesellschaft Bereits in seinem grundlegenden Buch "Dianetik" hatte Hubbard auf die politische Relevanz und die Reichweite seiner Lehre und Technik hingewiesen. Mit der Entwicklung seiner totalitären "Admintech", die in elf Bänden niedergelegt ist, hat sich Hubbard ein sozialtechnisches Instrumentarium geschaffen, um sich Gruppen gefügig zu machen. Es soll eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien Scientology-Organisation 211 funktionierende Welt geschaffen werden. Diese neue "wahre Demokratie" soll die derzeitigen Demokratien ersetzen, die von Scientologen als Produkte einer "aberrierten", d.h. von der Vernunft abweichenden, geisteskranken Gesellschaft angesehen werden. Alle gesellschaftlichen Probleme sollen dadurch gelöst werden, dass zunächst 10 bis 15 % der politischen Meinungsführer, dann 80 bis 98 % der Bevölkerung "geklärt" werden und die Gesellschaft schließlich nur noch aus den so genannten Nichtaberrierten, den Clears, besteht. Gleichzeitig soll die "Admintech" zur Organisation aller gesellschaftlichen Gruppen und der Regierungen weltweit Verwendung finden. 2.1.2 Lenkung der Regierungen durch Scientology Bereits am 20. März 1964 stellte Hubbard in einem Vortrag das Projekt "International City" vor. Hubbard hatte darin unter anderem erklärt, Scientology sei nur am Planeten interessiert. Hubbard forderte in seinem Vortrag letztlich, alle derzeit existierenden Hauptstädte der verschiedenen Staaten zugunsten Scientology zu entmachten, die Welt quasi von seiner Hauptstadt - International City - aus zu regieren: "Wir hatten in letzter Zeit einige Probleme mit Regierungen. Meiner Meinung nach waren sie unverschämt. Sie waren respektlos und ich habe mir das gründlich angesehen und bin zu dem Entschluss gekommen, dass wir das nicht hinnehmen sollten." Im November 1997 wurde die Hubbard-Anweisung vom 13. März 1961 bekannt. Danach soll ein "Department für Behördenangelegenheiten" unter anderem "ständigen Druck auf Regierungen ausüben, um Gesetzgebung von Gruppen zu verhindern, die der Scientology entgegenstehen". Behörden und unabhängige Gerichte werden von der SO als "Gefahr" gesehen, der man begegnet, indem "immer ausreichend Drohungen gegen sie gesucht oder erfunden werden". Die genannte "Abteilung" hat über den Bereich "Sicherheit" hinaus zudem die wesentliche Aufgabe, die "Clear Deutschland-Kampagne" fortzusetzen. 2.1.3 Einführung eines scientologischen Rechtssystems Eine Ausgabe der SO-Zeitschrift "Freiheit" aus dem Jahr 1997 enthält unkommentiert einen Artikel Hubbards mit der Überschrift "Ehrliche Menschen haben auch Rechte". Dieser befasst sich mit der Bedeutung der Rechte des Beschuldigten oder Angeklagten im Strafverfah- 212 Scientology-Organisation ren und der Rechtsfähigkeit des Einzelnen aus der Perspektive der SO. Der Beschuldigte oder Angeklagte soll sich im Strafverfahren zu seiner Verteidigung nicht auf Rechte berufen dürfen. Vielmehr wird der Kreis der Rechtsträger auf die "Ehrlichen" beschränkt, also nur auf diejenigen, die sich der SO verschrieben haben. Die nur eingeschränkte Geltung aller Rechte, also auch der Grundund Menschenrechte, gehört zu den von Hubbard aufgestellten Standardforderungen für die von ihm und der SO angestrebte "Zivilisation". Im bereits 1959 erschienenen "Handbuch des Rechts" äußert sich L. Ron Hubbard zur Funktion des scientologischen Rechtssystems. Es enthält verschiedene Passagen mit tatsächlichen Anhaltspunkten für das Ziel der SO, eine Gewaltund Willkürherrschaft zu errichten. Danach wird es im scientologischen Gesellschaftssystem keine Menschenund Grundrechte mehr geben, wie sie im Grundgesetz definiert sind. Im scientologischen Rechtssystem sind auch keine unabhängigen Gerichte vorgesehen. Vielmehr erforscht ein nicht an Recht und Gesetz gebundener Nachrichtendienst (vgl. auch Nummer 3.2.4 dieses Abschnitts) Sachverhalte und ergreift Maßnahmen. 2.1.4 Bekämpfung von Kritik an Lehre und Praxis - aggressive Expansionspolitik In einem Grundlagenwerk fordert Hubbard "totale Disziplin". Um die Macht zu behalten, so offenbar der Gedanke von Hubbard in seinem Werk "Einführung in die Ethik der Scientology", müsse man kaltblütig, skrupellos, hemmungslos, gegebenenfalls auch heimtückisch, hinterlistig und mit Gewalt gegen die eigenen Feinde vorgehen, ansonsten werde man die Macht verlieren. Die im "Handbuch des Rechts" empfohlenen Operationen zur "Abwehr" von "Unterdrückern" lassen erkennen, dass die SO gewillt ist, die im Grundgesetz gewährten Grundrechte abzuschaffen oder hinsichtlich ihres Schutzbereichs verfassungswidrig einzuschränken, um dadurch eine totale Kontrolle des Einzelnen durch die SO zu erreichen. Der nach wie vor gültige HCO-Richtlinienbrief vom 11. Mai 1971 enthält unter anderem Anweisungen für Scientologen, wie im Fall eines größeren Widerstands bei der Durchsetzung von Zielen der SO zu verfahren ist: "Wenn Geld und Gewalt regieren und Meinungsführer nicht beachtet werden, wenn sich im Management oder in der Regierung spezielle Privi- Scientology-Organisation 213 legien einschleichen, sind Protest-PR, Streiks und Demonstrationen das Werkzeug, das man verwendet. Wenn das nicht funktioniert oder wenn sie unterdrückt wird (Anm.: werden), ereignen sich subversive Aktionen, allgemeine nachrichtendienstliche Aktionen, Schwarze Propaganda und andere Übel." 2.2 Aktivitäten der SO 2.2.1 Angriffe auf Repräsentanten des Staates Alle Aktivitäten der SO sind auf die Expansion der Organisation ausgelegt. In diesem Zusammenhang sind auch Maßnahmen der Kritikerbekämpfung zu sehen. Kritiker sind alle Personen und Institutionen, die den Zielen der SO nicht zustimmen und ihrer Ausbreitung entgegenstehen. Für deren "Handhabung" gibt es detaillierte Anweisungen, wie zu verfahren ist. Aus diesem Grund verunglimpft, beschimpft und verleumdet die SO seit mehreren Jahren Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus richten sich Verunglimpfungen auch gegen die Verfassungsordnung in Deutschland selbst. Sie wird mit derjenigen des nationalsozialistischen Deutschlands gleichgesetzt. 2.2.2 Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung Durch effiziente Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung, der "Technologie", werden die Mitarbeiter in manipulativer Weise unter ständigen Verhaltenszwang gesetzt, um nach dem internen Sprachgebrauch des Managements wie "Maschinen" zu "produzieren", d.h. neue Kunden zu werben und zu Anhängern des Systems zu machen. Ziel ist es dabei, aus den als "rohes Fleisch" bezeichneten Kunden "Produktionsmaschinen" für die Werbung und Bearbeitung neuer Kunden zu "produzieren". Die Mitarbeiter unterwerfen sich diesem Reglement, weil sie aus dem engmaschigen, repressiven Kontrollsystem nur schwer ausbrechen können. Hinzu kommt, dass sich die meisten Mitarbeiter ihrer tatsächlichen Rolle innerhalb der Organisation nicht bewußt werden. Der Leistungsdruck des Systems auf die Mitarbeiter ist dabei so stark, dass sie sich dem technokratischen Regelwerk der "Admintech" und den Befehlen ihrer Vorgesetzten ohne Widerspruch fügen, unter Umständen sogar unter Inkaufnahme der Verletzung staatlicher und strafbewehrter Normen. 214 Scientology-Organisation 2.2.3 Ausforschung und Bekämpfung von Kritikern Personen, die berechtigte Kritik üben, sollen mit schikanösen bis diffamierenden Attacken als "Feinde" bekämpft werden. Ziel ist es dabei, die Gegner von SO, die als "unterdrückerische Personen" bezeichnet werden, mundtot zu machen, um die Expansion des Systems ungestört vorantreiben zu können. Gegen Kritiker wird wegen ihrer Gegnerschaft zur SO deshalb zunächst "lautstark" oder verdeckt mit geheimdienstlichen Methoden diktatorischer Staaten ermittelt. Sie werden dann angezeigt, diffamiert, öffentlich bloßgestellt und verklagt, bisweilen bedroht und belästigt. In den USA scheuen sich daher manche Medien bereits, offen gegen Scientology Stellung zu nehmen. 2.2.4 Kampagne gegen Schutzerklärung Über das Deutsche Büro für Menschenrechte der "Scientology Kirche Deutschland e.V.", das organisatorisch dem Office of Special Affairs (vgl. auch Nummer 3.2.4 dieses Abschnitts) angegliedert ist, setzte die SO ihre 1997 bekanntgewordene Kampagne gegen die Verwendung von Schutzerklärungen durch deutsche Unternehmen und öffentliche Stellen fort. Mit den Schutzerklärungen gegenüber Mitarbeitern und Drittfirmen wollen sich Unternehmen und öffentliche Stellen gegen mögliche Einflussnahmeund Ausforschungsversuche von Scientologen schützen. Die SO räumt dem Ziel, die Verwendung von Schutzerklärungen in der Wirtschaft zu unterbinden, hohe Priorität ein. Der Leiter des OSA International, Mike Rinder, kommentierte auf einer internationalen IAS-Veranstaltung im Sommer 2000 das Vorgehen gegen die im Sprachgebrauch der SO "Sektenfilter" genannte Schutzerklärung wie folgt: Die SO habe Einfluss auf US-amerikanische Regierungsbehörden genommen, dass diese den Druck auf die deutsche Regierung erhöhten, um diese aus Sicht der SO diskriminierende Praxis zu beenden. Die SO behandle die Verwendung der Schutzerklärung als "langfristigen Out-Ethik-Zustand", der "gehandhabt" werden müsse. Ferner habe es die IAS in dieser Angelegenheit zu einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongreß gebracht. Sie habe erreicht, dass Deutschland auf die so genannte "Watch-List" der Repräsentantin für Handelsbeziehungen gesetzt wurde, einer angeblichen Überwachungsliste für Regierungen mit unseriösen Geschäftspraktiken, die keine sicheren Handelspartner seien. Damit habe man Deutschland das Etikett einer "unterdrückerischen Regierung" aufgedrückt, wie China nach dem Massaker auf dem Platz des Scientology-Organisation 215 Himmlischen Friedens, lateinamerikanischen Staaten ohne erfolgversprechende Drogenpolitik oder Staaten mit Staatsterrorismus. Rinder machte im weiteren Verlauf seiner Ausführungen deutlich, dass die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Scientology nicht nur ein Auftrag innerhalb der Organisation, sondern auch außerhalb der "Kirchen" sei. Seit August 2001 versucht die SO im Zusammenhang mit Ausschreibungen für öffentliche Aufträge Druck auf Landesund Bundesbehörden gegen die Verwendung der Schutzerklärung auszuüben. Dabei bedient sie sich einer großen Berliner Anwaltskanzlei, die im Auftrag eines angeblich betroffenen Bieters die Schutzklausel als Verstoß gegen nationales und europäisches Recht rügt, obwohl seitens der ausschreibenden Stellen immer darauf hingewiesen wird, dass es sich bei der Schutzklausel nicht um ein vergabefremdes Kriterium, sondern um ein Kriterium der Zuverlässigkeit eines Anbieters handelt. 2.2.5 Nutzung des Internets Auch die SO nutzt das Internet bereits seit Jahren zur Selbstdarstellung und Werbung. Sie bietet umfangreiche und technisch aufwendig gestaltete mehrsprachige Seiten im "world wide web" (www) an. Diese enthalten Angaben über politische Ziele, Teilorganisationen und aktuelle Schriften der SO. Daneben werben Scientologen weltweit mit eigenen Homepages für die SO, darunter auch rund 600 deutsche Mitglieder. Die SO nutzt damit - wie bereits auch bei ihren Publikationen und entgeltlichen Kursen - kommerzielle Formen, um Interessenten für ihre spezifischen Inhalte zu gewinnen. 2.2.6 Aktivitäten im Ausland In Frankreich sind nach Presseberichten vom Oktober 1998 in einem Gerichtsverfahren gegen die SO Hunderte von Gerichtsdokumenten aus dem Justizpalast in Paris verschwunden. In diesem Zusammenhang sieht sich die SO Vorwürfen der Unterwanderung des Rechtssystems ausgesetzt. Im Zusammenhang mit der Vernichtung von Gerichtsakten vor einem Strafprozess gegen SO-Verantwortliche in Marseille im September 1999 wurden die Vorwürfe gegen die SO wegen Unterwanderung des Rechtssystems öffentlich von der in 216 Scientology-Organisation Frankreich zur Bekämpfung von Sekten eingesetzten Mission Interministerielle De Lutte Contre Les Sectes (MILS) wiederholt. Der Prozess endete in Marseille mit einer Verurteilung von fünf Verantwortlichen der SO zu Haftstrafen wegen Betrugs. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen. In Belgien wurden im September 1999 im Zusammenhang mit Ermittlungen der Behörden gegen SO-Verantwortliche unter anderem wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und des Vorwurfs der organisierten Kriminalität SO-Objekte durchsucht. Die Verfahren sind noch nicht abgeschlossen. In Österreich wurde der für die SO zuständige Familienminister nach Presseberichten von einem SO-Verantwortlichen mit der Aufdeckung angeblich belastender Details aus dem Betrieb seiner Privatfirma bedroht. Im Jahre 1999 wurde bekannt, dass bei der Telecom Austria in Wien ein hochtrainierter Scientologe an führender Stelle sitzt. Er hatte Zugang zum Behördennetz Österreichs und war über die staatlichen Telefonüberwachungsmaßnahmen in Österreich informiert. In Großbritannien wurde der SO im Dezember 1999 die Anerkennung als Wohltätigkeitsorganisation verweigert. Die Entscheidung stellt ausdrücklich fest, dass die SO keine Religionsgemeinschaft im Sinn der einschlägigen Vorschriften ist und nicht zum Wohl der Allgemeinheit gegründet wurde. Bei der Expansion der SO in Osteuropa spielt die Org München seit Jahren eine bedeutende Rolle. In der Org München wird eine Vielzahl Osteuropäer, insbesondere Ungarn, durch Kurse ausgebildet. Von deutschen Firmen mit Niederlassungen in Osteuropa wurde bekannt, dass scientologische Beratungsunternehmen Verwaltungstechnologie nach Hubbard in die Unternehmen transportieren und so über die Vertriebsniederlassungen Zugang in die deutschen Hauptunternehmen erhalten. Nach Presseberichten sollen in Russland weit über fünfzig Firmen, Banken und Kombinate Mitglied der scientologischen Wirtschaftsorganisation WISE geworden sein, darunter auch Rüstungsbetriebe. Dazu kämen noch Direktoren und Manager von 28 staatlichen oder halbstaatlichen Firmen mit Zehntausenden von Mitarbeitern. Auch soll die SO Kontakte in die politische Führungsebene haben. So berichtete die Presse, im Jahr 1999 sei ein Mitglied der SO-Vereinigung Citizens Commission on Human Rights (CCHR) als neue Justitiarin der Stadt Moskau bestellt worden. Scientology-Organisation 217 In der Slowakei sind nach Presseberichten vom Oktober 2001 zunehmende Aktivitäten der SO im "Church"und "WISE"-Bereich zu verzeichnen. So wurde von körperlichen Angriffen auf SO-Kritiker berichtet. Angeblich sollen hohe slowakische Politiker, Manager und Künstler Managerkurse bei einer Firma besucht haben, die ein führender Scientologe in der Slowakei gegründet habe. 2.3 Bewertung der Schriften und Aktivitäten Die bisherige Beobachtung der SO durch die Verfassungsschutzbehörden hat ergeben, dass die auf den Schriften ihres Gründers L. Ron Hubbard beruhende Ideologie nach eigenen Angaben unveränderliche Gültigkeit besitzt. Die Schriften und Aktivitäten der SO enthalten tatsächliche Anhaltspunkte, dass die SO die bestehende demokratische und rechtsstaatliche Ordnung durch die Etablierung einer Gesellschaft mit scientologisch bestimmten Normen ersetzen und lenkenden Einfluss auf Regierungen ausüben will. Als Ziel erscheinen nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Staaten, ihre Rechtssysteme und Regierungen. Die scientologische Gesellschaft ist auf die Beseitigung des in Art. 3 Grundgesetz konkretisierten Gleichheitsgrundsatzes, die Abschaffung der universalen Geltung der Menschenrechte, der Unabhängigkeit der Gerichte und der Meinungsfreiheit gerichtet. Der unverhüllte Absolutheitsanspruch der SO ist von Gleichschaltung und Unterdrückung geprägt. Meinungsfreiheit wird nur insoweit gewährt, als die "Leute dem Weg der SO folgen". Zwar treten die einfachen Mitglieder in der Regel nicht aus politischen Motiven der SO bei und bewerten Schriften mit gesellschaftsverändernden Absichten der SO ebenfalls wohl nicht als Äußerungen mit politischem Gehalt. Sie werden jedoch zu völligem Gehorsam gegenüber dem System trainiert und auf das Ziel eingeschworen, durch Verbreitung von Scientology die "Welt zu retten". Damit werden auch zunächst unpolitische Mitglieder in den Dienst der verfassungsfeindlichen scientologischen Ideologie gestellt. 3. Organisationsund Kommandostruktur der SO 3.1 Weltweite Kommandostruktur der SO Die Einrichtungen der SO in Deutschland erscheinen zwar nach außen als rechtlich selbständig, sind jedoch der strikten Befehlsund 218 Scientology-Organisation Religious The Command Chart of SCIENTOLOGY Technology - Die Kommandostruktur der Scientology-Organisation - Center (RTC) WATCHDOG COMMITTEE (WDC) [Überwachungsausschuß] C Z E E Reserven OSA Programme Flag Ship Flag Sea Org Scientology Celebrity Scientology WISE ABLE Golden Era Verlags- N N Rücklagen Büro für DienstDienstDienstOrganisaCentres Missionen Weltinstitut für Gesellschaft Productions organisation T T Spezielle leistungsleistungsleistungstionen V.I.P. Zentren International Scientologyfür besseres Audiovisuelle R R Angeleorganisation organisation organisation Unternehmen Leben und Medien und A A genheiten Bildung Tonträger L L C C O O CMO INT Int Leitender - Direktor - International M M Commodore's Messenger Finance Office - Ebene der leitenden Mitarbeiter - Golden Era P P Organization International (IFO) - Vorstand des Internationalen Managements - Productions U U T T CMO GOLD E E R R / K O O R D I N I E R U N G D U R C H D E N Ü B E R WA C H U N G S A U S S C H U S S / V O R S TA N D D E S I N T E R N AT I O N A L E N M A N A G E M E N T S / D A B T CMO IXU - Flag-Netzwerk Koordinierungsausschuß, geleitet durch das Flag-Befehlsbüro - A E N N FLAG COMMAND BUREAUX (FCB) K B NETWORKS FLAG BUREAUX SCIENTOLOGY MISSIONS WORLD INSTITUTE OF ASSOCIATION FOR BETTER BRIDGE PUBLICATIONS A (FB) INTERNATIONAL SCIENTOLOGY ENTERPRILIVING AND EDUCATION INCORPORATED (BPI) N K (SMI INT) SES INTERNATIONAL INTERNATIONAL (Verlagshaus) (WISE INT) (ABLE INT) NEW ERA PUBLICATIONS CMO FSSO FSO CC INT C O N T I N E N TA L N E T W O R K C O O R D I N AT I O N C O M M I T T E E H E A D E D B Y C O - C O N T I N E N TA L L I A I S O N O F F I C E CONT C O N T I N E N TA L L I A I S O N O F F I C E ( C L O ) Flag Ship Flag Celebrity Service Service Centre NETWORKS FLAG SCIENTOLOGY MISSIONS WORLD INSTITUTE OF ASSOCIATION FOR CONTINENTAL Org OPERATIONS LIAISON INTERNATIONAL SCIENTOLOGY ENTERBETTER LIVING AND PUBLICATIONS LIAISON Org International OFFICE CONTINENTAL PRISES CONTINENTAL EDUCATION CONTINENTAL OFFICE (CPLO) (Kontinentales Verbindungsbüro für (FOLO) (SMI CONT) (WISE CONT) (ABLE CONT) Publikationen) Executiv Council Executiv Council Executiv Council Aufsichtsrat Aufsichtsrat Aufsichtsrat FIELD GROUPS MISSIONS WISE SOCIAL CELEBRITY SEA ORG - Feldauditoren CHARTER REFORM CENTRE SERVICE CLASS IV - Dianetikgruppen COMMITTEES ACTIVITIES ORGANIZATIONS ORGANIZATIONS ORGANIZATIONS - OT-Komitees - GUNG HO & MEMBERS Hinweise zum besseren Verständnis des Organigramms: Das RTC ist als selbständige Kontrollstelle konzipiert und nicht in das so genannte Internationale Management eingegliedert. Dennoch handelt es sich beim RTC um die Befehlszentrale der SO. Das WDC leitet über die "Führungskanäle" das Management. Ein Führungskanal stellt die Verbindung dar, über die die internationalen Scientology-Organisationen Autorität ausüben. Es ist ein Befehlsweg, durch den Programme, Empfehlungen und Managementbefehle zu den Stellen fließen, die mit der Durchführung beauftragt sind. Auf den "Beobachtungsund Durchsetzungslinien" überwacht als verlängerter Arm des WDC die CMO mit ihren den verschiedenen Managementebenen zugeordneten Einheiten CMO INT, CMO GOLD, CMO IXU und CMO CONT die Erfüllung der vom WDC dem Management gegebenen Befehle. Eine Beobachtungsund Durchsetzungslinie stellt die Verbindung dar, die von den CMO-Einheiten benutzt wird, um die Befolgung von Befehlen des Überwachungsausschusses (WDC) durchzusetzen und zu kontrollieren. Netzwerk der LRH-Kommunikatoren: * Oberstes HCO Netzwerk (HCO=Hubbard Kommunikationsbüro) (LRH=L. Ron Hubbard) * Bewahrer der Technologie und Richtlinienkenntnis Netzwerk * Oberstes Netzwerk der Qualifikationsabteilungen und der Internationalen Ausbildungsorganisation Finanznetzwerk: * Finanz Durchsetzungsbeauftragter Netzwerk * Flag Finanzbeauftragter Netzwerk (FBO=Flag Banking Officer) Unter-Netzwerke: Stellvertreter FBO-Netzwerk für M.O.R.E. * Netzwerk der Hauseigentümer Büro für Spezielle Angelegenheiten Netzwerk (OSA) Es handelt sich um selbständige Scientology-Gruppen, die nicht in den Konzern eingegliedert sind. Verbindungen zum Konzern bestehen über Kommissionsund Franchising-Verträge. Anmerkung: Das Organigramm wurde erstellt nach Renate Hartwig "Scientology. Das Komplott und die Kumpane", 1995, sowie nach Originalvorlagen der SO. Scientology-Organisation 219 Disziplinargewalt des Internationalen Managements in den USA unterworfen und sind daher unselbständige Teile. Das Religious Technology Center (RTC) unter der Leitung von David Miscavige hat die oberste Befehlsgewalt in der SO. Unterhalb des RTC ist das Internationale Management der SO angesiedelt. Dieses stellt nach dem RTC die höchste Führungsebene der SO dar und ist dafür verantwortlich, für jeden Sektor der SO Strategien und taktische Pläne zu entwickeln. Hier wird auch die Führung der verschiedenen Sektoren koordiniert. Derartige Sektoren sind unter anderem die Bereiche "Church", WISE, ABLE und OSA. Das Internationale Management besteht demzufolge aus mehreren Gruppen, von denen jede eine ganz bestimmte Verantwortung trägt. Die oberste Stufe dieser Führungsebene ist das Watch Dog Committee (WDC). Hierbei handelt es sich um eine "Inspektionsund Überwachungsorganisation", welche die eigentlichen Management-Gruppen inspiziert und für deren Funktionieren sorgen soll. 3.2 Organisation der SO in Deutschland 3.2.1 "Church"-Sektor Derzeit existieren im Bundesgebiet zehn "Kirchen" (Orgs) und "Celebrity Centres" (CC), und zwar zwei Einrichtungen in München (eine Org, ein CC), je zwei Einrichtungen in Düsseldorf (eine Org, ein CC) und Hamburg (eine Org, ein CC) sowie jeweils eine Org in Berlin, Stuttgart, Frankfurt am Main und Hannover. Außerdem gibt es in Deutschland insgesamt elf "Missionen", sechs in Baden-Württemberg, jeweils eine in Bremen und Hessen sowie drei in Bayern, nämlich in München, Nürnberg und Augsburg. Die genannten Einrichtungen der SO sind in Deutschland überwiegend als eingetragene Vereine organisiert. Als Dachverband fungiert die "Scientology Kirche Deutschland e.V." Diese Vereine sind jedoch nur scheinbar selbständig; sie haben im weltweiten, aus den USA gesteuerten System kaum eigenständige Funktionen. Faktisch erfolgt die Leitung der SO-Einrichtungen nicht durch die jeweiligen Vereinsvorstände, sondern durch die Executive Directors und die sonstigen Funktionsinhaber nach detaillierten schriftlichen Anweisungen und Vorgaben des Internationalen Managements in den USA über die jeweiligen Verbindungsstellen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Mitglieder der Eliteorganisation Sea-Org aus den USA und dem 220 Scientology-Organisation Kontinentalen Verbindungsbüro in Kopenhagen in deutsche Einrichtungen der SO abgeordnet wurden, um dort Befehle zu erteilen und für die richtige "Handhabung" der scientologischen Technologie zu sorgen. Die "Scientology Kirchen" (Orgs) und "Missionen" bieten Dianetik, Auditing und Ausbildung auf einer grundlegenden und einer mittleren Ebene an. "Celebrity Centres" offerieren Dienste für Künstler und Persönlichkeiten des Sports und der Geschäftswelt. In den Einrichtungen werden Mitglieder geworben und Leistungen (Kurse, Auditing) und Waren (Bücher) verkauft. Nachdem im Jahr 1998 ein deutlicher Umsatzrückgang zu verzeichnen war, scheinen sich die Umsätze der Org München seitdem wieder zu stabilisieren bzw. geringfügig nach oben zu entwickeln. 3.2.2 WISE-Sektor Das World Institute of Scientology Enterprises (WISE) wurde 1979 von der SO gegründet. Es besteht aus Geschäftsleuten oder Firmen aus allen Bereichen der Wirtschaft. Schwerpunkte in Deutschland und Bayern sind die Immobilienbranche und die Unternehmens-, Führungsund Personalberatung, daneben zeichnet sich die IT-Branche als weiterer Ansatzpunkt scientologischen Interesses in Bayern ab. Die IT-Branche stellt aufgrund der globalen Vernetzung und ihrer technischen Möglichkeiten ein besonderes Risiko für die Sicherheit deutscher Unternehmen dar, da der Zugang in sensibelste Firmenbereiche eröffnet wird. Zweck von WISE ist es, Geld für die SO zu beschaffen und durch die Verbreitung der Hubbardschen Technologie in der Wirtschaft Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Damit kommt WISE auch eine führende politische Bedeutung zu. Der Schwerpunkt der Expansionsbestrebung von SO liegt seit einiger Zeit in Osteuropa (Russland, Ungarn, Slowakei). Kontinentale WISE-Büros finden sich für Europa in Kopenhagen, Mailand, Budapest und Moskau. Über so genannte Hubbard Colleges of Administration wird aktiv versucht, Hubbards Verwaltungstechnologie als vorgeblich erfolgreiches westliche Know-How in russischen Unternehmen und in der Verwaltung zu etablieren. Unter den in Rußland von der SO "betreuten Objekten" sollen sich Staatsbetriebe, mehrere Rüstungsbetriebe mit der Klassifikation bis "streng geheim", wissenschaftliche Forschungszentren des Verteidigungsministeriums und Fernsehsender befinden. Scientology-Organisation 221 Die Mitgliederzahl von WISE in Deutschland nimmt ab. In Bayern sind die WISE-Aktivitäten nicht sehr ausgeprägt. Firmen, die scientologisch geführt werden oder bei denen an zentralen Stellen Scientologen beschäftigt sind, müssen jedoch nicht WISE-Mitglied sein. Mit der Einführung von Hubbards totalitärer Verwaltungstechnologie werden im Rahmen der Unternehmenssteuerung rigide Führungsmechanismen in das Unternehmen eingebracht, die zu umfassender Kontrolle der Mitarbeiter sowie zur Kontrolle des Gesamtunternehmens durch die SO führen können. Ein bayerischer Unternehmer musste dies 1999 in seiner ungarischen Niederlassung erfahren, deren Leiter scientologisch geschult worden war. Anfang des Jahres 2001 wurde ein weiterer Fall bekannt, bei dem ebenfalls eine WISE angehörende ungarische Unternehmensberatung den Einstieg in die ungarische Niederlassung eines bayerischen Unternehmens fand. Nach der Instrumentalisierung des Niederlassungsleiters sollte dann im zweiten Schritt die gesamte Führungsetage in die scientologische Verwaltungstechnologie eingeführt werden. Die Dienstleistungen der scientologischen Beraterfirma hätten letztlich auch hier nach einer erfolgreichen Umorganisierung mit der Kontrolle der Niederlassung durch WISE International (USA) enden können. 3.2.3 ABLE-Sektor Die Association for better Living and Education (ABLE) versucht, für die SO den sozialen Bereich der Gesellschaft zu durchdringen und scientologische Lösungsansätze zu realisieren. Zu den dem ABLE-Bereich zuzuordnenden Organisationen gehören unter anderem - "Zentrum für individuelles und effektives Lernen" (ZIEL), - "Applied Scholastics" (Ausbildungsprogramm; unter anderem Englisch-Fernkurse), - "NARCONON", eine angebliche Drogenrehabilitationsstätte, - "CRIMINON", ein Programm zur angeblichen Strafgefangenenrehabilitation. Mit diesen Organisationen versucht die SO, sich als humanitäre, karitative und sozial verantwortliche Organisation darzustellen. Die Auswahl von Ausbildung, Gefangenenund Drogenrehabilitation als wei- 222 Scientology-Organisation teren Schwerpunkten lässt den Schluss zu, dass die gerade bei diesen Personengruppen gegebene Möglichkeit der leichteren Einflussnahme benutzt wird, um diese für die SO zu werben. Bei der Anmeldung öffentlicher Veranstaltungen der SO in München wurde in Bayern erstmalig ein CRIMINON-Verein bekannt, der am 14. und 19. Mai eigene Veranstaltungen zum Thema Gefangenenrehabilitation durchführte. 3.2.4 Office of Special Affairs (OSA) Die SO selbst stellt ihre OSA-Einrichtung für Deutschland mit Sitz in München als Büro für öffentliche Angelegenheiten oder als Presseund Rechtsamt dar. Teile des OSA sind das Deutsche Büro für Menschenrechte und die Citizens Commission on Human Rights (CCHR). Da die CCHR weisungsgebend für die Kommisssion für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. (KVPM) ist, kann diese Einrichtung zur Bekämpfung der Psychiatrie ebenfalls dem Bereich OSA zugerechnet werden. OSA ist die Nachfolgeorganisation einer bereits in den 60er Jahren unter dem Namen Guardian Office (GO) aufgebauten Abteilung, die nach eigenem Selbstverständnis auch Nachrichtendienstund Spionagefunktionen hatte. Zahlreiche Grundlagenpapiere für das GO, z.B. für nachrichtendienstliche Schulung, wurden für den neuen Dienst als OSA-Network Orders übernommen. Im Gegensatz zur rigiden und direkten Vorgehensweise des GO, die in der Vergangenheit zu einem internationalen Ansehensverlust der SO geführt hat, operiert das OSA heute erkennbar vorsichtiger, ohne seine Ziele im Wesentlichen geändert zu haben. Die für Deutschland zuständige OSA-Einheit ist das Department of Special Affairs (DSA), das 1971 seinen Sitz von Hamburg nach München verlagerte. Nach außen tritt das DSA unter der Bezeichnung "Scientology Kirche Deutschland, Beichstr. 12, 80802 München" auf; der inoffizielle Sitz ist Nordendstr. 3, 80799 München. Die im August 2001 gegründete, von einem DSA-Unterabteilungsleiter betriebene "Aktion Transparente Verwaltung München (ATV)" ist dem DSA zuzurechnen. Dem DSA-Deutschland als Zentralstelle sind örtliche Büros in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Ulm nach- Scientology-Organisation 223 geordnet; sie sind bei den dortigen "Scientology Kirchen" oder den "Celebrity Centers" angesiedelt. Laut Hubbard-Anweisung (HCO-PL) vom 13. März 1961 soll in den OSA-Akten die jeweilige Ausgangslage für Maßnahmen von OSA bzw. DSA gegen "Feinde" (SO-Kritiker) gesammelt werden. Das HCO-PL beschreibt als Ziel der Abteilung "Behörden und ihnen entgegengesetzte Denkmodelle oder Gesellschaften in einen Zustand völliger Übereinstimmung mit den Zielen der SO zu bringen. (...) Dies geschieht durch die hochrangige Fähigkeit zur Steuerung und - falls sie nicht gegeben ist - durch die weiter unten angesiedelte Fähigkeit zur Überwältigung." Das DSA-Deutschland setzt diese Anweisung vollinhaltlich um, indem es zu Kritikern, Politikern, Behördenangehörigen und anderen Gegnern Informationen sammelt, auswertet und für operative Maßnahmen umsetzt. Durch Recherchen unter Falschnamen und auf anderen Wegen, beispielsweise durch Nutzung der in einigen Bundesländern eingeführten rechtlichen Regelungen über ein allgemeines Akteneinsichtsund Informationszugangsrecht, verschafft sich DSA-Deutschland interne Unterlagen deutscher Einrichtungen. DSA-Außendienstmitarbeiter observieren als "Feinde" bezeichnete Gegner der SO und beziehen, um Rückschlüsse auf ihre Organisation zu verhindern, Privatdetektive in ihre verdeckten Ermittlungen ein. Intern arbeitet das DSA abgeschottet gegenüber anderen SO-Strukturen. Die fernschriftliche Informationsübermittlung an übergeordnete Einrichtungen erfolgt verschlüsselt oder durch konspirativen Botenverkehr. 4. Mitglieder der SO Die SO hat bundesweit zwischen 5.000 und 6.000 Mitglieder, wobei die Organisation selbst eine deutlich höhere Zahl angibt. Der Mitgliederstand in Bayern ist mit etwa 2.600 gegenüber dem Vorjahr konstant geblieben. Als Mitglieder werden solche Personen verstanden, die ihre Mitgliedschaft in einem SO-Verein oder einer sonstigen SO-Gliederung, z.B. im WISEoder ABLE-Bereich, schriftlich erklärt haben oder durch die Belegung von Kursen in einem Verein ihre Mitgliedschaft verdeutlichen. 224 Scientology-Organisation 5. Veranstaltungen der SO Wie im Vorjahr setzte die SO ihre Bemühungen fort, sich in der Öffentlichkeit als verfolgte Minderheitsreligion darzustellen. Dazu veranstaltete sie zahlreiche öffentliche Versammlungen, eine Ausstellung und sonstige propagandistische Aktionen, um die Bürger über ihre verfassungsfeindlichen Absichten zu täuschen, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz mit der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus zu vergleichen und um neue Mitglieder zu werben. 5.1 Ausstellung "Was ist Scientology?" In der Zeit vom 4. bis 17. Mai veranstaltete die SO in München in einem Auktionshaus ihre Ausstellung "Was ist Scientology?", um ihre "Kirche" und Teilorganisationen der Öffentlichkeit vorzustellen. Die Veranstaltung in München war Teil der von der "Church of Scientology International" (CSI) initiierten europaweiten Wanderausstellung. Organisiert und finanziert wurde die Veranstaltung vom "Department of Special Affairs" (DSA) bzw. der "International Association of Scientologists" (IAS). Die Veranstaltung fand nur geringes öffentliches Interesse. Dagegen kam es im Vorfeld und während der Dauer der Veranstaltung zu Protesten und Gegenveranstaltungen empörter Bürger. So brachten Geschäftsleute in ihren Schaufenstern Plakate gegen Scientology und deren Ausstellung an. Daraufhin wurden sie von SO-Aktivisten aufgesucht und gedrängt, diese zu entfernen. Die SO zeigte sich von den teils spontanen Gegenaktionen und Protesten der Anwohner völlig überrascht. 5.2 PR-Aktionen im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA In der neuesten Sonderausgabe der SO-Publikation "Freiheit", die bundesweit in einer Auflage von 100.000 Exemplaren an Haushalte verteilt wurde, warb die SO unter Bezugnahme auf die Terroranschläge in den USA für ihre Kurse, Publikationen und um neue Mitglieder. Unter der Schlagzeile "Ehrenamtliche Geistliche im Einsatz in New York" wurde in Wort und Bild über die Hilfeleistung von Scientologen bei den Bergungsarbeiten berichtet und dazu aufgerufen, den Kurs für "Ehrenamtliche Geistliche" zu kaufen, der den Absolventen Scientology-Organisation 225 angeblich dazu befähige, in Not geratenen Menschen Beistand zu leisten und die "Harmonie zwischen Geist und Umgebung bzw. Geist und Körper" wieder herzustellen. 6. Verwaltungsgerichtsverfahren Das Verwaltungsgericht des Saarlands hat am 29. März eine Klage der Scientology Kirche Deutschland e.V. (SKD) abgewiesen, die sich gegen die Beobachtung der Klägerin mit nachrichtendienstlichen Mitteln durch das Landesamt für Verfassungsschutz Saarland richtete. Nach Feststellung des Gerichts sind die entsprechenden Voraussetzungen für diese Maßnahme erfüllt, da tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Klägerin vorliegen. Über den Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung ist noch nicht entschieden. Am 13. Dezember entschied das Verwaltungsgericht Berlin über eine Klage der Scientology Kirche Berlin e.V. (SKB) entsprechend dem Klageantrag, dass die Berliner Landesbehörde für Verfassungsschutz die Anwerbung und den Einsatz von Mitgliedern oder Mitarbeitern der SKB als bezahlte V-Leute zu unterlassen habe. Der Einsatz anderer nachrichtendienstlicher Mittel durch die Verfassungsschutzbehörde bleibt davon unberührt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 7. Vertrauliches Telefon und Informationsangebot im Internet Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz unterhält ein "vertrauliches Telefon" (Tel.-Nr. 0 89/31 20 12 96). Opfer, Aussteiger und Angehörige von Scientology-Mitgliedern können dort Hinweise über die SO geben. Für Beratungen stehen die anerkannten Beratungsstellen zur Verfügung. Das Bayerische Staatsministerium des Innern informiert im Internet über die Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung, über Pressemitteilungen und Gerichtsentscheidungen unter folgender Adresse: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/scientology 226 Spionageabwehr 8. Abschnitt Spionageabwehr 1. Ausgangslage Auch für die Spionageabwehr sind aus den Ereignissen des "11. September" Folgerungen für die Beurteilung der Gefährdungslage zu ziehen. Die Staaten, die von den Sicherheitsbehörden der Unterstützung der Terrororganisation Al Qaeda verdächtigt werden, rücken mit ihren Bemühungen, sich in den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen zu bringen (Proliferation), noch weiter in den Vordergrund der nachrichtendienstlichen Beobachtung. Der "11. September" hat verdeutlicht, dass Terrororganisationen darauf abzielen, Anschläge mit tausenden von Opfern durchzuführen. Es muss verhindert werden, dass diese Organisationen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Das Verhindern der Proliferation stellt somit verstärkt einen Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Abwehrtätigkeit dar. Die fortschreitende Globalisierung führt zu einem verstärkten Interesse am Schutz vor Wirtschaftsspionage, da die Sicherung von Know-howund Entwicklungsvorsprüngen von existenzieller Bedeutung für die Konkurrenzfähigkeit einzelner Firmen und nationaler Volkswirtschaften ist. Die Nachrichtendienste anderer Staaten beobachten in Deutschland verstärkt die hier tätigen oppositionellen Gruppierungen. Die Regierungen von Krisenländern wie Syrien oder Irak betreiben einen großen Aufwand, um über regimekritische Bestrebungen im Ausland informiert zu sein bzw. auf die Gruppierungen Einfluss nehmen zu können. Auch die in China verbotene buddhistisch-taoistische Falun-Gong-Bewegung und die in Deutschland lebenden organisierten Angehörigen der uigurischen Minderheit in China werden hier von den chinesischen Nachrichtendiensten beobachtet und unterwandert. Auch auf die russischen Nachrichtendienste richtet sich weiterhin die Aufmerksamkeit der Spionageabwehr. Der Auslandsaufklärungsdienst SWR und der militärische Nachrichtendienst GRU sind in ihren Spionageabwehr 227 Aufklärungsbemühungen ausgerichtet auf die NATOund EU-Erweiterung, militärische und zivile Technologien, Informationssysteme und neueste wissenschaftliche Entwicklungen. An diesen Informationen sind auch die Nachrichtendienste von Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, Asiens, aber auch befreundeter Staaten interessiert. 2. Wirtschaftsspionage - Ausforschung von Wissenschaft und Technik Der Abschlussbericht des Sonderausschusses des EU-Parlaments zum Thema "Ausspionieren der Wirtschaft durch das globale Abhörsystem Echelon" hat in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden. Dieses weltweit agierende Netzwerk aus Abhöreinrichtungen, das seit 1947 besteht und zunächst für militärische Zwecke entwickelt worden war, wird von den USA, Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Australien betrieben. Seine Existenz steht laut EU-Ausschuss außer Zweifel; der Nachweis der Wirtschaftsspionage konnte vom Ausschuss jedoch nicht erbracht werden. Die wachsende Bedeutung der Wirtschaft für die Gesellschaften und den internationalen Wettbewerb hat zur Verlagerung der Spionage von den bisherigen Zielobjekten Staat und Politik zunehmend hin zur Wirtschaftsspionage geführt. Viele Nachrichtendienste haben vor allem Interesse an Informationen über wirtschaftliche und auch wirtschaftspolitische Hintergründe, sei es bei Firmen, Konzernen, Universitäten (Forschung) und bei den Staaten selbst. So sind neben den Nachrichtendiensten der Volksrepublik China und Russlands, die nach wie vor bestrebt sind, technische und sonstige für die Wirtschaft ihrer Länder nachteilige wirtschaftliche Defizite auszugleichen, Nachrichtendienste der Krisenund Schwellenländer besonders aktiv. Im Oktober entlarvte der Verfassungsschutz einen Diplom-Ingenieur, der bei einem im Raum München ansässigen, international tätigen Luftfahrtunternehmen beschäftigt war. Er hatte technische Unterlagen seines Arbeitgebers an sich genommen und wollte sie dem Führungsoffizier eines iranischen Nachrichtendienstes übergeben. Dazu kam es nicht mehr; der Mitarbeiter des Luftfahrtunternehmens wurde verhaftet. 228 Spionageabwehr 3. Spionage im Bereich der Kommunikationstechnik Die Nachrichtendienste nutzen die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnik zunehmend für ihre Zwecke. Gegenstück zu dem von westlichen Staaten betriebenen Abhörsystem Echelon ist das von Russland aufgebaute moderne elektronische System, dessen Aufgaben kürzlich per Gesetz auf das Internet und das Mitlesen und Registrieren von E-Mails erweitert worden sind. Auch in der Schweiz wird über die Installierung eines ähnlichen Systems in den Medien diskutiert. In Frankreich gehen Parlamentsdebatten von der Existenz einer entsprechenden französischen Einrichtung aus. Die Ereignisse des "11. September" führten dazu, dass fremde Nachrichtendienste elektronische Abhöreinrichtungen noch ausbauen, weil sie nun neben der Wirtschaftsspionage zusätzlich der Terrorismusbekämpfung dienen. Bei der Weitergabe sensibler Daten über Telefon, SMS, Fax oder E-Mail ist also stets die Möglichkeit des Abhörens zu bedenken. Möglich ist auch das "Abhören" durch Manipulation, z.B. von Handys und Laptops. Die Entwicklung der technischen Möglichkeiten der Kommunikation erschwert zunehmend den Einsatz geeigneter Schutzmaßnahmen. Deshalb kommt es bei aller Notwendigkeit, die moderne Kommunikationstechnologie zu nutzen, entscheidend darauf an, zumindest bei wesentlichen geheimzuhaltenden Informationen absolut sichere Speichermöglichkeiten und Übertragungswege zu wählen. 4. Proliferation Die Befürchtung, die Terrororganisation von Usama Bin Laden könne in den Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen (ABC-Waffen) gelangen, erhielt neue Nahrung. Es konnte festgestellt werden, dass sich die Terrororganisation Al Qaeda bemühte, in den Besitz entsprechender Materialien sowie des notwendigen Know-hows zu gelangen. Dafür sprechen beispielsweise Unterlagen, die in Kabul aufgefunden wurden. Außerdem ist davon auszugehen, dass so genannte Krisenländer Al Qaeda unterstützen. Krisenländer, allen voran der Irak, aber auch Syrien, Libyen, Sudan, Iran und Nord-Korea, sind jedoch in erster Linie bestrebt, ihr eigenes ABC-Waffen-Programm voran zu bringen. Da die Krisenländer tech- Spionageabwehr 229 nisch und wissenschaftlich nicht in der Lage sind, derartige Waffen und die dazugehörige Trägertechnologie (z.B. Abschussvorrichtungen) selbst zu entwickeln und herzustellen, sind sie auf den Import von Material und Know-how angewiesen (Proliferation). Sie versuchen, die internationalen Abkommen und die nationalen gesetzlichen Bestimmungen zur Verhinderung der Ausfuhr derartiger Waffenteile zu umgehen. Dazu setzen sie Geheimdienste ein, gründen Scheinfirmen, verschleiern bei der Einfuhr von Material für die Herstellung der ABC-Waffen den Endabnehmer und täuschen einen anderen Verwendungszweck vor. Firmen, die als Lieferanten für diese sensiblen Güter in Frage kommen, haben eine besondere Verantwortung, dies zu verhindern. Sie können sich im Verdachtsfall vertrauensvoll an das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wenden. Der Verfassungsschutz ist keine Strafverfolgungsbehörde und unterliegt somit nicht dem Strafverfolgungszwang. Er kann auch die Interessenlage der Personen berücksichtigen, die ihm Informationen zur Verfügung stellen. 5. Schutzmaßnahmen - Beratung durch den Verfassungsschutz Die Wirtschaft ist bisher nicht ausreichend bereit, sich des Themas Sicherheit vor allem im Kommunikationsbereich anzunehmen. Dies liegt vor allem daran, dass Schutzmaßnahmen zum Teil nur mit erheblichem finanziellen Aufwand installiert werden können und zusätzlich zur Einschränkung der innerbetrieblichen und nach außen gerichteten Kommunikation mit Geschäftspartnern führen. Die durch Spionage möglicherweise entstehenden Schäden werden zu wenig in Rechnung gestellt. Die Verbände und Organisationen, die es sich wie der Bayerische Verband für Sicherheit in der Wirtschaft (BVSW) oder die Industrieund Handelskammern zur Aufgabe gemacht haben, Unternehmen und vor allem auch mittelständische Betriebe gegenüber diesen Gefahren der Spionage zu sensibilisieren, arbeiten zunehmend enger mit dem Verfassungsschutz zusammen. Dabei geht es neben der gemeinsamen Erstellung von Informationsbroschüren um abgestimmte Gestaltung von Informationsveranstaltungen und vor allem um den Erkenntnisaustausch. So informiert das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Firmen, Universitäten und sonstige wissenschaftliche Einrichtungen 230 Spionageabwehr über Zielobjekte und Methodik der Nachrichtendienste. Auf der anderen Seite braucht das Landesamt für eine erfolgreiche Arbeit die Bereitschaft der von Spionage Betroffenen, den Verfassungsschutz über Spionageverdachtsfälle zu informieren. 6. Ausblick Etwa ein Jahrzehnt nach Beendigung des "Kalten Kriegs" hat sich die Hoffnung auf eine stabilere und sicherere Weltlage nicht erfüllt. Die Bedrohungsszenarien haben sich geändert und mit ihnen auch die Bereiche, die des Schutzes bedürfen. Um die wirtschaftliche Stabilität, die auch Garant für die politische Stabilität und somit für das Wohlergehen aller ist, zu erhalten, bleibt es für unsere Gesellschaft unabdingbar, den Know-how-Vorsprung zu sichern und Aktivitäten fremder Nachrichtendienste zu unterbinden. Staat, Wirtschaft und Forschung sind aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und des steten Fortschritts der Kommunikationstechnik verstärkt der Gefahr der Ausspähung ausgesetzt. Sie sind schutzbedürftiger geworden. Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, dies bewusst zu machen und vor diesen Gefahren zu schützen. Organisierte Kriminalität 231 9. Abschnitt Organisierte Kriminalität 1. Ausgangslage Die langfristig angelegte Beobachtung krimineller Strukturen und Personen im Vorfeld konkreter Straftaten, ermöglicht durch eine Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes, stellt eine wichtige Ergänzung der polizeilichen Arbeit beim Vorgehen gegen die Organisierte Kriminalität (OK) dar. Dabei kommen dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz seine Erfahrungen in der Aufklärung konspirativ operierender Gruppierungen unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, die es in den Aufgabenbereichen der Spionageabwehr und der Extremismusbekämpfung gewonnen hat, zugute. 2. Beobachtungsschwerpunkte Die Erkenntnisse im Bereich der OK werden vorwiegend durch den Einsatz geheimer Mitarbeiter, aus der Anwendung anderer nachrichtendienstlicher Mittel sowie aus der Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, die in Europa fast ausnahmslos mit der OK-Bekämpfung beauftragt sind, gewonnen. Weitere Informationen erschließen sich aus der Analyse von offen zugänglichem Material sowie aus dem Berichtsaufkommen anderer Aufgabenbereiche, insbesondere aus der Spionageabwehr und der Beobachtung ausländischer extremistischer Organisationen. Die Ergebnisse der Strukturermittlungen münden oft in polizeilichen Ermittlungen. Ein Schwerpunkt war der Bereich Rotlichtmilieu. Hochkriminelle ausländische Gruppierungen standen im Verdacht, diesen Markt in Bayern zu erobern. Es gab zwar keine Anhaltspunkte für ein systematisches Eindringen ausländischer Zuhältergruppierungen. Die Ermittlungen erbrachten jedoch Hinweise, dass verschiedene Rocker-Cliquen sukzessive eine vorherrschende Stellung im Rotlichtmilieu anstreben. Als weiterer Beobachtungsschwerpunkt kristallisierte sich aus der Aufklärungsarbeit der Deliktsbereich Korruption heraus. 232 Organisierte Kriminalität Nach wie vor stellen Angehörige der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Personen aus Asien sowie aus südosteuropäischen Ländern den größten Teil des zu beobachtenden Personenkreises dar. Auffällig werden sie vor allem in den Deliktsbereichen der Prostitution und Zuhälterei, bei Waffendelikten, Menschenhandel und Schleusungen, Fälschungsdelikten sowie beim illegalen Glücksspiel und der im Zusammenhang mit diesen Straftaten stehenden Geldwäsche. * GUS-Mafia Im nordbayerischen Raum wurden umfangreiche Strukturklärungsmaßnahmen gegen russischstämmige Geschäftsleute durchgeführt. Sie hatten sich in Russland im Rahmen der Privatisierung der Wirtschaft gewinnbringenden kriminellen Geschäften gewidmet. Die erwirtschafteten Gelder wurden schon vor Jahren in verschiedene erfolgsträchtige Immobilien, Restaurants und Hotels investiert. Oftmals wurden äußerst flexible, überwiegend der Geldwäsche dienende Firmengeflechte im Auftrag von russischen Nachrichtendiensten und kriminellen Organisationen gegründet. Die Geldströme sind durch das gezielte Anlegen von weltweiten Firmenund Kontoverbindungen kaum nachvollziehbar. Die agierenden Personen unterhalten Kontakte sowohl zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft in Russland als auch zu Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft. Dadurch besteht die Gefahr der Korruption und Schattenwirtschaft. Ziel der weiteren Beobachtung dieser Strukturen ist es, die in Bayern festgestellten Aktivitäten - insbesondere die Verflechtung zwischen Organisierter Kriminalität und Nachrichtendiensten - weiter zu konkretisieren. Ergebnis der Beobachtung dieser Strukturen sind auch umfangreiche Erkenntnisse über internationale Zusammenhänge. Im Jahre 1991 wurde in München ein Statthalter der Russenmafia, Efim Laskin, ermordet. Bei seinem Mörder handelte es sich um eine Person aus der höchsten hierarchischen Ebene der Kriminellen in Weißrussland. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz erstellte anlässlich der Gerichtsverhandlung gegen den Mörder eine Gefährdungsanalyse, die den Bezug des Mordes zur russischen Organisierten Kriminalität aufzeigte. Die Polizei traf aufgrund der Analyse umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen, sodass der Prozess in München ohne Störungen durchgeführt werden konnte. Der Täter wurde im Dezember zu lebenslanger Haft verurteilt. Organisierte Kriminalität 233 * Südosteuropa-Mafia Hinweise auf kriminelle Vorgänge in Reisebüros in Istanbul und Südbayern ergaben, dass man dort Schleusungen insbesondere von Türken und Irakern sowohl über den Landweg als auch mittels Flugzeug "buchen" konnte. Die schleusungswilligen Personen wurden nach Zahlung von mehreren Tausend Mark mit verfälschten Pässen ausgestattet und nach Deutschland eingeschleust. Für einen reibungslosen Ablauf sorgten Bestechungsgelder an Grenzbeamte in der Türkei und in Griechenland. In Bayern angekommen, überließ man die Geschleusten sich selbst, nachdem man ihnen die Pässe zum Zwecke der Durchführung weiterer Schleusungen wieder abgenommen hatte. Das Reisebüro in Bayern diente als getarnte Anlaufstelle für die "Annahme von Kundenaufträgen", wobei an einem reisebürotypischen Geschäftsbetrieb keinerlei Interesse bestand. Der Organisation stand eine umfangreiche Logistik mit zahlreichen Kraftfahrzeugen und mehreren hundert Pässen zur Verfügung. An lukrativen Tagen wurden bis zu 30 Personen eingeschleust. Die Polizei wurde über die Schleuserorganisation informiert. Dies führte zur Festnahme von mehreren Tatbeteiligten. * Wirtschaftskriminalität - Korruption in der öffentlichen Verwaltung Eines der Wesensmerkmale der Organisierten Kriminalität ist die Einflussnahme auf staatliche Organe. Mit Hilfe von korrupten öffentlichen Bediensteten wollen sich die Kriminellen günstige Positionen verschaffen, sich erhebliche finanzielle Vorteile sichern und das Entdeckungsrisiko minimieren. Ein solches System illegaler Einflussnahme auf die öffentliche Verwaltung konnte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz nach ersten Hinweisen auf korrupte Beamte der Stadtverwaltung München aufdecken. Dabei wurde festgestellt, dass seit geraumer Zeit bei der Vergabe von Aufträgen im Baureferat kartellartige Preisund Auftragsabsprachen getroffen wurden. Sachbearbeiter der Behörde und Vertreter der beteiligten Firmen einigten sich bereits im Vorfeld auf eine Firma, die den Auftrag ausführen sollte. Die anderen Firmen gaben lediglich "Scheinbzw. Schutzangebote" ab. Bei regelmäßigen, konspirativ durchgeführten Treffen wurde die Vergabepraxis festgelegt. Die Beamten erhielten für ihre Beteiligung Bestechungsgelder 234 Organisierte Kriminalität von bis zu 20 Prozent der Auftragssummen. Die Zahl der Einzelfälle belief sich auf über zehntausend. Der Landeshauptstadt München entstand durch das Kartell ein Schaden im zweistelligen DM-Millionenbereich. Die Erkenntnisse wurden an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weitergegeben. Die polizeilichen Ermittlungen führten nach der Durchsuchung vieler Firmen, Ingenieurbüros und Wohnungen in Bayern und Baden-Württemberg zur Festnahme der maßgeblichen Akteure. Die beiden Hauptangeklagten wurden wegen Untreue, Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In einem anderen Fall erhärtete sich der Korruptionsverdacht gegen einen leitenden Angestellten des Veterinärwesens einer Bezirksregierung in Bayern. Zudem zeigten sich hierbei illegale Praktiken von Tierärzten bei der Abgabe von Tiermedikamenten an Mastbetriebe. Die Ärzte gaben Arzneimittel in großen Mengen ohne Einzelfallprüfung an Landwirte ab. Die Polizei ermittelte bereits gegen die so genannte "Fleischmafia". Die Informationen des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz eröffneten den Exekutivbehörden ergänzend bis dahin noch nicht bekannte Zusammenhänge und Hintergründe. * Vietnamesische OK Die Schwerpunkte vietnamesischer Straftätergruppierungen lagen nach wie vor in Berlin und den neuen Bundesländern. Eine erwähnenswerte Zunahme der Konzentration vietnamesischer Straftäter in Raum Bayern wurde nicht festgestellt. Jedoch gab es wertvolle Hinweise auf organisierte vietnamesische Straftätergruppierungen, die in Bayern insbesondere im Bereich von Schleusungen agierten. Operative Maßnahmen eröffneten einen Einblick in die überaus flexiblen Vorgehensweisen und die professionelle Planung und Durchführung ihrer Aktionen. Hierbei bedienten sich die einzelnen Organisationen auch gruppenunabhängiger Landsleute, die für die eigenständige Erledigung bestimmter Aufgaben - wie z.B. die Beschaffung von Handys und Pässen - zuständig waren. Bei den Geschleusten handelte es sich überwiegend um Personen asiatischer Herkunft. Auf dem europäischen Kontinent angekommen, wurden sie meist per Pkw vor allem über die Slowakei nach Tschechien verbracht. Prag kristallisierte sich als ein wichtiger Verteilungsknoten Organisierte Kriminalität 235 heraus. Von dort aus gelangten sie über die "grüne Grenze" in die neuen Bundesländer und wurden zunächst in einem "Zwischenlager" untergebracht. Dort wurden sie an eine andere Schleusergruppierung zur Weiterschleusung in verschiedene westeuropäische Zielländer, wie beispielsweise Frankreich, übergeben. Die Zusammenarbeit mit befreundeten europäischen Nachrichtendiensten, verbunden mit der Weitergabe der Strukturerkenntnisse an die zuständigen Exekutivbehörden, führte unter anderem zur Festnahme eines auf deutschem Gebiet agierenden Drahtziehers. Zur Legalisierung eines Aufenthalts im Bundesgebiet bedienen sich die eingeschleusten Vietnamesen weiterhin der Hilfe staatlicher vietnamesischer Stellen. Über Verbindungsleute zur vietnamesischen Botschaft können echte und verfälschte Dokumente aller Art gegen Bezahlung beschafft werden. Mit Hilfe dieser Dokumente gelingt es, drohende Abschiebungen zu verhindern oder eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts zu erschleichen. Bei Schleusungen arbeiten die Kriminellen mit zunehmender Flexibilität und Professionalität. Sie bilden internationale Geflechte, die eine länderübergreifende Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden unerlässlich machen. Auf Initiative der Strafverfolgungsbehörden trafen sich deshalb im Oktober erstmals Vertreter verschiedener nationaler Polizeibehörden (Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter, Bundesgrenzschutz, Zollkriminalamt) und Nachrichtendienste (Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz sowie Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz). Ergebnis war, dass beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden auf die Dauer eines halben Jahres als Pilotprojekt ein so genanntes "Informationsboard" eingerichtet wurde. Bei Bewährung des zunächst auf Schleusungen beschränkten Pilotprojekts soll diese Konzeption der Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten auch auf andere Bereiche der OK ausgedehnt werden. Im Rahmen der Vorfeldarbeit ergaben sich auch Hinweise auf eine Schleusungsvariante, die zeigt, wie sehr sich die vietnamesische OK an "aktuelle Marktverhältnisse" anpasst: Die vietnamesischen und chinesischen Geschleusten sind bei der Einreise auf dem Luftweg im Besitz eines Schengen-Visums, das durch Diebstahl oder durch Bestechung erlangt wurde. Mit solchen Pässen ausgestattet, reisen sie "legal" in einen Schengen-Staat ein und können sich fortan mit dem Auto oder der Bahn nahezu problemlos ins eigentliche Zielland bewe- 236 Organisierte Kriminalität gen. Die für eine derartige Einreise erforderlichen Einladungsschreiben, die der jeweiligen Botschaft des betroffenen europäischen Landes vorzulegen sind, müssen von Personen ausgestellt werden, die in Deutschland wohnhaft sind. Hierzu bedienen sich die Schleuser oftmals auch deutscher Staatsbürger, die aus Gefälligkeit - ohne die kriminellen Hintergründe zu kennen - die Ausstellung eines Visums schließlich ermöglichen. In einem anderen Fall zeigte sich, dass innerhalb der vietnamesischen Gemeinde verstärkt Rauschgift konsumiert und zunehmend auch gehandelt wird. Dieses Phänomen ist insbesondere auch bei Vietnamesen in den neuen Bundesländern festzustellen. Die eingeleiteten Maßnahmen führten zur Identifizierung der Täter und zu Erkenntnissen über die Logistik. So wurden Geschäftsabläufe und Kommunikationswege bekannt. Die Informationen wurden zu weiteren Ermittlungen an die Polizei abgegeben und trugen zur Festnahme der Täter im Herbst im Raum München sowie zur Sicherstellung von Heroin bei. * Chinesische Mafia Durch die Fortsetzung der verstärkten Aufklärung der chinesischen Mafia wurden die Erkenntnisse über Aufbau und Strukturen der chinesischen Triaden verbessert. Neben den traditionellen Aktivitäten von chinesischen Verbrechern in den Bereichen unerlaubtes Glücksspiel und illegale Wetten wurden Personen bekannt, die mit falschen Pässen handelten und Kreditkartenbetrügereien begingen. Konkrete Hinweise führten zu einer international agierenden Gruppe von Kreditkartenbetrügern. Die asiatischen, vorwiegend malaysischen Täter, standen in Kontakt zu Landsleuten in Großbritannien, anderen europäischen Ländern und dem fernöstlichen Heimatland. Zur Herstellung der gefälschten Kreditkarten bedienten sie sich eines speziellen elektronischen Lesegeräts, welches Mithelfer in asiatischen Restaurants auch in Bayern einsetzten. So konnten die Daten der Kreditkarten von Gästen gelesen und anschließend entsprechende Duplikate hergestellt werden. Die gefälschten Kreditkarten setzten andere Gruppenmitglieder bei Einkäufen in ganz Europa, auch in München, ein. Die Kooperation mit anderen Nachrichtendiensten eröffnete einen Einblick in das internationale Zusammenwirken der kriminellen Organisation. Die umfangreichen Strukturerkenntnisse wurden an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weitergegeben. Fünf Perso- Organisierte Kriminalität 237 nen wurden festgenommen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Informationsgewinnung gestaltet sich bei der chinesischen Mafia besonders schwierig, da die Gruppierungen ethnisch stark abgeschottet sind. 3. Ausblick Die Aufklärungsarbeit des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz auf dem Gebiet der Organisierten Kriminalität hat sich in nun mittlerweile sieben Jahren bewährt. Der Verfassungsschutz kann Erfolge in der Aufklärung der OK nachweisen und damit die polizeiliche Arbeit unterstützen. Die Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch den Verfassungsschutz muss auf eine möglichst breite Basis in Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern gestellt werden. Im Saarland ist der Verfassungsschutz seit November 2001 ebenfalls gesetzlich mit diesem Aufgabengebiet betraut. In Hessen, Sachsen und Thüringen stehen gesetzliche Regelungen bevor. Ziel muss die bundesweite Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch den Verfassungsschutz sein.