Ham PWE a ! . PP Baden-Württemberg VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT BADEN-WÜRTTEMBERG 2009 HERAUSGEBER Innenministerium Baden-Württemberg Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart GESTALTUNG & SATZ Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85A, 70372 Stuttgart DRUCK W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG Augsburger Straße 722, 70329 Stuttgart AUFLAGE 11.000 ZITATE Alle Zitate sind in Kursivschrift gesetzt. Zitate aus Texten in alter Rechtschreibung wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. REDAKTIONSSCHLUSS März 2010 Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers - ISSN 0720-3381 VORWORT Wir leben in einem stabilen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Die Bürgerinnen und Bürger und die staatlichen Einrichtungen haben in den vergangenen Jahrzehnten ein beeindruckendes und beispielhaftes demokratisches Selbstverständnis entwickelt. Für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung mit ihren wesentlichen Prinzipien wie Meinungsund Pressefreiheit, der parlamentarischen Demokratie und der Unabhängigkeit der Justiz besteht deshalb keine unmittelbare Gefahr. Diese positive Einschätzung bedeutet aber nicht, dass wir uns beruhigt zurücklehnen könnten. Unsere demokratische Verfassung, die Sicherheit der Bevölkerung und das friedliche Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft werden von Extremisten aus mehreren Richtungen bedroht. Es gilt daher, wachsam zu sein und Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Der Verfassungsschutz ist das Frühwarnsystem unserer wehrhaften Demokratie. Es ist die Aufgabe des Landesamts für Verfassungsschutz, Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sowie ihrer Länder frühzeitig zu erkennen und den zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese Gefahre abzuwehren. Zu den Aufgaben des Landesamts für Verfassungsschutz und des Innenministeriums gehört es auch, die Öffentlichkeit über extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen und Tätigkeiten zu unterrichten. Dieser Information dient der vorliegende Bericht. Er gibt einen umfassenden Überblick über verfassungsfeindliche Bestrebungen und über Organisationen sowie Gruppierungen, die Aktivitäten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland entfalten. Der Verfassungsschutzbericht soll es Regierung, Parlament, Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich ein Bild von den Absichten der extremistischen Gruppierungen im Land zu machen und in eine geistigpolitische Auseinandersetzungen mit den Gegnern unserer Demokratie auf allen gesellschaftlichen Ebenen einzutreten. Für den Verfassungsschutz ist der islamistische Extremismus nach wie vor die größte Herausforderung. Der islamistische Terrorismus bedroht die Sicherheit in Deutschland und in Baden-Württemberg. Die im vergangenen Jahr im Internet veröffentlichten islamistischen Propagandavideos, in denen Deutschland mit Anschlägen gedroht wird, machen dies deutlich und zeigen, wie sehr Deutschland in das Blickfeld gewaltbereiter Islamisten gerückt ist. Besorgniserregend ist auch, dass immer mehr Islamisten, die in terroristischen Ausbildungslagern vor allem im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet geschult wurden, in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren. Sie sind geradezu prädestiniert, terroristische Aktivitäten zu unterstützen und Anschläge vorzubereiten. Bisher ist es in Deutschland zu keinem Anschlag gekommen. Das ist auch der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden zu verdanken. Die Bedrohung des islamistischen Extremismus und Terrorismus darf aber dennoch nicht unterschätzt werden. Das rechtsextremistische Gesamtpotenzial an Personen ist im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg und auch bundesweit gesunken. Das ist eine positive Entwicklung. Auch die Situation der NPD ist durch Mitgliederverluste auf Bundesebene und erheblich finanzielle Schwierigkeiten gekennzeichnet. Das alles darf aber nicht zu der Annahme verleiten, die rechtsextremistische Szene und die NPD seien keine Bedrohung mehr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Rechtsextremismus ist und bleibt ein Beobachtungsschwerpunkt des Landesamts für Verfassungsschutz. Beim Linksextremismus beobachten wir eine steigende Gewaltbereitschaft. Sie kommt in gewalttätigen Ausschreitungen bei Demonstrationen, in Angriffen auf Polizeibeamte als Repräsentanten des Staates und auch in Brandanschlägen auf Kraftfahrzeuge zum Ausdruck. Wir haben es hier mit einem deutlich zunehmenden Gefährdungspotenzial zu tun. Extremistische Gewalt muss, egal aus welcher Richtung sie kommt, mit Entschiedenheit bekämpft werden. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Verfassungsschutz danke ich für ihre engagierte und professionelle Arbeit. Mit ihrem Einsatz leisten sie einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg und zum Erhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland. Heribert Rech MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG 14 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes ........................................15 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei........................15 3. Methoden des Verfassungsschutzes ........................................16 4. Internetkompetenzzentrum ........................................................17 5. Kontrolle ......................................................................................17 6. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ......................19 7. Maßstab und Aufbau der Berichterstattung .............................19 8. Kontaktanschriften .....................................................................20 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS 22 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen...................................23 1.1 Verschiedene extremistische Strömungen....................................23 1.2 Jihad im Internet ...........................................................................23 1.3 Dawa-Arbeit ..................................................................................24 1.4 Reisebewegungen jihadistischer Gewalttäter ...............................24 1.5 Strafverfahren ...............................................................................25 2. Salfistische Strömungen............................................................26 2.1 Universaler Geltungsanspruch......................................................28 2.2 Ablehnung der "Ungläubigen" .......................................................29 2.3 Ablehnung demokratischer Strukturen..........................................30 2.4 Ablehnung der Gleichberechtigung von Frauen ...........................34 2.5 Verhältnis zur Gewalt ....................................................................37 3. Jihadismus ..................................................................................40 3.1 Jihadistische Gruppen mit Deutschlandbezug im Internet............44 3.2 Chronologie der Gewalt ................................................................50 4. Islamistischer Extremismus ......................................................53 4.1 "Tabligh-i Jama'at" 6 ("Gemeinschaft für Verkündigung und Mission")...........................53 IN H A LT S V E R Z E IC H NI S 4.2 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger ........57 4.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)..................64 4.2.2 HAMAS ("Harakat al-Muqawama al-Islamiya", "Islamische Widerstandsbewegung")............................................70 4.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung")...................................73 4.2.4 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ....................................................................75 4.3 "Hizb Allah"....................................................................................77 4.3.1 Politische Zielsetzung ...................................................................79 4.3.2 Karitative Einrichtungen, Spendengelder......................................80 4.3.3 Märtyrerkult ...................................................................................82 4.3.4 Miliz...............................................................................................83 4.4 Türkische Organisationen .............................................................86 4.4.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) .....................88 4.4.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) .....................106 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 108 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen.................................108 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ..........................................110 2.1 Historie und Charakterisierung....................................................112 2.2 Schwerpunkte und Mobilisierung ................................................114 2.3 Finanzierung................................................................................115 2.4 Jugendliche Anhänger.................................................................115 2.4.1 Veranstaltungen und Demonstrationen .......................................117 2.4.2 Rekrutierungen und "Märtyrer"-Veranstaltungen.........................119 2.4.3 Gewalttätigkeiten und Auseinandersetzungen ............................119 2.5 Newroz-Feierlichkeiten ...............................................................120 2.6 17. Internationales Kurdisches Kulturfestival ..............................121 2.7 ÖCALAN mobilisiert die Anhänger..............................................121 2.8 Politische Entwicklungen in der Türkei........................................123 2.9 Ausblick.......................................................................................125 3. Türkische Vereinigungen .........................................................126 3.1 "Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF)......................................................126 3.1.1 Historie und Charakterisierung ...................................................127 3.1.2 Ideologie .....................................................................................128 3.1.3 Struktur .......................................................................................129 3.1.4 Aktivitäten ...................................................................................129 3.1.5 Thematische Ausrichtung der ADÜTDF im Jahr 2009 ................131 3.1.6 Bewertung und Ausblick..............................................................132 3.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) .............132 3.2.1 Historie und Charakterisierung ...................................................133 3.2.2 Ideologie .....................................................................................134 3.2.3 Struktur .......................................................................................135 3.2.4 Aktivitäten ...................................................................................135 3.2.5 Finanzierung ...............................................................................137 3.2.6 Strafverfahren .............................................................................137 3.2.7 Ausblick.......................................................................................138 3.3 Sonstige türkische linksextremistische Organisationen ..............138 3.3.1 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML).....................................................................................139 3.3.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP).......142 4. Bestrebungen ethnischer Albaner ..........................................144 4.1 Volksbewegung von Kosovo (LPK).............................................144 4.2 "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) ........145 5. Sikh-Organisationen.................................................................147 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) .............................149 6.1 Historie und Charakterisierung ...................................................150 6.2 Ende des Bürgerkriegs auf Sri Lanka und Reaktionen der Diaspora ............................................................151 6.3 Organisationsstruktur in Deutschland und Baden-Württemberg...152 6.4 Finanzierung ...............................................................................153 6.5 Aktivitäten ...................................................................................153 D. RECHTSEXTREMISMUS 154 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen.................................154 1.1 Wahljahr 2009 .............................................................................154 1.2 Demonstrationstätigkeit der rechtsextremistischen Szene .........155 1.3 Rechtsextremistische Positionen zur Finanzund Wirtschaftskrise.......................................................159 1.4 Jugendspezifische rechtsextremistische Rekrutierungsmittel.....160 1.5 Ideologie und Begriffsbestimmungen..........................................160 8 IN H A LT S V E R Z E IC H NI S 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus........................................161 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt .......................................162 2.2 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene in der Krise ....164 2.2.1 Schrumpfung der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene .164 2.2.2 Wandlungen im äußeren Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Skinheadszene .................................168 2.2.3 Vorbehalte und Kritik an der rechtsextremistischen Skinheadszene von Seiten anderer Rechtsextremisten .............169 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit.......................170 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? ...170 2.3.2 Rechtsextremistische Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt .......................................173 3. Neonazismus.............................................................................174 3.1 Allgemeines ................................................................................175 3.2 Bundesweite Aktivitäten ..............................................................177 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene.........177 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ....................................................183 3.3 "Autonome Nationalisten" - Militanter Neonazismus mit ungewohntem Erscheinungsbild ...........................................184 3.3.1 Äußeres Erscheinungsbild ..........................................................186 3.3.2 Militanz........................................................................................187 3.3.3 Ideologische Ausrichtung ............................................................187 3.3.4 "Autonome Nationalisten" - szeneintern umstritten, aber mit Zulauf ............................................................................188 3.4 "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ)................................189 3.4.1 Ideologische Ausrichtung ............................................................189 3.4.2 Aktivitäten und Außenwirkung.....................................................190 4. Rechtsextremistische Parteien................................................191 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD).................191 4.1.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus..........191 4.1.2 Wahlen ........................................................................................199 4.1.3 Ideologische Ausrichtung ............................................................203 4.1.4 Aktivitäten ...................................................................................207 4.1.5 NPD-Organisationsstrukturen in Baden-Württemberg................209 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) .....................................................211 4.2.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus ..........211 4.2.2 Wahlen ........................................................................................213 4.2.3 Aktivitäten ...................................................................................215 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten.............................215 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag" ...215 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP) ...............................217 6. Aktionsfelder .............................................................................217 6.1 "Das ist unsere Stunde!" - Rechtsextremistische Positionen zur Finanzund Wirtschaftskrise.................................................217 6.1.1 Rechtsextremistische "Ursachenforschung" in Sachen Finanzund Wirtschaftskrise: Verschwörungsideologien............218 6.1.2 Rechtsextremistische Hoffnungen auf die Finanzund Wirtschaftskrise...........................................220 6.2 Jugendspezifische rechtsextremistische Rekrutierungsmittel anhand zweier Beispiele aus dem Jahr 2009 .............................224 6.2.1 Der JN-Comic "Der große Kampf Enten gegen Hühner" ............225 6.2.2 Die Broschüre "Amalia Hinterwäldlerin vor Gericht und andere Geschichten"...................................................................230 E. LINKSEXTREMISMUS 234 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen.................................235 1.1 Großereignis NATO-Gipfel 2009 .................................................235 1.2 Zentrales Thema: Wirtschaftsund Finanzkrise..........................237 1.3 Wahljahr 2009 .............................................................................238 1.4 "Antifaschismus" als Aktionsfeld .................................................239 2. Gewaltbereiter Linksextremismus ..........................................239 2.1 Proteste gegen den NATO-Gipfel ...............................................240 2.2 "Antimilitarismus-Kampagne" gegen Bundeswehr und NATO ....241 2.3 Kampf gegen "Rechts" ................................................................242 2.4 Reaktion auf polizeiliche "Repression"........................................242 3. Parteien und Organisationen...................................................244 3.1 "DIE LINKE." ...............................................................................244 10 IN H A LT S V E R Z E IC H NI S 3.1.1 Wahlen ........................................................................................244 3.1.2 Akzeptanz von Linksextremisten über die Landesebene hinaus.....................................................246 3.1.3 Beteiligung an Aktionen und Kampagnen ...................................248 3.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP)..................................251 3.2.1 Wahlen ........................................................................................251 3.2.2 Vorstand, Mitglieder, Programmatik ............................................252 3.3 Linksextremistisch beeinflusste Organisation: "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V."(VVN-BdA).............................................253 3.3.1 Aktivitäten 2009 ..........................................................................254 3.3.2 Verhältnis zu linksextremistischen Organisationen und Gruppen ...............................................................................256 3.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) ...........259 3.4.1 Wahlen ........................................................................................260 3.4.2 Wirtschaftskrise als zentrales Thema .........................................261 3.4.3 Rückgang des Teilnahmeinteresses ...........................................262 3.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) ..................................................................262 3.5.1 Beteiligung an Anti-NATO-Protesten...........................................263 3.5.2 Solidaritätskampagnen für "politische Gefangene" .....................263 3.6 Sonstige Vereinigungen ..............................................................265 4. Aktionsfelder .............................................................................266 4.1 NATO-Gipfel 2009.......................................................................266 4.2 Antimilitarismus...........................................................................269 4.3 "Antirepression"...........................................................................270 4.4 "Antifaschismus" .........................................................................273 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION 278 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen.................................279 1.1 Führungskrise bei der SO ...........................................................279 1.2 Rückläufige Mitgliederentwicklung und Einnahmen....................280 1.3 Strafurteil in Frankreich...............................................................281 2. Strukturen und Mitgliederbestand ..........................................282 2.1 Zentrale Führung ........................................................................282 2.2 Organisatorisches Netz in Baden-Württemberg und personelle Situation ....................................................................282 3. Verfassungsfeindliches Programm.........................................284 3.1 Antidemokratische Ziele..............................................................284 3.2 Umfassende Kontrolle.................................................................285 3.3 Interne Datensammlungen..........................................................286 4. Propaganda und Werbung .......................................................287 4.1 Täuschung der Öffentlichkeit ......................................................287 4.2 Werbekampagnen.......................................................................289 4.3 Reaktion auf den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen ....290 4.4. Mitgliederorientierte Propaganda................................................291 5. Expansionsstrategien..................................................................293 5.1 Globales Projekt "Ideale Org" .....................................................293 5.2 Expansionsversuche in der Wirtschaft........................................295 6. Reaktionen auf die Finanzund Wirtschaftskrise ..................296 7. Bekämpfung von Kritikern .......................................................297 8. Weitere Beobachtung erforderlich ..........................................299 G. SPIONAGEABWEHR 300 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen.................................300 1.1 Einsatz technischer Mittel zu Spionagezwecken ........................302 1.2 Dienstleistungen des Landesamts für Verfassungsschutz für Unternehmen .........................................................................303 2. Daten, Fakten, Hintergründe....................................................303 2.1 Volksrepublik China ....................................................................303 2.1.1 Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage ...................................303 2.1.2 Überwachung regimekritischer Bestrebungen ............................305 2.2 Russische Föderation .................................................................306 2.2.1 Personelle und materielle Aufwertung der Geheimdienste .........306 2.2.2 Legalresidenturen als Operationsbasis.......................................307 2.2.3 Offene Gesprächsabschöpfung als Spionagemethode ..............307 2.3 Proliferation.................................................................................308 2.3.1 Umgehung der Ausfuhrbestimmungen .......................................308 2.3.2 Islamische Republik Iran.............................................................309 2.3.3 Arabische Republik Syrien..........................................................309 12 IN H A LT S V E R Z E IC H NI S 2.3.4 Demokratische Volksrepublik Korea ...........................................310 3. Elektronische Spionageangriffe ..............................................310 3.1 Trojanerangriffe auf baden-württembergische Unternehmen .....310 3.2 Mögliche Schutzmaßnahmen .....................................................312 4. Prävention .................................................................................312 5. Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen ...........................................314 5.1 Präventionsangebot ....................................................................314 5.2 SiFo-Studie 2009/2010 - Know-how-Schutz in Baden-Württemberg..................................315 6. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr .......................................316 Anhang ..................................................................................................318 Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 5. Dezember 2005 ..............................................................318 Register.......................................................................................333 A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Diese Aufgabe ergibt sich aus SS 3 Abs. 1 und SS 12 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 5. Dezember 2005. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich derzeit in fünf Abteilungen. Leitungsstab Präsident Controlling Abteilung 1 Abteilung 2 Abteilung 3 Abteilung 4 Abteilung 5 Zentralabteilung Internationaler Rechts-, LinksSpionageabwehr, Operative Extremismus extremismus Geheimund Abteilung und Terrorismus und -terrorismus Sabotageschutz, Mitwirkungsaufgaben, ScientologyOrganisation Die Personalstellen sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2009 insgesamt 338 Personalstellen (2008: 332), davon 256 für Beamte und 82 für tarifliche Beschäftigte zugewiesen. Für Personalausgaben standen etwa 12,9 Millionen Euro (2008: 12,6 Millionen Euro), für Sachausgaben rund 3,1 Millionen Euro zur Verfügung (2008: 2,5 Millionen Euro). 14 VER FASSU NG S S C HU T Z B A D E N- W Ü RT T E M B E R G 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz sammelt Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, sobald ihm tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder andere hochwertige Rechtsgüter (vgl. SS 3 Abs. 2 LVSG) gefährden. Als derartige Bestrebungen sind Verhaltensweisen von Personen oder Organisationen zu verstehen, deren Ziel es ist, die obersten Werte und Prinzipien des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksoder rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland beziehungsweise dessen Regierung von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch Deutschland in außenpolitische Konflikte bringen könnten oder wenn sich die Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zu den weiteren Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt die Spionageabwehr. Sie ist darauf gerichtet, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und zu analysieren. Schließlich hat das Landesamt für Verfassungsschutz umfangreiche Aufgaben beim personellen und materiellen Geheimschutz. Beispielsweise wirkt der Verfassungsschutz bei der Sicherheitsüberprüfung von Einbürgerungsbewerbern mit, überprüft Geheimnisträger und andere Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig werden wollen, und unterstützt beratend Behörden sowie Unternehmen bei der Einrichtung technischer Vorkehrungen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen (vgl. SS 3 Abs. 3 LVSG). 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Die Arbeit einer Verfassungsschutzbehörde unterscheidet sich wesentlich von der einer Polizeibehörde. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeilichen Eingriffsbefugnisse zu. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürfen also keine Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbständig und nach eigenem Ermessen, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Im Gegensatz zur Polizei ist der Verfassungsschutz nicht dem Legalitätsprinzip un15 terworfen und muss daher keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn er Kenntnis von einer Straftat erlangt. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen erlangt das Landesamt für Verfassungsschutz aus sogenannten offenen Quellen. Allerdings dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im Landesverfassungsschutzgesetz genannten nachrichtendienstlichen Hilfsmittel angewendet werden, beispielsweise der Einsatz von Vertrauensleuten, Observationen oder Bildund Tonaufzeichnungen. Gerade die auf diesem Wege erlangten Erkenntnisse ermöglichen häufig erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen. Offene Beschaffung Verdeckte Beschaffung 16 VER FASSU NG S S C HU T Z B A D E N- W Ü RT T E M B E R G Alle diese Möglichkeiten stehen jedoch laut Landesverfassungsschutzgesetz unter dem Vorbehalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, das heißt, von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten in seinen Grundrechten beeinträchtigt. Aufgabe der mit der Auswertung befassten Mitarbeiter ist es dann, den Aussagewert und die Bedeutung der beschafften Informationen zu analysieren und Lagebilder sowie Trendaussagen zu erstellen. 4. Internetkompetenzzentrum Extremisten und Terroristen nutzen in immer stärkerem Maße die weltumspannende und permanente Verfügbarkeit des Internets zur Verbreitung ihrer Ideologien, zur Kommunikation und auch zur Vorbereitung terroristischer Gewaltakte. Zur gezielten Beobachtung von extremistischen und terroristischen Bestrebungen im Internet betreibt der Verfassungsschutz in BadenWürttemberg seit 2008 ein Internetkompetenzzentrum (IKZ). Das IKZ verfügt über eine moderne technische Ausstattung und informationstechnologische Fachkompetenz für die nachrichtendienstliche Nutzung des Internets. Es sichert auch die virtuelle Anbindung an das gemeinsame Internetzentrum (GIZ) des Bundes zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. 5. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Im Zentrum dieser Kontrolle stehen innerbehördliche Maßnahmen wie zum Beispiel die Kontrollen durch den behördlichen Datenschutzbeauftragten des Amts. Daneben stellen die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 15 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Postund Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen nach dem Artikel 10-Gesetz unterliegen der Kontrolle der G 10Kommission und des G 10-Gremiums. Die grundgesetzliche Rechtsweggarantie gewährleistet die Überprüfung von Einzelmaßnahmen des Ver17 fassungsschutzes durch die Justiz. Schließlich unterliegt die Arbeit des Verfassungsschutzes der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Innerbehördliche Kontrolle Parlamentarische Kontrolle Ständiger Ausschuss des Landtags Mindestens halbjährliche Unterrichtung über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes G 10-Gremium des Landtags Mindestens halbjährliche Unterrichtung über die Durchführung des Artikel 10-Gesetzes G 10-Kommission Wird vom Landtag bestellt und prüft die Rechtmäßigkeit der beantragten Postund Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen Externe Kontrolle Innenministerium | Dienstund Fachaufsicht Landesbeauftragter für den Datenschutz Landesrechnungshof Kontrolle durch die Justiz Klagen gegen Maßnahmen des Verfassungsschutzes Kontrolle durch die Öffentlichkeit Bürger (Anfragen, Informationen, Unterrichtung über G 10-Maßnahmen) Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) 18 VER FASSU NG S S C HU T Z B A D E N- W Ü RT T E M B E R G 6. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Zum dauerhaften Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist es erforderlich, auf allen gesellschaftlichen Ebenen die geistig-politische Auseinandersetzung mit Extremismus jeglicher Couleur zu führen. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dazu einen wichtigen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Zahlreiche Informationsmöglichkeiten stehen dabei zur Auswahl. So können Broschüren zu verschiedenen Themen des Verfassungsschutzes angefordert oder im Internet abgerufen werden. Referenten des Landesamts für Verfassungsschutz stehen für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zur Verfügung. Anfragen von Medienvertretern werden so umfassend wie möglich beantwortet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahr 2009 139 Vorträge gehalten. Daneben gab es zahlreiche Anfragen von Medienvertretern. Über 9.400 Exemplare des Verfassungsschutzberichts 2008 und 3.400 Broschüren wurden im Berichtszeitraum auf Anforderung verteilt. Eine Übersicht zu den derzeit verfügbaren Informationsschriften bietet die vorletzte Einbandseite dieses Berichts. Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg unter www.verfassungsschutz-bw.de mit einer eigenen Website. Dort können die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus und Terrorismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation sowie aktuelle Informationen abgerufen werden. 7. Maßstab und Aufbau der Berichterstattung Der Verfassungsschutzbericht dient der Unterrichtung und Aufklärung der Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen in Baden-Württemberg. Er informiert über die wesentlichen, während des Berichtsjahres gewonnenen Erkenntnisse, bewertet sie und stellt sie im Zusammenhang der Entwicklung dar. Die Erkenntnisse resultieren aus den Beobachtungen, die das Landesamt für Verfassungsschutz im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags gewonnen hat. 19 Der Verfassungsschutzbericht kann keinen erschöpfenden Überblick geben und stellt keine abschließende Aufzählung aller verfassungsschutzrelevanten Personenzusammenschlüsse dar. Soweit über einzelne, namentlich genannte Organisationen und Gruppierungen berichtet wird, handelt es sich - wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt - um Fälle, bei denen sich die tatsächlichen Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen im Sinne von SS 3 Abs. 2 LVSG zu einer festgestellten Verfassungsfeindlichkeit verdichtet haben. Handelt es sich um eine nicht durchweg extremistische, sondern um eine extremistisch beeinflusste Organisation, wird dies ausdrücklich hervorgehoben. Den Kapiteln zu zentralen Beobachtungsobjekten des Landesamts für Verfassungsschutz sind Infoboxen vorangestellt. Diese optisch hervorgehobenen Zusammenfassungen bieten eine erste Orientierung. 8. Kontaktanschriften Das Landesamt für Verfassungsschutz sowie das Innenministerium BadenWürttemberg können Sie unter folgenden Adressen erreichen: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Öffentlichkeitsarbeit Postanschrift: Taubenheimstr. 85 A 70372 Stuttgart Postfach: 500 700 70337 Stuttgart Telefon: 0711/95 44-181/182 Telefax: 0711/95 44-444 E-Mail: info@verfassungsschutz-bw.de Internet: www.verfassungsschutz-bw.de Innenministerium Baden-Württemberg Referat Verfassungsschutz Postfach 10 24 43 70020 Stuttgart Telefon: 0711/231-3401 20 Telefax: 0711/231-3469 VER FASSU NG S S C HU T Z B A D E N- W Ü RT T E M B E R G Für Hinweise, die auf Wunsch streng vertraulich behandelt werden, stehen die folgenden Anschlüsse zur Verfügung: Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 Islamismus: 0711/95 61 984 (deutsch/englisch) 0711/95 44 320 (türkisch) 0711/95 44 399 (arabisch) Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 (Telefon) 0711/95 47 627 (Telefax) Die Spionageabwehr kann - auch für Anregungen und weitere Informationen - unter oben genannter Adresse beziehungsweise unter dem Telefonanschluss 0711/95 44-301 erreicht werden. 21 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS Der Islamismus ist eine religiös motivierte Form des politischen Extremismus mit unterschiedlichen Erscheinungsformen. Spätestens seit dem 11. September 2001 ist er eine globale Bedrohung. Für die Sicherheitsbehörden stellt diese Form des Extremismus eine der größten Herausforderungen dar. Sämtliche islamistische Strömungen und Organisationen vereint das gemeinsame Ziel, aus der Religion des Islam sozio-politische Ordnungen abzuleiten. Diese sollen nach Meinung der Islamisten aus Werten und Normen bestehen, die sich von den Quellen des Islam, des Korans und der Sunna1 ableiten lassen. Derartige Gesellschaftsordnungen, die auch das Staatsund Rechtswesen umfassen sollen, widersprechen in weiten Teilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten weisen islamistische Strömungen bei der strategischen Umsetzung ihrer Ziele Unterschiede auf. Man differenziert zwischen dem politischen Islamismus, dem missionarischen Islamismus und dem Jihadismus, wobei die Übergänge zwischen diesen Kategorien fließend sind. Zentrales Ziel des politischen Islamismus ist die Erlangung politischer Macht auf nationalstaatlicher Ebene ohne Anwendung von Gewalt. Die Akteure sind Parteiaktivisten, die durchaus zu Reformen bereit sein können. Dem missionarischen Islamismus geht es primär darum, eine islamische Identität zu erhalten und zu verbreiten. Die Handelnden sind in der Regel Missionare und Rechtsgelehrte. Der Jihadismus legt einen Schwerpunkt auf die Anwendung physischer Gewalt, um seine Ziele zu erreichen. Der Kampf richtet sich sowohl gegen die Herrscher und Regierungen der islamischen Welt als auch gegen den Westen und seine Verbündeten. In Deutschland leben zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime. Lediglich eine Minderheit hat sich islamistischen Organisationen angeschlossen. Etwa 36.270 Personen waren Ende 2009 Mitglieder oder Anhänger einer der 29 islamistischen Gruppierungen in Deutschland. 22 1 Die überlieferten Aussprüche und die Lebenspraxis des Propheten Muhammads. IS LA M IS M U S 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Verschiedene extremistische Strömungen Muslimisches Leben in Deutschland gestaltet sich äußerst vielfältig. Innerhalb der sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe kann nur ein bestimmter Ausschnitt als extremistisch bezeichnet werden. Es gibt verschiedene, teilweise konkurrierende Strömungen und Gruppen innerhalb des extremistischen Spektrums. Die Facetten reichen von politisch legalistischen Gruppen, die totalitären Gesellschaftsideen nachhängen und diese durchsetzen möchten, über rückwärtsgewandte salafistische Strömungen, die ihre Normen und Werte aus der Frühzeit und einer buchstabentreuen Auslegung islamischer Quellen beziehen, bis hin zu gewaltbefürwortenden und extrem gewaltbereiten jihadistischen Strukturen. Auch im Jahr 2009 wurde deutlich, dass die Übergänge zwischen diesen Bereichen fließend verlaufen, dass die Organisationsformen nicht immer deutschen Vorstellungen von Vereinsoder Parteileben entsprechen und dass die in diesen Gruppen Engagierten zum größten Teil keine Ausländer, sondern deutsche Staatsbürger sind. 1.2 Jihad im Internet Besonders im Zusammenhang mit der Bundestagswahl kam es zu einer verstärkten Propagandaaktivität in den unterschiedlichen jihadistischen Foren des Internets. Im September 2009 wurden mehrere Drohvideos veröffentlicht.2 Die Morde in der US-amerikanischen Militärbasis Fort Hood, in der ein muslimischer Militär-Psychiater am 5. November 2009 bei einem Amoklauf 13 Menschen getötet und mehr als 40 verletzt hatte, wurden auf einem Internetblog des Jihadtheoretikers Anwar al-AWLAKI als Erfolg gefeiert. Al-AWLAKI gilt ersten Berichten zufolge als eine wichtige Quelle der Inspiration für Jihadisten in der englischsprachigen Welt. Der Trend einer Popularisierung islamistischer Vorstellungen hat sich im Jahr 2009 fortgesetzt. Besonders die Videoclip-Kultur auf den unterschiedlichen Videoportalen im Internet hat diesen Trend verstetigt. In einem Bereich, den man als Pop-Jihad bezeichnen kann, werden einzelne Kanäle 2 Vgl. Kap. B, 3.1. 23 mit über 1.000 Freunden oder Abonnenten festgestellt. Diese Szene reagiert sehr schnell auf Trends und Ereignisse. So verbreitete ein junger Mann in Stuttgart die erwähnten Drohvideos auf seinem Kanal. 1.3 Dawa-Arbeit Im Bereich der Dawa-Arbeit3 setzte sich der Trend der Verteilung propagandistischer Schriften fort. Eine dieser Schriften4 wurde inzwischen als jugendgefährdend indiziert. In großen Mengen kam hier Material zur Verteilung, das aus dem Arabischen übersetzt wurde. Im Umfeld von "Infoständen" oder bei Vortragsveranstaltungen wurden salafistische Schriften5 vertrieben, die gerade bei jugendlichen Konvertiten oder sogenannten wiedergeborenen Muslimen, die den Islam für sich entdecken, als identitätsstiftend gelten können. So lässt sich bei im Internet aktiven "Neumuslimen" erkennen, dass auswendig gelernte Stereotypen und Lehrsätze bereits nach kurzer Zeit weiter verbreitet und andere Muslime in ihrem Alltag über die (vermeintlich) richtigen Verhaltensweisen belehrt werden. Diese "Unterweisungen" ziehen sich durch den gesamten Alltag und bilden dann ein "Korsett", das die Identität stützen soll. Die Strömung der Salafisten ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, da sie besonders von Jugendlichen Zulauf erhält, die zum Islam konvertieren, und jungen Muslimen, die sich ihrer muslimischen Identität bewusst werden. Dennoch findet sich in einer Studie zu muslimischem Leben in Deutschland kein Hinweis auf diese wichtige Strömung.6 1.4 Reisebewegungen jihadistischer Gewalttäter Auf Seiten der jihadistischen Gewalttäter hat sich der Trend zu einer Internationalisierung fortgesetzt. Immer mehr junge Männer, teilweise sogar Familien mit Kleinkindern, reisten in die Kampfgebiete. Allein aus Deutschland sollen in den letzten Jahren rund 200 Personen in das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan aufgebrochen sein. In den Videos aus der Region wurde auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. So formuliert der aus Hamburg stammende Jihadist mit dem "Kampfnamen" Abu Askar in einem im Oktober 2009 im Internet veröffentlichten Video: 3 Dawa: eigentlich Mission, Einladung zum Islam. 4 "Frauen im Schutz des Islam", indiziert durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien am 15. Januar 2009, vgl. Kap. B, 2.4. 5 Ausführlich zum Salafismus vgl. Kap. B, 2. 6 Haug, Sonja; Müssig, Stephanie; Stichs, Anja: Muslimisches Leben in Deutschland. Juni 2009. Hg. sind die Deutsche Islam Konferenz und das Bundesamt für Migration und Flücht24 linge. IS LA M IS M U S "Und ein weiteres Geheimnis im Jihad ist die gewaltige, unbeschreibliche, schöne und liebevolle Brüderlichkeit unter den Mujahidin. Brüder aus den verschiedensten Ländern in einem Schützengraben, aus Russland, aus Marokko, aus Tunesien, China, aus der Türkei, aus Europa, Usbekistan, Tadschikistan und Iran." 7 Dieses Phänomen galt nicht nur für Afghanistan, sondern auch für Somalia, wo immer häufiger Kämpfer aus den USA, aus Kanada oder Europa in den Propagandavideos auftauchten. Den vermeintlichen Vorbildern aus der Frühzeit des Islam und damit den Prophetengefährten folgend machten sich Gruppen auf den Weg in die Krisengebiete, um für jihadistische Ziele zu kämpfen. In diesen "Reisegruppen" befanden sich auch Frauen und Kinder. Über die Reisetätigkeiten der Anhänger eines global zu führenden Jihad ergaben sich im Jahr 2009 aus verschiedenen Strafverfahren Erkenntnisse. Aus der Vielzahl von Verfahren und Ermittlungen, die sich mit islamistisch motivierten Gewalttätern auseinandersetzten, belegen die folgenden Verfahren die Tendenz der Internationalisierung. Die vier inzwischen vom Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilten Mitglieder der sogenannten Sauerlandgruppe8 etwa sollen lange nicht gewusst haben, ob sie sich dem Kampf in Tschetschenien oder in Waziristan anschließen sollten.9 1.5 Strafverfahren Auch im Jahr 2009 wiesen zahlreiche Strafverfahren im Zusammenhang mit dem internationalen islamistischen Terrorismus einen Bezug zu Deutschland auf. Beispielhaft sind hier folgende Strafprozesse zu nennen: n Am 5. Februar 2009 wurde der Deutsche Christian G. durch das Sonderschwurgericht in Paris wegen Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung "al-Qaida" und Beihilfe zum Mord beim Attentat von Djerba10 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren verurteilt. n Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte am 13. Juli 2009 Aleem N. als "al-Qaida"-Helfer zu acht Jahren Haft.11 Das Urteil ist noch nicht 7 Video, gesichert am 3. Oktober 2009; Übernahme wie im Original. 8 Siehe das folgende Kap. B, 1.5. 9 Internetauswertung vom 25. August 2009. 10 Bei einem Anschlag am 11. April 2002 auf die Synagoge der tunesischen Ferieninsel Djerba starben 21 Touristen, unter ihnen 14 Deutsche. 11 Az.: 2 StE 6/08-8. 25 rechtskräftig. Er soll bei verschiedenen Aufenthalten in Pakistan Kontakt zu Mitgliedern des Netzwerks von "al-Qaida" gehabt haben. Außerdem soll er "Empfehlungsschreiben", etwa für den in den Videos von "al-Qaida" deutsch sprechenden Bekkay HARRACH verfasst haben. n Am 13. Oktober 2009 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt Hüseyin Ö. und Omid S. wegen Unterstützung einer jihadistischen Gruppe zu Freiheitsstrafen von 14 und 33 Monaten.12 n Am 4. März 2010 hat das Oberlandesgericht Düsseldorf Fritz G., Daniel S., Atilla S. und Adem Y. zu Freiheitsstrafen von fünf bis zwölf Jahren verurteilt. Gegen die vier Verurteilten der sogenannten Sauerlandgruppe hatte das Gericht seit dem 22. April 2009 in 65 Verhandlungstagen wegen der Vorbereitung eines jihadistisch motivierten Terroranschlags verhandelt. Im Rahmen des Prozesses hatten die vier gestanden, für die Islamische Dschihad Union (IJU) schwere Bombenanschläge auf USKasernen oder Flughäfen geplant zu haben. 2. Salafistische Strömungen Beim Salafismus handelt es sich um eine global ausgerichtete islamistische Strömung, die die kulturell vielfältigen Erscheinungsformen des historisch gewachsenen Islam von vermeidlich fremden Einflüssen reinigen will. Salafisten reklamieren hierbei einseitig ein authentisches Islamverständnis, das angeblich auf dem Vorbild der frühen Muslime um den Religionsstifter Muhammad beruht. Von einem theologischen Blickwinkel aus betrachtet behaupten Salafisten, sich in ihrem Tun und Wirken ausschließlich auf den Koran zu beziehen, der gemäß ihrer Glaubensauslegung nur im Lichte der überlieferten Glaubenspraxis des Propheten Muhammad, der sogenannten Sunna, interpretiert werden darf. Daher lehnen Salafisten eine strikte Nachahmung bestehender Lehrmeinungen ebenso ab wie die Zulässig26 12 Az.: 5-2 StE 2/09 -53/09. IS LA M IS M U S keit volksislamischer Glaubenswelten, die von ihnen in den Bereich der Ketzerei und Abtrünnigkeit von der Religion gerückt werden. Mit einer zielgerichteten Missionstätigkeit versuchen die Anhänger des Salafismus, ihre Ansichten in islamisch geprägten Milieus durchzusetzen. Daneben sollen auch andere Personenkreise als Anhänger für die eigene Lehre gewonnen werden. Durch ihr rigoroses und kompromissloses Islamverständnis, das davon ausgeht, dass der Islam seit seiner Frühzeit ein für die gesamte Menschheit verbindliches Lebenssystem darstellt, geraten Salafisten in ein antagonistisches Verhältnis zu ihrer Umwelt. Sie stigmatisieren besonders säkular ausgerichtete Gesellschaftsformen als dem Islam wesensfremd und feindselig. Diese Geisteshaltung mündet in die Herausbildung antiwestlicher Feindbilder, die sich auch in der Ablehnung demokratischer Werte und Institutionen niederschlagen. Problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang die ideologisch prinzipielle Zulässigkeit religiös legitimierter Gewalt. Einige Anhänger des Salafismus betrachteten es daher als ihre religiöse Pflicht, unmittelbar gegen als "Ungläubige" diffamierte Menschen terroristische Taten zu begehen. Dieser sogenannte Jihad-Salafismus wird von seinen Befürwortern als angeblicher "Verteidigungskrieg" zur Rettung des Islam betrieben. Der islamistische Terrorismus leitet sich ideologisch vom Salafismus ab.13 In den letzten Jahren ist der Salafismus auch in Deutschland zu einer ständig wachsenden Bewegung geworden, die zudem im öffentlichen Diskurs überproportional wahrzunehmen ist. Diese Entwicklung hat ihre Hauptursache in der intensiven Propagandatätigkeit, zu der Salafisten aufgrund ihres doktrinär verankerten Aktivismus verpflichtet sind. Analog zu der Entwicklung im gesamten Bundesgebiet wird die salafistische Lehre auch in Baden-Württemberg in Städten wie Stuttgart, Heilbronn, Pforzheim, Mannheim oder Heidelberg auf Vortragsveranstaltungen und über "Büchertische" verbreitet. Auch wenn speziell ausgebildete "Missionare" und "Gelehrte" konfliktträchtige Themen in der breiten Öffentlichkeit aus taktischen Gründen überwiegend vermeiden und sich mit Fragen der täglichen Orthopraxie14 beschäftigen, so werden doch geradezu massenhaft Publikationen öffentlich angeboten oder sogar kostenlos verteilt, die ein vormodernes Islamverständnis vermitteln, das mit der Lebenswirklichkeit und den Problemen hier lebender Muslime nicht in Einklang gebracht werden kann. 13 Siehe Kap. B, 3. 14 Orthopraxie meint in diesem Zusammenhang die gemäß islamischer Vorschriften richtigen rituellen Handlungsweisen. 27 2.1 Universaler Geltungsanspruch Ein ständig wiederkehrender Topos salafistischer Ideologie ist die Postulierung eines universalen Geltungsanspruchs. Die gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und Lebensentwürfe wird nicht anerkannt. Andersdenkende werden nur toleriert, sofern sie sich den Richtlinien und Grenzen des islamischen Rechts unterwerfen. Zu diesen Regeln gehört auch, dass der Nichtmuslim einen im Vergleich zu den Muslimen minderen Rechtsstatus akzeptiert, der auch nur gegen die Zahlung einer Kopfsteuer gewährt wird. Was das bedeutet, ergibt sich zum Beispiel aus Passagen eines "Rechtsgutachtens" (Fatwa) aus der Feder eines gewissen Muhammad al-UTHAIMIN, der in salafistischen Kreisen als bekannte religiöse Referenzperson betrachtet wird: "'Muss der Ungläubige den Islam annehmen?' Er [sc. al-UTHAIMIN] antwortete: 'Der Ungläubige muss den Islam annehmen, selbst wenn er Christ oder Jude ist (...) Es ist also die Pflicht aller Menschen an den Gesandten Allahs zu glauben. Doch diese islamische Religion, aufgrund Allahs Barmherzigkeit und Weisheit, hat den Nichtmuslimen erlaubt ihre Religion zu behalten unter der Bedingung, dass sie sich den Gesetzen der Muslime beugen.' Der Erhabene [sc. Prophet Muhammad] sagt: 'Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen - von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde -, bis sie den Tribut bereitwillig entrichten und gefügig sind!' (AtTauba 9:29). Im von Buraida (ein Prophetengefährte) überlieferten Hadith (Ausspruch des Propheten Muhammad) bei Muslim (ein Sammler von Prophetenaussprüchen, gest. 874) steht geschrieben: 'Immer wenn der Prophet den Führer einer Armee oder Kompanie einsetzte, forderte er ihn zur Gottesfurcht auf und die Muslime, die mit ihm sind, gut zu behandeln.' Er sagte: 'Rufe sie zu drei Dingen auf, egal was sie davon annehmen, so nimm von ihnen an und lass von ihnen ab.' Zu diesen Dingen gehörte die Gizyah (Tribut). Deshalb ist die bevorzugte Ansicht der Gelehrten diejenige, dass die Gizyah von Menschen, die keine Juden und Christen sind, angenommen werden kann. Zusammengefasst 28 IS LA M IS M U S müssen die Nichtmuslime entweder den Islam annehmen oder sich den Gesetzen des Islam beugen."15 2.2 Ablehnung der "Ungläubigen" Dieser dogmatisch begründete Überlegenheitsanspruch findet seine Entsprechung in einem salafistischen Glaubenskonzept, das in einschlägigen Schriften als "die Treue und der Bruch" bezeichnet wird. Salafisten gehen hierbei von der Prämisse aus, dass es für Muslime obligatorisch sei, mit den "Ungläubigen" auf allen Ebenen zu brechen, um als "wahre Muslime" gelten zu können. Schon durch einfache freundschaftliche Kontakte zu Nichtmuslimen würde man gegen fundamentale Grundlagen des Glaubens verstoßen und damit zu einem Ketzer werden. Diese mit dem Makel der Apostasie (Ablehnung des Islam) behafteten Personen gelten Salafisten als Abtrünnige vom Glauben, wobei die daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen vom Ausschluss aus der Gemeinschaft bis hin zur Erduldung physischer Strafen reichen können. Bedenklich erscheint die Tatsache, dass der damit einhergehende verordnete Hass gegen "Ungläubige" auf islamische Quellentexte zurückgeführt wird, die die Schlechtigkeit der "Ungläubigen" vermeintlich als eine geschichtliche Konstante menschlichen Daseins darstellen: "Der erhabene Allah hat uns in Seinem edlen Kitab (wörtl. Buch, hier der Koran) über die Feindschaft/Feindseligkeit der Kuffar gegenüber den Muslimen weißgemacht, und Er hat uns aufmerksam gemacht, dass wir ihnen nicht glauben dürfen, denn sie wünschen den Muslimen nichts Gutes. So weist uns unser Rabb (Herr) darauf hin, dass ihr Hass uns gegenüber zum Vorschein kommen muss, egal wie sehr sie sich auch nur anstrengen um sie zu verbergen, und dass sie nicht mit uns zufrieden sein werden, bis wir ihren Weg und ihren Glauben folgen. (...) Die islamischen Gelehrten, die früheren und die heutigen, haben auf diese Gefahr (das Befreunden mit den Kuffar) hingewiesen, und dass derjenige, der dies macht, zu einem Abtrünnigen des Glaubens (Murtad-din) wird. Hierzu gehört auch das Nehmen der Kuffar als Beschützer, ihr Beistand oder ihre Hilfe im Kampf gegen die Muslime. (...) Dies bedeutet - außer in der Situation, wenn ihr euch unter ihrer Herrschaft befindet, und ihr um euer Leben fürchtet, dann bringt ihnen gegenüber euere Scheinfreundschaft 15 "Fatwa des ehrenwerten Gelehrten Muhammad Ibn Salih al-Uthaimin", hier wörtliche Übernahme. 29 zum Vorschein, und verbergt in euch die Feindschaft gegenüber zu ihnen, und schließt euch ihnen nicht in Sachen des Kufrs an, und helft ihnen nicht gegen die Muslime."16 2.3 Ablehnung demokratischer Strukturen Sachliche Kritik an solchen Äußerungen versuchen Salafisten als islamophob aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Dabei bedienen sie sich von salafistischer Seite immer wieder antiwestlicher Topoi, die sich beispielsweise in der Thematisierung des Vorwurfs an Institutionen und Behörden niederschlagen, Muslime ungleich zu behandeln oder in ihrer Glaubensausübung zu behindern. Um sachlich fundierte Kritik schon im Keim zu ersticken, wird auch nicht davor zurückgeschreckt, die Lage der Muslime mit der Epoche des Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen. Darüber hinaus werden auch vereinzelt verschwörungstheoretische Überlegungen laut, die dem Westen unterstellen, einen systematischen und zielgerichteten Kampf zur Vernichtung des Islam zu führen: "Mit diesen Fakten alleine ist schon bewiesen, die offizielle Erklärung für den 11. September ist eine gigantische Lüge. Es ist ein selbst inszenierter Anschlag, den man den Arabern in die Schuhe geschoben hat, um damit einen äußeren Feind zu haben, der einen angegriffen hat. Mit dieser künstlich erfundenen Bedrohung werden alle Aktionen der US Regierung begründet, der Krieg gegen den Terror, die Kriege in Afghanistan und im Irak und die Beschneidung der Bürgerrechte, mit Einführung des Polizeistaates."17 Diese verschwörungstheoretischen Überlegungen und die gezielte Artikulation einer angeblichen ökonomischen, politischen und sozialen Ausgrenzung von Muslimen können die ohnehin schon vorhandene ablehnende Haltung gegenüber etablierten demokratischen Institutionen und Strukturen im weiteren islamischen Spektrum verstärken. Denn die negative Grundhaltung gegenüber säkularen Rechtsschöpfungsprozessen und pluralistischen Gesellschaftsnormen werden von salafistischen Kreisen doktrinär begründet. Gemäß der salafistischen Glaubenslehre steht es keinem Menschen zu, Gesetze zu erlassen, die dem göttlichen Recht zuwiderlaufen. Die "Souveränität" stünde allein Gott zu, der bereits für alle Zeiten gültige Rechtsnormen geschaffen habe, wobei es hierbei Aufgabe des Men16 "Fatwa bzgl. dem Unterstützen der Kuffar", Internetauswertung vom 30. Oktober 2009, Übernahme wie im deutschen Original. 30 17 Internetauswertung vom 30. Oktober 2009, Übernahme wie im deutschen Original. IS LA M IS M U S schen sei, stets innerhalb dieses eng gesetzten Rahmens zu handeln und die göttlichen Bestimmungen umzusetzen und anzuwenden: "So wie der Gesetzgeber außer Allah eine Person sein kann, so kann es auch ein Lebenssystem, ein Volk, eine Partei, ein Parlament, ein Religionsmann, ein Priester oder ein Shaikh, der sich in ein Religionskleid eingehüllt hat und andere Sachen außer diese sein. Im Allgemeinen sagen wir folgendes: 'Jemand, der in einer Sache ein Verbot oder eine Erlaubnis aufstellt, zu einer Sache gut oder schlecht sagt, indem er dabei Allah widerspricht, oder die Gesetzgebung, welches das alleinige Recht Allahs ist, für sich beansprucht und so Gesetze für die Menschen erfindet, die seinen Gelüsten entsprechen, hat sich somit Allah gleichgestellt und ist ein Taghut geworden.' Die Pflicht, die auf einem Muslim fällt, ist es solche Personen zu leugnen und sie des Unglaubens zu bezichtigen."18 Salafisten sprechen deshalb den von Menschen geschaffenen Gesetzen ihre Zulässigkeit ab, da sich der Mensch nicht als selbst bestimmter Schöpfer seiner politischen und sozialen Lebensverhältnisse betrachten dürfe. Dies würde de facto bedeuten, dass sich der Mensch durch eigenständige Rechtsschöpfung in den Rang eines Gottes erhebt: "Wer auch immer das Recht der Gesetzgebung einem anderen gibt außer Allah und sich vor seinen Gesetzen richten lässt, dann hat dieser ihn zu einem weiteren Herrn und Gott außer Allah akzeptiert und ihn zu seinem Gott genommen, auch wenn er das Pflichtgebet verrichtet, fastet oder behauptet ein Muslim zu sein."19 Deutlich wird hier das Bestreben artikuliert, den Islam im Sinne eines sozio-politischen Systems als Alternative zu bestehenden Gesellschaftssystemen einzuführen. Durch die Forderung von Salafisten, dass der Islam ein allumfassendes Lebenssystem darstelle und folglich sämtliche Bereiche menschlicher Existenz verbindlich regeln müsse, sollen zentrale Grundpfeiler der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie die Volkssouveränität außer Kraft gesetzt werden: "Wenn der Befehl des Volkes höher gestellt wird als dem Befehl Allahs und das Volk zu einer höheren Verwaltung bestimmt wird, 18 Internetauswertung vom 24. September 2009. 19 Ebd. 31 das zwischen den Menschen richten soll, so wird das Volk zu einem Gott, das neben Allah angebetet wird. (...) Wenn die Befugnis der Gesetzgebung den vom Volk gewählten Parlamenten gegeben wird, dann wird dieses Parlament zu einem Taghut. Denn das Recht der Gesetzgebung gehört allein nur Allah. Wer auch immer diese Besonderheit für sich beansprucht, hat sich in der Behauptung wiedergefunden, ein Gott zu sein."20 Neben der salafistischen Kritik an demokratischen Institutionen und Normen wie Parlamenten und Verfassungen werden auch zahlreiche grundgesetzlich verbriefte Menschenrechte als unislamisch und damit unzulässig diffamiert. Attackiert werden hauptsächlich der Grundsatz der Gleichbehandlung und die Gleichberechtigung aller Bürger, am politischen Willensbildungsprozess aktiv und passiv mitzuwirken. Auch das Recht auf Etablierung von Parteien, die unterschiedliche Interessen artikulieren und bündeln, oder die Bildung parlamentarischer Oppositionen soll beseitigt werden: "Im demokratischen Din (= Religion) ist die Meinung der Mehrheit erhaben und gültig, auch wenn es falsch ist und dem Islam widerspricht. Im demokratischen Din hat man in jeder Sache die Entscheidungsfreiheit, was auch immer sein Wert und Heiligkeit ist, auch wenn es sich hierbei um Allahs Din handelt. Im demokratischen Din wird bezüglich der Auserwählung des Verwalters der einfachste und unwissendste Mensch mit dem gottesfürchtigsten und gelehrtesten Menschen gleichgestellt. Im demokratischen Din ist es erlaubt, dass politische Parteien und verschiedene Gruppierungen entstehen dürfen, was auch immer ihre Glauben und Gedanken sind."21 Eines der wichtigsten Wesensmerkmale salafistischer Glaubensauffassung besteht in der uneingeschränkten Befürwortung und Implementierung des islamischen Gesetzes, so wie es von Salafisten interpretiert wird. Dieses umfasst Vorschriften sowohl zur Durchführung ritueller Handlungen wie Gebet, Fasten und Pilgerfahrt als auch zur Verhängung von Körperstrafen für bestimmte Vergehen. Anknüpfend an die klassischen Rechtskompendien betrachten Salafisten den Islam als umfassend gültigen Lebenskodex, zu dessen akribischer Umsetzung der "wahre Muslim" ohne die Möglichkeit einer Abkehr verpflichtet 20 Internetauswertung vom 11. Oktober 2009. 32 21 Internetauswertung vom 24. September 2009. IS LA M IS M U S ist. Daher wird in hiesigen Publikationen auf die drakonische Strafe verwiesen, die dem publik gemachten Austritt aus dem Islam zu folgen hat: "Die islamische Schari'ah spricht diese Strafe gegen denjenigen aus, der dem Islam als Lebensweise den Rücken kehrt und seine Gesetze und Regeln ablehnt, wie aus dem Hadith, der Sunnah, Überlieferung des Propheten hervorgeht: 'Es ist nicht erlaubt einen Muslim zu töten, ausser für eines der drei Verbrechen: (1) Ein verheirateter Mann oder eine verheiratete Frau, der oder die (bewiesenermaßen) Ehebruch begeht. (2) Wenn er einen anderen Muslim getötet hat. (3) Wenn er dem Islam den Rücken kehrt (die Lebensweise in Öffentlichkeit ablehnt) und offen angreift, und sich von ihm und der Islamischen Gesellschaft abwendet.' Darüberhinaus hat dies seine Grundlage im Hadith und in der Sunnah, Überlieferung vom Propheten: 'Wer auch immer wechselt (den Islam als Religion und Lebensweise ablehnt), tötet ihn.' (...) - die Tötung eines Abtrünnigen vom islamischen Glauben hat solche Leute zur Folge, die den Islam offen und öffentlich ablehnen und angreifen. (...) - einer Person, die den Islamischen Glauben ablehnt, sollte eine Gelegenheit von drei aufeinanderfolgenden Tagen gegeben werden, um, zur Gemeinschaft des Islam zurückzukehren. (...) Wenn diese Person zur Gemeinschaft des Islam zurückkehrt, wird sie freigelassen; wenn nicht, wird die Strafe vollzogen. Die Tötung eines Abtrünnigen ist in Wirklichkeit eine Erlösung für die restlichen Mitglieder der Gesellschaft." Mit den Ausführungen in dieser auch in Baden-Württemberg verbreiteten Publikation "Missverständnisse über Menschenrechte im Islam" (S. 137f., im Folgenden Übernahme wie im Original) wird nicht nur die Zulässigkeit der Tötung von "Abtrünnigen" gebilligt, sondern wird auch deutlich die salafistische Sichtweise aufgezeigt, im Namen der Religion des Islam herrschaftliche Befugnisse ausüben zu dürfen. Besonders frappierend ist in der folgenden, eigentlich als Rechtfertigung intendierten Passage der Vergleich mit Maßnahmen autoritärer und totalitärer Staaten gegen Verräter und Dissidenten: "Der Islam behandelt das Zurückweisen des Glaubens nicht als persönliche Angelegenheit. Die Zurückweisung des Islam als Lebensweise bedeutet nicht nur einen Wechsel der Religion des 33 Abtrünnigen, sondern mehr noch die Ablehnung des gesamten Systems. Eine derartige Ablehnung wird sicherlich dem ganzen System schaden und verletzen und nicht nur den Abtrünnigen. Wie schon betont, betrachtet der Islam die Zurückweisung als Kern für eine innere Revolution und böse Anstiftung in der Gesellschaft. Der Islam akzeptiert oder verzeiht solch eine schlechte Handlung nicht, die zu Unheil und Verwirrung in der Gesellschaft führt. Tatsächlich ähnelt dies den modernen politischen Systemen sehr, die jeden Staatsstreich oder andere Aktivitäten, um eine existierende Herrschaft oder Regierung zu überwältigen, als illegale Handlungen bestrafen. Desweiteren werden derartige revolutionäre Aktivitäten gegen die Regierung sehr ernst genommen und diejenigen, die daran teilgenommen haben, werden getötet, verbannt oder inhaftiert. Tatsächlich werden derartige Andersdenkende des politischen Systems unter Umständen psychologisch oder körperlich gefoltert oder das persönliche Eigentum dieser Individuen wird enteignet. Ferner werden die Familienmitglieder und/ oder Verwandten ebenfalls den Störungen ausgesetzt." 22 2.4 Ablehnung der Gleichberechtigung von Frauen Salafisten sind akribisch darum bemüht, das Verhältnis der Geschlechter mit den ihnen jeweils zugewiesenen Rollen und Verhaltensweisen gemäß islamischen Bestimmungen in einer Weise festzulegen, wie sie nach ihrer Auffassung von früheren Muslimen verstanden wurden. Dies impliziert nicht nur eine religiös begründete Vorrangstellung des Mannes, sondern in bestimmten Fällen auch ein Züchtigungsrecht gegenüber der Frau: "Die Medizin oder Behandlung einer jeden Unpässlichkeit kann manchmal sehr bitter sein. Aber eine kranke Person wird das Medikament freudig einnehmen und die Bitterkeit der Medizin ertragen, um von seiner Krankheit geheilt zu werden. Das Heilmittel, um eine ungehorsame Frau zu behandeln, besteht, wie schon beschrieben, aus drei Stufen, die Allah im Qur'an al-Karim benannt hat. Erste Stufe: Die Stufe der Ermahnung, Empfehlung und Warnung vor Allahs Strafen. Ein Ehemann muss seine ungehorsame Frau auf die Wichtigkeit der Befolgung der Anweisungen des Ehemanns im Islam hinweisen. (...) 34 22 Ebd. IS LA M IS M U S Zweite Stufe: Das Bett der Frau meiden. (...) Dritte und letzte Stufe: Schlagen ohne zu verletzen, Knochen zu brechen, blaue oder schwarze Flecken auf den Körper zu hinterlassen und unter allen Umständen vermeiden, ins Gesicht zu treffen. Die Absicht des Schlagens ist in diesem Fall und nach den Islamischen Lehren nur auf die Form einer Behandlung eingeschränkt und begrenzt. (...) Die Frau darf nur in absoluter Privatsphäre geschlagen werden. Eine Frau darf nicht vor den Kindern oder sonst irgendjemandem dieser Art geschlagen werden. Das Schlagen wird als Disziplinierung und Erziehung gedacht. Wie ein Vater zum Beispiel seinem Kind einen Klaps gibt, wenn es etwas Falsches getan hat." 23 Dieses Zitat stammt aus einer Publikation mit dem Titel "Frauen im Schutz des Islam", die in BadenWürttemberg breitflächig auf Veranstaltungen mit beträchtlicher Teilnehmerzahl vertrieben wird und in der Vergangenheit von einschlägigen Protagonisten der Szene persönlich als lesenswerte Schrift empfohlen wurde, selbst nachdem dieses Buch von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) am 15. Januar 2009 in die Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen worden war. In der Entscheidungsbegründung gab die BPjM an, dass die Inhalte des Kapitels "Schlagen der Frau" zu Gewalttätigkeit anreizen, verrohend wirken und darüber hinaus als Frauen diskriminierend einzustufen sind.24 Da es sich um eine Übersetzung aus dem Arabischen handelt, sei zu vermuten, "dass die Übersetzung mit dem Ziel erfolgte, gerade auf junge Menschen, die zwischen zwei Kulturen stehen, einzuwirken und ihnen Handreichungen bzw. Legitimationen für nicht akzeptables Gewaltund Diskriminierungsgebaren anzubieten."25 Die Herkunft dieser wie auch anderer Schriften ist Saudi-Arabien, wo seit dem 18. Jahrhundert der Wahhabismus Fuß gefasst hat. Der Wahhabismus vertritt eine kompromisslose und strikte Islamauslegung, die auf einer wortgetreuen Anlehnung an die maßgeblichen islamischen Quellentexte 23 Frauen im Schutz des Islam, S. 85ff., Übernahme wie im Original. 24 Entscheidungsbegründung zitiert nach der Mitteilung der Universitätsstadt Tübingen "Gleichstellung und Integration" vom 22. April 2009. 25 Ebd. 35 basiert. Durch ihr unnachgiebiges Gebaren entfachen wahhabitische Gelehrte immer wieder innerislamische Konfliktherde, da sie alternativen und insbesondere liberalen Islamrichtungen ihre Daseinsberechtigung absprechen und ihnen auch mit verbaler und physischer Gewalt begegnen. In diesem Zusammenhang ist erkennbar, dass die Hauptvertreter der salafistischen Szene in Deutschland logistische Unterstützung von der arabischen Halbinsel beziehen und systematisch darauf hinwirken, den Salafismus wahhabitischer Prägung in Deutschland zu verbreiten. Dass es sich bei der Publikation "Frauen im Schutz des Islam" um keinen Einzelfall handelt, zeigt die weite Verbreitung einer anderen aus Saudi-Arabien stammenden Schrift, in der ganz deutlich die mindere Rechtsstellung der Frau islamisch legitimiert wird: "Rechte des Ehemannes gegenüber seiner Frau Diese Rechte werden im Folgenden zusammengefasst: - Eine Art Vormundschaft, die der Islam regelt, um die Leitung des Hauses problemlos zu garantieren. Der Qur'an bestimmt dieses Recht wie folgt: Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Allah die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) ausgeben. (Qur'an 4:34) Der Grund dieser Vollmacht besteht auch darin, dass sich die Männer in ihrem Umgang mit den Ereignissen mehr durch den Verstand befassen, im Gegensatz zu den Frauen, die meistens mittels der Emotionen mit den Geschehnissen umgehen (...) - Sie muss ihm gehorchen und seine Befehle durchführen, solange sie keine Sünden zur Folge haben (...) - Sie soll sich nicht weigern, wenn er mit ihr schlafen will. Der Prophet sagt: 'Wenn ein Mann seine Frau zum Bett ruft und sie nicht kommt, so verfluchen sie die Engel bis zum nächsten Morgen, solange ihr Mann auf sie zornig ist.' - Sie darf ihn mit Dingen nicht belasten, die er nicht schaffen kann. Sie soll auch von ihm nichts verlangen, das über seinen Fähigkeiten steht. Sie muss für seine Zufriedenheit und Freude sorgen und seine Forderungen realisieren. Der Prophet sagt: 'Wenn ich jemandem befehlen dürfte, sich vor jemand anderem niederzuwerfen, so hätte ich der Frau befohlen, sich vor ihrem Mann niederzuwerfen." 26 36 26 "Botschaft des Islam", S. 161. IS LA M IS M U S Der Salafismus in Deutschland tritt überwiegend als "politischer Salafismus" in Erscheinung. Aufgrund der Tatsache, dass Salafisten mitteloder langfristig eine nachhaltige Umgestaltung der Gesellschaft anstreben, berühren sie in ihrem Tun und Wirken unterschiedliche Politikfelder. Mit ihrer rigorosen Grundhaltung zur Verbindlichkeit als islamisch angesehener Regeln und deren Übertragung auf das politische Zeitgeschehen zielt ihr strategisch ausgerichteter Aktivismus darauf ab, ihr soziales Umfeld nach islamischen Maßgaben zu strukturieren. 2.5 Verhältnis zur Gewalt Salafisten pflegen ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt, da sie einerseits den friedfertigen Charakter des Islam betonen, andererseits jedoch religiös legitimierte Gewalt nicht generell verneinen. Da sich alle Salafisten in erster Linie den überlieferten Schriften verpflichtet fühlen und sie die normativen Aspekte des Islam in den Vordergrund rücken, ist eine Relativierung des Jihad-Konzeptes, das im Umgang mit Nichtmuslimen seit frühester Zeit eine starke Affinität zur Gewalt aufweist, nur bedingt möglich. Unterschiede ergeben sich allenfalls bei der strategischen Umsetzung. Wenn die Salafisten beispielsweise darauf verweisen, dass der Koran den Einsatz gewaltsamer Mittel in bestimmten Fällen rechtfertigt, begründen sie auf diese Weise den Jihad im Sinne einer defensiven Verteidigungsstrategie gegenüber denjenigen, die sich der Verbreitung des Islam entgegenstellen. Doktrinär steht hier der universelle Geltungsanspruch im Hintergrund, dass der Islam aufgrund seiner Überlegenheit der gesamten Menschheit zuteil werden müsse, da diese ohne Islam der Unterdrückung und Ungerechtigkeit anheimfallen würde. Verdeutlichen lässt sich dies anhand einer Textpassage, die einem in Baden-Württemberg mehrfach öffentlich verkauften Buch mit dem Titel "Missverständnisse über Menschenrechte im Islam" entnommen wurde: "Allah machte den Gihad, den Kampf für Seine Sache, zu einer belohnten Handlung, an die die Muslime glauben und die sie praktizieren. (...) Deshalb wurde der Gihad eingeführt und festgelegt, um Tyrannei zu beseitigen und tyrannische Herrscher zu entfernen, die von Allahs Weg und dem Lebenskodex, den Er dem Menschen zur Pflicht gemacht hat, abweichen. Gihad wurde auch festgelegt - und Allah weiß es am besten - um die Menschen davon abzubringen und ihnen zu verbieten, andere Menschen und falsche Gottheiten anzubeten und um sie in die Wirklichkeit des Gottesdienstes für Allah allein einzuweisen. Darüber hinaus wurde der Gihad als Prinzip festgelegt, um den Ruf 37 zum Islam zu schützen und seine Ausbreitung über die ganze Welt zu unterstützen. Dies geschieht im Interesse der Menschen auf der Erde (...) denn der Islam besitzt keine geographischen Grenzen. Der Islam beinhaltet eine internationale Botschaft für die gesamte Menschheit. Der Islam besitzt den verständlichsten Moralund Ethikkodex für jeden Lebensbereich. Der Islam legt die Prinzipien von Rechtsprechung, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Erfolg und Aufrichtigkeit für die Menschen auf der Erde fest. (...) Gihad, so wie er nach dem Islam interpretiert und verstanden wird, ist nicht der in den westlichen Medien beschriebene 'Heilige Krieg', sondern eher ein ehrbarer 'Kampf' gegen die Feinde Allahs, die Sein Wort, den Glauben an Ihn und Seine Religion des Islam zurückweisen." 27 Als bestimmende Elemente des Jihad, der hier im Sinne eines "gerechten Kriegs" präsentiert wird, werden hauptsächlich sein Charakter als religiöse Pflicht und die Beseitigung von Tyrannei genannt, die mit der Abkehr von islamischen Gesetzen und Bestimmungen gleichgesetzt wird. Darüber hinaus wird der Jihad auch als Mittel der Ausbreitung bezeichnet, wobei dies auch ein gewaltsames offensives Vorgehen impliziert. Vergleicht man diese Aussagen mit der Passage eines Textes des Jihadisten Abdullah AZZAM, der als Vordenker und Wegbereiter des modernen transnationalen islamistischen Terrorismus gilt, dann lässt sich in der Frage der Zulässigkeit und Zielsetzung religiös bestimmter Gewaltanwendung eine nahezu vollständige Deckung feststellen: "Wer die Lage der Muslime in unserer Zeit betrachtet, dem fällt auf, dass die bedeutendste Prüfung, die Muslime zu bestehen hatten, die Preisgabe des Dschihads ist (aus Liebe zu dieser Welt und Todesabscheu). Aus diesem Grund werden sie nach allen Seiten und in allen Ländern von Tyrannen regiert, denn die Ungläubigen fürchten nur den Kampf (...). Wir rufen die Muslime auf und ermuntern sie, in den Kampf zu ziehen, und dies aus zahlreichen Gründen, deren wichtigste sind: 1. damit die Gottlosigkeit nicht obsiegt, 2. weil wahre Menschen selten sind, 3. aus Furcht vor der Hölle, 4. um die Pflicht zu erfüllen und dem Aufruf Gottes Folge zu leisten, 38 27 Missverständnisse über Menschenrechte im Islam, S. 22ff., Übernahme wie im Original. IS LA M IS M U S 5. um dem Beispiel der frommen Altvorderen zu folgen, 6. um eine feste Basis für die Verbreitung des Islam zu gründen, 7. um die Unterdrückten zu verteidigen (...)." 28 Hiermit wird ideologisch der Weg eröffnet, den auch sogenannte Jihadisten beschreiten, wenn sie sich auf den Weg in den bewaffneten Kampf begeben. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der Jihadismus leitet sich ideologisch direkt aus dem Salafismus ab. Dies bestätigen auch empirische Befunde, die darauf hindeuten, dass sich Radikalisierungsprozesse, die in eine Hinwendung zum Terrorismus münden, in der Regel in salafistischen Milieus vollziehen. Verstärkt wird dieser Effekt durch bestimmte salafistische Rechtsgelehrte, die aufgrund ihres transnationalen Einflusses auch in Deutschland Gefolgschaft finden. In "Rechtsgutachten" (Fatwas) nehmen sie zu zeitgenössischen Fragen Stellung und erlassen handlungsweisende Richtlinien, die als verbindlich angesehen werden. Exemplarisch ist ein Rechtsgutachten eines al-JIBRIN, auf den sich Hauptakteure der salafistischen Szene in Deutschland als religiöse Referenz bezogen haben: "Frage: 'Was ist die Einstellung der Muslime zur Gewalt und zum Krieg?' Antwort: Allah der Erhabene sagt: 'So rüstet gegen sie soviel ihr vermögt an Mann und Pferd, um Allahs Feind abzuschrecken und eueren Feind'. Dies ist eine Ansprache Allahs des Erhabenen an alle Gläubigen, welche sie anspornt, sich nach den Maßgaben des Möglichen zu rüsten, um den heftigen Kriegen zu begegnen, welche die Feinde gegen die islamischen Länder und die Muslime führen. Sie beabsichtigen dadurch, dem Islam ein Ende zu bereiten, denn er ist es, der ihnen den Schlaf raubt und ihre Reiche hinwegfegt. Daher versuchen sie nach Kräften, die Muslime ideologisch zu durchdringen, sie zu schwächen und sie zu beleidigen. Sie hegen so sehr sie können den Wunsch, die Muslime zu vernichten und sich ihrer Besitztümer zu bemächtigen. Daher obliegt es den Muslimen insgesamt, sich so weit wie möglich zu rüsten und darauf zu trainieren, Waffen zu tragen und sie richtig zu gebrauchen, damit dies die Kraft der Feinde schwächt. (...) Es obliegt ihnen auch, die Mujahedin mit Geld und Vorräten zu versorgen, was ihnen ermöglicht, den Feinden Allahs Widerstand zu leisten und ihre Heimtücke gegen sie zu wenden." 29 28 Auszüge aus "Schließ dich der Karawane an!" von Abdullah Azzam, zitiert nach Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli (Hrsg), al-Qaida-Texte des Terrors, München 2006; hier S. 194. 29 Al-JIBRIN, Fatwa 3557. 39 3. Jihadismus Islamistisch motivierte Gewalttaten werden in einer Vielzahl von Fällen von Ideologen und Theoretikern des Jihadismus legitimiert. Der vieldeutige religiöse Begriff "Jihad" wird bei diesen Vordenkern zu einer Bezeichnung für ein Konzept, das alle Aktivitäten und Theorien in einem militärischen Sinne versteht. In den letzten Jahrzehnten ist dadurch eine Strömung entstanden, die als transnationale Bewegung eine bestimmte Sprache pflegt und Begrifflichkeiten, die vor allem im Salafismus verwendet werden, weiterentwickelt. Der Jihadismus leitet sich daher in vielerlei Hinsicht direkt von salafistischen Vorstellungen ab. Besonders deutlich wird dies in jenen Konzepten, die sich mit Gewaltlegitimation beschäftigen oder mit der Ablehnung von unislamisch empfundenen Lebensentwürfen. Jihadistische Gewalt wird in diesem Zusammenhang als legitime Verteidigung gerechtfertigt. Sie ist Ausdruck einer extrem feindseligen Haltung, die sich vor allem gegen den Westen und seine Institutionen richtet. Der "Jihad-Salafismus" propagiert darüber hinaus Gewalt gegen Herrscher und Regime in der islamischen Welt, denen vorgeworfen wird, vom Islam abgefallen zu sein. Anhänger für diese Ideen finden sich daher in einer Vielzahl von islamisch geprägten Ländern, die mit den jeweiligen Regimen unzufrieden sind. Im Jahr 2009 jährte sich zum dreißigsten Mal ein Ereignis, dessen Tragweite kaum hoch genug einzuschätzen ist: die Besetzung der Großen Moschee von Mekka am 20. November 1979. Hier kann man von der "Geburtstunde des islamistischen Terrors" sprechen.30 Dieses Ereignis machte deutlich, wie aus den wahhabitischen Lehren Konsequenzen für politische Aktionen gezogen wurden, deren Folgen bis heute nachwirken. Der Anführer der Gruppe der Besetzer war der 1980 hingerichtete Juhaiman al-UTAIBI, dessen Name heute etwa als Nickname in jihadischen Foren weiterlebt. "Die Ideen der Strömung um Dschuhaiman al-Utaibi finden sich ebenfalls im Denken des jordanischen dschihadistischen Theoretikers Abu Muhammad al-Makdisi wieder, wirken aber auch in Saudi-Arabien oder Algerien weiter. Sie haben damit einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des dschihadistischen Denkens gehabt." 31 30 Wie es im Untertitel des Buches von Trofimov heißt; Trofimov, Yaroslav: Anschlag auf Mekka. 20. November 1979 - Die Geburtsstunde des islamistischen Terrorismus. München 2008. 40 31 Lohlker, Rüdiger: Dschihadismus. Materialien. Wien 2009. IS LA M IS M U S Neben dem Kampf, der gegen säkulare Tendenzen in islamischen Ländern geführt wird (interner Jihadismus), gilt der Westen als der Feind, der unter Einsatz maximaler Gewalt nicht nur in sogenannten Krisengebieten, sondern auch in westlichen Ländern bezwungen werden müsse (globaler Jihadismus). Dieser jihadistischen Gewalt, die sich gegen vermeintliche "Vasallen des Westens" richtet, fallen in erster Linie Muslime in den entsprechend islamisch geprägten Ländern zum Opfer. Jihadistische Ideologien erklären, wer für die schlechte Situation der Muslime angeblich verantwortlich ist und was der Einzelne tun kann und als religiöse Pflicht sogar erfüllen muss. Die meisten jihadistischen Propagandabotschaften lassen sich auf eine Kernbotschaft reduzieren: Der Westen führt Krieg gegen den Islam und bekämpft die Muslime weltweit. Die Forderung lautet dann: Ihr müsst euch den Kämpfern anschließen und mit Waffengewalt eure Brüder und Schwestern verteidigen! Bislang gab es eine vermeintlich klare Trennung von Gruppierungen, die sich primär gegen den nahen Feind und damit gegen Machthaber in islamischen Ländern richten, und Gruppen, die den fernen Feind, nämlich den Westen und seine Institutionen, angreifen. Diese Unterscheidung verwischte sich immer mehr. Im Jahr 2009 verstärkte sich die Tendenz zur Zusammenarbeit von zunächst regional operierenden Jihadisten mit global agierenden Netzwerken. Gleichzeitig zeigte sich, dass verstärkt Cliquen oder auch Einzelpersonen, die jihadistischen Ideen anhängen, unabhängig von Befehlsstrukturen oder Organisationen agieren konnten. In dieser Entwicklung erkennen manche Experten eine ideologische Hybridisierung im Sinne einer Überlagerung oder gleichzeitigen Existenz von verschiedenen Ideologieansätzen und möglicherweise auch eine Schwächung jihadisitischer Gruppen. "Wenn die Hierarchie des Feindes unklar, undefiniert oder uneinheitlich wird, dann ist dies sehr häufig ein Zeichen für eine sich steigernde Radikalisierung und politische Isolation. Gruppen ändern die Feindbenennung, wenn sie Rekrutierungsprobleme spüren, um dann die Basis für Rekrutierungen zu erweitern." 32 32 Hegghammer, Thomas: The Ideological Hybridization of Jihadi Groups, in Current Trends in Islamist Ideology, vol. 9. 41 Als Anzeichen für eine weitere Radikalisierung in entsprechenden Szenen kann man auch die in deutschsprachigen Internetforen auffallend oft verwendete "Takfiri-Rhetorik" werten. Ihr zufolge gelangt man in langen Diskussionen immer wieder an den Punkt, entweder dem Gegenüber seine Identität als Muslim abzusprechen oder in der Gesellschaft einen Kampf zwischen Ungläubigen und wahren Gläubigen zu erkennen. Es zeichnet sich hier die bedenkliche Entwicklung einer Indoktrination ab. Binnen kurzer Zeit werden salafistische Lehrsätze von den Teilnehmern entsprechender Gruppen - oft noch Minderjährige - als allein gültig angenommen. Schon nach kurzer Zeit wirken diese Personen nach außen und treten für einen als "wahr" verstandenen Islam ein. Dies gilt sowohl für in diese Zirkel hinein konvertierte Jungendliche als auch für sogenannte "wiedererweckte" Muslime. Der Angriff des jihadistisch inspirierten Militärpsychiaters von Fort Hood vom 5. November 200933 kann als ein Beleg für den Trend zum Befolgen eindeutig jihadistischer Lehren dienen. Der Attentäter soll in E-Mail-Kontakt zu Anwar al-AWLAKI gestanden haben. Dieser Jihadtheoretiker ist in Baden-Württemberg kein Unbekannter. So hat er auch hier Anhänger, die seine Vorträge und Schriften auf ihren Internetseiten verbreiten und zum Download zur Verfügung stellen.34 Während gemäßigte Salafisten primär auf das Mittel der Mission setzen, sehen Jihadisten die einzige Lösung im sofortigen bewaffneten Kampf. Ihm dürfen ohne Ansehen der Person auch Zivilisten zum Opfer fallen, da sie nach jihadistischer Religionsauslegung als Kombattanten betrachtet werden. Wegen seines Engagements im Verbund der Anti-Terror-Allianz wird auch Deutschland als militärischer Gegner wahrgenommen und ist dadurch auch im Inland ins Visier potenzieller Attentäter gerückt, wie zahlreiche Drohund Propagandavideos35 in deutscher Sprache belegen. Diese deutschoder auch türkischsprachige Propaganda fällt dort, wo Jugendliche Identitätskrisen durchleben, auf fruchtbaren Boden: Mit Filmen, Vorträgen und Texten werden aufgrund ihrer einfachen, widerspruchsfreien und totalitären Aussagen gerade bei Jugendlichen immer wieder neue Anhänger für das salafistische Wertesystem gewonnen. Die Integration in salafistische Gemeinschaften wird dabei von einem Radikalisierungs33 Siehe Kap. B, 3.2 Chronologie der Gewalt. 34 Zu al-AWLAKI siehe auch Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 28ff. 42 35 Siehe Kap. B, 3.1. IS LA M IS M U S prozess begleitet, der in mehreren Stufen verläuft und dazu führen kann, dass sich Einzelne zur Begehung von Gewalttaten entschließen (Jihadisierung). Dieser mögliche fließende Übergang vom gewaltlosen Salafismus zum Jihadismus wird durch den gemeinsamen Wertekanon begünstigt, den "gemäßigte" Salafisten mit Jihadisten teilen. Dazu gehören etwa die antiwestliche Haltung, die Schaffung eines islamisch strukturierten Gemeinwesens am Vorbild des frühislamischen Kalifats und die prinzipielle Zulässigkeit von Gewalt im Namen der Religion. Besonders Anhänger des "missionarischen Salafismus" bejahen die Rechtmäßigkeit von Gewalt nach religiösen Maßstäben unter bestimmten Voraussetzungen wie militärischer Stärke, einem Kosten-Nutzen-Verhältnis und der einheitlichen Führung aller Muslime. Ideologisch betrachtet bestehen somit lediglich Differenzen beim Zeitpunkt und bei der praktischen Durchführung von Gewaltaktionen. In Baden-Württemberg gibt es mittlerweile nicht nur Einzelpersonen, die sich diese Ideologie zu eigen machen, sondern ganze Netzwerke. Sie betreiben auch Internetportale, auf denen zahlreiche jihadistische Text-, Tonund Filmdokumente einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In der Regel werden die Botschaften für das hiesige Publikum didaktisch und auch sprachlich aufbereitet, vor allem mit Übersetzungen in die deutsche und türkische Sprache. Abgesehen von Schriftquellen erfreuen sich die "Naschid" ("Jihadhymnen") in extremistischen Kreisen immer größerer Beliebtheit, vermögen sie doch ein heroisches Gefühl von Macht und Stärke zu vermitteln, das die vielfach beschworene Überlegenheit des Islam und dessen Sieg über die Feinde und Kritiker real erscheinen lässt. Vor allem bei jüngeren Menschen haben einige dieser Lieder, die sich oftmals formal an die arabische Dichtung anlehnen, Kultstatus, so dass die bekanntesten solcher Hymnen in einigen Internetforen wie die Charts behandelt werden. Schon längst sind sie auch außerhalb jihadistischer Zirkel salonfähig geworden. Es gibt inzwischen einzelne Beispiele deutschsprachiger Versionen. Jihadistisches Gedankengut findet auch in Baden-Württemberg zunehmend weiter Verbreitung. Verstärkt verschwimmen auch die Grenzen zwischen gemäßigtem und militantem Salafismus, was zum einen auf die gemeinsam geteilten Grundannahmen bei der religiös legitimierten Festschreibung von Gewaltanwendung zurückgeführt werden kann. Zum anderen wirkt sich in diesem Kontext die lose und hierarchiearme Struktur salafistischer Netzwerke negativ aus. Denn einzelne Personen oder kleinere Gruppen, die ideologisch mit einem Grundstock salafistischer Wertevorstellungen gerüstet sind, können zu der Überzeugung gelangen, dass 43 Gewalt anzuwenden ist, sollten die Bedingungen hierfür aus ihrer Sicht erfüllt sein. Rechtsgutachten von islamischen Gelehrten, die eine religiöse Rechtfertigung für solche strategische Neuorientierungen bereithalten, sind mittlerweile leicht zu beschaffen. Solche, in der Öffentlichkeit als "Selbstradikalisierung" wahrgenommenen Ereignisse haben in der Regel einen längeren Vorlauf, wobei sie nach derzeitigem Erkenntnisstand den Gipfel eines Radikalisierungsprozesses darstellen, der sich zuvor in einem salafistischen Milieu vollzogen hat. Am Beginn solcher Prozesse spielen sowohl einzelne Vereine als auch private Zirkel eine herausragende Rolle. Die Tendenz, einschlägige Primärquellen in kommentierten Fassungen ins Deutsche zu übertragen, begünstigt diese Entwicklung. 3.1 Jihadistische Gruppen mit Deutschlandbezug im Internet Global wie auch regional agierende islamistische Extremisten und Terroristen nutzen das Internet intensiv zur Propaganda und zur Kommunikation, die entweder offen oder äußerst professionell über nur Insidern bekannte komplexe technische Verfahren betrieben wird. Der bereits vor der Invasion des Irak im Jahr 2003 begonnene Trend der Ausbreitung islamistischer Angebote in allen Bereichen des Internets hat sich bis 2009 stark fortgesetzt. Die Anzahl und die mediale Qualität islamistischer Seiten ist inzwischen deutlich gestiegen. Auch der deutschund türkischsprachige Anteil an Propagandaschriften, Flash-Animationen und Videos aus allen Bereichen des islamistischen Extremismus und hier vor allem aus dem Umfeld der "al-Qaida" hat stark zugenommen. Das Propagandamaterial von transnational agierenden Jihadisten wie das der "al-Qaida" prägt in weiten Teilen den islamistischen Diskurs im Internet. Auf einschlägigen Internetseiten dieser Szene finden sich vor allem Videound Audiodokumente, antiwestliche und antisemitische Hetzschriften sowie umfangreiche dogmatische und religiöse Texte, die sich in erster Linie auf die bekannten Konfliktherde der islamischen Welt beziehen. Der Anteil der nichtaudiovisuellen Beiträge islamistischer Autoren und Gelehrter in Buchform, die zum Download bereitstehen, hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Neben der quantitativen Zunahme des Propagandamaterials werden die Informationen immer professioneller angeboten. Die jihadisti44 IS LA M IS M U S schen Gruppierungen vor allem im Irak und in der Grenzregion Afghanistan/Pakistan haben jeweils eigene "Medienabteilungen", die sie als Gegengewicht zu der als lückenhaft und einseitig wahrgenommenen Berichterstattung westlicher und besonders amerikanischer Nachrichtenagenturen betrachten. Über bekannte Videoportale wie YouTube wird ebenfalls islamistische Propaganda in großem Umfang verbreitet. Inzwischen ist eine große Zahl extremistischer, aber auch islamistisch unterwanderter, teilweise passwortgeschützter Internetforen entstanden, über die weltweit angesiedelte Sympathisanten intensiv miteinander kommunizieren. Sie sind der Hauptumschlagplatz für einschlägige Gewaltfilme und Tondokumente. Außerdem wird täglich eine große Anzahl von Verlautbarungen jihadistischer Gruppierungen aus allen Jihad-Kampfgebieten auch in europäischen Sprachen veröffentlicht. Darüber hinaus gibt es eine mittlerweile unüberschaubare Anzahl von Unterstützerseiten für die Sache der Mujahedin. Auf ihnen wird im Internet kursierendes Material systematisch gesammelt und geordnet. Auf diese Weise kann sich jeder Interessierte über die Geschichten der im Jihad gefallenen "Märtyrer" und deren Motivation informieren. Die Rekrutierung von potenziellen Mujahedin erfolgt in der Regel über bestimmte Internetseiten, auf denen, teilweise auf Deutsch, für den weltweiten Jihad geworben wird. Seit mehreren Jahren gelingt es dem Führungskader der "al-Qaida", dessen eigenes "Medienlabel", "as-Sahab-Media", dauerhaft in den jihadistischen Informationskanälen zu etablieren. "As-Sahab-Media" produziert jährlich eine große Anzahl Propagandavideos über Kämpfe gegen die internationalen Einsatztruppen in Afghanistan und den angrenzenden pakistanischen Provinzen. Sie ist das Sprachrohr der führenden Funktionäre der in Waziristan36 agierenden "Kern-al-Qaida", die sich in bestimmten Abständen oder anlässlich bestimmter Ereignisse über das Internet zu Wort melden, um ihre Sicht zu bestimmten politischen Entwicklungen in der Region oder zu geopolitischen Sachverhalten zu verbreiten. Seit Anfang 2009 erscheint im Internet jihadistische Propaganda von "as-Sahab" und anderen Gruppen mit direkten Deutschlandbezügen. Dabei trat eine 36 Bergregion im nordwestlichen Pakistan an der Grenze zu Afghanistan. 45 Reihe von Personen in Erscheinung, die in Deutschland aufgewachsen waren oder teilweise lange in Deutschland gelebt hatten und bereits in Deutschland den Verfassungsschutzbehörden als Islamisten bekannt waren. Im zeitlichen Umfeld der Bundestagswahl 2009 wurden Videos oder Erklärungen der "Islamischen Bewegung Usbekistans" (IBU), der "Islamischen Jihad Union" (IJU), der "Taifatul Mansura", von "al-Qaida" und weiterer "Taleban"-Untergruppen veröffentlicht. Sie enthielten unter anderem in deutscher Sprache formulierte direkte Drohungen gegen Deutschland. Dieses Phänomen der direkten Ansprache in der Landessprache war neu und fand bisher kaum eine Entsprechung in anderen europäischen Nationen. Mit der als "Drohvideo" bekannt gewordenen Verlautbarung des früher in Bonn und jetzt offenkundig in Waziristan lebenden Bekkay HARRACH im September 2009 wurde die Bundesrepublik Deutschland erstmals Ziel innerhalb der Drohkulisse der Terrororganisation "al-Qaida". Zuvor war 2006 Dänemark wegen der Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen in den Fokus islamistischer Terroristen geraten. Nach vielen Drohungen aus dem Umfeld der "al-Qaida" und anderer Gruppen wurde am 2. Juni 2008 ein Anschlag auf die dänische Botschaft in Islamabad mit mindestens acht Toten und zahlreichen Verletzten verübt. Die erste Veröffentlichung des knapp 26minütigen HARRACH-Videos unter dem Titel "Sicherheit - ein geteiltes Schicksal" erfolgte am 18. September 2009. Zentrale Aussage HARRACHs, die als ultimative Drohung "al-Qaidas" interpretiert werden konnte, war die an in Deutschland lebende Muslime gerichtete Bitte, für den Zeitraum von zwei Wochen nach der Bundestagswahl "von allem, was nicht lebensnotwendig ist, fernzubleiben". Anders als üblich trug das Video kein Logo. Einem in Stuttgart lebenden türkischen Staatsbürger wurde zum Verhängnis, dass er das Video kurzerhand mit seinem Logo versehen und so dann beim Videoportal YouTube eingestellt hatte. Damit wurde er zum Verbreiter einer "Terrorbotschaft". Seine Verhaftung folgte am 24. September 2009, nachdem das Video mehr als 3.000-mal abgerufen worden war. Er wurde am 12. November 2009 in einem beschleunigten Verfahren wegen Beihilfe zur Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten nach SSSS 126, 27 Strafgesetzbuch zu einer Frei46 heitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. IS LA M IS M U S Die danach in deutscher Sprache publizierten Videos diverser anderer Gruppen standen offenkundig mit der Drohung HARRACHs in keinem direkten Zusammenhang. Es war jedoch erkennbar, dass es sich teilweise um die "Jahresbotschaften" der Gruppen handelte, die jeweils zum Ende des Ramadan veröffentlicht werden. Im Jahr 2009 überschnitten sie sich zeitlich mit dem Drohszenario. Eine ganze Anzahl von Trittbrettfahrern schloss sich in den folgenden Tagen nach Publikation des Drohvideos in verschiedenen Internetforen mit ergänzenden eigenen Drohungen an. Bemerkenswert war jedenfalls der vergleichsweise hohe schriftliche und audiovisuelle Anteil deutschsprachiger Beiträge im Internet seit Beginn des Jahres 2009. In einem Video der "Islamischen Bewegung Usbekistans" (IBU) wurde zum ersten Mal ein Lied des aus Deutschland stammenden Monir C. mit deutschem Text vorgetragen. Er formulierte die Sichtund Lebensweise eines dem westlichen Wertekonzept entfremdeten Jihadkämpfers, der nun seine eigene Bestimmung gefunden hat: "Al-Mukalla - Sterben um zu Leben Wir haben uns entschieden, wir haben uns schon längst entschieden, für Allah und seinen Gesandten und das Leben nach dem Tod. Geschaffen um zu dienen, gekommen um zu siegen, sterben um zu leben, Haya ala-l-Jihad.37 37 Übersetzt: "Auf zum Jihad" analog zum Gebetsruf Haya'ala salat ("Auf zum Gebet"). 47 Wenn wir zum Kampfe ziehen, ein Gefühl in unseren Herzen von Geborgenheit und Ruhe sendet der auf uns herab. Mit dem Wunsch, ihn anzutreffen, sein Angesicht zu sehen, halten wir an seinem Seil fest und kämpfen bis zum Tod. Wir kämpfen bis zum Siege und halten das Gelöbnis, geben uns niemals zufrieden bis sein Wort das Höchste ist. Nie kehren wir den Rücken, egal wie groß der Feind ist, gekommen auf das Schlachtfeld, auf der Suche nach dem Tod." In dem Video "Ruf zur Wahrheit" einer deutschsprachigen Talebanuntergruppe wandte sich eine Person mit dem Namen Ayup ALMANI wegen des deutschen Engagements in Afghanistan an deutsche Politiker: "Merkt euch, deshalb merkt euch! Eure Grenzen werden am Hindukusch nicht verteidigt. Erst durch euren Einsatz hier gegen den Islam wird der Angriff auf Deutschland für uns Mujahidin verlockend. Damit auch ihr etwas, etwas von dem Leid kostet, welches das unschuldige afghanische Volk Tag für Tag ertragen muss. Daher ist euer Sicherheitsgefühl nur eine Illusion. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Jihad die deutschen Mauern einreißt." Am 24. November 2009 wurde ein weiteres Video38 der IBU publiziert, in dem der Tod des aus Deutschland stammenden Islamisten Abu Safiyya am 17. Oktober 2009 verkündet wurde. Er war bei einem Gefecht gegen Einheiten der pakistanischen Armee im Raum Waziristan ums Leben gekommen. In diesem Video kam auch zum ersten Mal seine aus Deutschland stammende Witwe zu Wort und rief zum Jihad auf: "So danke ich Allah als erstes, (...) dass er meinen Mann als Märtyrer akzeptiert und weiteren Brüdern in unserer Umma diese 48 38 "Er kam, sah und siegte" Jundullah, Islamische Bewegung Usbekistans, November 2009. IS LA M IS M U S Ehre zuteil werden lässt. Denn ein großer Unterschied besteht zwischen uns Mujahedin und diesen Feiglingen. Ich und jede weitere Witwe unserer Umma sind voller Stolz und Glück, dass Allah unsere Männer vor allen anderen Männern auserwählt hat und uns durch diese Prüfung ausgezeichnet hat. (...) Ich sage dies voller Stolz, mein Mann ließ für die Umma, für das Recht aller Muslime, die Dunja [wörtl. Welt, hier gemeint das Diesseits] und den trügerischen Luxus in Deutschland hinter sich und entschied sich gemeinsam mit mir (...) für ein Leben in Freiheit, für eine Leben im Jihad. (...) Ich habe mich für das Leben hier entschieden und werde auch weiterhin meine Pflicht im Jihad erfüllen. Meine lieben Schwestern, ich rate euch, leistet euren Beitrag und schließt euch den Mujahedin an." Die transnationale Terrororganisation "al-Qaida", die in den letzten Jahren führende Personen durch Drohnenangriffe und Verhaftungen verlor, scheint in Europa über keine operativen Komponenten mehr zu verfügen. Die Rekrutierung von Nachwuchs erscheint wenig erfolgreich verlaufen zu sein. Andere regionale Gruppen sind zumindest für deutsche Jihadis inzwischen weitaus attraktiver als die "al-Qaida", was aus Reisebewegungen von Personen aus Deutschland in die Region erkennbar wurde. Der Modus Operandi der Organisation bestand in den Anfangsjahren darin, aus einer Position der Stärke und damit erst nach einem erfolgreichen Anschlag relevante Botschaften zu verbreiten. In den letzten zwei bis drei Jahren häuften sich Botschaften der "Kern-al-Qaida" im Internet, jedoch waren nur einige Anschläge in Peripheriebereichen durch regionale "al-Qaida"-Ableger, etwa in Algerien, im Jemen oder in Somalia in der bisherigen globalen Strategie der Organisation stehend zu betrachten. Es deutet vieles darauf hin, dass zumindest im Raum Waziristan mittlerweile andere Kräfte die Führung übernommen haben und die "Kern-al-Qaida" sowie ihr dortiger militärischer Arm unter Mustafa Abu al-YAZID lediglich noch ein von den Taleban geduldetes Schattendasein führt. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, ob die bei den Anhängern der "al-Qaida" geschürte Erwartungshaltung einen Handlungsdruck bei der Führung der "al-Qaida" entstehen lässt, der längerfristig zu weiteren Anschlä49 gen durch die "al-Qaida" und mit ihr assoziierter Gruppen führen könnte. Die Erwartung einer aggressiven Operation durch islamistische Akteure war in einer Vielzahl von Beiträgen von Jihad-Sympathisanten in deutschen und internationalen Internetforen während des im Drohvideo von HARRACH genannten Zeitraums spürbar. Nicht zuletzt könnten einzeln agierende, im internatonalen Fachjargon "lone wolves" 39 genannte jihadistisch orientierte Einzelpersonen sich dazu berufen fühlen, gewaltsam und in eigener Regie ihren Beitrag im Kampf gegen westliche "Ungläubige" unabhängig von Einflüssen der "al-Qaida" und anderer Gruppierungen zu leisten. Das Szenario ist diffuser geworden, die Gefahr weiterer Terroranschläge besonders in Europa bleibt aber real. 3.2 Chronologie der Gewalt Gewalttaten islamistisch motivierter Täter haben im Jahr 2009 weltweit Hunderte von Toten und zahllose Verletzte gefordert. Die meisten Opfer mussten muslimische Familien im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Somalia und weiteren Krisengebieten beklagen. Die Sicherheitslage in Afghanistan und Pakistan blieb im Jahr 2009 äußerst angespannt. Im Irak kam es Monat für Monat zu teilweise schweren Terroranschlägen, die häufig die schiitische Bevölkerung zum Ziel hatten. Pakistan erlebte eine weitere Eskalation der Gewalt. Damit setzte sich die Entwicklung aus dem Jahr 2008 fort. Besonders in den an Afghanistan angrenzenden Provinzen kam es zu verheerenden Anschlägen, bei denen zahlreiche Menschen verletzt oder getötet wurden. Insbesondere im Oktober 2009 verging kaum ein Tag, an dem nicht ein oder mehrere Anschläge die Bevölkerung erschütterten. Eine schwere Offensive pakistanischer Truppen in die Stammesgebiete Waziristans hatte zur Folge, dass auch im November 2009 die Zahl der Gewalttaten in der Region um Peshawar nicht abnahm. Das Erstarken der Taleban in den nördlichen Provinzen Afghanistan führte zu vermehrten Angriffen auf die dort stationierten Bundeswehrsoldaten. Dabei starben fünf deutsche Soldaten und mehrere wurden teilweise schwer verletzt. 50 39 Übersetzt: Einsame Wölfe, Einzelpersonentypus wie die sogenannten Kofferbomber. IS LA M IS M U S Jihadistische Attentäter haben sich im Jahr 2009 verstärkt Würdenund Amtsträger zum Ziel genommen. So kamen zahlreiche Polizeikräfte oder Mitarbeiter in der Verwaltung im Irak, in Afghanistan oder in Somalia bei Anschlägen ums Leben. In Saudi-Arabien wurde der Innenminister Ziel eines Selbstmordattentäters. Das Ausmaß islamistischer motivierter Gewalt wurde im Jahr 2009 vor allem bei folgenden, besonders schweren Anschlägen deutlich: n In Mogadischu/Somalia explodierte am 24. Januar eine Autobombe und tötete 15 Menschen, über 30 wurden verletzt. Ziel waren die Friedenstruppen der Afrikanischen Union. Dieser Anschlag war der Auftakt für eine Reihe weiterer schwerer Bombenanschläge nach dem Abzug der äthiopischen Truppen aus Somalia. Bei einem besonders schweren Selbstmordanschlag kamen am 18. Juni in der Stadt Baladwayne mindestens 24 Menschen ums Leben. Ein Attentäter hatte sein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug vor einem Hotel zur Detonation gebracht. Der Sicherheitsminister, der sich zu diesem Zeitpunkt im Hotel aufhielt, erlag seinen Verletzungen. Bei einem weiteren schweren Selbstmordanschlag starben am 3. Dezember mindestens 19 Menschen, darunter drei Minister, als sich der Attentäter bei einer Abschlussfeier für Medizinstudenten in einem Hotel in die Luft sprengte. n Im Jemen kam es am 12. Juni in der Nähe der nordjemenitischen Stadt Saada zu einer Entführung von deutschen Staatsangehörigen. Bei dieser Entführung wurden zwei junge deutsche Frauen, die als Praktikantinnen in einer Klinik im Jemen arbeiteten, ermordet. Ein weiteres Opfer, eine junge Lehrerin, kam aus Südkorea. Die Hintergründe der Entführung blieben unklar. Islamistische Motive können aber nicht ausgeschlossen werden. Das letzte Lebenszeichen von der deutschen Familie mit ihren drei kleinen Kindern waren Videobilder im Dezember 2009. Seit Januar 2010 bemüht sich die Regierung in Sanaa um direkte Verhandlungen mit den Geiselnehmern. n Im Irak verging kein Monat, in dem nicht mehrere Dutzend Menschen bei Anschlägen starben. Meist richteten sie sich gegen belebte Plätze mit großen Menschenansammlungen. So kamen am 23. und am 24. April mehr als hundert schiitische Pilger, die zum großen Teil aus dem Iran angereist waren, ums Leben, als sich drei Selbstmordattentäter in die Luft sprengten. Am 19. August, dem sechsten Jahrestag des Anschlags auf das UN-Hauptquartier in Bagdad, starben 95 Menschen und beinahe 600 wurden verletzt. Bis zu 160 Personen starben 51 am 25. Oktober und über 500 wurden verletzt, als zwei Autobomben detonierten. Dieser Anschlag folgte demselben Muster wie im August. Die Bomben wurden während der morgendlichen Rush-Hour vor den Gebäuden des Justizministeriums und der Provinzverwaltung gezündet. Am 8. Dezember kam es zu einer weiteren koordinierten Anschlagsserie im Regierungsviertel in Bagdad, bei der über 120 Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. n In Pakistan wurden besonders in der zweiten Jahreshälfte blutige Anschläge verübt, bei denen mehrere Hundert Menschen starben. So kamen allein am 28. Oktober 105 Menschen ums Leben und über 150 wurden verletzt. In Peschawar explodierten zeitgleich zum Besuch der amerikanischen Außenministerin in Islamabad Sprengsätze auf einem belebten Markt. Am Abend des 7. Dezember kamen auf einem Markt in Lahore bei einem Doppelanschlag mindestens 36 Personen ums Leben. Bei einem Selbstmordattentat auf ein Gerichtsgebäude in Peschawar am Vormittag desselben Tages waren bereits über zehn Menschen gestorben. Allein an diesem Tag wurden über 150 Menschen verletzt. n In der afghanischen Hauptstadt Kabul starben am 11. Februar über 20 Personen, als nach dem Muster der Anschläge von Mumbai40 Talebankämpfer vor dem Justizministerium ein Blutbad anrichteten. Die Zahl der Verletzten wurde mit über 50 Personen angegeben. n In der indonesischen Hauptstadt Jakarta starben am 17. Juli bei Selbstmordanschlägen auf zwei große Hotels trotz enormer Sicherheitsbemühungen neun Menschen, 50 wurden zum Teil schwer verletzt. n In Fort Hood, dem größten Militärstützpunkt in den Vereinigten Staaten, erschoss ein Militärpsychiater am 5. November 13 Menschen bei seinem Amoklauf und verletzte mehr als 40 Personen teilweise schwer. Der Attentäter stand in E-Mail-Kontakt zu dem jihadistischen Propagandist Anwar al-AWLAKI, der die Tat auf seiner Internetseite als Heldentat rühmte. n Am 25. Dezember konnten aufmerksame Fluggäste einen Anschlag auf eine Verkehrsmaschine im Landeanflug auf Detroit verhindern. Zu diesem Anschlagsversuch bekannte sich "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel". Am 24. Januar 2010 sendete al-Jazeera eine kurze Audio52 40 Siehe Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 35. IS LA M IS M U S botschaft von Usama bin LADIN, in der er den Namen des Attentäters in die Reihe der Attentäter des 11. September 2001 stellte. Das Jahr 2009 hat in trauriger Folge zu den Vorjahren gezeigt, zu welch brutalen Gewalttaten jihadistisch motivierte Attentäter weltweit fähig sind. Die Planungen wie auch die Unterstützung und Durchführung von Terroranschlägen fanden überwiegend in den bekannten Kriegsund Krisengebieten wie den Kaukasusrepubliken, Afghanistan, Pakistan, Irak oder Somalia statt. Aber auch in Europa bleibt die Gefahr, die von einem jihadistisch motivierten Personenkreis ausgeht, unvermindert hoch, wie Verhaftungen, Ermittlungsund Strafverfahren deutlich machten. 4. Islamistischer Extremismus Die große Mehrheit der Islamisten in Deutschland ist in Organisationen und Bewegungen aktiv, die ihre Ziele gewaltfrei verfolgen. Fließende Übergänge und Denkschulen, die in Deutschland etwa an Vorstellungen wahhabitischer Gelehrter anknüpfen, zeigten aber, dass auch bei vermeintlich gewaltfreien Aktivitäten Thesen vertreten werden, die den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuwider laufen. Unterschiedliche Gruppierungen versuchten, Anhänger für ihre Ideen zu finden und ihre Vorstellungen nicht nur zu propagieren, sondern auch im Alltag umzusetzen. Dieser Extremismusbereich ist kein einheitliches Gebilde, sondern vielmehr in ganz unterschiedliche Szenen zersplittert. Sind einige Organisationen als Vereine klar gegen andere Zusammenschlüsse islamistischer Aktivisten abzugrenzen, so gibt es auch Bewegungen, Strömungen oder Netzwerke, die durch Kennverhältnisse zusammengehalten werden. In diesen Personengeflechten geht es um eine gemeinsame Geisteshaltung, die streng kontrolliert und bei Abweichungen korrigiert wird. 4.1 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündigung und Mission") Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entstand eine der größten innerislamischen Missionsbewegungen. Der Islamgelehrte Maulana Muhammad Ilyas (1885-1944) formulierte in der Nähe von Delhi seine Ideen einer islamischen Wiedererweckung, Wiederbelebung und Mission. Nach der Teilung Indiens 1948 und der Gründung Pakistans fand diese Massenbewegung in den Städten Lahore und vor allem im benachbarten Raiwind ihr geistiges Zentrum. Die englische Stadt Dews53 bury, Yorkshire, gilt in Europa als wichtigste Begegnungsund Ausbildungsstätte der Tablighi-Gemeinschaft. Weltweit sollen sich dieser Bewegung 80 Millionen Muslime angeschlossen haben. In Pakistan werden dieser Strömung über 1.000 religiöse Schulen zugeschrieben. Bei den jährlich stattfindenden Zusammenkünften versammelten sich in der Vergangenheit bis zu drei Millionen Anhänger in Pakistan, Indien oder Bangladesh. In Europa treffen sich seit den 1960er-Jahren Mitglieder und Anhänger dieser Bewegung, die sich in Gruppen (Jamaat) auf Missionsreisen in andere Städte und dort vor allem in die Moscheen begeben. In den Fokus der Sicherheitsbehörden geriet diese Bewegung aufgrund einzelner Gewalttäter, die sich im Umfeld dieser Bewegung jihadisitischen Gruppierungen wie den Lashkar-e Taiba in Pakistan anschlossen. In Deutschland sind Missionare dieser Bewegung ebenfalls unterwegs und versuchen, Anhänger für die Bewegung zu gewinnen. Diese reisten in einzelnen Fällen ebenfalls nach Pakistan und hielten sich dort in Schulen oder auch Ausbildungslagern jihadistischer Gruppen auf. Die Bewegung der Tablighis wird in englischsprachigen Medien auch häufiger als "biggest Muslim evangelical movement" (größte muslimische evangelikale Bewegung) bezeichnet.41 Diese indische "Re-Islamisierungsströmung" wird nach wie vor von den Ideen der Deobandi-Bewegung beeinflusst. Im 19. Jahrhundert, nach Absetzung des letzten Mogul-Herrschers Bahadur Schah Zafar, entstand diese Lehrtradition, die sich streng an den schriftlichen islamischen Quellen orientiert. Die Deobandi-Bewegung beabsichtigt die Wiederbelebung eines klassischen Islam und das Beseitigen von Fremdeinflüssen. Ziele der Bewegung waren die Trennung von der hinduistischen Bevölkerung, der Zusammenschluss der muslimischen Bevölkerung und die Regelung des Alltags gemäß der Scharia. In der indischen Stadt Deoband wurde hierzu die Universität "Dar al-Ulum" gegründet, die heute nach der Azhar-Universität in Kairo die größte islamische Universität weltweit ist. Das rückwärtsgewandte Islamverständnis und die Missionsbemühungen, die eine authentische islamische Identität stiften sollen, teilt die Tablighi-Bewegung mit den salafistischen Strömungen. So lässt sich die Radikalisierung im Umfeld der Bewegung und im Einflussbereich einzelner Tablighi-Missionare erklären. Da beide Bewegungen auf die vermeintlich gleichen frühislamischen Vorbilder zurückgreifen, entstand ein Konkurrenz54 41 Englischsprachige Ausgabe "Le Monde diplomatique" vom Januar 2009. IS LA M IS M U S verhältnis, das sich bis heute in teilweise heftigen Verbalattacken vor allem von Seiten salafistischer Gelehrter auf die Tablighi-Bewegung äußert. Diese ablehnende Haltung wird inzwischen auch von deutschsprachigen Anhängern übernommen, die sich eine salafistische Interpretation des Islam zu eigen gemacht haben. So findet sich in einem salafistisch orientierten Forum eine lange Diskussion über die "Tabligh-i Jama'at", in der diese Bewegung mit "abgeirrten Sekten" verglichen wird.42 In den Beiträgen tauchen dann auch Zweifel auf: "Wieso halten Sie [sc. die Tablighis] so extrem am Buch Fadhaile Amal ["Vorzüge der guten Taten", Grundlagenwerk der TJ] fest, wo es doch voll ist mit Maudu Hadithen (erfundenen) letztlich sind Lügen nun mal Lügen (...) derjenige der eine Lüge über Ihn [sc. der Prophet Muhammad] berichtet wird mit Sicherheit seinen Platz in der Hölle finden." Interessant ist auch die Art und Weise, in der hier von salafistischer Seite die Argumentation geführt wird, so endet ein Beitrag: "Ich werde mit dir nicht diskutieren, denn Nabiyy a.s.s. [sc. der Prophet] hat uns gesagt, wir sollen die Diskussion unterlassen, selbst wenn wir im Recht sind." Dass hier zwei missionarische Formen islamistischer Prägung aufeinander treffen, wird in einem weiteren Beitrag deutlich: "Meines Wissen befinden wir uns gerade in der fitnahreichsten Zeit (Fitna = Anfechtung, Unglauben), die Muslime waren noch nie so verdorben wie heute, ist es nicht angebrachter Da3wa (Einladung, Mission, die "3" entspricht dem arabischen Buchstaben Ain) zu machen und den Menschen neu Iman zu lehren? Hast du noch nicht gemerkt, dass wir uns in der erniedrigsten Lage die es überhaupt gibt und gerade befinden?" Da die Tablighi-Bewegung auf Mission im persönlichen Gespräch Wert legt, findet sich hier kaum eine eigenständige Öffentlichkeitsarbeit. Dies wurde besonders deutlich, als im Jahre 2007 Kritik am Plan zum Bau einer Moschee in London geäußert wurde. Für rund 100 Millionen Euro soll in der Nähe des Geländes, auf dem die olympischen Spiele 2012 stattfinden werden, Europas größte Moschee für etwa 12.000 Gläubige entstehen. Öf42 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 30. Juli 2009, Wiedergabe wie im Original. 55 fentlich äußerte sich niemand der "Tabligh-i Jama'at" zur Kritik, hier könnte ein islamisches Ghetto entstehen. Wie umstritten diese Bewegung auch in muslimischen Kreisen ist, zeigte eine Unterschriftenaktion von islamischen Gemeinden, der online fast 300.000 Unterzeichner folgten. Auch wenn ihre Führungspersonen selten öffentlich auftreten, verfügt die Bewegung dennoch über etablierte Strukturen und hält regelmäßig größere und kleinere Treffen für ihre Anhänger in Deutschland und Europa ab. Die Tablighi-Bewegung setzt sich für eine Abschottung der muslimischen Bevölkerung in einem nicht-islamischen Umfeld ein, ohne den Staat ändern zu wollen.43 Dass einer Bewegung jihadistisch motivierte Terroristen entwachsen, macht nicht die ganze Bewegung zu einer terroristischen Organisation. Aber in verschiedenen Ermittlungsund Gerichtsverfahren wurde in den letzten Jahren deutlich, dass die einseitige Interpretation islamischer Quellen mit dem Ziel, die Verhaltensweisen eines einzelnen Muslims streng nach islamischen Maßstäben auszurichten, in Einzelfällen zu einem intensiven Ideologietransfer führen kann. Bei diesem Transfer kann es dann innerhalb einer Gruppe zu einer jihadistischen Ausrichtung kommen. Im Jahre 2009 wurde dies etwa bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit dem sogenannten "Airline bomb plot" deutlich. Im August 2006 waren 25 Personen festgenommen worden, die im Verdacht standen, eine zeitgleiche Sprengung mehrerer großer Passagiermaschinen auf dem Flug von London in die Vereinigten Staaten über dem Atlantik geplant zu haben. Als Folge der Aufdeckung dieser Anschlagsplanung wurden in Europa die Sicherheitsmaßnahmen für Flugreisen verschärft. Flüssigkeiten dürfen nur noch in geringer Menge im Handgepäck mitgeführt werden. Am 7. September 2009 sprach das Gericht44 in London drei der Verdächtigen schuldig und verurteilte sie zu jeweils lebenslangen Freiheitsstrafen. Der Anführer dieser Gruppe soll bereits als Jugendlicher ein glühender Anhänger der "Tabligh- i Jama'at" gewesen sein. Auch weitere Tatverdächtige sollen ihre jihadistische Radikalisierung im Umfeld von Moscheen begonnen haben, die der Tablighi-Bewegung zugerechnet werden.45 43 Ghadban, Ralph: Fundamentalismus: Geschichte eines Weges in Gewalt und Terrorismus. URL: http://www.sicherheit-heute.de vom 10. Oktober 2005. 44 Woolwich Crown Court. 45 Sean O'Neill: Airline bomb plot:mosque has been recruiting ground for 20 years, Times online 56 vom 9. September 2009. IS LA M IS M U S Bei einem Gerichtsverfahren in Madrid wurde Anklage gegen elf Verdächtige erhoben, die im Zusammenhang mit geplanten Selbstmordattentaten auf die Metro von Barcelona im Januar 2008 verhaftet worden waren. In diesem Verfahren gehen die Strafverfolger bei mehreren Angeklagten ebenfalls von Bezügen zur Tablighi-Bewegung aus. Am 14. Dezember 2009 verurteilte das Gericht46 in Madrid die elf Angeklagten wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung und dem Besitz von Sprengstoff zu Freiheitsstrafen zwischen acht und 14 Jahren.47 Generell treten die Anhänger der Tablighi-Bewegung im Gegensatz zu Aktivisten salafistischer Strömungen aber eindeutig apolitisch auf. In verschiedenen Großstädten in Baden-Württemberg treffen sich Anhänger und führende Personen der Bewegung in Moscheen oder unterstützen durchreisende Missionare bei deren Bemühungen. So entstanden Treffpunkte, an denen eine Botschaft in persönlichen Kontakten vermittelt wird, die vor allem bei jungen Muslimen, die Benachteiligungen ausgesetzt waren oder sich benachteiligt fühlten, zu einer Reislamisierung führen kann. Mit dieser Wiedererweckung geht die Ablehnung und Abgrenzung von der umgebenden Gesellschaft einher, sei sie vermeintlich islamisch oder aber nichtislamisch geprägt. 4.2 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger Von der ägyptischen "Muslimbruderschaft" (MB) leiten sich aus ideologischer Sicht sämtliche islamistischen Organisationen ab. Die MB wurde 1928 von dem Grundschullehrer Hassan al-BANNA gegründet. Zahlreiche islamistische Organisationen gründen noch heute auf alBANNAs Ideen und die seiner Nachfolger. Nach eigenen Angaben ist die Organisation heute in mehr als 70 Staaten vertreten. Das Motto der "Muslimbrüder" lautet: "Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch".48 Die MB setzt sich zum Ziel, islamische Moralvorstellungen zu verbreiten und den westlichen und "gottlosen" Tendenzen entgegenzuwirken. Sie verstand sich von Anfang an als politische Organisation mit dem Ziel, 46 Audiencia Nacional (Spanish National Court). 47 Al Goodman, Spain: 11 guilty of belonging to terror group, CNN-Website vom 14. Dezember 2009. 48 Internetauswertung vom 26. November 2009. 57 sich der britischen Besatzung entgegenzustellen. Die "Muslimbrüder" unterstützten aber auch wohltätige Aktionen und soziale Einrichtungen. Mit dieser Einstellung gewannen sie innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Anhänger. Bis Ende der 1930er-Jahre entwickelten sie sich zu einer bedeutenden hierarchisch aufgebauten politischen Organisation, die in den 1940er-Jahren eine halbe Million Mitglieder gewonnen hatte. Die MB legt großen Wert auf Bildung und Ausbildung im Hinblick auf die Errichtung ihres "wahren" islamischen Staates. Diese sanfte Revolutionierung der Gesellschaft ermöglichte ihr im Laufe der Zeit eine große Einflussnahme im ägyptischen Staat. Al-BANNA, ein charismatischer Führer, predigte einen revolutionären Islam und entwarf die Zukunftsvision eines "wahren" islamischen Staates. Diese Ideen führten zu wachsenden Spannungen zwischen der MB und der ägyptischen Regierung. Der dadurch entstehende Verfolgungsdruck zwang zahlreiche Mitglieder ihr Heimatland zu verlassen. Dadurch wurde die Ideologie der MB auch außerhalb Ägyptens verbreitet. Die von al-BANNA in seinen "Sendschreiben", Briefe an seine Anhänger, zugrunde gelegte Ideologie wurde unter anderem vom Said RAMADAN und Sayyid QUTB49 weiterentwickelt. Die Zahl der Anhänger der MB beträgt bundesweit 1.300 und in BadenWürttemberg 170. Der Ableger der MB in Deutschland ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD). Bereits al-BANNA verherrlichte den Jihad und das Märtyrertum. QUTB, ebenfalls einer der bedeutendsten islamistischen Vordenker, ergänzte diese Gedanken dadurch, dass auch muslimische Gesellschaften sich in einem Zustand des Unglaubens befinden könnten. Es sei daher rechtgläubigen Muslimen erlaubt, diese Systeme zu stürzen und einen "wahren" islamischen Staat zu etablieren. Die MB lehnt demokratische Grundprinzipien ab. An oberster Stelle im Staat soll die Scharia stehen, was eine klare Absage an das Prinzip der Volkssouveränität darstellt. Die MB lehnt von Menschen geschaffene Gesetze ab. Die Mehrheit der ägyptischen MB hat sich darauf geeinigt, dass weder eine Frau noch ein Christ ägyptisches Staatsoberhaupt oder Ministerpräsident werden darf. 58 49 QUTB lebte von 1906 bis 1966. IS LA M IS M U S Darüber hinaus lehnt die MB eine historisch-kritische Auslegung der religiösen Texte ab. Die Scharia soll unverändert ewige Gültigkeit haben. Der Meinungsfreiheit sind durch solch starre Denkstrukturen enge Grenzen gesetzt. In den 1970er-Jahren spalteten sich die radikalen ägyptischen Organisationen "al-Jihad al-Islami" und "al-Jama'a al-Islamiya" von der MB ab. Khalid al-Islambuli, der den ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat am 6. Oktober 1981 ermordete, war ein Mitglied des "al-Jihad al-Islami". Ayman az-ZAWAHIRI, der Stellvertreter Usama BIN LADINs in der "al-Qaida", war einer der Führungspersonen des "al-Jihad al-Islami". Heute ist der internationale Jihadismus sehr stark vom Gedankengut dieser extremistischen Abspaltungen der MB geprägt. Nach der Ermordung al-BANNAs 1949 wurden nacheinander sechs Nachfolger als "Oberste Führer" ernannt, einschließlich Muhammad Mahdi AKIF, der seit 2004 im Amt ist und 2009 seinen Rücktritt erklärt hat. Während seiner Amtszeit durften die "Muslimbrüder" bei der Parlamentswahl 2005 als unabhängige Kandidaten antreten und wurden mit 88 von 444 gewonnenen Parlamentssitzen zur stärksten Oppositionskraft. Bis heute ist ihr soziales Engagement ein Schlüssel zum Erfolg. Sie unterhalten vor allem in den ärmeren Vierteln karikative Einrichtungen. Durch Armenspeisungen und andere soziale Projekte bekommt die MB Zulauf aus den unterprivilegierten Schichten. Nach Auffassung der MB sind im Islam Politik und Religion eins. Der Islam bietet dieser Überzeugung nach für sämtliche Lebensbereiche die Lösung aller Probleme. Dies gilt sowohl für die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten als auch für den privaten Bereich. Eine Parole der MB lautet: "Der Islam ist die Lösung". Damit werden komplexe Wahlkampfprogramme überflüssig gemacht, denn dieser einfache Nenner kommt gerade bei bildungsfernen Schichten gut an. Al-BANNA wurde in seinen Sendschreiben jedoch auch konkret. Über die Verpflichtung eines jeden Muslims zum Jihad führte er aus: "(...) Gott hat speziell die Mujahidin mit Vorzügen geehrt, sowohl mit spirituellen als auch praktischen, damit diese ihnen in dieser Welt und der nächsten nützen. Ihr reines Blut ist ein Unterpfand für den Sieg in dieser Welt und das Zeichen für Sieg und Heil 50 in der nächsten Welt." 51 50 Kann aus dem Arabischen auch mit "Erfolg" übersetzt werden. 51 Hasan al-BANNA: Majmu'at ar-rasa'il, Dar ad-dawa, 1. Aufl., Alexandria 2002, S. 263; Über59 setzung aus dem Arabischen. Er glorifiziert damit das Märtyrertum und spricht den Muslimen, die in den Jihad ziehen, eine Vorzugsbehandlung durch Gott sowohl in diesem Leben als auch im Jenseits zu. Über die Muslime, die sich vom Jihad fernhalten wollen, schrieb al-BANNA: "Diejenigen, die zurückbleiben und nicht in den Krieg ziehen, sind vor abscheulichsten Strafen gewarnt worden und Gott hat sie mit den abstoßendsten Namen und Eigenschaften bezeichnet. Er hat sie für ihre Feigheit und für ihren Verzicht [sc. auf den Jihad] kritisiert und hat sie für ihre Schwäche und ihr Zurückbleiben [sc. vom Kampf] gegeißelt. In dieser Welt hat er [sc. Gott] für sie Schande bereitet, welche er nicht von ihnen nimmt, außer sie ziehen in den Jihad. Im Jenseits erwartet sie eine Strafe, der sie nicht entkommen können, auch wenn sie ein großes Vermögen besäßen. Die Enthaltung [sc. vom Jihad] und die Flucht [sc. vor dem Jihad] werden [sc. von Gott] als eine der großen Sünden betrachtet und eine der sieben Todsünden, welche die Vernichtung zur Folge haben."52 Das Jahr 2009 war nach der Rücktrittserklärung AKIFs durch Nachfolgestreitigkeiten geprägt. Reformer und Konservative standen sich gegenüber. Die Reformer streben eine aktive Teilnahme am politischen Leben in Ägypten an. Die Konservativen dagegen möchten sich auf ihre karikativen Projekte und auf den religiösen Bereich konzentrieren. Es gab Auseinandersetzungen darüber, aus welchem Lager der Nachfolger AKIFs kommen soll. Es stellte sich in den Monaten nach dem Verzicht AKIFs auf eine erneute Kandidatur die Frage, ob der Nachfolger wohl ebenfalls wie AKIF den Jihadismus der "al-Qaida" vehement ablehnen wird und ob er wie AKIF den Ausgleich zwischen den Lagern der Konservativen und den Reformern bewirken kann. AKIF war Israel gegenüber als Hardliner bekannt. Darüber hinaus trat er für ein aktives politisches Engagement der MB ein. Die Wahl des neuen Obersten Führers wurde aufgrund der internationalen Bedeutung der MB monatelang mit Spannung erwartet, auch im Ausland. Sie hat Auswirkungen auf die von der ägyptischen MB beeinflussten Organisationen und Gremien, allen voran auf die nationalen Ableger der MB. Im Dezember 2009 wurde der Exekutivrat der MB das erste Mal seit 1996 neu gewählt. Bei der Wahl gewannen die Konservativen die Mehrheit. Prominente Reformer wie Abdel Moneim Abul-Futuh verloren ihren Sitz im 1860 52 Ebd. IS LA M IS M U S köpfigen Exekutivrat. Die Mehrheitsverhältnisse wirkten sich auch bei der Wahl des neuen Obersten Führers aus. Die meisten Stimmen bekam Dr. Muhammad BADI, ein Konservativer. BADI, 1943 geboren, ist ein Veterinärprofessor an der Universität von Beni Sueif. Er ist seit 1959 Mitglied in der MB. Er wurde in den 1960er-Jahren wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer paramilitärischen Zelle der MB zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Neun Jahre davon saß er ab. Im Jahr 1999 wurde er wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Bewegung nochmals zu einer beinahe vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Aufgrund BADIs konservativer Haltung wird damit gerechnet, dass es in Zukunft mehr ideologische Öffentlichkeitsarbeit geben wird und weniger Beteiligung an der Tagespolitik. Mit Spannung wird erwartet, welche Haltung BADI zu den Parlamentswahlen 2010 einnimmt. Ein weiteres Ereignis, das die MB im Jahr 2009 beschäftigte, war der Gazakrieg. Vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009 reagierte Israel mit Luftangriffen auf den andauernden Raketenbeschuss Südisraels durch die HAMAS. In den arabischen und islamischen Staaten führten die Luftangriffe zu einer Protestwelle. In Ägypten protestierte man auch gegen die Untätigkeit der eigenen Regierung im Gaza-Krieg. Bei den Protesten wirkte die MB maßgeblich mit. Im Verlauf der Bombardierung des Gazastreifens durch Israel gab AKIF eine Erklärung ab, in der er alle Muslime ausdrücklich zum Jihad gegen Israel aufrief. Er beschimpfte "die Zionisten" unter anderem als Nachkommen von Affen und Schweinen: "Sie sind Nachkommen von Affen und Schweinen, die Zionisten, welche den palästinensischen Boden besetzt halten, arabischen und islamischen Boden. Sie gehen auf dem Pfad ihrer Vorfahren und richten auf der Erde Unheil an. Sie zerstören die Kultur und die Nachkommenschaft. Sie respektieren keine Verträge, keine Abkommen und keine Menschenrechte." 53 Unter Berufung auf mehrere Koranverse kam er zu dem Schluss, dass gegen Israel der Jihad ausgerufen werden müsse: 53 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 20. November 2009. Zitat von der arabischsprachigen Homepage der ägyptischen MB unter der Rubrik "Botschaft der Woche"; Übersetzung aus dem Arabischen. 61 "Daher haben wir keinen Zweifel mehr an der Notwendigkeit des heiligen Jihad zur Konfrontation mit dieser barbarischen Brutalität, welche unsere Leute in Gaza vernichtet. (...) Wann rufen wir also mit lauter Stimme 'Auf zum Jihad' wenn nicht jetzt? Es soll sich die ganze Welt zur Konfrontation mit dieser zionistischen hasserfüllten Schar erheben." Daraufhin rief AKIF alle Muslime zum Jihad auf: "Die Muslimbrüder rufen die ganze islamische umma (islamische Gemeinschaft) zur Erhebung zum Jihad auf, um die ausdauernden Brüder, die Mujahidin, in Gaza zu unterstützen und um die Schwachen, die Männer, Frauen und Kinder, zu retten. Die ganze Gemeinschaft soll sich erheben und in den Jihad ziehen, soweit sie es kann, jeder gemäß seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten." Schließlich definierte AKIF den Jihad, wie er ihn sich vorstellt: "Auf zum Jihad, einem Jihad, der alle Arten und Bedeutungen umfasst. Es beginnt mit dem inneren Jihad und dem Jihad gegen den Teufel und endet mit der Teilnahme der arabischen und islamischen Staaten am Jihad der Unterstützung und der Waffe. Wann verwenden sie denn [sc. endlich] die arabischen und islamischen Waffen oder wann wird mit ihrer Benutzung gedroht wenn sie nicht jetzt benutzt werden? Und wann werden die herrschenden Regime wütend wegen des [sc. vergossenen] Bluts ihrer Völker, wenn sie nicht jetzt wütend werden? Und wann bewegen sie sich, wenn sie sich nicht jetzt bewegen? Auf zum Jihad, um den Widerstand bei der Konfrontation mit dem zionistischen Militärapparats mit der Waffe zu unterstützen. Auf zum Jihad, mittels Zeit, Wissen, Geld und Blut, um die Einheit aller Gruppen der umma zu realisieren." Im Zuge der Unruhen wegen des Gazakonflikts sollen mindestens 1.700 Anhänger und Funktionäre der MB verhaftet worden sein. Insgesamt wurden 2.010 Mitglieder der nationalen und regionalen Führungsebene der MB im Jahr 2009 verhaftet, darunter auch prominente Mitglieder aus dem zen62 tralen Lenkungsbüro wie Abd al-Munim al-FUTTUH. In Hinblick auf die Par- IS LA M IS M U S lamentsund Präsidentschaftswahlen 2010 und 2011 könnte es sich bei den Verhaftungen von Mitgliedern des reformistischen Lagers der MB um ein gezieltes Vorgehen der Regierung handeln, um die politisch aktiven Reformer zu schwächen und den Machterhalt zu gewährleisten. Dr. Yusuf al-QARADAWI54 gilt inoffiziell als "Muslimbruder". Er saß wegen seiner Mitgliedschaft bei der MB in jungen Jahren mehrere Male in ägyptischer Haft und genießt hohes Ansehen in der MB. Im Jahr 2004 wurde ihm sogar das Amt des Obersten Führers angetragen, was er jedoch ablehnte. Al-QARADAWI äußerte sich am 30. Januar 2009 vor laufenden Kameras zum Nahostkonflikt folgendermaßen: "Während der Geschichte hat Allah das [sc. jüdische] Volk wegen seiner Verkommenheit gestraft. Die letzte Strafe wurde von Hitler vollzogen. Durch all die Dinge, die er ihnen angetan hat - sogar wenn sie diese Angelegenheit übertrieben haben - gelang es ihm, sie auf ihren Platz zu verweisen. Das war ihre göttliche Bestrafung. So Gott will, wird das nächste Mal diese durch die Hand der Gläubigen erfolgen. (...)" 55 Die von al-QARADAWI mehrmals vorgetragene Legitimierung von Selbstmordattentaten in "Palästina" griff er auch im Jahr 2009 wieder auf, indem er sich selbst bereit erklärte, gegen Juden Gewalt anzuwenden: "Um meine Rede zu beenden, möchte ich die einzige Sache sagen, die ich jetzt, wo mein Leben sich seinem Ende nähert, hoffe, nämlich dass Gott mir die Gelegenheit geben wird, in das Land des Jihads und des Widerstands zu gehen, sogar im Rollstuhl. Ich werde [sc. dort] auf Gottes Feinde, die Juden, schießen, und die werden eine Bombe auf mich werfen und so werde ich mein Leben als Märtyrer beenden. Gott der Herr der Welt sei gelobt. Gottes Gnade und Segen sei mit Euch." 56 54 Al-QARADAWI ist ein ägyptischer Islamgelehrter, der seit den 1940er-Jahren Mitglied der MB ist. Er lebt seit den 1970ern in Qatar, wo er wöchentlich in einer Sendung bei al-Jazeera seine Auslegung des Islam bei einem großen Publikum weltweit verbreitet. Er ist auch Autor des weit verbreiteten und ins Deutsche übersetzten Buchs "Erlaubtes und Verbotenes im Islam", in dem zu harten Strafen für Homosexualität aufgerufen wird. Zudem ist er Vorsitzender des "European Council for Fatwa and Research" (ECFR). 55 Videoauswertung vom 26. November 2009. 56 Videoauswertung vom 26. November 2009. 63 4.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Gründung: 1982 Hauptsitz: München Mitglieder: ca. 170 Baden-Württemberg (2008: ca. 170) ca. 1.300 Deutschland (2008: ca. 1.300) Publikation: "Al-Islam", bis 2003 in gedruckter Version, danach Veröffentlichungen in unregelmäßigen Abständen auf eigener Homepage. Seit März/April 2006 erscheint sie viermal im Jahr online für Abonnenten. Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) ist den legalistischen Organisationen zuzuordnen. Dies bedeutet, dass ihre Anhänger in der Regel legale Mittel einsetzen, um ihr Ziel eines politischen Islam zu verfolgen. Die IGD ist eine einflussreiche sunnitische Organisation arabischer Islamisten in Deutschland, deren Vorgängerorganisation ("MoscheebauKommission") seit 1960 bestand. Ihr Hauptsitz ist München. Das "Islamische Zentrum Stuttgart" (IZS) und der "Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V." in Karlsruhe werden von der IGD als Kooperationspartner in Baden-Württemberg genannt. Noch Anfang 2006 war das IZS auf der Homepage der IGD unter "Islamische Zentren der IGD" aufgeführt. Die IGD ist im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg" vertreten. In enger Beziehung zur IGD stehen die Jugendorganisationen "Muslimische Studentenvereingung" (MSV) und die "Muslimische Jugend in Deutschland" e.V. (MJD). Der sich als "unabhängig" bezeichnende Dachverband "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) vertritt auch die Interessen der IGD, die Mitglied im ZMD ist. Auf europäischer Ebene ist die IGD in der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) vertreten. Die IGD ist Gründungsmitglied der FIOE. Der von 2002 bis 2010 amtierende Präsident der IGD, Ibrahim el-ZAYAT, war zugleich Vorstandsmitglied der FIOE und ihr Vertreter in Deutschland. Sein Nachfolger ist seit Januar 2010 Samir FALAH. El-ZAYAT war Mitglied 64 im Generalsekretariat der saudisch-wahhabitischen Jugendorganisation IS LA M IS M U S "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY).57 In seiner Funktion als Generalbevollmächtigter der "Europäischen Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft" (EMUG) ist el-ZAYAT zudem Verwalter von Moscheen der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG). In Ägypten wurde el-ZAYAT im April 2008 von einem Militärgericht wegen Unterstützung einer verbotenen Organisation in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Er wird dort als Funktionär des internationalen Flügels der MB angesehen. Aktivitäten in Baden-Württemberg Am 3. Oktober 2009 wurde im "Islamischen Zentrum Stuttgart" (IZS) in Stuttgart Bad-Cannstatt der Tag der Offenen Moschee begangen. Bei der Veranstaltung waren weder der Referent noch der Vorstand der Moschee bereit, auf Fragen aus dem Publikum zu antworten, welchem Verband die Veranstalter angehörten und welche ideologische Ausrichtung die IZS-Moschee habe. Man wies lediglich darauf hin, dass es sich um eine sunnitische Moschee handle, in der auf Arabisch gepredigt werde. Dabei wurde der Gegensatz zum Schiitentum herausgehoben. An den Büchertischen lagen zahlreiche islamistische Schriften aus. Das Literaturangebot reichte von Publikationen des Autors Adnan OKTAR alias Harun YAHYA, der für seine anti-darwinistischen, gegen Aufklärung und den säkularen Staat gerichtete Positionen bekannt ist, bis hin zu Veröffentlichungen des im Jahr 2001 verstorbenen wahhabitischen Gelehrten Scheich Saleh al-UTHAIMIN. Dieser pflegte Angehörige anderer Religionen als "Ungläubige" herabzuwürdigen und forderte deren Hinrichtung als Abtrünnige. 58 In al-UTHAIMINs Schrift "Fiqh für Frauen" (Lehre von den Pflichten für Frauen) wird der Frau das Recht abgesprochen, selbst über ihren Körper und ihre Sexualität zu bestimmen, so heißt es bei al-UTHAIMIN zur Anwendung von Verhütungsmitteln: "Will sie ihre Schwangerschaften regeln, so dass sie nur alle zwei Jahre schwanger wird, und hat sie die Zustimmung ihres Ehemannes, so ist es ihr erlaubt, Verhütungsmittel zu benutzen, solange sie ihr nicht schaden." 59 Ferner wurde im IZS das Werk "Die Schariagrundlagen für das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen" von Feisal MAULAWI angeboten. 57 Website der WAMY vom 2. November 2009. 58 Saleh Al-Uthaimin: "Die Glaubenslehre der Sunnitischen Gemeinschaft", S. 51. 59 Saleh Al-Uthaimin: "Fiqh für Frauen", Al-Tamhid-Verlag, S. 50. 65 Bei Maulawi handelt es sich um den Vizepräsidenten des "European Council for Fatwa and Research" (ECFR; "Europäischer Rat für Rechtsgutachten und wissenschaftliche Studien"). Aufgabe des im Jahr 1997 von der FIOE gegründeten ECFR ist die Klärung religionsrechtlicher Fragestellungen. Eine zentrale Stellung nimmt hierbei die Scharia (islamisches Recht) ein, die dem ECFR zufolge einen allumfassenden Charakter besitzt. In Maulawis Publikation wird ein endgültiger Friedensschluss mit Israel als nicht rechtmäßig erachtet: "Nach übereinstimmender Ansicht der Gelehrten gehört es zu den Grundsätzen des islamischen Rechts (arab. Usul-scharia), dass die Anweisungen und Handlungen eines vom rechten Weg abgekommenen muslimischen Herrschers für die Muslime bindend sind, ausgenommen, wenn darin eine eindeutige Sünde besteht. Darauf aufbauend ist z.B. ein (endgültiger) Friedensschluss mit dem Staat Israel auf Kosten des palästinensischen Volkes nicht rechtmäßig im Sinne der islamischen Rechtsvorstellung und deshalb nicht bindend für die Muslime." 60 In der Publikation "Lösungen und Rechtsgutachten" konkretisiert der ECFR sein "Feindbild Israel" unter dem Titel "Jerusalem aufzugeben stellt ein Verrat an Allah, seinem Propheten und den Gläubigen dar": "Es ist ungesetzlich, auf irgendeinen Teil des Islamischen Landes zu verzichten, denn Islamisches Land ist kein Anrecht eines Präsidenten, Prinzen, Ministers oder einer Gruppe von darauf unter Druckausübung oder schwierigen Umständen zu verzichten. (...) Als der Kalif Umar ibn al-Khattab61 Jerusalem von seinem Christlichen Patriarchen Sapharnius erhalten hatte, war eine der Bedingungen, über welche er sich mit ihm geeinigt hatte: 'Die Juden dürfen nicht in ihm [sc. gemeint ist Jerusalem] leben.' Die Oberherrschaft über Jerusalem sollte Islamisch - Arabisch - Palästinensisch sein. (...)" 62 60 Feisal Maulawi: "Die Schariagrundlagen für das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen", S. 86, herausgegeben vom "Deutschen Informationsdienst über den Islam (DIDI) e.V." Karlsruhe. 61 Umar al-Khattab (634 bis 644) ist der zweite rechtgeleitete Kalif. 66 62 Arbeitsübersetzung, Rechtsgutachten auf der Website des ECFR vom 20. Oktober 2009. IS LA M IS M U S Im September 2009 bot das IZS an seinem Stand im Stuttgarter Zentrum Publikationen der "Conveying Islamic Message Society" - (CIMS; "Die islamische Botschaft vermittelnde Gesellschaft") an. Die seitens der CIMS verbreiteten Schriften sind häufig salafistisch geprägt. Zudem lagen Broschüren der WAMY aus. "Muslimische Studentenvereinigung" (MSV) Die "Muslimische Studentenvereinigung" (MSV), die Mitglied im ZMD ist und über enge Beziehungen zur IGD verfügt, wurde 1964 in München gegründet. Ihr heutiger Sitz ist Köln. Vom 26. bis zum 30. Oktober 2009 lud sie unter dem Motto "Einblick, Weitblick, Durchblick" zur 15. Islamwoche an die Universität Stuttgart ein. Als Referenten traten unter anderem Amir ZAIDAN und Dr. Houaida TARAJI, ehemalige Vizepräsidentin der IGD, auf. ZAIDAN hatte 1998 mit der sogenannten Kamel-Fatwa, der zufolge eine Frau ohne einen nahen männlichen Verwandten nicht mehr als 81 Kilometer zurücklegen dürfe, muslimischen Frauen fundamentale Freiheitsrechte abgesprochen. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden zahlreiche, dem islamistischen Spektrum zuzuordnende Bücher und Schriften angeboten, darunter auch Publikationen des "Islamischen Zentrums München". In einer dieser Schriften mit dem Titel "Frau und Familienleben im Islam" wird betont, dass das Gesetz, dem beide Ehepartner verpflichtet seien, die Scharia sei.63 Die Verfasserin plädiert zudem für die Anwendung von Haddstrafen64: "Fünftens werden geschlechtliche Beziehungen außerhalb der Ehe nach islamischem Recht nicht nur als Sünde, sondern auch als Vergehen betrachtet, das nach dem Gesetz auf die gleiche Weise wie Diebstahl oder Mord bestraft wird. Die Strafe dafür wird auf Männer und Frauen gleichermaßen angewandt und ist in ihrer Auswirkung hart und abschreckend." 65 63 LEMU, Aisha B. und GRIMM, Fatima: "Frau und Familienleben im Islam", herausgegeben vom "Islamischen Zentrum München", 4. Auflage 2005, S. 12f. 64 Dabei handelt es sich um im sakralen Recht vorgegebene Straftatbestände, die Verstöße gegen Recht Gottes (Huquq Allah) ahnden. Die im Koran vorgeschriebene Bestrafung der Delikte (Unzucht, Weinkonsum, Diebstahl) hat offiziellen Charakter und wird in der Öffentlichkeit vollzogen. Exemplarisch sei hier die Amputation der rechten Hand bei Diebstahl sowie des linken Fußes im Wiederholungsfalle genannt. 65 LEMU, Aisha B. und GRIMM, Fatima: "Frau und Familienleben im Islam", herausgegeben vom "Islamischen Zentrum München", 4. Auflage 2005, S. 22f. 67 Die hier genannte Strafe einer körperlichen Züchtigung steht in Widerspruch zur Verfassungsordnung des Grundgesetzes, insbesondere zur absoluten Geltung der Menschenwürde. Daneben wurde auf der 15. Islamwoche ein Werk angeboten, das vom "Internationalen Institut für Islamisches Gedankengut" ("International Institute of Islamic Thought", IIIT) und der MSV herausgegeben wurde. Das IIIT mit Hauptsitz in Herndon, Virginia (USA), und Zweigstellen in zahlreichen anderen Ländern geriet wiederholt in die Schlagzeilen, weil es islamistisch geprägte terroristische Vereinigungen unterstützt haben soll. 66 Das Institut propagiert die Islamisierung der Wissenschaften. In der ebenfalls auf der 15. Islamwoche angebotenen Publikation "Methodenlehre der Ermittlung rechtlicher Bestimmungen aus Koran und Sunna" wird die universelle Gültigkeit des islamischen Rechts der Scharia betont: "Die Scharia ist das Gesetz Gottes, welches für jeden Ort und jede Zeit umsetzbar ist. Denn nach dem Propheten Muhammad kommt kein Prophet mehr, der ein neues Gesetz bringt - lediglich Jesus (Friede sei mit ihm) wird noch einmal auf die Erde kommen, aber dann gemäß des Gesetz des Koran und der Sunna 67 des Propheten Muhammad richten." 68 Da schariatsrechtliche Bestimmungen alle Bereiche des Lebens umfassen, kommt es unweigerlich zu Konflikten mit deutschen Rechtsnormen, auch im Bereich des Eheund Zivilrechts. Das islamische Eherecht widerspricht deutschem Recht. Nach dem Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt (Art. 3 Abs. 2). Mit deutschem Recht ist es unvermeidbar, dass eine volljährige Frau einen Vormund (Wali) zum Zwecke der Eheschließung benötigt. In der genannten Publikation wird jedoch "die Einwilligung des Vaters, bzw. Walis der Frau" als obligatorisch für eine Eheschließung erachtet.69 Auf die Körperstrafen bei sogenannten Hudud-Delikten ("Grenzstrafen", von Arabisch Hadd = Grenze) wird in der "Methodenlehre der Ermittlung rechtlicher Bestimmungen aus Koran und Sunna" ebenfalls eingegangen ("Der 66 Bericht des Investigate Project on Terrorism (IPT) vom 2. November 2009. 67 Die zu gesetzlich verbindlichen Präzedenzfällen erhobenen Aussagen und Handlungen des islamischen Propheten Muhammad. 68 Mourad, Samir und Toumi, Said: "Methodenlehre der Ermittlung rechtlicher Bestimmungen aus Koran und Sunna", herausgegeben vom Deutschen Informationsdienst über den Islam (DIDI), Karlsruhe, Dezember 2006, S. 150; Übernahme wie im Original. 68 69 Ebd. S. 163: wörtlich hier: "walijj", in der hier gewählten Umschrift aus dem Arabischen "Wali". IS LA M IS M U S Dieb und die Diebin - schneidet ihnen die Hände ab, als Vergeltung für das, was sie begangen, und als abschreckende Strafe von Allah." 70). Strafen dieser Art verstoßen gegen elementare Menschenrechte und das grundgesetzlich garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit. "Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) Die MJD wurde im Jahr 1994 von Muhammad SIDDIQ alias Wolfgang BORGFELDT gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. In seinem Artikel "Weltanschauung und Leben im Islam" brachte Siddiq seine Auffassung zum Ausdruck, das islamische Recht über das Grundgesetz eines säkularen Rechtsstaates zu stellen, indem er betonte: "Muslim sein (werden) bedeutet auch, Gott als einzige Quelle aller Gesetze anzuerkennen." 71 Die MJD ist Mitglied der pan-europäisch agierenden Plattform "Forum of European Muslim and Youth Organisations" (FEMYSO) mit Sitz in Brüssel. Der ehemalige IGD-Präsident el-Zayat hatte an der Gründung der FEMYSO Mitte der 1990er-Jahre aktiv mitgewirkt und ist heute Mitglied im Kuratorium dieses Forums.72 Neben der FIOE war auch die "Islamic Foundation" im britischen Leicester in den Entstehungsprozess der FEMYSO eingebunden. Bei der "Islamic Foundation" handelt es sich um eine Lehrund Forschungseinrichtung, die sich ideologisch am Gedankengut von Sayyid Abul Ala al-MAUDUDI orientiert. In seiner ideologischen Ausarbeitung wurde der für die MB wichtige geistige Führer Sayyid QUTB nachhaltig von al-MAUDUDI, dem Führer und Begründer der 1941 in Britisch-Indien entstandenen "Jama'at-e Islami", geprägt. Al-MAUDUDIs "Hakimiyya-Konzept" (Arabisch für Herrschaft, Souveränität) der absoluten Souveränität Gottes in Staat und Gesetzgebung hielt Einzug in QUTBs Lehrwerke. Das "Hakimiyya-Konzept" ist nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar, da es in der Anerkennung der Volkssouveränität eine inakzeptable Ablehnung der Herrschaft Gottes sieht. 70 Ebd. S. 171. 71 Internetauswertung vom 20. August 2007. 72 Website der FEMYSO vom 7. Oktober 2009. 69 Zu den empfohlenen, über das Sekretariat der MJD buchbaren Referenten gehören der IGD zuzuordnende Personen wie der ehemalige IGD-Präsident el-ZAYAT und seine Ehefrau Sabiha el-ZAYAT, die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der IGD Houaida TARAJI73, Ahmad von DENFFER74 sowie der ehemalige Generalsekretär der IGD Ahmad al-KHALIFA. 75 Der Vorstandswechsel in der IGD ging im Januar 2010 vonstatten. Auf der MJD-Website wird Stellung zum politischen Tagesgeschehen genommen und zu "Solidarität mit Gaza" aufgefordert.76 Spendenaufrufe erfolgen über zwei muslimische Wohlfahrtsorganisationen, unter anderem über "Islamic Relief Deutschland" mit Sitz in Köln. Die Dachorganisation "Islamic Relief Worldwide" (IRW) gilt als wichtige wohltätige Organisation aus dem Umfeld der MB. Die Aktivitäten der IRW sollen in den palästinensischen Autonomiegebieten personell und ideologisch mit der HAMAS verknüpft sein. 4.2.2 HAMAS ("Harakat al-Muqawama al-Islamiya", "Islamische Widerstandsbewegung") Im nordafrikanischen Maghreb-Raum (Tunesien, Algerien) sowie in den Staaten des Vorderen Orients haben sich Ende der 1970erund während der 1980er-Jahre neue Gruppierungen gebildet, die aus der MB hervorgegangen sind. Im Jahr 1978 gründete Scheich Ahmad YASSIN die "Mujamma' al-Islami" ("Islamisches Zentrum"). Diese Organisation konzentrierte sich in ihrer Anfangsphase in erster Linie auf Sozialarbeit und erfreute sich bald großer Popularität bei der Bevölkerung des Gaza-Streifens. Durch gezielte Propaganda konnten die islamistischen Ziele der "Mujamma' al-Islami" schnell verbreitet werden. Nach der ersten Intifada ("Aufstand") im Jahr 1987 bildete sich der militante Ableger "Harakat al-Muquwama al-Islamiya" (HAMAS) beziehungsweise "Islamische Widerstandsbewegung" heraus. Die HAMAS stellt das Existenzrecht Israels in Frage. Der Jihad wird als Mittel zur Schaffung eines islamischen Staates erachtet, in dem nichtislamische Minderheiten einen minderen bürgerlichen Rechtsstatus haben sollen. Aktuell gelten Mahmud az-ZAHAR, Isma'il HANIYA und Khalid MASHAL als 73 TARAJI ist niedergelassene Frauenärztin in Neuss und Mitbegründerin des "Islamischen Frauenverbands für Bildung und Erziehung" (IFBED e.V.). 74 Ahmad VON DENFFER ist ein deutscher Konvertit, der seit 2005 einen Sitz im Schura-Rat des "IZ München" hat. Seit 1984 ist VON DENFFER beim "IZ München" Referent für deutschsprachige Angelegenheiten. VON DENFFER ist ebenfalls Publizist und Übersetzer. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "al-Islam" des "IZ München". 75 Muslimische Jugend in Deutschland - LK-Handbuch, Praktisches - Kontakte, Internetauswertung vom 9. April 2009. 70 76 Website der MJD vom 7. April 2009. IS LA M IS M U S führende Funktionäre. Mit dem Satellitenkanal "al-Aqsa", der am 21. August 2007 auf Sendung ging, verfügt die Organisation über einen eigenen TV-Sender. Bundesweit hat die HAMAS rund 300 Anhänger, wovon sich circa 15 in Baden-Württemberg aufhalten. Auf einer HAMAS-nahen Website wird der Standpunkt der HAMAS verdeutlicht: "Die Bewegung 'HAMAS' ist der Überzeugung, dass der Kampf mit den Zionisten in Palästina ein Kampf um die Existenz ist, wobei es sich um einen gegenwärtigen und für die Zukunft entscheidenden Kampf handelt, der nicht beendet werden kann, außer [sc. wegen] der Beendigung des Grundes [sc. für den Kampf]: nämlich der zionistischen Besiedlung in Palästina und widerrechtlichen Inbesitznahme seines Territoriums sowie der Vertreibung und Umsiedlung seiner Bewohner." 77 Eine große Bedeutung für die HAMAS-Propaganda kommt dem 2007 gegründeten Fernsehsender und Satellitenkanal "al-Aqsa TV" zu. Der HAMAS-Abgeordnete im Palästinensischen Legislativrat78 und Prediger Yunis al-ASTAL gab den Juden auf "al-Aqsa TV" die Schuld an der Schweinepest: "Es ist bekannt, dass die Juden augenscheinlich eine Neigung dazu haben, Gräuel, Verderbtheit und alle Arten von Korruption auf der Erde zu verbreiten. (...) Sie sind diejenigen, die Unzüchtigkeit und Verderbtheit wie auch Bordelle, Nachtklubs, Diskotheken, Kinos, Chalets, Kasinos und andere teuflische Höhlen der Versuchung verbreiten. Deshalb sollten sich diejenigen Leute, die sich vor der verderbten Schweinegrippe fürchten, vor den Maßnahmen, die von den zionistischen Teufeln ergriffen werden, welche noch tödlicher für die Menschheit sind als die Schweine, noch mehr fürchten." 79 77 Internetauswertung vom 12. Oktober 2009. 78 Beim Palästinensischen Legislativrat handelt es sich um ein Einkammer-Parlament mit 132 Sitzen. Die Legislaturperiode dauert vier Jahre, die nächsten Wahlen finden 2010 statt. 79 "Al-Aqsa TV" am 15. Mai 2009. 71 Militärischer Flügel der HAMAS sind die "Brigaden des Märtyrers Izz ad-Din al-Qassam" 80 ("al-Qassam-Brigaden). Sie lehnen das Existenzrecht Israels kompromisslos ab. Die "al-Qassam-Brigaden" waren auch in die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit am 25. Juni 2006 involviert. Im vierten Jahr seiner Gefangenschaft wurde am 14. September 2009 ein neues Video veröffentlicht. Im Gegenzug für das Lebenszeichen hatte Israel 20 weibliche palästinensische Gefangene auf freien Fuß gesetzt. Für die Freilassung Shalits fordert die HAMAS die Freilassung von etwa 1.000 in Israel inhaftierten Palästinensern. Zahlreiche Konflikte prägten das Jahr 2009: Im Januar kam der Innenminister von Gaza, Said Siam, bei einem israelischen Luftangriff zu Tode. Siam gehörte zur Führungsspitze der HAMAS.81 Er hatte nach dem Wahlerfolg der HAMAS in den palästinensischen Autonomiegebieten eine Einheit überwiegend aus Mitgliedern der HAMAS aufgestellt. Die andauernde Konkurrenzsituation zwischen HAMAS-loyalen und Fatah-orientierten Sicherheitskräften sorgte für eine weitere Destabilisierung der Sicherheitslage. Das Vertrauen der palästinensischen Bevölkerung in die Sicherheitskräfte nahm ab. Die Interaktionen zwischen HAMAS und Fatah waren im Jahr 2009 von Konflikten geprägt. Sowohl die Sicherheitskräfte der HAMAS als auch der Fatah nahmen Hunderte von Mitgliedern und Sympathisanten der gegnerischen Seite ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Gewahrsam.82 Charakteristisch für das Verhältnis ist zudem die gegenseitige Zensur der Printmedien. Im von der Fatah kontrollierten Westjordanland sind die HAMAS-Publikationen "ar-Risala" (Botschaft) und "Falastin" (Palästina) bereits seit 2007 verboten.83 Die HAMAS ging im Gegenzug gegen Fatahnahe Medien vor. Versuche Ägyptens, in seiner Vermittlerrolle die HAMAS 80 Izz ad-Din al-Qassam lebte von 1882 bis 1935. Er war ein islamistischer Prediger und Untergrundkämpfer. 81 Spiegel Online vom 15. Oktober 2009. 82 Amnesty International Report 2009. 72 83 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Online vom 19. Oktober 2009. IS LA M IS M U S und Fatah zu einer gemeinsamen Regierungsbildung zu bewegen, schlugen fehl.84 Im Ringen um die Macht sollen die Fatah-nahen "al-Aqsa-Brigaden" erstmalig mit der Tötung von HAMAS-Führern gedroht haben. 85 Am 27. September 2009 kam es vor dem wichtigsten jüdischen Feiertag Yom Kippur zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern auf dem Tempelberg in Jerusalem. Der Tempelberg ist für Juden das wichtigste Heiligtum und für Muslime die drittwichtigste Stätte nach Mekka und Medina. Als Folge der heftigen Spannungen wurde der Führer des nördlichen Zweigs der "Islamischen Bewegung in Palästina" ("Al-Haraka al-islamiya fi Filastin"), Scheich Raid Salah, festgenommen. Salah soll in Geldbeschaffungsaktivitäten für die HAMAS verwickelt gewesen sein.86 Die Ereignisse in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten wirkten sich auf die Aktivitäten der in der Diaspora lebenden Palästinenser aus. Bundesweit kam es im Jahr 2009 zu pro-palästinensischen Demonstrationen, so auch am 9. Januar in Mannheim.87 Während der Demonstration wurde eine israelische Flagge verbrannt, wobei Teilnehmer der Demonstration "Tod Israel" skandierten. 4.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") Die "an-Nahda" bildet den tunesischen Zweig der MB. Sie entstand im Jahr 1989 aus der 1981 gegründeten Vorgängerorganisation "Mouvement de la Tendence Islamique" ("Bewegung der islamischen Ausrichtung"). Noch im Jahr 1989 nahmen Mitglieder der Partei als unabhängige Kandidaten an den Parlamentswahlen teil, 1991 wurde die "an-Nahda" jedoch in Tunesien verboten. Einer der Mitbegründer der "an-Nahda", der Philosophieprofessor Rashid al-GHANNOUSHI, leitet die "an-Nahda" aus dem Londoner Exil. Zahlreiche "an-Nahda"-Mitglieder befinden sich derzeit aufgrund des hohen Verfolgungsdrucks und der Repressionen der tunesischen Regierung im Ausland. Die "an-Nahda" hat in Deutschland 90 Anhänger. In Baden-Württemberg halten sich Einzelmitglieder auf. 84 Amnesty International Report 2009. 85 NTV Online vom 4. November 2009. 86 Bericht der NEFA Foundation vom 19. Januar 2009, URL: ttp://www1.nefafoundation.org/index.html. 87 Internetauswertung vom 19. Oktober 2009. 73 Die tunesische Variante der ägyptischen MB unterscheidet sich ideologisch nur unwesentlich von der ägyptischen Mutterorganisation. Die "an-Nahda" legt zwar auf einen Islamismus tunesischer Prägung Wert, der beispielsweise im angestrebten islamischen Staat ein Mehrparteiensystem mit Parlamentswahlen vorsieht. Gleichwohl lehnt die Organisation die westliche liberale Demokratie ab und strebt eine islamische Verfassung an. Eine Gemeinsamkeit der tunesischen "an-Nahda" mit der ägyptischen MB ist die Überzeugung, dass die Souveränität im Staat nur Gott zustehe. Daher kommen die tunesischen "Muslimbrüder" zum gleichen Schluss wie die ägyptischen "Muslimbrüder": Die Gesellschaft, in der sie leben, sei so lange atheistisch und unislamisch, bis das bestehende "ungläubige" System durch eine islamische Staatsform in ihrem Sinne ersetzt werde. Eine solche Staatsform wäre mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar. Dieses Gedankengut ist stark von Sayyid QUTB, Hassan al-BANNA und Sayyid Abul Ala al-MAUDUDI88 geprägt - Autoren, die al-GHANNOUSHI in seinen Schriften ausführlich zitiert. Ein entscheidender Punkt für die Beurteilung einer islamistischen Organisation und ihrer führenden Mitglieder ist die Frage, wie sie gedenken, in ihrem "wahren" islamischen Staat mit Apostaten (Abtrünnigen) umzugehen. Al-GHANNOUSHIs Antwort darauf ist, dass er die Apostasie als "Meuterei", "Verrat" und Abspaltung von der islamischen Gemeinschaft ansieht. Er möchte dieses Vergehen hart bestraft sehen. Seiner Überzeugung nach ist der islamische Staat dafür verantwortlich, im Interesse der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft die Apostasie zu ahnden. Durch al-GHANNOUSHIs Haltung in dieser bedeutenden Frage wird deutlich, dass er nicht bereit ist, den Bürgern seines islamischen Staates die Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Lebenskonzepten einzuräumen.89 Nach dem Schweizer Volksentscheid, bei dem sich eine Mehrheit der Bürger für das Verbot aussprach, weitere Minarette bauen zu dürfen, meldete sich al-GHANNOUSHI am 9. Dezember 2009 mit einem Artikel zu Wort, der auf der Internetseite von al-Jazeera eingestellt wurde.90 Al-GHANNOUSHI machte für das Ergebnis dieses Volksentscheids die Verbreitung der "faschistischen Rechten" und teilweise die "allgemeine Lage" in Europa verantwortlich. Mit der "allgemeinen Lage" meint er das Hijab-Verbot in 88 Al-MAUDUDI (1903-1979) war ein pakistanischer Islamgelehrter und Gründer der islamistischen Partei "Jamaat-e-Islami." Er gilt als einer der bedeutendsten Vordenker des Islamismus. 89 Wöhler-Khalfallah, Katja: Demokratiekonzepte der fundamentalistischen Parteien Algeriens und Tunesiens - Anspruch und Wirklichkeit, S. 17 (URL: http://www.christian-woehler.de/woehler-khalfallah_ijcv_deutsch.pdf vom 7. Januar 2010). 74 90 URL: http://www.aljazeera.net vom 10. Dezember 2009. IS LA M IS M U S Frankreich, den Karikaturenstreit und die Ermordung von Marwa aschScharbini91 in einem deutschen Gerichtssaal. Seiner Ansicht nach haben die extrem rechtsgerichteten Strömungen christliche Wurzeln, würden auf ein Nazi-Erbe zurückblicken und gingen zum ersten Mal in der Geschichte ein Bündnis mit den einflussreichen jüdischen Gemeinschaften ein. Die jüdisch-christliche Zivilisation stünde jetzt einem gemeinsamen Feind gegenüber: dem Islam. In Baden-Württemberg werden die Ziele der "an-Nahda" von einzelnen Anhängern unterstützt und befürwortet. 4.2.4 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ging 1953 aus der jordanischen MB hervor. Gründer war der palästinensische Schariatsrichter und Rechtsgelehrte Taqi ad-Din an-NABHANI. Als Grundlage der Organisation dient anNABHANIs Werk "Die Lebensordnung des Islam" ("Nizam al-Islam"). Mittelpunkt der Lehre ist die Kalifatsideologie: Die Gemeinschaft aller Muslime der Erde (Umma) soll unter der Führung eines Kalifen vereint werden. Demzufolge sind säkular-demokratische Staatsmodelle abzulehnen, denn sie sind gemäß der Vorstellung der HuT unvereinbar mit der "islamischen Ordnung". Aktuell ist der Islamgelehrte Ata Abu RASHTA weltweiter Führer der Partei. Seit dem 15. Januar 2003 unterliegt die Organisation in Deutschland einem vom Bundesministerium des Innern erlassenen Betätigungsverbot. Dennoch veröffentlichte sie deutschsprachige Propaganda im Internet und versuchen Anhänger der Ideologie vermehrt, Jugendliche in Deutschland für die Ideen der Organisation zu begeistern. Auf der "Konferenz der Ulama" (Rechtsgelehrten) am 1. September 2009 in Jakarta (Indonesien) versammelten sich unter Federführung der HuT islamische Gelehrte aus zahlreichen Ländern, unter anderem Algerien, dem Libanon, Indien, Bangladesch, Pakistan, Malaysia, der Türkei und den palästinensischen Autonomiegebieten. Die Konferenz stand unter dem Motto, "die Segnungen des Islam auf das gesamte Universum zu verbreiten und das Kalifat wiederherzustellen".92 Anwesend war der Palästinenser Ata Abu 91 Marwa asch-Scharbini war eine Ägypterin, die Kopftuch trug und von einem Russlanddeutschen als "Islamistin" und "Terroristin" beschimpft wurde. Sie zeigte ihn daraufhin an. Marwa asch-Scharbini wurde am 1. Juli 2009 während der Strafverhandlung am Landgericht Dresden, bei der sie als Zeugin geladen war, vom Angeklagten erstochen. Der Mord hatte einen ausländerund islamfeindlichen Hintergrund. 92 Website der HuT vom 12. Oktober 2009. 75 Rashta, der seit 2003 das Amt eines globalen Führers ("Amir") der HuT bekleidet. In seiner Rede auf der Konferenz betonte Rashta, "die Hizb ut-Tahrir" habe erkannt, "dass die (Wieder-)herstellung des Kalifats (iqama al-khilafa) eine zukunftsweisende Angelegenheit für die Muslime" darstelle "und seine (Wieder-) Herstellung eine Pflicht (fard)" sei.93 Die HuT verwehrt der volljährigen und ehemündigen Frau das in einem demokratischen Rechtsstaat verbriefte Recht, durch eigene Erklärung wirksam die Ehe eingehen zu können. Zudem spricht sie ihr das Recht auf freie Wahl des Ehepartners ab. Die Frage der Selbstverehelichung der Frau sei in letzter Zeit verstärkt aufgetaucht und zu einer verbreiteten Erscheinung unter den jungen Muslimen in westlichen Ländern geworden. Auf der HuTeigenen Website heißt es dazu: "Bevor wir uns detailliert der Angelegenheit widmen stellen wir klar, dass die richtige Meinung in dieser Frage, die von uns auch adoptiert wird, besagt, dass die Frau sich selbst nicht verehelichen darf und ihre Verehelichung ohne Erlaubnis ihres Vormunds islamrechtlich unzulässig ist. (...) Die Ehe jedweder Frau, die ohne Erlaubnis ihres Vormunds ehelicht, ist ungültig, ungültig, ungültig!94 (...) So sagt der Gesandte Allahs (s.): 'Nur die Vormunde dürfen Frauen verehelichen. Auch dürfen sie nur mit Ebenbürtigen verehelicht werden. Zudem harmonisieren normalerweise die Interessen Ebenbürtiger miteinander, denn die Hochgestellte lehnt es ab, von einem Niedriggestellten zu empfangen. Deswegen muss die Ebenbürtigkeit berücksichtigt werden. Für den Ehemann ist die Ebenbürtigkeit der Frau jedoch keine Voraussetzung, denn der Ehemann ist Spender, also stört ihn die Niedrigkeit der Empfangenden nicht. Verheiratet sich die Frau selbst mit jemandem, der ihr nicht ebenbürtig ist, so haben die Vormunde das Recht, die Ehe aufzulösen, um den Schaden der Schmach von sich abzuwenden.'" 95 Ein Ehevertrag erlangt demnach nur Rechtsgültigkeit, wenn der Vertrag durch einen Vormund abgeschlossen worden ist. Diese Vormundschaft wird als "frei gewählte Vormundschaft" bezeichnet, weil die Frau mit der Heirat 93 Website der HuT vom 12. Oktober 2009. 94 Die Autoren des Artikels auf der HuT-eigenen Website nennen einige Namen von islamischen Rechtsgelehrten früherer Jahrhunderte wie At-Tirmidhi (825 bis 892 in Termiz auf dem Gebiet des heutigen Staates Usbekistan). 76 95 Website der HuT vom 8. Oktober 2009. IS LA M IS M U S einverstanden sein soll. Mit dieser Haltung stellt sich die HuT gegen die Ansicht einer Gruppe von Muslimen, die eine selbständige Entscheidung der Frau bei ihrer Verheiratung befürworten.96 Anhänger der HuT sind weltweit aktiv. Die Europazentrale der HuT befindet sich in London. Da die Organisation die Legitimität der arabischen Herrscher infrage stellt, ist sie in den arabischen Ländern verboten. Die HuT erachtet den Jihad im Sinne von Kampf als adäquates Mittel zur Erlangung ihrer Ziele. Sie hat in ihrer im September 2009 veröffentlichten Reihe "Die Verpflichtung zum Jihad" unter "Der Jihad geht weiter bis zum Tag des Jüngsten Gerichts" erklärt: "Unser Feind, der westliche Ungläubige (kafir) besetzt unsere Ländereien, einige politisch, einige militärisch und einige, indem sie das muslimische Volk durch ihr eigenes verdrängen, wobei sie sie mit allen Werkzeugen ausstatten, um für sie als Arsenal und Brückenkopf zu fungieren. (...) Es ist unmöglich, diese Feinde zu vertreiben - wie im Falle Palästinas - außer durch Armeen, die mit dem organisiert, ausgebildet und ausgerüstet sind, was die Feinde Allahs abschreckt." 97 4.3 "Hizb Allah" Gründung: 1982 (im Libanon) Sitz: Libanon, weltweite Verbreitung von "Hizb Allah"-nahen "Gemeinden" Mitglieder: ca. 90 Baden-Württemberg (2008: ca. 100) ca. 900 Deutschland (2008: ca. 900) Publikation: täglich aktualisierte Internetpublikationen Fernsehsender: "al-Manar TV"98 Presseorgan: "al-Intiqad" Radio: "an-Nur" 96 Die Möglichkeit einer eigenmächtigen Selbstverheiratung der Frau wurde vom Begründer der hanafitischen Rechtsschule Abu Hanifa (699 bis 767) für legal empfunden. Auf der HuT eigenen Website vom 8. Oktober 2009 wird gegen diese Option argumentiert. 97 Website der HuT vom 8. Oktober 2009. 98 Betätigungsverbot durch das Bundesministerium des Innern am 29. Oktober 2008. 77 Die "Hizb Allah" (Partei Gottes) ist eine schiitisch-islamistische Bewegung, die 1982 auf Betreiben der iranischen Führung im Libanon gegründet wurde. Anlass für die Gründung war der damalige Einmarsch israelischer Truppen in den Süden des Libanon. Neben dem Export der islamischen Revolution nach iranischem Vorbild und der Schaffung eines islamischen Staates im Libanon war das erklärte Ziel der "Hizb Allah" die Vertreibung Israels aus dem Libanon. Hierzu wurde eine starke Miliz ins Leben gerufen, die selbst nach dem Abzug Israels im Jahre 2000 entgegen verschiedener Resolutionen der Vereinten Nationen nicht aufgelöst wurde. Diese Privatarmee erlaubt es der "Hizb Allah", anderen politischen Akteuren ihren Willen aufzuzwingen. Die "Hizb Allah" negiert das Existenzrecht Israels und propagiert dessen Vernichtung auch mit gewaltsamen Mitteln. Darüber hinaus soll westlicher und insbesondere amerikanischer Einfluss in der Region zurückgedrängt werden. Zur Verfolgung ihrer Ziele greift die Organisation auf terroristische Methoden zurück, da sie nicht ausschließlich militärische Ziele angreift. Terroristische Taten werden als sogenannte Märtyreroperationen bezeichnet, die in "Hizb Allah"-Kreisen als islamisch legitimierte Form der Gewaltanwendung (Jihad) gelten. Um die Reihen ihrer Kämpfer beständig aufzufüllen, knüpft die "Hizb Allah" an das islamische Märtyrerkonzept an, das in seiner politisierten Form auch Selbstmordattentäter hervorbringt, die bereit sind, ihr Leben für die Ziele der Organisation zu opfern. Um sich zusätzlichen Einfluss auf den politischen Lauf der Ereignisse im Libanon zu sichern, tritt die "Hizb Allah" seit 1992 auch bei Wahlen an und ist zwischenzeitlich sowohl im Parlament als auch in der Regierung vertreten. Indem sie soziale und karitative Einrichtungen unterhält, erzielt sie vor allem bei den Schiiten einen positiven Rückhalt und bindet dadurch weite gesellschaftliche Kreise sozial und politisch an die Organisation. In Deutschland versucht die "Hizb Allah", durch systematische Medienund Propagandatätigkeit Angehörige der libanesischen Diaspora schiitischen Glaubens und deren Angehörige für die Zwecke der Organisation zu mobilisieren. War die "Hizb Allah" 1982 noch als reine Widerstandsbewegung gegründet worden, so konnte sie in den letzten Jahren im libanesischen Kontext beträchtlich an gesamtgesellschaftlichem Einfluss gewinnen. Dies ist vor allem 78 auf eine professionelle Propagandatätigkeit der Organisation, die über meh- IS LA M IS M U S Hassan NASRALLAH rere Internetauftritte verfügt und außerdem den in Deutschland verbotenen Fernsehsender "al-Manar" (der Leuchtturm) besitzt, zurückzuführen. Außerdem ist die "Hizb Allah" seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten und verfügt gegenwärtig über 13 Abgeordnetenmandate. Bei den monatelang andauernden Verhandlungen zur Regierungsbildung99 nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2009 hat sie sich zwei Ministerposten gesichert. 4.3.1 Politische Zielsetzung Als ein wesentlicher Grundsatz ihrer politischen Zielsetzung gilt unverändert die Zurückdrängung jeglichen amerikanischen und israelischen Einflusses in der Region, wie dem "Neuen politischen Manifest" der "Hizb Allah" zu entnehmen ist: "Seit Jahrzehnten ist die arabische und islamische Welt endlosen wilden und barbarischen Kriegen ausgesetzt. Jedoch ereignete sich die gefährlichste Phase dieser Hegemonie mit der Schaffung des zionistischen Gebildes und seiner Einbettung in diese Region, was Teil eines Plans ist, die Nationen dieser Region in Gebilde zu teilen und zu trennen, die sich unter verschiedenen Überschriften in ständigem Konflikt befinden (...). Das zentrale Ziel der amerikanischen Hegemonie liegt im politischen, ökonomischen und kulturellen Dominieren der Nationen (...)."100 99 Die Minister des neuen Kabinetts wurden am 9. November 2009 bekannt gegeben. Ein "Hizb Allah"-Minister ist verantwortlich für das Landwirtschafts-Ressort, der andere übernimmt die Funktion eines Staatsministers für administrative Entwicklungen. 100 "Neues politisches Manifest" der "Hizb Allah". 79 Den US-Amerikanern im Besonderen und dem Westen im Allgemeinen wird in verschwörungstheoretischer Manier vorgeworfen, für die Konflikte im Nahen Osten verantwortlich zu sein. Die Gründung des Staates Israel, so argumentiert die "Hizb Allah", sei eine strategische Finte der Amerikaner, um die islamische Welt zu entzweien und zu schwächen. Auf diese Weise würden dann die USA und ihre europäischen "Handlanger" die systematische ökonomische Ausbeutung der islamischen Welt betreiben können. Diese strategischen Ausführungen belegen, dass die "Hizb Allah" zunehmend versucht, ihre Aktivitäten auch losgelöst vom libanesischen Kontext zu entfalten. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise von Interesse, dass gegenwärtig in Ägypten eine "Hizb Allah-Zelle" unter Anklage steht. Den Mitgliedern der Zelle wird vorgeworfen, von Ägypten aus Waffen und Munition in den Gazastreifen geschmuggelt zu haben. Einige Angeklagte stehen zudem im Verdacht, Terroranschläge auf ausländische Einrichtungen geplant zu haben. Abgesehen von ihrer stark antiwestlich ausgerichteten Agitation kann die "Hizb Allah" auch für das bewusste Schüren antijüdischer Ressentiments und für die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts verantwortlich gemacht werden. Ihre Propaganda kulminiert in der Forderung, dem Staat Israel jegliche Existenzberechtung abzusprechen und ihn mit Gewalt zu beseitigen: "In euerem Namen als Teil dieser Nation sage ich und erkläre: 'Wir als Teil dieser Nation werden Israel niemals anerkennen. Wir werden nicht mit Israel zusammenarbeiten. Wir werden die Beziehungen zu Israel nicht normalisieren. Wir werden vor Israel nicht kapitulieren. Wir werden Israel nicht akzeptieren, selbst wenn die ganze Welt Israel anerkennt. Unser Glaube und unsere Erklärung werden unverändert bestehen bleiben, dass Israel eine unrechtmäßige Präsenz [sc. im Nahen Osten] darstellt ,eine krebsartige Drüse ist und ausgelöscht werden muss." 101 4.3.2 Karitative Einrichtungen, Spendengelder Die "Hizb Allah" unterhält eine Reihe von karitativen Einrichtungen. Diese dienen zum einen dazu, die schiitische Bevölkerung im Libanon an die Organisation zu binden. Daneben sollen Spendengelder eingetrieben werden, die auch dem bewaffneten Kampf der "Hizb Allah" zugeführt 101 Zitat aus der Ansprache Hassan NASRALLAHs am 18. September 2009 anlässlich des "al80 Quds-Tags" 2009, Internetauswertung vom 31. Juli 2009. IS LA M IS M U S werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die libanesische "Märtyrerstiftung" (Mu'assasat al-Shahid) zu nennen, die transnational agiert und über ihren Internetauftritt darum bemüht ist, weltweit Anhänger und Sympathisanten zu mobilisieren. Sie präsentiert sich nach außen als eine soziale Einrichtung, die darauf abzielt, Spendengelder für die Hinterbliebenen von "Märtyrern" zu sammeln. In der Regel besteht die Möglichkeit der Übernahme einer Patenschaft für Kinder, die durch regelmäßige Zahlungen unterstützt werden. Es wird jedoch auch die Option angeboten, gezielt spezifische Programme der "Märtyrerstiftung" finanziell zu fördern. Als vorrangiges Ziel nennt sie in ihrer aktuellen Selbstdarstellung die "Verbreitung und Propagierung der Kultur des Jihads und des Martyriums". Der Jihad wird in diesem Kontext als bewaffneter Kampf verstanden, der im Namen der Religion für die Sache Gottes geführt wird. Von der "Märtyrerstiftung" wird er überwiegend in Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt gestellt und umfasst auch sogenannte Selbstmordattentate, die als religiös legitimierte Märtyreroperationen betrachtet werden. Die "Hizb Allah" betrachtet die in der Regel mit dem Tod der Attentäter endenden Selbstmordanschläge als festen Bestandteil einer militärischen Taktik und misst ihnen in der bewaffneten Auseinandersetzung eine hohe Effektivität zu. Unter den Begriff "Märtyrer" fasst die "Hizb Allah" vor allem Personen, die in gewaltsamen, gegen den Bestand des Staates Israel gerichteten Aktionen ihr Leben verloren haben. Dies umschließt auch die "Selbstmordaktionen", die als terroristische Taten klassifiziert werden müssen, da sie nicht ausschließlich gegen militärische Ziele gerichtet sind. Nicht zuletzt der Durchführung derartiger Aktionen schreibt die "Hizb Allah" in propagandistischer Weise den Abzug israelischer Truppen aus dem Süden des Libanon und dem Gazastreifen zu, wie aus Danksagungen ihres Generalsekretärs Hassan NASRALLAH an die Spender der "Märtyrerorganisation" hervorgeht: "Nach meinem Gruß für euch, Schwestern und Brüder, die ihr einen Beitrag leistet für das Patenschaftsprogramm der Märtyrerkinder, würde ich gerne meine Dankbarkeit für euer beständiges Geben und den Schutz für die Kinder der Märtyrer zum Ausdruck bringen, die ihr Gelübde gegenüber Allah erfüllt haben. Sie haben ihren edlen Blutpreis für eure Würde, eure Selbstachtung und euer Charisma dargeboten. Folglich waren ihre edlen Seelen der Weg unserer Nation zu diesem göttlichen, ehrwürdigen und wertvollen Triumph. Euer gegenwärtiger Beitrag ist ein Ausdruck eures Glaubens für alle Werte der Aufrichtigkeit, des Kampfes und des Märtyrertodes.(...)"102 102 Internetauswertung vom 31. Juli 2009. 81 "Grüße von mir und von allen meinen Lieben und Teueren und Brüdern im islamischen Widerstand an die Familien der reinen Märtyrer, an die Familien der Märtyrer, die der Quell, die Leuchte und der Inbegriff der Aufopferung und Selbsthingabe sind durch das Erhabenste und Teuerste, was ein Mensch geben kann." 103 Die finanzielle Förderung der Hinterbliebenen von "Märtyrern" kann für zukünftige Suizidattentäter eine Ermutigung darstellen, ihr Leben zu opfern, da sie der finanziellen und sozialen Absicherung ihrer Angehörigen versichert sein können. Darüber hinaus werden diese Personenkreise durch ihre Abhängigkeit von der sie versorgenden Organisation politisch und sozial gebunden. Mit der einhergehenden ideologischen Einbindung insbesondere von Kindern wird ein sich selbst regenerierendes Reservoir an Nachwuchs geschaffen, aus dem je nach Bedarf geschöpft werden kann. 4.3.3 Märtyrerkult Die "Hizb Allah" preist terroristische Aktionen in menschenverachtender Weise als nachahmenswerte und gottgefällige Taten, die zum vermeintlichen Wohl der islamischen Gläubigen und vor allem der Libanesen und Palästinenser durchgeführt werden. Spezifisch islamistische Züge trägt dieser Märtyrerkult durch die Tatsache, dass die terroristischen Aktionen Einzelner zu Ereignissen der islamischen Geschichte in Bezug gesetzt werden, die im Besonderen für die Schiiten zu konstitutiven Merkmalen ihrer Glaubensund Religionsauffassung wurden. Bei der Glorifizierung von "Märtyrern" wird auf das Schicksal eines Prophetenenkels hingewiesen, der im Jahr 680 bei der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern gewaltsam starb. Seitdem wird das vergossene Blut eines direkten Nachfahren Muhammads als Sünde der Gläubigen betrachtet, die als Sühne eine Reue und Buße erforderlich mache. Nach dem Vorbild des Prophetenenkels entwickelte sich eine ritualisierte Form der Buße und Strafe, die in jährlich stattfindenden Geißelprozessionen und Passionsspielen ihren Ausdruck findet. Diese ritualisierte Reue wird jedoch von der "Hizb Allah" gezielt politisiert, indem von Gläubigen die Bereitschaft gefordert wird, für die Sache Gottes den eigenen Tod auf sich zu nehmen. Die Pflege und Tradierung dieses Märtyrerkonzeptes, das gemäß den Zielen der "Hizb Allah" in weiten Kreisen der Gesellschaft verbreitet und propagiert werden soll, ist eine gefährliche Instrumentalisierung religiöser Glaubenskonzepte und trägt zu einer unkontrollierbaren Gewaltspirale im Nahen Osten bei. 82 103 Internetauswertung vom 31. Juli 2009. IS LA M IS M U S In ihrem Siegesmythos als vermeintliche Speerspitze des islamischen Widerstands gegen die als Besatzer betrachteten Israelis stilisiert die "Hizb Allah" auf regelmäßig stattfindenden Gedenkveranstaltungen getötete Anhänger und Mitglieder ihrer Organisation als Paradebeispiele sich selbst aufopfernder "Märtyrer". Gefeiert wird alljährlich das Selbstmordattentat von Ahmad QASIR, der 1982 im Alter von 15 Jahren einen mit Sprengstoff beladenen Lkw in ein Gebäude gesteuert haben soll, in dem sich Israelis aufgehalten haben. Für die "Hizb Allah" gilt er daher als der "erste Märtyrer" ihrer Organisation und als Begründer eines neuen Zeitalters der "Selbstmordattentate". In einem Beitrag des "Hizb Allah"-Presseorgans "al-Intiqad" war Folgendes zu lesen: "Der Märtyrertag ist ein Gedenktag der 'Märtyrerorganisation' (Mu'assasat al-Shahid) am 11.11.1982 - der Märtyrer Ahamd QASIR ist es, der das Zeitalter der 'Selbstmordattentate' eingeleitet hat." 104 Abgesehen von ehemaligen Führungsfiguren der "Hizb Allah" wie Raghib HARB und Abbas MUSSAWI wird auch beständig ihr im Februar 2008 getöteter Militärchef Imad MUGHNIA als "gottgefälliger Märtyrer" gewürdigt. 4.3.4 Miliz Die "Hizb Allah" unterhält als bewaffnete Organisation eine Privatarmee und ist daher darauf angewiesen, ständig neue Nachwuchskräfte zu rekrutieren. Gerechtfertigt wurde dies mit dem Konzept "islamischer Widerstand" (alMuqawama al-Islamiya), der sich gegen die israelische Besatzung und die angebliche westliche Hegemonie richtete. Nach dem Abzug der israelischen Truppen aus dem Libanon im Jahr 2000, den sich die "Hizb Allah" einseitig als ihren Sieg anrechnet, wurde die Daseinsberechtigung einer mehrere Tausend Mann umfassenden Miliz in Frage gestellt. Diese Diskussion mündete in die UNO-Resolution 1559, die die Entwaffnung sämtlicher Widerstandsgruppen vorschreibt. Der "Hizb Allah" ist es gelungen, dieser Forderung zu entgehen, indem sie die Vorstellung eines real begründbaren Widerstands in ein islamistisches Konzept verwandelt hat, das weite gesellschaftliche Kreise der libanesischen Bevölkerung erfassen soll. Die damit etablierte Widerstandskultur erhält und reproduziert antiwestliche und antijüdische Feindbilder und verhindert somit einen dauerhaften Friedensprozess im Nahen Osten. Außerdem lässt sich in diesem Zusammenhang eine deutliche propagandistische Vereinnahmung der Palästinenser104 "Al-Intiqad" vom 28. September 2009. 83 frage seitens der "Hizb Allah" konstatieren, obgleich diese zugleich vorgibt, für den Libanon einzutreten: "(...) Wir erklären unsere unbeirrbaren unveränderlichen Prinzipien: 1. Das historische Palästina, vom Meer bis zum [sc. Westjordan] Fluss gehört den Palästinensern und der ganzen [sc. islamischen] Nation. 2. (...) Niemand auf der ganzen Welt hat das Recht, weder ein Körnchen palästinensischen Bodens noch ein Tröpfen palästinensischen Wassers aufzugeben. (...) 3. Das israelische Gebilde, das momentan auf palästinensischem Boden existiert, ist ein Usurpator und ein Besatzergebilde, eine aggressive, krebsartige, illegale und unrechtmäßige Präsenz. 4. Es ist niemandem erlaubt, wer auch immer er sein mag, dieses Gebilde anzuerkennen, ihm Legitimität zu verleihen oder eine Existenz zuzugestehen. 5. Kollaboration und Normalisierung mit Israel sind verbotene Sünden. Alle Gelehrte und islamische Autoritäten haben einen Konsens darüber erzielt (...) Diese Prinzipien und Konstanten sind durch Zeit, Umstände, Bedingungen, Stärke oder Schwäche unabänderbar." 105 Entgegen den Forderungen der Vereinten Nationen weigert sich die "Hizb Allah" beharrlich, ihre Miliz zu entwaffnen. NASRALLAH hat wiederholt damit geprahlt, dass das Waffenarsenal ihrer Privatarmee nach der kriegerischen Auseinandersetzung mit Israel im Jahr 2006 schon längst wieder aufgefüllt worden sei: "Wir besitzen und haben das Recht, über jede Waffe zu verfügen, einschließlich der Waffe der Luftverteidigung. Auch haben wir jedes Recht, diese Waffe zu benutzen, wann immer wir wollen." Diese Haltung offenbart auch den faktischen Verlust des Gewaltmonopols seitens des libanesischen Staates, so dass die "Hizb Allah" letztendlich einen Staat im Staate darstellt und die politische Ausrichtung des Landes durch Androhung von Gewalt entscheidend mitbestimmen kann. Dass die "Hizb Allah" - in deutlichem Widerspruch zu den Waffenstillstandsbedin105 Zitiert nach der Ansprache NASRALLAHs am 18. September 2009 anlässlich des al-Quds 84 Tags 2009. IS LA M IS M U S gungen von 2006 - auch nicht davor zurückschreckt, das Leben unschuldiger Zivilisten aufs Spiel zu setzen, zeigen mehrere, im Oktober 2009 entdeckte Waffenlager der Organisation im Süden des Libanon. In den Privathäusern zweier "Hizb Allah"-Anhänger, die sich inmitten von Siedlungsgebieten befanden, kam es zu Explosionen. Es hatte sich herausgestellt, dass dort geheime Waffendepots für die "Hizb Allah"-Miliz angelegt worden waren. Dies unterstreicht den Willen der Organisation, in ihrem privaten Krieg Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen und ihre militärische Präsenz entgegen den von den Vereinten Nationen festgelegten Bedingungen auch südlich des Litani Flusses auszubauen. Die "Hizb Allah" ist in ihrer ideologischen Ausrichtung stark islamistisch geprägt, da sie zentrale Glaubensinhalte der Religion des Islam für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert. Terroristische Aktionen bezeichnet sie als legitime Form des Jihad, wobei auch die karitativen und sozialen Betätigungsfelder der "Hizb Allah" dazu dienen, den bewaffneten Kampf finanziell, personell und ideologisch zu unterstützen. Die "Hizb Allah" muss - wie von einigen ihrer Funktionäre immer wieder betont wird - als einheitlich auftretende Organisation betrachtet werden, die einer hierarchisch strukturierten Führung untersteht, welche die verschiedenen Zweige der "Hizb Allah" verbindlich koordiniert. Zuletzt hat beispielsweise der stellvertretende Generalsekretär der "Hizb Allah", Scheich Naim QASSEM, in einem Interview 85 mit der Los Angeles Times106 erklärt, dass die "Hizb Allah" eine einheitliche Führung für ihre politischen, sozialen und jihadistischen Aktivitäten habe. Wörtlich äußerte sich der zweite Mann in der Befehlskette der Organisation hierzu folgendermaßen: "Hizb Allah hat eine Führung. Sämtliche politischen, sozialen und jihadistischen Tätigkeiten sind an die Entscheidung der Führung gebunden. Dieselbe Führung, die Parlamentsarbeit und Regierungsarbeit leitet, führt auch die Jihad-Aktionen im Kampf gegen Israel." Durch ihre Vorgehensweise, sich global an alle Angehörigen der schiitischen Glaubensgemeinschaft zu wenden, versucht die "Hizb Allah", auch in der libanesischen Diaspora in Deutschland an Einfluss zu gewinnen. Mit wachsendem Einfluss werden die betroffenen Personen zunehmend mit dem Konflikt ihres Herkunftslandes befasst, was insbesondere eine finanzielle und politische Stärkung der Organisation im Libanon gewährleisten soll. In Baden-Württemberg leben rund 100 Anhänger der libanesischen "Hizb Allah", die sich schwerpunktmäßig auf die Regionen Freiburg im Breisgau, Mannheim und Stuttgart verteilen. 4.4 Türkische Organisationen Von den je nach Schätzung zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, bilden nach regionaler Herkunft die türkischstämmigen Muslime mit rund 2,6 Millionen die größte Gruppe. In der jüngsten Studie "Muslimisches Leben in Deutschland", die im Juni 2009 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge veröffentlicht wurde, wurde eine ausgeprägte Religiosität bei türkischstämmigen Muslimen festgestellt. 41,4 Prozent der Befragten bezeichneten sich als sehr stark gläubig und 47,1 Prozent als eher gläubig.107 Dies führt aber nicht automatisch zu einem entsprechend hohen Engagement in Verbänden oder islamistischen Organisationen. So ist der Organisationsgrad in religiösen Gemeinden oder Vereinen mit einem Anteil von etwa 20 Prozent sogar relativ gering.108 Ein Faktor, der in dieser Studie, aber auch in weiteren im Jahr 2009 durchgeführten Untersuchungen, immer wieder herausgestellt wurde, war das 106 Los Angeles Times vom 13. April 2009. 107 Studie "Muslimisches Leben in Deutschland", veröffentlicht im Juni 2009 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 141 und S. 325. 86 108 Ebd. S. 343. IS LA M IS M U S unterdurchschnittliche Bildungsniveau. So haben nur zehn Prozent der türkischen Staatsangehörigen die Fachhochschulreife beziehungsweise das Abitur erreicht, 13 Prozent haben gar keinen Schulabschluss. Auffällig ist hierbei das besonders geringe Schulbildungsniveau der türkischen Frauen.109 Mangelnde Bildung darf sicher als ein Faktor dafür angesehen werden, dass in Deutschland lebende Jugendliche dem islamistischen Gedankengut nicht ausreichend kritisch gegenüberstehen. Hier suchen und finden islamistische Organisationen und Strömungen Nachwuchs. So sind türkische Muslime in allen relevanten Bereichen des islamistischen Extremismus vertreten - von legalistischen Vereinen bis hin zu gewaltorientierten salafistischen Strukturen oder auch jihadistischen Netzwerken. Immer wieder sind hier fließende Übergänge festzustellen, wenn sich etwa Jugendliche im Umfeld von entsprechenden Vereinen radikalisieren. Dies wurde etwa beim "Kalifatsstaat"110 deutlich, der als Übergangsbereich hin zur Gewaltorientierung angesehen werden kann. Die Konkurrenz um Jugendliche, in der die verschiedenen islamistischen Organisationen stehen, gipfelte im Jahr 2009 in einem Aufruf des zum Islam konvertierten Predigers Pierre VOGEL, man müsse alle Moscheen boykottieren, die keine Dawa und keinen islamischen Unterricht auf Deutsch anböten. Jugendliche kämen nicht in die Moschee, um zu essen. Weiter heißt es: "(...) keinen Cent für die Leute, die die Dawa verraten (...) wer keine Dawa macht in der Moschee, der hat nicht das Recht, sich Moschee zu nennen, das ist ein Folkloreverein, eine Tanzschule, ein Restaurant mit Gebetssaal." 111 Es geht um die Identität als hier lebender Muslim. Sie soll aus salafistischer Sicht nicht auf die ethnische Abstammung und den regionalen, hier besonders den türkisch-kulturellen Migrationshintergrund beschränkt bleiben, sondern sich unterschiedslos auf alle hier lebenden Muslime beziehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade islamistische Organisationen wie die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) mit besonderen Angeboten an Jugendliche herantreten. Ob und in welchem Maße Jugendliche für die Ziele der Organisation gewonnen werden, kann nicht abschließend beurteilt werden. Dass sich aber vermehrt Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund salafistischen Gruppen anschließen, dürfte der größten islamistischen Organisation nicht entgangen sein. 109 Ebd. S. 218 und S. 334. 110 Vgl. Kap. B, 4.4.2. 111 Pierre VOGEL, "Wort zum Freitag" vom 19. Juni 2009. 87 4.4.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Kerpen Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2008: ca. 3.600) ca. 29.000 Deutschland (2008: ca. 27.500) Publikation: "IGMG Perspektive" (zweisprachig) als monatlich erscheinende Verbandszeitschrift. Als Sprachrohr dient auch die Europa-Ausgabe der Tageszeitung "Milli Gazete". Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." ist die bedeutendste Organisation des politischen Islamismus in Deutschland. Sie ist Teil der Bewegung "Milli Görüs", die wiederum ein Sammelbecken von Anhängern ihres Gründers und Führers, Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN, ist. Ziel dieser ab 1970 in verschiedenen Parteien aktiven politischen Bewegung ist eine auf dem Islam basierende "gerechte Ordnung", die langfristig sämtliche sonstigen, als "nichtig" bezeichneten politischen Systeme ablösen soll. Nach Auffassung der IGMG in Deutschland sind die Vorschriften der islamischen Religion als ein Regelwerk zu verstehen, das sämtliche Lebensbereiche umfasst und keineswegs auf den moralisch-spirituellen Bereich beschränkt bleibt. Während sich die Organisation nach außen hin moderat und dialogbereit gibt, verfolgt sie unter Nutzung der demokratischen Strukturen und unter Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit das Ziel, den aus dem islamischen Recht abgeleiteten Normen Geltung zu verschaffen. Dieses Bestreben bildet einen unauflösbaren Widerspruch zu den Werten und Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Etablierung einer "islamischen Ordnung" würde wesentliche, im Grundgesetz verankerte Grundsätze wie das Rechtsstaatsund das Demokratieprinzip, den Grundsatz der Gewaltenteilung, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichberechtigung von Männer und Frauen außer Kraft setzen und den Grundsatz der Völkerverständigung infrage stellen. Ihre Ziele verfolgt die IGMG mittels einer legalistischen Strategie. Sie 88 ist bestrebt, sich der Unterstützung auch nicht-muslimischer Kreise zu IS LA M IS M U S versichern und ihren Einfluss unter Muslimen in Deutschland weiter auszubauen. Zur Durchsetzung ihrer Ziele ist es für die IGMG essentiell, ihre Anhängerschaft und insbesondere Jugendliche im Sinne ihrer Weltanschauung zu erziehen. In der Bildungsarbeit sieht die Organisation daher ihre wichtigste Aufgabe. Die Entwicklung und Ausbildung einer gefestigten islamischen Identität ist in der Definition der IGMG die Voraussetzung für eine Integration ihrer Anhänger, die sie durch angebliche "Assimilationsforderungen" der deutschen Seite bedroht sieht. Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) nimmt aufgrund ihrer Mitgliederstärke, ihrer weitreichenden Vernetzung und des Einflusses, den sie kraft ihrer Mitgliedschaft in übergeordneten Verbänden ausübt, eine herausgehobene Stellung unter den im Bereich des politischen Islam agierenden Organisationen ein. Ihre Anhängerschaft setzt sich aus größtenteils dauerhaft in Deutschland lebenden, teilweise eingebürgerten Zuwanderern zusammen. Die IGMG ist die dominierende Kraft im "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", dessen Vorsitzender Ali KIZILKAYA in den Jahren 2001 und 2002 das Amt des Generalsekretärs der IGMG bekleidete. Durch diesen Verband ist die IGMG mittelbar auch im "Koordinierungsrat der Muslime" (KRM)112 vertreten, der sich im Verlauf der Deutschen Islamkonferenz (DIK) im April 2007 konstituiert hat. Die Jugendorganisation der IGMG ist im Vorstand des von der "Muslimbruderschaft" dominierten und von saudischen Sponsoren geförderten "Forum of European Muslim and Youth Organisations" (FEMYSO) vertreten. 113 Mit begründet wurde diese Institution durch Ibrahim el-ZAYAT, der bis 2002 auch ihr Vorsitzender war. El-ZAYAT ist außerdem Generalbevollmächtigter der für den Ankauf und die Verwaltung von Liegenschaften der IGMG zuständigen "Europäischen Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft" (EMUG). Die IGMG ist in verschiedene Organisationseinheiten gegliedert, namentlich "Religiöse Rechtleitung" (irsad), Bildung, Sozialdienste, Gemeindeentwicklung, Generalsekretariat, Frauen, Jugend und Finanzen. Beim Generalsekretariat ist eine Rechtsabteilung angesiedelt, die sich vorrangig mit dem "Schutz der Grundrechte von Muslimen" und Diskriminierungsvorfällen befasst. 112 Im KRM sind außer dem "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland" auch die "TürkischIslamische Union der Anstalt für Religion e.V." (DITIB), der "Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V." (ZMD) und der "Verband der islamischen Kulturzentren e.V." (VIKZ) vertreten. DITIB, ZMD und VIKZ sind keine Beobachtungsobjekte der Verfassungsschutzbehörden. 113 Siehe Kap. B, 4.2.1. 89 Die regionalen Aktivitäten in Baden-Württemberg erstrecken sich auf die sogenannten Bölge (Regionen) Stuttgart114, Freiburg-Donau, Schwaben sowie Rhein-Neckar-Saar; einige der diesen Regionen zugehörigen Vereine liegen außerhalb der baden-württembergischen Landesgrenzen. Seit April 2005 hat Adem KAYA den Vorsitzend der IGMG-Region Stuttgart inne. Nach eigenen Angaben sind der IGMG in Deutschland mehr als 320 Moscheevereine zuzurechnen. Ideologisch-historischer Hintergrund "Milli Görüs" (wörtlich die "nationale Sicht[weise]") ist die Bezeichnung für eine von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN ausgearbeitete politische Ideologie, deren Leitlinien in der im Jahr 1975 veröffentlichten gleichnamigen Schrift sowie in dem ab den 1970er-Jahren entwickelten Konzept "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung") dargelegt sind und die sich in der "Milli Görüs"-Bewegung manifestiert. Kernpunkt dieser politischen Programmatik ist die langfristig geplante Ablösung der "nichtigen Ordnung" (batil düzen) - im engeren Sinn der laizistischen, auf den Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks basierenden Staatsordnung der Türkei, im weiteren Sinn sämtlicher nicht auf einer islamischen Ordnung basierender politischer Systeme - durch die auf dem Koran basierende einzig legitime "wahre/ göttliche Ordnung" (hak düzen). Weitere Prinzipien der "Milli Görüs" sind die Beanspruchung einer Führungsrolle der Türkei in der Region und der gesamten Welt, wie sie in dem von ERBAKAN geprägten Slogan "Lebenswerte Türkei - Neue Groß-Türkei - Neue Welt" zum Ausdruck kommt, sowie einer Vorreiterrolle von "Moral und spirituellen Werten", eine dezidierte Anti-Haltung gegenüber dem "rassistischen Imperialismus"115 und dem "Zionismus" sowie der Anspruch, "Milli Görüs" als Mittel zur "Glückseligkeit" (saadet) der gesamten Menschheit zu etablieren. Auf der politischen Ebene ist derzeit die "Saadet Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") Trägerin der Ideologie der Bewegung. Sie ist die bisher letzte der von ERBAKAN seit 1970 in Folge gegründeten Parteien. Die 114 Diese "Bölge" wird zum Teil auch als "Bölge" Württemberg bezeichnet. 115 Die wesentlichen Protagonisten dieses "rassistischen Imperialismus" werden nach ERBAKAN durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union wie auch den In90 ternationalen Währungsfonds verkörpert. IS LA M IS M U S Gründung der Bewegung einschließlich ihrer "Denkfabrik", des "Zentrums für Wirtschaftsund Sozialstudien" ("Ekonomik ve Sosyal Arastirmalar Merkezi", ESAM) in Ankara, das mit Symposien, Vorträgen und der Herausgabe von Schriftenreihen die Verbreitung und das Fortbestehen der "Milli Görüs"-Ideologie sicherstellt, jährte sich im Jahr 2009 zum 40. Mal. Dieses Jubiläum nahm ESAM zum Anlass, am 29. und 30. Oktober 2009 ein zweitägiges "Milli Görüs"-Symposium unter dem Motto "Die ideellen Grundlagen der Milli Görüs-Bewegung im 40. Jahr ihres Bestehens" 116 zu veranstalten. Bei dieser Gelegenheit wiederholte ERBAKAN seine bekannten Positionen: Der "Imperialismus" habe die Herrschaft über die Menschheit erlangt und tyrannisiere sie, das "Zinssystem" könne der Menschheit keine Glückseligkeit bringen, und allein "Milli Görüs" sei als Rezept zur "Rettung der Menschheit" geeignet: "Wir haben eine Geschichte, in der unsere Vorfahren Recht und Gerechtigkeit auf der Erde durchgesetzt und gerechte Ordnungen begründet haben. Uns als deren Enkeln kommt die Pflicht zu, die Menschheit aus ihrem [sc. derzeitigen] Zustand zu erretten. Zu diesem Zweck geschah die Mobilmachung durch Milli Görüs." 117 Bei dieser Gelegenheit legte ERBAKAN auch seine Auffassung zu den Parteien in der Türkei dar. Ein Artikel der "Milli Gazete", überschrieben mit "Die Sonne geht auf und unter - doch uns gehört die Ewigkeit" 118, macht deutlich, wie ERBAKAN die "Saadet Partisi" im Vergleich zur regierenden "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP, "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") bewertet: "Gold ist eine Sache; rostendes Blech eine andere." In der Türkei gebe es "60 Parteien; von denen 59 sich nicht voneinander" unterscheiden würden. Allein die "Saadet Partisi" verfüge über ein eigenes Profil: "Alle 59 sind nichtig (batil) und stützen sich auf eine falsche Mentalität. Sie sind Nachahmer. Sie dienen dem Imperialismus. Sie sind Kollaborateure. Keine davon kann die Probleme der Türkei lösen. Das können nur wir."119 116 "Milli Gazete" vom 29. Oktober 2009. 117 "Milli Gazete" vom 2. November 2009. 118 "Milli Gazete" vom 30. Oktober 2009. 119 Ebd. 91 Anlässlich der "4. Internationalen Konferenz zur kulturellen Zusammenarbeit muslimischer Jugendlicher" in Istanbul im Juli 2009 beschrieb ERBAKAN in gewohnter Weise seine Sicht des Widerstreits zweier antagonistischer Mächte: "Bis heute dauert der Kampf zwischen 'Recht' (hak; auch: Gott, Wahrheit) und 'Nichtigem' (batil) an. Wir befinden uns jetzt an einem Wendepunkt: Entweder dauert die Herrschaft des Westens noch eine Weile an, oder die Herrschaft des Rechts setzt sich durch. Den Schlüssel dazu haben wir in der Hand. Es hängt von unserem Kampf ab. Die Osmanen wurden gestoppt, und es begann die Herrschaft des Zionismus. Wir kämpfen jetzt dafür, die Geschichte auf den ursprünglichen Weg zurückzubringen (...). Es ist unmöglich, sich nicht gegen dieses System aufzulehnen (...) Dieses System macht uns zu nichts anderem als zu Sklaven (...)" 120 Zwar hat der 83-jährige ERBAKAN kein politisches Amt mehr inne, doch wird ihm als Gründer und spirituellem Führer der Bewegung nach wie vor uneingeschränkte Verehrung entgegen gebracht - auch in Deutschland, wie insbesondere ins Internet eingestellte Beiträge von Jugendlichen der IGMG deutlich machen. So stellte die IGMG-Jugend Remscheid einen Videomitschnitt der am 28. Februar121 2009 in Istanbul abgehaltenen "Milli Görüs"-Jugendveranstaltung auf ihre Homepage, bei der ERBAKAN in bekannter Manier gegen "Zionisten" und "Imperialisten" agitierte: "Das 'Nichtige' (batil) wird von einem Zentrum aus gesteuert. Dieses Zentrum ist seit 350 Jahren der Zionismus, der rassistische Imperialismus. (...) Der Zionismus bedroht heute die Welt wie ein Krokodil, dessen Oberkiefer Amerika bildet. Den Unterkiefer bildet die Europäische Union, den Hinterleib Israel. Den Rumpf bilden die Kollaborateure, zu denen leider auch einige muslimische Länder und deren Führer gehören." 122 Die Führung der "Saadet Partisi" hat seit Oktober 2008 Prof. Dr. Numan KURTULMUS inne, der im Jahr 2009 mehrfach an verschiedenen Veranstaltungen der IGMG in Deutschland teilnahm. In Köln war KURTULMUS 120 Internetausgabe der Tageszeitung Radikal vom 17. Juli 2009. 121 Dieses Datum markiert für die türkischen Islamisten gleichsam die Repression durch den kemalistischen Staatsapparat, da am 28. Februar 1997 und damit in der Zeit der Ministerpräsidentschaft ERBAKANs seitens des Nationalen Sicherheitsrats Maßnahmen gegen die "schleichende Islamisierung" der türkischen Politik ergriffen wurden. 92 122 Internetauswertung vom 10. März 2009. IS LA M IS M U S Gast bei der Versammlung der dortigen IGMG-Regionalvorsitzenden sowie am "Tag der Brüderlichkeit". Er betonte dort die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Muslimen in Europa als den Angehörigen einer gemeinsamen Zivilisation und vertrat ganz in ERBAKANs Sinn die Meinung, es sei möglich, auf der Basis einer "nationalen Politik", die mit einem "Kampf der Kulturen" einhergehe, eine Prof. Dr. Numan KURTULMUS "neue Welt"123 zu gründen. Dafür sei es notwendig, "sich nicht in das weltpolitische System zu integrieren und sich nicht von diesem System unterjochen zu lassen".124 Bei seinen Gesprächen in Köln soll KURTULMUS die provokante Frage aufgeworfen haben, wann wohl die europäischen Staaten das Niveau der Osmanen erreicht haben würden, die bereits vor Jahrhunderten "allen Menschen, ungeachtet ihrer religiösen und ethnischen Wurzeln, auf ihrem Territorium das Recht auf Leben, Arbeit und eigenständiges Gewerbetreiben zugestanden" hätten.125 "Mission" der Bewegung Die zwar formal unabhängige, jedoch vielfältig personell und strukturell mit der IGMG verbundene Tageszeitung "Milli Gazete"126 und der TV-Sender "TV 5"127 haben die Funktion, die Ideologie der "Milli Görüs" zu transportieren und zu verbreiten. In der "Milli Gazete" erscheinen Kolumnen, verfasst von Protagonisten der "Milli Görüs"-Bewegung, die diese Ideologie ausführlich darlegen und die Verdienste des "Milli Görüs"-Führers ERBAKAN preisen.128 Kolumnisten der Zeitung treten darüber hinaus bei Veranstaltungen der 123 In der Gründung einer "Neuen Welt" ("Yeni Bir Dünya") auf der Basis einer gerechten islamischen Ordnung sieht ERBAKAN das Hauptziel seiner Politik. Ebenfalls im Sinne dieser Zielsetzung äußerte sich KURTULMUS in einer Festtagsbotschaft zum Opferfest 2009 ("Milli Gazete" vom 27. November 2009). 124 "Milli Gazete" vom 3. Januar 2009. Der Einschätzung Prof. Dr. Werner Schiffauers, der in seiner neuesten Veröffentlichung zur IGMG mit dem Titel "Nach dem Islamismus" KURTULMUS als "Postislamisten" bewertet, "der in seinen Reden deutlich andere Akzente setzt - etwa wenn er völlig auf die Operation mit Feindbildern verzichtet", kann aufgrund dessen aktueller Rhetorik nicht gefolgt werden. 125 "Milli Gazete" vom 3. Januar 2009. 126 Die früheren Generalvorsitzenden der IGMG, Osman YUMAKOGULLARI und Dr. Yusuf ISIK sind ehemalige Geschäftsführer der "Milli Gazete". 127 TV 5 ist seit 2004 auf Sendung. Der Sender veranstaltete in der Vergangenheit mit der Unterstützung durch IGMG-Vereine mehrfach "TV 5-Europa-Tage", bei denen Moderatoren des Senders auftraten, die zum Teil auch Artikel für "Milli Gazete" schreiben. 128 Beispielhaft genannt sei hier die Kolumne "Erbakan ve Adil Düzen" ("Erbakan und die Gerechte Ordnung") vom 11. November 2009. 93 IGMG als Referenten auf.129 Zu den Komponenten der Bewegung gehört außerdem der "Verband der Anatolischen Jugend" (AGD, "Anadolu Genclik Dernegi"), der türkische Jugendverband der Bewegung. Bei einer Veranstaltung im Rahmen der Feiern zum 40-jährigen Bestehen der "Milli Görüs"-Bewegung unterstrich der Vorsitzende der AGD, Ilyas TÖNGÜC, die Eigenschaft der AGD als "Teil des von der Milli Görüs-Bewegung zu etablierenden Zivilisationsprojekts. Bei seinen Aktivitäten", so ließ TÖNGÜC bei dieser Gelegenheit verlauten, "verfährt unser Verband stets im Sinne des Geistes der Milli Görüs."130 Eine Jugendgruppe des IGMG-Verbands Freiburg-Donau absolvierte im Sommer 2009 eine Türkeireise, bei der ein Besuch der AGD einen Bestandteil des Programms bildete.131 Zu den sinnstiftenden Faktoren innerhalb der "Milli Görüs"-Bewegung gehört die Vermittlung des Bewusstseins, Angehörige einer "Mission" (türk. dava)132 zu sein, deren Aufgabe es ist, die Menschheit durch Weiterverbreitung des muslimischen Glaubens von allen Schlechtigkeiten genesen zu lassen. Ein Kolumnist der "Milli Gazete" erläuterte diese Anschauung folgendermaßen: "'Mission' bedeutet, dass der Glaube gleichsam als eine Fahne getragen wird. Wenn der Glaube nicht wie eine Fahne getragen wird, kann er in Bezug auf seine Weiterexistenz nicht ans Ziel gelangen. Wenn wir von 'Mission' reden, meinen wir selbstverständlich die 'Mission der Wahrheit' (hak dava; auch Mission des Rechts/Allahs). Und bei dieser handelt es sich um die Mission des Islam (...)." 133 Die "Mission" der "Milli Görüs" wird als weltumspannend begriffen. Bei einer Versammlung in Berlin beschrieb der Prediger der IGMG-Generalzentrale in Kerpen, Mustafa MULLAOGLU, diese Vision mit folgenden Worten: 129 So trat Mahmut TOPTAS Anfang Januar 2009 in Freiburg im Breisgau auf ("Milli Gazete" vom 9. Januar 2009), Ekrem KIZILTAS Ende November 2009 im hessischen Kelsterbach (Anzeige in "Milli Gazete vom 21. November 2009). 130 "Milli Gazete" vom 24. Oktober 2009. 131 "Milli Gazete" vom 12. Juni 2009. 132 Der Begriff "dava" steht für Aktivitäten, die der Sache des Islam dienen, insbesondere auch seiner Verbreitung unter Nichtmuslimen. 94 133 "Milli Gazete" vom 20. Februar 2009. IS LA M IS M U S "Wir haben eine Mission, die so alt ist wie die Welt. Wir glauben an eine Mission, die universell ist und so viel Raum einnimmt wie die ganze Welt. Wir dienen einer Mission, die imstande ist, die ganze Menschheit zu umfassen."134 Auch bei einer Veranstaltung in Germersheim aus Anlass der "Geburt des Propheten" unterstrich der Vorsitzende der IGMG-Region Rhein-NeckarSaar, Yasar CIMSIT, diese Sichtweise, indem er darauf hinwies, wie sehr die Welt heute der "Botschaft des Propheten" bedürfe. Seit Beginn der Geschichte, so dessen weitere Ausführungen ganz im Sinne ERBAKANs, spiele sich ein "Kampf zwischen Gut und Böse" ab. Jedoch nur, solange die Menschheit der Spur der Propheten folge, finde sie Glück und Frieden. Als Prophet des Islam sei Muhammad für die gesamte Menschheit entsandt worden.135 Mit einer Konzeption, nach der der Islam nicht allein Glaube und Ethik umfasst, sondern eine vollkommene, sämtliche Lebensbereiche durchdringende Lebensform darstellt, weitet die IGMG die Sphäre des Religiösen auf die gesellschaftlich-politische Ebene aus und vertritt damit eine dem Islamismus eigene Position, die die Gesellschaft insgesamt einer allumfassenden geistlichen Führung auf der Grundlage des "vollkommenen Systems des Islam" unterstellen will. Verstärkt wird diese Sicht durch den Rückgriff auf Koran und Sunna als die Bezugsgrößen für eine an allen Orten und zu allen Zeiten gültige Werteordnung sowie auf die islamische Frühzeit, das "Zeitalter der Glückseligkeit" (Asr-i saadet)136, das im Rückblick zu einem gesellschaftlichen Idealzustand stilisiert wird. Auf ihrer Internetseite bezeichnet die IGMG die Aktivitäten ihrer "Kommission für religiöse Rechtleitung" (irsad) als ihre wichtigste Dienstleistung. In der türkischen Version heißt es hier: "Die Kommission für religiöse Rechtleitung bietet den Muslimen in religiösen Dingen Wegweisung und betont die Leitungsfunktion der Religion in sämtlichen Lebensbereichen."137 Der Kommission komme die Aufgabe zu, eine "Rechtswissenschaft (fiqh) des Alltagslebens" zu entwickeln.138 Mit diesem Anspruch der Regelung 134 "Milli Gazete" vom 2. Oktober 2009. 135 "Milli Gazete" vom 20. März 2009. 136 In den Veranstaltungen und Seminaren der IGMG bildet die poetische Darstellung und visuelle Präsentation dieses Zeitalters häufig einen Höhepunkt des Programms. 137 Homepage der IGMG vom 12. November 2009, hier Arbeitsübersetzung. In der deutschen Version heißt es abgeschwächt: "Diese Abteilung soll den Angehörigen des Islam eine religiöse Anleitung in allen Lebenslagen anbieten." 138 Homepage der IGMG vom 12. November 2009. 95 auch der profanen Bereiche des Lebens entsprechend den aus der Religion abgeleiteten Vorschriften nimmt die IGMG die für den Islamismus charakteristische Grundposition ein. Auch in einem Redebeitrag des IGMG-Generalvorsitzenden Yavuz Celik KARAHAN anlässlich des Finales des 21. Europäischen Koranrezitationswettbewerbs in Ludwigsburg am 8. März 2009 kam das Verständnis von der alles entscheidenden Funktion der Religion wie folgt zum Ausdruck: "Wir sind Diener des Korans, der uns von Allah als ein Gnadenerweis gegeben wurde. Der Koran ist ein göttliches Buch, das den Menschen zu einem guten Charakter führt (...) Der Koran wurde nicht gesandt, um gelesen zu werden, sondern um gelebt zu werden. All unsere Bemühungen zielen darauf ab, eine dem Weg des Korans folgende selbstbewusste Generation zu erziehen." 139 Aus der Leitungsfunktion der Religion wird auf der Ebene der politischen Partizipation ein Führungsanspruch für Muslime abgeleitet. Ein Kolumnist der "Milli Gazete" schrieb zu diesem Thema: "Ein Muslim muss unbedingt eine Führungsposition einnehmen. Das ist sowohl seine Aufgabe als Staatsbürger als auch eine religiöse Pflicht. Denn der Muslim ist der Stellvertreter (halife) Allahs auf Erden. Allah hat den Menschen erschaffen, damit dieser Seinen Willen auf Erden vertrete, und Er hat ihm die Pflicht auferlegt, dort die göttliche Herrschaft zu verwirklichen. Wenn du nicht selbst führst, wirst du von anderen geführt. (...)"140 In einer Predigt in Freiburg im Breisgau anlässlich der Hidjra141 ermutigte der häufig bei Veranstaltungen der IGMG als Prediger auftretende Mahmut TOPTAS die Zuhörer, die Sache des Islam weiter voranzutreiben. Auch die Menschen aus der Türkei hätten eine "Hidjra" nach Europa vollzogen, die bis zum Jüngsten Tag andauern werde und in deren Folge rund 2.000 Mo139 Homepage der IGMG vom 24. März 2009. 140 "Milli Gazete" vom 27. Februar 2009. 141 Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina im Jahr 622 n.Chr., nachdem Muhammad zunächst bei den Mekkanern mit seiner Botschaft auf wenig Resonanz gestoßen 96 war. IS LA M IS M U S scheen erbaut worden seien. Allah stehe denjenigen bei, so TOPTAS, die "für die Religion Allahs" tätig seien. Man müsse sich nur in Gottesfurcht und Geduld üben.142 Eine der Wochenpredigten der IGMG-Generalzentrale, die sowohl in "Milli Gazete" als auch online auf der Internetseite der IGMG veröffentlicht werden, nimmt sich des Themas "Islamische Brüderlichkeit" unter Berücksichtigung des universellen Anspruchs folgendermaßen an: "Wir als Muslime, die wir Vertreter einer Religion sind, deren Fundament der Frieden ist und die wir untereinander Brüderlichkeit sichern, haben künftig die Aufgabe, mit dieser 'Essenz der Brüderlichkeit' die ganze Menschheit zu umarmen und diese in eine Gesellschaft des Friedens zu verwandeln (...) Als in Europa lebende Muslime müssen wir, um in Frieden und Glück leben zu können, als Gemeinde zunächst bemüht sein, alles, was unsere Brüderlichkeit beschädigen könnte, auf Null zu bringen. Danach müssen wir die Bande der Brüderlichkeit mit den Brudergemeinden stärken. Und danach müssen wir bei Themen, die die Umma (Weltgemeinschaft der Muslime) insgesamt betreffen, als Muslime mit einer Stimme sprechen. (...) Wenn wir unsere Brüderlichkeit untereinander verwirklicht haben, müssen wir die Ausprägungen dieses schönen Zustands auch in die Gesellschaft, in der wir leben, reflektieren." 143 Die Auffassung, die Ordnung des Islam allein repräsentiere die vollkommene und einzige Gesellschaftsund Lebensordnung, spricht auch aus der Zuschrift eines Lesers der "Milli Gazete" aus Heidenheim in Form einer mehrstrophigen Hymne: "Allah ist es, der Gesetze macht, der alleinige Herrscher (...), Der Islam ist die absolut richtige Ordnung, Richtung weisend für die Gesellschaft, Die Verfassung des Islam ist der unveränderliche Koran (...), Jeder bekommt sein Recht nach dem Recht der Shari'a (...), Unser Leben würden wir hingeben für die Bestimmungen des Islam (...)." 144 142 "Milli Gazete" vom 9. Januar 2009. 143 Wochenpredigt der IGMG, veröffentlicht in der "Milli Gazete" vom 23. Oktober 2009 sowie auf der IGMG-Homepage vom 26. Oktober 2009. 144 "Milli Gazete" vom 21. Juli 2009. 97 Bildungsarbeit Ihren Anhängern eine gefestigte islamische Identität zu vermitteln und den Fortbestand der "Milli Görüs"-Ideologie zu sichern, ist oberstes Ziel der seitens der IGMG intensiv betriebenen Bildungsarbeit. Hierzu bedient sich die Organisation verschiedener Unterrichtsformen wie Wochenendund Sommerkursen, Seminaren, Vorträgen und Hausgesprächen. Besondere Bedeutung haben organisationsinterne Schulungen (TIES - "Teskilat Ici Egitim Seminerleri"). "Da'wa und Organisation" oder "Warum Milli Görüs" lauten exemplarisch die Titel von Seminaren, die im Jahr 2009 in Balingen145 und Feldberg146 abgehalten wurden. In den Schulungen wurden die konstitutiven Elemente der Ideologie und die spezifischen Merkmale der innerorganisatorischen Tätigkeit vermittelt. Zum Thema des Bewahrens der Identität äußerte sich der Stuttgarter Regionalvorsitzende Adem KAYA beim "1. Traditionellen Familientag" der Region in Brackenheim: "Die Zentren der Bewahrung unserer Identität in Deutschland sind die Moscheen. Die Moscheen bringen gute Menschen hervor, gute Staatsbürger, ehrenhafte und aufrichtige Menschen, die ihre Nation, ihre Eltern, ihre Hodjas und ihren Staat lieben. In dieser Hinsicht stehen wir in der Pflicht: Wir müssen uns für [sc. die Moscheen] einsetzen und Mitglied sein oder werden." 147 In einem Seminar der IGMG-Generalzentrale für ihre Pädagogen wurde Anfang 2009 in Köln die Richtung für die künftige Tätigkeit vorgegeben. Um die nachfolgenden Generationen nicht zu verlieren und um deren "Assimilation und allmähliche Degeneration" zu verhindern, unternehme "Milli Görüs" - so der Vorsitzende der Bildungskommission der Kerpener Zentrale - "Anstrengungen wie keine andere Organisation". 115.000 Schüler seien in Kursen, die von der "Milli Görüs" betrieben würden, unterrichtet worden, über 1.200 Kinder besuchten deren Vorschulangebote. Die Unterrichtsmaterialien der IGMG müssten für jede Altersgruppe in sämtlichen Moscheevereinen immer vorrätig sein. Wichtig sei es, für die Weiterverbreitung dieses Unterrichtsmaterials zu sorgen.148 Mit ihren Angeboten zielt die IGMG darauf ab, bereits Kinder im Vorschulalter an die Organisation zu binden. So wurden 2009 unter anderem in 145 "Milli Gazete" vom 27. Januar 2009. 146 "Milli Gazete" vom 5. November 2009. 147 Monatszeitung Post, Ausgabe Juli 2009. 148 "Milli Gazete" vom 2. Februar 2009. Für ihre Schulungen verwendet die IGMG eigene Ma98 terialien, insbesondere das Lehrwerk "Temel Bilgiler" ("Grundwissen") 1-3. IS LA M IS M U S Stuttgart149, Ludwigsburg150 und Aalen151 Vorschulkurse neu eröffnet. Als exemplarisch kann das Angebot der IGMG-Moschee Walldorf gelten, wo im Schuljahr 2008/2009 insgesamt 208 Schüler und Schülerinnen sowie 40 Vorschulkinder unterrichtet wurden. Zum Abschluss des Schuljahrs erklärte der Imam und Prediger der Moschee mit Blick auf die im Unterricht erreichten Ziele stolz: "In dem Wochenendkurs, der eine spezielle Qualifizierung beinhaltet, wurde für die Schüler ein regelmäßiges und diszipliniertes Imamund Prediger-Programm durchgeführt, das auf den Unterrichtsmaterialien und Lehrplänen der IGMG basiert. Im Rahmen der pädagogischen Methoden wurde für unsere Kinder ein Unterricht angeboten, der sie in Bezug auf ihren Glauben und ihre Persönlichkeit reifen lässt (...) Es wurden die Grundlagen für eine Jugend gelegt, die über ein Bewusstsein verfügt und den nationalen und spirituellen Werten verbunden ist." 152 Das von muslimischen Pädagogen entwickelte Schulbuch "Saphir"153, das in einigen Bundesländern als Lehrwerk für islamischen Religionsunterricht154 zugelassen ist, stieß seitens der IGMG auf deutliche Kritik. Ihrer Auffassung zufolge ließen sich bei diesem Buch Ansätze erkennen, die dem Selbstverständnis und den Erziehungszielen der muslimischen Religionsgemeinschaften zum Teil erheblich widersprächen. Dazu gehöre sowohl die "Diskrepanz zwischen einem bekenntnisorientierten und einem islamkundlichen Ansatz" - statt "Glaubenswahrheit" werde lediglich Wissen über den Glauben vermittelt - als auch die interreligiöse Ausrichtung des Buches.155 Auch die Kolumnisten der "Milli Gazete" weisen auf die Bedeutung der islamischen Erziehung hin. So heißt es in einem "Offenen Brief an muslimische Eltern" vom 12. Juni 2009: "Erzieht eure Kinder, die euch doch am Herzen liegen, zu guten Muslimen! (...) Die Ungläubigen wollen nicht, dass eure Kinder zu guten Muslimen werden. Ob offen oder verdeckt - sie wenden 149 "Milli Gazete" vom 31. Januar 2009. 150 "Milli Gazete" vom 22. Juli 2009. 151 "Milli Gazete" vom 13. Februar 2009. 152 "Milli Gazete" vom 25. Juli 2009. 153 Saphir 5/6 (2008), herausgegeben von Lamya Kaddor, Rabeya Müller und Harry Harun Behr. 154 Saphir ist bisher als Schulbuch in Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zugelassen. 155 Offizielle Presseerklärung der IGMG zum Schulbuch Saphir laut IGMG-Homepage vom 1. September 2009. 99 tausend Listen an, damit die [sc. Kinder] ohne Glauben heranwachsen (...)." 156 Mit dem im Jahr 2007 vom IGMG-Verband Ruhr A initiierten Projekt "Yildiz" ("Stern"), das in weiteren IGMG-Regionen eingeführt werden soll, verfolgt die Organisation das Ziel, Jugendliche in einer dreijährigen Ausbildung zu "bewussten Muslimen" zu erziehen, um sie später auf der Führungsebene einsetzen zu können.157 Dass sich die IGMG, bezogen auf die Jugend in Europa, gar in der Rolle des Retters der muslimischen Identität sieht, gab der stellvertretende Generalvorsitzende der IGMG-Generalzentrale, Mehmet SENEL, anlässlich einer Diplom-Abschlussfeier des der belgischen "Milli Görüs" zugehörigen "Ibn-i Sina-Instituts für Islamische Wissenschaften" zu verstehen: "Gäbe es diese Schulen nicht, wären die meisten unserer Kinder verloren. Dies ist eine Tatsache. Gäbe es diese Dienstleistungen der Milli Görüs, die der 35bis 40jährigen Geschichte der Türken in Europa ihren Stempel aufgedrückt hat, nicht, so müssten wir die Zukunft unserer Jugend mit einem einzigen Wort beschreiben: katastrophal. Also lasst uns für diese unsere Organisation eintreten! Unsere Töchter, die hier ihren Abschluss machen, werden das Schicksal unserer Kinder und der Muslime verändern." 158 Zur Konsultation in Fragen der Kindererziehung wurde in der "Milli Gazete" für das Buch "Muslimische Familie und Kindererziehung in Europa" ("Avrupa'da Müslüman Aile ve Cocuk Egitimi") geworben. Autor des über den "Buchclub" ("Kitap Kulübü") der IGMG erhältlichen Kompendiums ist der in 156 "Milli Gazete" vom 12. Juni 2009. 157 "Milli Gazete" vom 15. April 2009 sowie Homepage der IGMG vom 27. Mai 2009. 100 158 "Milli Gazete" vom 15. Juli 2009. IS LA M IS M U S der Generalzentrale in Kerpen als Prediger tätige Osman ARSLANTÜRK.159 Der "Buchclub" empfiehlt das Werk als Erziehungsratgeber, mit dessen Hilfe es gelingen soll, dass muslimische Kinder in Europa leben können, "ohne im Hinblick auf Glauben, eigene Werte, Sitten und Gebräuche Kompromisse einzugehen". Weiter heißt es dort: "Wenn wir hierbei nicht erfolgreich sind - Allah möge dies verhüten -, so werden wir wie verloren gehende Glieder einer Gebetskette dazu verurteilt sein, in jeder Hinsicht vollständig assimiliert und zerrieben zu werden." 160 Für ihre studentischen Anhänger hielt die IGMG auch im Jahr 2009 einen "Studententag" ab, an dem mehr als 3.000 Personen teilnahmen.161 Die am 4. April 2009 in Dortmund durchgeführte Veranstaltung stand unter dem Motto "Ohne Wiederholung keine Erneuerung" ("Yinelemeyen Yenileyemez"). Als Gastredner trat neben IGMG-Generalsekretär Oguz ÜCÜNCÜ und dem aus der Türkei angereisten KURTULMUS auch der umstrittene Islamwissenschaftler Tariq RAMADAN, Enkel des islamistischen Vordenkers al-BANNA162, auf. Themen der Veranstaltung waren die Stellung der Muslime in Europa und deren gesellschaftliche Teilhabe sowie die universelle Botschaft des Islam.163 ÜCÜNCÜ verdeutlichte bei dieser Gelegenheit ein weiteres Mal selbstbewusst die Positionen der IGMG: "Die Auffassung, dass alles, was der [sc. deutsche] Staat verlangt, in Ordnung ist, lehnen wir ab. Ganz im Gegenteil: Wir erinnern daran, dass es Regeln gibt, an die der Staat sich zu halten hat. Eine vorgegebene Leitkultur, ein Konzept des gemäßigten Islam, eine restriktive Mentalität und Doppelstandards lehnen wir rundweg ab. Wir fordern, dass die Muslime als gleichberechtigte Individuen der Gesellschaft von den verfassungsmäßig vorgesehenen Wohltaten des freiheitlichen, pluralistischen, demokratischen Rechtsstaats profitieren. Wir lehnen Assimilation ab und fordern Teilhabe mit unserer eigenen Identität (...) Jetzt wird die Zukunft des Islam und der Muslime in Europa gestaltet. Jetzt werden die Grundlagen für das Schicksal der nach uns kommen159 "Milli Gazete" vom 5. Juni 2009. ARSLANTÜRK war zuvor als Imam und Prediger bei der IGMG Ingolstadt tätig. 160 Internetauswertung vom 23. November 2009. 161 Eigenangaben der IGMG gemäß ihrer Homepage vom 27. Mai 2009. 162 Siehe Kap. B, 4.2. 163 "Milli Gazete vom 9. April 2009. 101 den Generationen gelegt. Deswegen können wir es uns nicht leisten, Zeit zu verlieren." 164 Verbindungen der IGMG in Deutschland bestehen zur "Muslimbruderschaft" durch Kontakte von Studierenden des "Institut Europeen des Sciences Humaines" (IESH)165 in Chateau-Chinon, Frankreich.166 So reiste eine Gruppe aus Chateau-Chinon über verschiedene IGMG-Vereine zur Generalzentrale nach Kerpen, wobei die gegenseitigen Kontakte intensiviert und seitens der IGMG Zusagen für eine finanzielle und ideelle Unterstützung gemacht wurden. Die Auswirkungen der Propaganda, der die Jugendlichen in den internen Schulungen ausgesetzt sind, lassen sich an deren im Internet abrufbaren Eigenbeiträgen nachvollziehen. Beispielhaft für viele weitere sei ein Video des IGMG-Jugendverbands Freiburg-Donau genannt, in dem in einer Reihung von Standbildern Hausgespräche, Seminare, aber auch eine Türkeireise der Jugendlichen mit Besuch bei "Führer" ERBAKAN und dem Vorstand der SP gezeigt werden. Unterlegt ist das Video mit einer Hymne, deren Text belegt, wie sehr die Jugendlichen in dieser mit islamistischen Stereotypen durchsetzten Ideologie verhaftet sind: "Wir schwingen uns auf wie die Mujahidin, Der Weg des Jihad ist unser Freund, Wir sind die Milli Görüs-Jugend, Wir opfern uns für Allah und Seinen Propheten (...) Eines Tages wird die Gerechte Ordnung (Adil Düzen) kommen, Unsere Mission ist das Recht (Hak; auch: die Wahrheit, Gott) Wir verteidigen das Richtige, Wir halten uns fern von nichtigen (batil) Reden (...)." Studentinnen, die aufgrund ihrer Verhüllung mit Kopftuch an türkischen Universitäten nicht zum Studium zugelassen werden und zu diesem Zweck nach Europa ausweichen, können mit Stipendien der IGMG im Rahmen ihres Programms für sogenannte Kopftuchopfer ("basörtüsü magdurlari", BÖM) rechnen. Im Jahr 2009 wurde in der "Milli Gazete" eine Reihe von Anzeigen geschaltet, mit denen um Spenden zur Unterstützung Studierender geworben wurde: 164 "Milli Gazete" vom 9. April 2009. 165 Diese Lehreinrichtung mit Bezug zu Institutionen der "Muslimbruderschaft" in Frankreich, an der auch ein Fernstudium angeboten wird, befähigt in einer dreijährigen Ausbildung zur "Tätigkeit als muslimischer Lehrer/Führer" (IESH-Website vom 29. Dezember 2009). Auf der IESH-Website wird unter der Rubrik "Theologie und Fatwa" auf den "Europäischen Rat für Fatwa und Forschung" (ECFR) unter der Leitung Yusuf al-QARADAWIs als Quelle für Rechtsgutachten für die sozialen Probleme Europas verwiesen. 102 166 "Milli Gazete" vom 17. November 2009. IS LA M IS M U S "Sie sind unsere Zukunft in Europa. Jetzt studieren sie dank deiner Unterstützung." Ergänzt wurde diese Werbung durch den Zusatz: "Seit dem Tag unserer Gründung leiten wir Ihre fitre167und zekat168-Spenden an die am besten geeigneten Ziele weiter." 169 Frauenbild Das von der IGMG vertretene Frauenbild orientiert sich generell an den aus Koran und Sunna abgeleiteten Normen und umfasst auch das äußere Erscheinungsbild. In einem Artikel der "Milli Gazete" vom 17. Januar 2009 äußerte sich der Verantwortliche der Fatwa170-Kommission der IGMG-Generalzentrale, Sefer AHMEDOGLU, in einer Kolumne zum Thema "Wie die muslimische Frau sich zu kleiden hat" wie folgt: "Wir sind Muslime. Unser Glaube, unsere Andachten, unsere Lebensweise, ja sogar unsere Bekleidung müssen so sein, wie Allah und sein Gesandter es befohlen haben. Es ist Pflicht (farz), das Gebot der Verhüllung (tesettür) zu befolgen (...) Die dem Islam gemäße Bekleidungsweise muss wie folgt sein: Beim Hinausgehen muss unbedingt ein Übergewand wie Mantel oder Vollverschleierung (carsaf) getragen werden, das die Knie bedeckt. Dieses muss so weit sein, dass die Körperkonturen nicht zu sehen sind. Beim Gehen muss es vorne zugeknöpft sein (...) Das Kopftuch ist Pflicht. Es muss die Schultern bedecken (...)." Der frühere Vorsitzende des Jugendverbands Freiburg und "Milli Gazete"Autor, Ali ATIK, der bei Veranstaltungen der IGMG auch als Referent auftritt171, gab seine Auffassung von den Pflichten der Frau gegenüber ihrem 167 In den letzten Tagen des Monats Ramadan zu entrichtende Spende. 168 Almosensteuer, deren Höhe sich nach dem jeweiligen Einkommen beziehungsweise dem Besitz richtet. 169 Anzeigen in der "Milli Gazete", unter anderem vom 26. und 27. August 2009. 170 Gutachten eines muslimischen Rechtsgelehrten. 171 ATIK referierte bei Seminaren der IGMG-Jugend Freiburg im Mai und November 2009 in den Jugendherbergen Schluchsee und Feldberg ("Milli Gazete" vom 30. Mai und 5. November 2009). 103 Ehemann, die einer erheblichen Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit gleichkommen, wie folgt wieder: "Dem Islam zufolge hat eine Frau, ohne ihren Ehemann zu benachrichtigen, weder das Recht, zu ihrer Freundin noch zu ihrer Familie noch zum Einkaufen oder an irgendeinen sonstigen Ort hinzugehen. Sie muss unbedingt ihren Ehemann hinzuziehen und seine Erlaubnis einholen. Frauen, die dies nicht tun, begehen eine sehr große Sünde." 172 Verständnis von Integration Das von der IGMG vertretene eigene Wertesystem, das mit den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft konkurriert, birgt insbesondere für Jugendliche die Gefahr dauerhafter Wertekonflikte. Es ist eine erhebliche Hemmschwelle für eine gelingende Integration ihrer Anhänger in die Gesellschaften der Aufenthaltsländer. Dezidiert erhebt die IGMG den Anspruch auf gegenseitiges Respektieren der jeweils anderen Identität, verweigert sich jedoch dem Erfordernis einer tendenziell stärkeren Öffnung der Minderheit hin zur als negativ und bedrohlich qualifizierten Mehrheitsgesellschaft. Auch wird vordergründig eine gegenseitige Bereicherung postuliert, tatsächlich aber eine isolierte, nebeneinanderher gelebte Existenz ohne wirklichen Austausch propagiert. Aus Sicht der IGMG wird eine starke islamische Identität als Voraussetzung für den Integrationsprozess gewertet, wie der in der Rechtsabteilung der Generalzentrale tätige Abdulgani Engin KARAHAN formuliert: "Die islamischen Gemeinden gehen bei ihren Aktivitäten für die Integration von der Grundvoraussetzung aus, dass sich die Stärkung der islamischen Identität und die Entwicklung des islamischen Selbstvertrauens auf den Prozess der Integration in die Gesellschaft positiv auswirken werden. (...) Das Vorhandensein einer Infrastruktur, die die religiösen Bedürfnisse befriedigen kann, wirkt sich positiv auf die Integration aus." 173 Der Vorsitzende der Region Rhein-Neckar-Saar, Yasar CIMSIT, drückte den Wunsch nach Eigenständigkeit so aus: Als Gemeinschaft lebe man in dieser Gesellschaft, ohne sich zu assimilieren, im Bewusstsein, in einem Rechts172 "Milli Gazete" vom 9. Juni 2009. 173 Homepage der IGMG vom 17. November 2009 sowie der "Milli Gazete" vom 28. Januar 104 2009. IS LA M IS M U S staat zu leben, mit Respekt vor der Verfassung und ihren Regeln. Man müsse jedoch "das eigene Verständnis dessen, was Recht ist, fortführen".174 Der Imam und Prediger der Kuba-Moschee Stuttgart-Wangen, Necati SEZGIN, erteilte bei einem Wohltätigkeitsbasar in Schorndorf den Integrationsanforderungen von deutscher Seite eine klare Absage: "Es wird angestrebt, dass diese muslimischen Kinder, die in diesem Land geboren werden, mit den Werten dieser Gesellschaft aufwachsen und so werden wie sie. Es gibt Aktivitäten und Bemühungen in diesem Sinne. Kann sein. Nicht jeder muss das tun, was andere wollen. (...) Wir haben moralische und kulturelle Werte, die für unsere Glaubensidentität notwendig sind. (...) Unsere Werte sind nicht die Werte des Unglaubens (küfür) (...)." 175 Die in derartigen Äußerungen aus der Mitte der "Milli Görüs" offen zutage tretende Ablehnung hiesiger Normen wie auch das eigene Verständnis von einer offenen Gesellschaft stehen in deutlichem Kontrast zur Außendarstellung und zu offiziellen Verlautbarungen der IGMG, in denen sich die Organisation zu Demokratie und Pluralismus bekennt. Eine verschiedentlich behauptete Flügelbildung innerhalb der IGMG - und damit auch die Existenz eines Reformflügels - wird von der Organisation selbst in ihren Kommentaren zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) gegen die Einbürgerung eines langjährigen Funktionärs eines baden-württembergischen Vereins vom 2. Dezember 2009 in Abrede gestellt.176 Angesichts des Stellenwerts, den die "Prinzipien der Milli Görüs" in den internen Schulungen einnehmen, und der daraus resultierenden Prägung der Anhängerschaft wird klar, dass unterschiedliche Positionen nur eine zweigleisige, strategische Argumentation darstellen, die an den jeweiligen "Adressaten" angepasst wird. In jedem Fall strebt die IGMG eine verstärkte politische Partizipation an, wie jüngst exemplarisch die Wahl von drei Repräsentanten der IGMG Mainz in den Ausländerbeirat der Stadt belegt.177 Angesichts des Verharrens in den ideologischen Denkstrukturen, gerade auch in Kreisen der IGMG-Jugend, und der angestrebten umfassenden Ausrichtung an einem islamistischen Ordnungsmodell scheint eine zukunftsfähige Ausrichtung der Organisation, die den Erfordernissen der Integration in die säkulare Mehrheitsgesellschaft Rechnung tragen würde, in weiter Ferne. 174 "Milli Gazete" vom 25. April 2009. 175 Internetauswertung vom 16. Juli 2009. 176 Homepage der IGMG vom 4. und 9. Dezember 2009. Zur Entscheidung des BVerwG 5 C 24.08 siehe dessen Pressemitteilung Nr. 82/2009 vom 2. Dezember 2009. 177 "Milli Gazete" vom 14. November 2009. 105 4.4.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) Gründung: 1984 (ICCB) 1994 Umbenennung in "Kalifatsstaat" Sitz: Köln Anhänger: ca. 230 Baden-Württemberg (2008: ca. 230) ca. 750 Deutschland (2008: ca. 750) Verbot: Nach dem Wegfall des Religionsprivilegs durch Änderung des Vereinsgesetzes hatte der Bundesminister des Innern am 8. Dezember 2001 19 Ortsvereine als Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" verboten. Am 19. September 2002 wurde das Verbot auf 16 weitere Teilorganisationen ausgedehnt.178 Die Organisation - eine Abspaltung der "Islamischen Union Europa e.V.", aus der auch die Vorläuferorganisation der IGMG hervorging, - wurde 1984 durch Cemaleddin KAPLAN unter dem Namen "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden" (Islami Cemiyet ve Cemaatler Birligi - ICCB) gegründet. 1992 erfolgte die Umbenennung in "Föderativer Islamischer Staat Anatolien" ("Anadolu Federe Islam Devleti" - AFID) und 1994 in "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"). KAPLAN rief sich selbst zum "Kalifen" aus. Die Organisation verfolgte primär das Ziel der Beseitigung der laizistischen Ordnung der Türkei und der Wiedererrichtung des 1924 durch Atatürk abgeschafften Kalifats. Die Organisation betrieb eine offene antiwestliche, antidemokratische und antijüdische Propaganda. KAPLANs Vision bestand letztlich in einem islamischen Staatswesen, inspiriert vom Vorbild des Iran. Die Nachfolge KAPLANs im Amt des "Kalifen" ging nach dessen Tod 1995 auf den Sohn Metin KAPLAN über. Die Abschiebung Metin KAPLANs in die Türkei im Jahr 2004 hatte unter den Anhängern in Deutschland, namentlich in der Kölner Zentrale, anhaltende Nachfolgestreitigkeiten zwischen zwei 178 Dieses Verbot wurde durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 106 bestätigt, Az.: 6 A 1/02. IS LA M IS M U S konkurrierenden Fraktionen zur Folge. Das Verbot und die nachfolgenden Exekutivmaßnahmen des Staates haben die Organisationsstruktur nachhaltig geschwächt. Ehemalige Aktivisten des "Kalifatsstaats" haben jedoch in jüngerer Zeit zumindest durch Spendensammlungen den Jihad von Muslimen gegen "den Westen" finanziell unterstützt. Nach wie vor sind Internetseiten, auf denen die Propaganda des "Kalifatsstaats" verbreitet wird, zum Teil auch in deutscher Übersetzung zugänglich, desgleichen auch Videobeiträge. Sonstiges Propagandamaterial mit der Forderung nach einer islamischen Staatsordnung in Anatolien konnte in Baden-Württemberg zwar festgestellt, jedoch nicht zweifelsfrei einer Nachfolgestruktur des "Kalifatsstaats" zugeordnet werden. 107 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN Extremistische Ausländerorganisationen verfolgen in Deutschland Ziele, die in der Regel durch die politischen Entwicklungen in ihren Heimatländern geprägt sind. Je nach Anlass können sich Ereignisse in den Heimatländern kurzfristig auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken. Extremistische Ausländerorganisationen unterliegen der gesetzlich vorgesehenen Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden, wenn sie n durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange Deutschlands gefährden oder n sich ihre Aktivitäten gegen den Gedanken der Völkerverständigung und damit insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten oder n sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung Deutschlands oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. In der Regel handelt es sich um separatistische Organisationen, die eine Loslösung ihres Herkunftsgebietes aus einem bereits bestehenden Staatsgebilde und die Schaffung eines eigenen Staates verfolgen, um linksextremistische Organisationen, die in ihren Heimatländern ein sozialistisches beziehungsweise kommunistisches Herrschaftssystem anstreben oder um nationalistische Organisationen, die ein überhöhtes Selbstverständnis von der eigenen Nation haben und andere Völker abwerten. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Im Ausländerextremismus spielen vor allem die beiden separatistisch orientierten Organisationen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) eine bedeutende Rolle. Die in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte PKK verfolgt weiterhin das Ziel, mehr politisch-kulturelle Rechte für die kurdische Bevölkerung, vor allem in der Türkei, zu erkämpfen. Dabei verfolgt sie eine 108 Doppelstrategie: einerseits bewaffnete Auseinandersetzungen in der Türkei, A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S andererseits überwiegend gewaltfreie Protestaktionen in Deutschland und Europa. Eine vorübergehende politische Entspannung in der Türkei ließ zwar Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konfliktes aufkommen. Jedoch scheint angesichts der anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen in der Türkei und im Nordirak ein Ende des Konfliktes nicht in Sicht. Nach Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens mit den LTTE im Januar 2008 startete die Regierung auf Sri Lanka eine militärische Offensive mit dem Ziel der endgültigen Zerschlagung der LTTE-Strukturen und der Beendigung des Bürgerkrieges. Nach der schrittweisen Eroberung aller von den LTTE kontrollierten Gebiete verkündete die sri-lankische Regierung im Mai 2009 die militärische Niederlage der LTTE. Trotzdem ist die Organisation weiterhin aktiv und die politische Situation auf Sri Lanka - auch angesichts der kritischen Flüchtlingsund Sicherheitslage nach dem Bürgerkrieg - angespannt. Ausländerextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2007 - 2009 2007 2008 2009 BW Bund BW Bund BW Bund Kurden | linksextremistisch 700 11.500 700 11.500 700 11.500 Türken 6.795 38.570 6.725 38.730 6.735 40.490 davon: linksextremistisch 845 3.150 825 3.150 795 3.150 rechtsextremistisch 2.100 7.500 2.070 7.000 2.070 7.000 religiös-nationalistisch 3.850 27.920 3.830 28.580 3.870 30.340 Araber 575 3.540 615 4.200 410 3.944 davon: linksextremistisch 25 150 25 150 20 150 rechtsextremistisch 550 3.390 590 4.050 390 3.794 Iraner 80 1.300 70 1.300 70 1.300 davon: linksextremistisch 80 1.150 70 1.150 70 1.150 rechtsextremistisch - 150 - 150 - 150 Sonstige 285 3.510 255 3.740 355 3.746 Gesamt 8.440 58.420 8.365 59.470 8.270 60.980 109 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer sowie ausländerextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2009 BW* Bund** 2009 2008 2009 2008 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer 193 228 966 1.484 insgesamt davon: Straftaten 181 217 703 1.312 davon: Gewalttaten 29 41 100 113 * Zahlen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. ** Zahlen des Bundesministeriums des Innern. 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Gründung: 27. November 1978 in der Türkei Weitere Bezeichnungen: - "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK, von April 2002 bis Oktober 2003) - "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL seit November 2003) - "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK, von März 2005 bis Mai 2007) - "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK, seit Mai 2007) Betätigungsverbot in Deutschland vom 22. November 1993 (bestandskräftig seit 26. März 1994) Sitz: Grenzgebiet Türkei/Nord-Irak Leitung: Abdullah ÖCALAN Anhänger: ca. 700 Baden-Württemberg (2008: ca. 700) ca. 11.500 Deutschland (2008: ca. 11.500) Publikation: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) Die im Jahre 1978 in der Türkei gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ist eine mitgliederstarke Organisation von überwiegend aus der Türkei stammenden Kurden. Ihr ursprüngliches Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". 1984 begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei einen Guerillakrieg gegen den tür110 A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S kischen Staat. Inzwischen strebt sie die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr Rechte und kulturelle Autonomie an. Angeblich soll dies auf politischem Weg und ohne Gewaltanwendung erreicht werden. Als übergeordnetes Ziel wird offiziell eine Einheit aller Kurden unter Wahrung der bestehenden Staatsgrenzen angestrebt. Allerdings liefern sich die bewaffneten Einheiten der PKK, die "Volksverteidigungskräfte" (HPG), weiterhin blutige Auseinandersetzungen mit dem türkischen Militär. Für die Versorgung ihrer Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition sowie für ihre Propagandatätigkeit und den Parteiapparat ist die PKK auf hohe Geldbeträge angewiesen. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen, über Gewinne aus Großveranstaltungen und die alljährliche Spendenkampagne. Dabei werden allein in Deutschland mehrere Millionen Euro eingenommen. Die PKK rekrutiert auch in Deutschland neue, junge Anhänger für die Parteiarbeit und für einen Kampfeinsatz in der Türkei. Darüber hinaus sind in Deutschland Gewalttaten, wie etwa der PKK zuzurechnende Brandanschläge auf türkische Einrichtungen sowie Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen PKK-Anhängern und national gesinnten Türken, zu verzeichnen. Die Entführung deutscher Touristen durch HPG-Kämpfer in der Türkei im Juli 2008 führte die Gefährlichkeit der PKK auch für deutsche Staatsbürger schlagartig vor Augen. Die PKK stellt daher eine Gefahr für die Innere Sicherheit und die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie verstößt außerdem gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker. Gegen die PKK wurde am 22. November 1993 ein Betätigungsverbot ausgesprochen. Die Organisation wurde auf Beschluss des Rats der "Europäischen Union" (EU) vom 2. April 2004 außerdem in die "EU-Terrorliste" aufgenommen. 111 2.1 Historie und Charakterisierung Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), die sich mehrmals umbenannt hat, ist eine mitgliederstarke Organisation von überwiegend aus der Türkei stammenden Kurden. Ihr ursprüngliches ERNK-Logo Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". Deshalb begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei im Jahr 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Befreiungseinheiten Kurdistans" (HRK), der im Oktober 1986 in "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) umbenannt wurde, einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. In Deutschland versuchte die Organisation, den Kampf im Heimatland durch politische und gewalttätige Aktionen zu unterstützen. Deshalb wurde der PKK und ihrer im März 1985 gegründeten Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet durch den Bundesminister des Innern untersagt. Dieses Verbot umfasst auch den "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und den "Volkskongress Kurdistans" (KONGRAGEL). Unter jeder dieser drei Bezeichnungen ist die Organisation auf Beschluss des Rats der Europäischen Union vom 2. April 2004179 auch in die sogenannte EU-Terrorliste aufgenommen worden. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am 3. April 2008 entschieden hatte, dass die PKK wegen unzureichender Begründung von der "EU-Terrorliste" zu nehmen sei180, nahm die Europäische Kommission die PKK in einer aktualisierten Fassung mit angepasster Begründung wieder in der "EU-Terrorliste" auf.181 Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 21. Oktober 2004182 festgestellt, dass die Führungsebene der PKK in Deutschland eine kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 Abs. 1 Strafgesetzbuch ist. 179 Beschluss des Rates vom 2. April 2004 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/902/EG, in: Amtsblatt der Europäischen Union L 99 vom 3. April 2004, S. 28f. 180 Urteile des EuGH T-229/02 PKK ./. Rat und T-253/04 KONGRA-GEL u. a. ./. Rat. 181 Gemeinsamer Standpunkt 2008/5867GASP des Rates vom 15. Juli 2008. 112 182 Urteil des BGH vom 21. Oktober 2004, 3 StR 94/04. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Nach der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und einer anschließenden, auch Deutschland erfassenden Phase der Gewalt verkündete die PKK im September 1999 ihre sogenannte Friedensstrategie. In der Konzeption - die nicht stringent umgesetzt werden kann - bedeutet dies, dass die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr Rechte und kulturelle Autonomie seitdem vorgeblich auf politischem Weg und ohne Anwendung von Gewalt fordern. Als übergeordnetes Ziel wird eine Einheit aller Kurden unter Wahrung der bestehenden Staatsgrenzen angestrebt. Dabei versteht sich die PKK selbst als einzig legitime Vertreter in und Ansprechpartner in dieser Volksgruppe und reklamiert den alleinigen Führungsanspruch für sich. Um die politische Neuausrichtung nach außen zu dokumentieren und sich von dem über viele Jahre hinweg geprägten Makel einer Terrororganisation zu befreien, nahm die Organisation verschiedene Veränderungen vor. Insbesondere wurden die PKK selbst und mehrere Teilorganisationen umbenannt beziehungsweise formal aufgelöst und unter neuen Namen wieder gegründet. Der militärische Arm ARGK erhielt zum Beispiel die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Die ehemalige Propagandaorganisation ERNK firmiert seit Sommer 2004 als "Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa" (CDK). Die PKK-Jugendorganisation tritt als "Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans" (KOHPG-Logo MALEN CIWAN) auf. Als eine Art Dachorganisation soll das im Mai 2007 ausgerufene übergreifende System der "Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) die kurdische Identität fördern und - bei Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen - in einem überstaatlichen Gemeinwesen zu einem politischen Verbund aller Kurden in ihren Siedlungsräumen führen. Die KCK sind Nachfolger der von ÖCALAN am 20. März 2005 proklamierten "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK), die das politische Konzept des "Demokratischen Konföderalismus Kurdistans" mit einer Art Verfassung für die von den Kurden besiedelten Gebiete umsetzen sollte. Offiziell ist Murat KARAYILAN Vorsitzender der KCK, jedoch gilt ÖCALAN als ideelle Führungsfigur. Die PKK ist trotz der nach außen propagierten "Friedenslinie" und der vielen Veränderungen seit Herbst 1999 noch immer eine potenzielle Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands sowie eine Bedrohung für die aus113 wärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland. 183 Eine grundlegende Wandlung ist nicht festzustellen: Gewalt wird nach wie vor als ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung der Ziele angesehen. Die Organisation verfolgt derzeit eine Doppelstrategie: einerseits bewaffnete Auseinandersetzungen in der Türkei und andererseits überwiegend gewaltfreie Protestaktionen in Deutschland und Europa. Anlassbezogen kann sie einen großen Teil der Mitglieder und Anhänger auch in Baden-Württemberg für gewalttätige Aktionen mobilisieren. Auch an ihrem strikt hierarchischen Aufbau und an der autoritären Führung haben sich bis heute weder substanziell noch personell nennenswerte Veränderungen ergeben. Eine zumindest teilweise Demokratisierung der Strukturen ist bislang trotz mehrerer Versuche, wenigstens einzelne demokratische Elemente einzuführen und die Basis bei Entscheidungen mit einzubeziehen, nicht erfolgt. 2.2 Schwerpunkte und Mobilisierung Beherrschende Themen unter den PKK-Anhängern und Auslöser für Aktivitäten waren 2009 vornehmlich die fortgesetzten Militäroperationen der türkischen Streitkräfte im Nordirak sowie die zweite Verlängerung des den Streitkräften ursprünglich für ein Jahr erteilten Mandats, ferner der Gesundheitszustand und die Haftbedingungen ÖCALANs. Darüber hinaus prägten die von der türkischen Regierung beabsichtigten politisch-kulturellen Reformen für den kurdischen Bevölkerungsteil, etwa die Einführung eines kurdischsprachigen Senders, die Diskussionen unter den Anhängern. Die Aktionsschwerpunkte in Baden-Württemberg waren Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Ulm und Freiburg im Breisgau. Landesweit engagieren sich etwa 700 Personen aktiv für die PKK oder die ihr nahe stehenden Organisationen. Für besondere Anlässe lassen sich in Baden-Württemberg jedoch mehrere Tausend Sympathisanten mobilisieren. Die örtlichen PKK-nahen Vereine spielen eine zentrale Rolle bei der Kommunikation unter den Anhängern, der Mobilisierung der Organisationsanhänger für Aktionen und der Vorbereitung und Durchführung von öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten. Die Veranstaltungen verlaufen meist weitgehend friedlich, wenn auch einzelne gewalttätige Auseinandersetzungen, oft zwischen jugendlichen PKK-Anhängern und national eingestellten, staatstreuen Türken, zu beobachten sind. 114 183 SS 3 Abs. 2 Ziffer 3 und 4 LVSG. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 2.3 Finanzierung Die PKK benötigt hohe Geldbeträge für ihre Propagandatätigkeit, den Parteiapparat sowie die Versorgung ihrer Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und Gewinne aus Großveranstaltungen. Zusätzlich sollen die angesprochenen Landsleute bei der alljährlichen Spendenkampagne einen größeren Betrag abliefern, in Abhängigkeit von ihrem Einkommen bis zur Höhe von mehreren Hundert Euro. Dabei werden allein in Deutschland mehrere Millionen Euro eingenommen. Diese Einnahmen waren seit Verkündung des "Friedenskurses" tendenziell rückläufig, weil sich zahlreiche Kurden nicht mehr ausreichend mit der Organisation identifizierten. Weitere Gründe für die Weigerung, den geforderten Beitrag ganz oder teilweise zu zahlen, dürften die einschränkenden staatlichen Maßnahmen in Deutschland sowie die wirtschaftliche Situation der Anhänger und Sympathisanten gewesen sein. Allerdings zeichnet sich durch die verstärkten Kampfhandlungen in der Türkei und im Nordirak in den letzten Jahren bei der Spendenbereitschaft eine wieder steigende Tendenz ab. 2.4 Jugendliche Anhänger Die Anhänger und Aktivisten der PKK sammeln sich in einer Vielzahl sogenannter Massenorganisationen, die jeweils für bestimmte kurdische Personengruppen eingerichtet wurden. Sie sind besonders aktiv und verfügen über eine ausgeprägte Kaderstruktur. Neben den Frauen zählten die Jugendlichen von Anfang an zu den zentralen Zielgruppen der PKK. Für eine funktionierende Jugendarbeit liegt daher unter anderem eine kontinuierliche Nachwuchsförderung in ihrem Interesse. Im Zuge der Gründung der ERNK wurde 1987 die "Union der Jugendlichen Kurdistans" (YCK) als Jugendorganisation geschaffen, die jedoch nicht vom PKK-Betätigungsverbot umfasst ist. Seit 2005 firmiert die Jugendorganisation unter der Bezeichnung "KOMALEN CIWAN". Die in den jeweiligen Gründungserklärungen festgeschriebene strukturelle Anbindung und politische Ausrichtung an die Hauptorganisation blieben erhalten. 115 In den letzten Jahren stellten junge Anhänger der PKK durch zahlreiche, teilweise militante Aktionen auch in Baden-Württemberg die Kampagnenfähigkeit und Schlagkraft der Organisation unter Beweis. Seit 2007 ist eine zunehmende Aktionsund Gewaltbereitschaft besonders unter jugendlichen PKK-Anhängern festzustellen. Bundesweit sind immer wieder unfriedliche Aktionen wie Eingriffe in den Straßenverkehr, Auseinandersetzungen am Rande von Demonstrationen oder Anschläge auf türkische Einrichtungen durch jugendliche PKK-Anhänger zu beobachten. Dabei achten die Täter darauf, die Aktionen nicht in direktem Zusammenhang mit der PKK erscheinen zu lassen, um der "Doppelstrategie" - bewaffneter Kampf in der Türkei und zumeist friedliche Aktionen in Europa - nicht zuwider zu laufen. Anlässlich besonderer Ereignisse, etwa bei Verschärfungen der Haftbedingungen von PKK-Führer ÖCALAN oder bei türkischen Militäroperationen, können die Organisatoren von Aktionen damit rechnen, kurzfristig für friedliche, aber auch gewalttätige Aktionen bundesweit mehrere Tausend jugendliche PKK-Anhänger mobilisieren zu können. Die jugendlichen Anhänger wurden in der im Januar 2009 zu "Sterka Ciwan" umbenannten Zeitschrift der Jugendorganisation zu einem Beitritt zur Guerilla und zu Aktionen vor Ort aufgerufen: "Sie [sc. die PKK-Jugend] muss sich erstens den 'Freiheitsreihen' anschließen, sie muss die Guerilla vergrößern. Sie muss sich zweitens an den Serhildans (Volksaufständen) beteiligen und diese anführen. Drittens muss sie das Volk in Form von Selbstverteidigungsorganisationen schützen." 184 "Die Jugend in Europa las die Sterka Ciwan und strömte in die Berge. (...) In der Hoffnung, uns im Jahre 2009 in den Bergen Kurdistans zu treffen. (...) Die europäische Jugend war einmal ein Beitrittsreservoir für die Guerilla. (...) Unsere Jugend in Europa muss jedes Viertel, jede Straße, jeden Stadtteil, also jeden Bereich, in dem sie sich befindet, in ein Organisationsund Aktionsfeld verwandeln." 185 184 "Sterka Ciwan" Nr. 70, Februar 2009, Arbeitsübersetzung. 116 185 "Sterka Ciwan" Nr. 69, Januar 2009, Arbeitsübersetzung. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Dabei sollen die Jugendlichen "kleine Organisationseinheiten"186 bilden, die als "Zellen" organisiert sind und "autonom operieren". Die Jugendlichen sollen sich vor "intensiven und umfangreichen Kontakten" zwischen diesen Gruppen und der PKK hüten, jedoch stets bereit zu sein, "zeitgleich und mit gleicher Zielrichtung in Aktion zu treten". Zeitlich und örtlich auffällig gehäufte Demonstrationen und gewalttätige Aktionen von PKK-Anhängern sind zu beobachten. 2.4.1 Veranstaltungen und Demonstrationen Die PKK ist bestrebt, über zentrale Großveranstaltungen und diverse Aktivitäten in den örtlichen PKK-nahen Vereinen den Zusammenhalt innerhalb der Organisation zu festigen und die Anhängerschaft an sich zu binden. Andererseits dienen die Veranstaltungen und Aktivitäten der PKK als Plattform, um politische Botschaften zu transportieren, Aktionen der Anhänger anzustoßen sowie Einfluss auf die Sympathisanten und weitere Personen zu gewinnen. Insbesondere junge Kurden sollen langfristig an die Organisation gebunden werden. Zu den meist von der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)187 angemeldeten Großveranstaltungen reisen regelmäßig Hunderte bis zu mehrere Tausend jugendliche Anhänger an. Weiterhin ist die Organisation bemüht, auch in Europa Nachwuchs für ihre Kader und Guerillaorganisation zu gewinnen, unter anderem durch Veranstaltungen speziell für Jugendliche. Auf sogenannten Jugendfesten wird ihre politische Ideologie vermittelt und für den Einsatz im "kurdischen Befreiungskampf" geworben. Diese Veranstaltungen werden entweder als ein kulturelles oder als ein sportliches Ereignis angekündigt. Neben musikalischen Darbietungen und sportlichen Wettbewerben werden aber auch Filme vorgeführt, die das Leben ÖCALANs und den Alltag der HPG-Guerillas verherrlichen, politische Reden gehalten und der als Vorbilder verehrten "heldenhaften Märtyrer" gedacht. Die politischen Reden werden in der Regel von Vertretern der CDK oder PKK-naher Organisationen, beispielsweise der YEK-KOM, gehalten. Eine herausragende jährliche Aktivität der Jugendorganisation ist seit mehreren Jahren das "Mazlum Dogan Jugend-, Kultur und Sportfestival" in Köln, das in Gedenken an den in der Organisation als Märtyrer besonders ver186 Hier und im Folgenden der grundlegende Artikel in "Ciwanen Azad" Nr. 22, März 2008, Arbeitsübersetzung. 187 In dem Dachverband YEK-KOM mit Sitz in Düsseldorf sind viele örtliche PKK-nahe Vereine in Deutschland zusammengeschlossen. 117 ehrten Mazlum DOGAN durchgeführt wird. An dieser Veranstaltung nehmen regelmäßig mehrere Tausend vorwiegend jugendliche PKK-Anhänger aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden teil. Neben sportlich-kulturellen Aktivitäten werden in Redebeiträgen politische Themen behandelt, wobei man stets auch PKK-bezogene Plakate zeigt und PKK-Slogans skandiert. Der Vorsitzende des Exekutivrates der KCK, Murat KARAYILAN, rief auf dem Festival am 11. Juli 2009 die Jugendlichen dazu auf, sich aktiv am Kampf zu beteiligen und hob deren Rolle als Vorreiter des Freiheitskampfes und der Hoffnung des kurdischen Volkes hervor.188 Neben zentralen Großveranstaltungen sind in den örtlichen PKK-nahen Vereinen jugendbezogene kulturelle und politische Veranstaltungen zu beobachten. Umfang und Intensität von Aktivitäten der Jugendorganisation hängen in besonderem Maß von den jeweils vor Ort agierenden Personen, insbesondere vom Engagement der Führungspersonen ab. Beispielsweise findet einmal wöchentlich kurdischsprachiger Unterricht (Musik und Volkstanz) für etwa 40 Schüler statt. Anlässlich des 1. Mai 2009 fand eine Jugendversammlung mit etwa 100 Teilnehmern zur türkischen Innenpolitik statt. Im Verlauf der Veranstaltung, auf der der Vorsitzende des Vereins die kurdischen Jugendlichen zu erhöhter Wachsamkeit aufrief, sangen die Jugendlichen einschlägige Kampflieder der Guerilla.189 Am 1. Februar 2009 nahmen etwa Tausend vorwiegend jugendliche PKKAnhänger an einem Jugendfest in Mannheim teil, das unter dem Motto "Jung haben wir begonnen, jung werden wir es beenden" stand. Ein Vertreter der kurdischen Veteranen in Europa betonte in seiner Rede die herausgehobene Rolle der kurdischen Jugendlichen im Kampf und die besondere Solidarität der jungen Anhänger mit ÖCALAN.190 188 "Yeni Özgür Politika" vom 13. Juli 2009, Arbeitsübersetzung. 189 "Yeni Özgür Politika" vom 5. Mai 2009, Arbeitsübersetzung. 118 190 "Yeni Özgür Politika" vom 3. Februar 2009, Arbeitsübersetzung. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 2.4.2 Rekrutierungen und "Märtyrer"-Veranstaltungen Junge PKK-Anhänger spielen im bewaffneten Kampf der "Volksverteidigungskräfte" (HPG) gegen das türkische Militär eine wichtige Rolle. Der überwiegende Teil der auf der Seite der HPG-Gefallenen ist in jungen Jahren, häufig sogar minderjährig, den bewaffneten Einheiten der PKK beigetreten. Die PKK vermag auch in Deutschland weiterhin Jugendliche zu gewinnen, die sich für eine ideologische Ausbildung sowie einen eventuellen Kampfeinsatz in der Türkei beziehungsweise im Nordirak der PKK anschließen. Allein in den Jahren 2007 bis 2009 würdigte der bewaffnete Arm der PKK auf seiner Website 14 verstorbene Kämpfer, die in Deutschland entweder geboren oder durch die Organisation rekrutiert worden sind.191 Zerrüttete Familienverhältnisse oder misslungene Schulund Berufsverläufe der Jugendlichen einerseits sowie eine ethnisch oder familiär bedingte Nähe zum Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat andererseits bereiten den Boden für eine Annäherung an bereits in Deutschland vorhandene PKK-Strukturen. Häufig finden in den örtlichen PKK-nahen Vereinen in Deutschland Gedenkfeiern für gefallene HPG-Kämpfer statt, üblicherweise für besonders prominente "Märtyrer" oder für verstorbene Kämpfer, die aus der entsprechenden Region stammen oder dort gelebt haben. Beispielsweise wurde anlässlich der "Heldenwoche", des Gedenkens an alle "Märtyrer" der PKK, am 28. März 2009 eine Gedenkfeier für einen kürzlich gefallenen HPG-Kämpfer durchgeführt. Der Verstorbene soll früher in Baden-Württemberg in der "Jugendarbeit" aktiv gewesen sein. Eine weitere Gedenkveranstaltung etwa fand am 29. August 2009 mit knapp 100 Teilnehmern statt, auf der auch eines im Jahr 2007 gefallenen HPG-Kämpfers gedacht wurde, der Bezüge nach Baden-Württemberg aufweist. 2.4.3 Gewalttätigkeiten und Auseinandersetzungen Das unter den PKK-nahen Jugendlichen vorhandene Mobilisierungsund Gewaltpotenzial offenbarte sich durch gezielte Anschläge und Angriffe auf türkische Einrichtungen oder Gewalttätigkeiten am Rande von Protestaktionen. Im Januar und Februar 2009 verübten mutmaßliche PKKAnhänger aus Anlass des 10. Jahrestages der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 und wegen seiner aktuellen Haftbedingungen unter anderem in Stuttgart, Hamburg und Düsseldorf Brandanschläge. Eines der dabei angegriffenen Ziele war das Türkische Generalkonsulat in Düs191 HPG-Website zuletzt vom 31. Dezember 2009. 119 seldorf. Zu den Anschlägen bekannte sich beispielsweise eine "Apoistische Fedai-Jugend"192 auf PKK-nahen Websites. Die "KOMALEN CIWAN" hatte in einer Erklärung vom 5. Februar 2009 dazu aufgerufen, "die Aktionen gegen das Komplott zu verstärken".193 Am 20. Juni 2009 wurden während einer öffentlichen Versammlung in Stuttgart Parolen wie "PKK", "Biji Serok Apo" ("Hoch lebe unser Führer Apo") skandiert, verbotene Fahnen der Organisation gezeigt und Flugblätter der YEK-KOM verteilt.194 Mehrere Jugendliche wurden vorläufig festgenommen. Die Anhänger der PKK stehen aufgrund ideologischer Unterschiede und gegensätzlicher Interessen in Konflikt mit Anhängern der türkischen Rechten. Insbesondere die jugendlichen Anhänger der PKK und national gesinnte Türken stehen sich in Deutschland in teilweise offener Feindschaft gegenüber. Im Internet zeigen sich die Feindseligkeiten zwischen den Anhängern beider Lager beispielsweise durch aggressive Videos oder Einträge in Blogs. Der politische Gegner wird diffamiert und verbal attackiert, wie beispielsweise dieser Eintrag aufzeigt: "Jeder Bozkurt 195 kriegt'n Kopfschuss. Biji Kurd U Kurdistan." 196 Die latente Militanz und verbalen Feindseligkeiten äußern sich in immer wieder aufflackernden Gewalttätigkeiten zwischen den Anhängern beider Organisationen. Aktivisten der "KOMALEN CIWAN" stehen in Deutschland im Verdacht, an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit türkischen Nationalisten beteiligt gewesen zu sein sowie gewalttätige Aktionen durchgeführt zu haben. Beispielsweise kam es am 1. und 4. Juni sowie am 31. Oktober 2009 in Stuttgart zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Anhängern der PKK und national gesinnten Türken. 2.5 Newroz-Feierlichkeiten An die 15.000 Anhänger197 der PKK aus ganz Deutschland und den Nachbarstaaten begingen am 21. März 2009 in Hannover das traditionelle Neu192 "Fedai" = kurdisch/türkisch: Beschützer, Draufgänger, jemand, der sich für etwas opfert. 193 Internetauswertung vom 6. Februar 2009. Im Herbst 1998 hatte die Regierung Syriens auf massiven Druck der Türkei ÖCALAN ihre Unterstützung entzogen und ihn veranlasst, sein dortiges Exil aufzugeben. Dies wird von der PKK als Beginn eines "internationalen Komplotts" betrachtet, das schließlich zur Festnahme ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Kenia und zu seiner Verurteilung in der Türkei zu lebenslanger Haft geführt habe. 194 "Yeni Özgür Politika" vom 22. Juni 2009, Arbeitsübersetzung. 195 "Bozkurt" bedeutet "Grauer Wolf" und stellt die Selbstbezeichnung von jugendlichen rechtsextremistischen Türken dar; siehe auch Kap. C, 3.1. 196 Sinngemäß: "Hoch leben die Kurden und Kurdistan". Internetauswertung vom 20. Februar 2009. 197 Laut Polizeiangaben, nach Angaben der "Yeni Özgür Politika" vom 23. März 2009: 50.000 120 Teilnehmer. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S jahrsfest Newroz, zu dem die YEK-KOM aufgerufen hatte. Im Vorfeld und während der Veranstaltung wurden allerdings mehr als 2.000 Fahnen mit verbotenen Symbolen sichergestellt und 80 Ermittlungsverfahren, überwiegend wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz, eingeleitet. Außerdem nahm die Polizei mehrere Personen vorläufig fest. Im Vorfeld der zentralen Newroz-Feier in Hannover fanden regionale Kundgebungen von PKK-Anhängern unter anderem in Heilbronn und Ulm statt. Die Teilnehmer der Kundgebung in Heilbronn protestierten dabei gegen die Auflage der Polizei, keine ÖCALAN-Plakate und KCK-Fahnen während der Veranstaltung mit sich zu führen.198 2.6 17. Internationales Kurdisches Kulturfestival Am 12. September 2009 veranstaltete die YEK-KOM in Gelsenkirchen das "17. Internationale Kurdische Kulturfestival" mit etwa 40.000 Teilnehmern aus Deutschland und anderen europäischen Staaten, darunter ein hoher Anteil jugendlicher Personen.199 Das Motto der weitgehend friedlich verlaufenen Großveranstaltung lautete "Freie Führung, freie Identität, demokratische Autonomie". Auf dem Festival wurde eine Videobotschaft des KCK-Exekutivratsvorsitzenden KARAYILAN eingespielt, in der dieser ÖCALANs Rolle als Ansprechpartner für die türkische Regierung betonte. Der Vorsitzende der YEK-KOM, Ahmet CELIK, hob in seiner Rede zudem die Bedeutung der von ÖCALAN verfassten "Roadmap" hervor. Der Vorsitzende der linksextremistischen "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD) versprach in seiner Rede, der PKK "jede (...) mögliche Unterstützung zuteil werden [zu] lassen" 200 und forderte darüber hinaus die Aufhebung des PKK-Verbots sowie die Freilassung ÖCALANs. 2.7 ÖCALAN mobilisiert die Anhänger Während es Anfang 2009 in der Türkei wegen des 10. Jahrestages der Festnahme ÖCALANs und der verschärften Haftbedingungen des PKKFührers zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, fand - neben mehreren kleineren Kundgebungen in Deutschland - wie in den Vorjahren eine 198 "Yeni Özgür Politika" vom 23. März 2009, Arbeitsübersetzung. 199 Hier und im Folgenden: "Yeni Özgür Politika" vom 14. September 2009, Arbeitsübersetzung. 200 Linksextremistische Zeitung "Rote Fahne" Nr. 38/2009 vom 17. September 2009. 121 Großdemonstration von PKK-Anhängern am 14. Februar 2009 in Straßburg (Frankreich) statt. An der Kundgebung nahmen über 10.000 Personen aus mehreren westeuropäischen Ländern teil, darunter an die Tausend PKKAnhänger aus Baden-Württemberg. Während des Demonstrationszuges wurden Fahnen der Organisation geschwenkt und ÖCALAN-Bilder gezeigt. Danach wurden auf einer Bühne, die mit einem großen ÖCALAN-Bild und einer ERNK-Fahne geschmückt war, mehrere Reden zum Thema "Wir verurteilen das internationale Komplott gegen Abdullah ÖCALAN" gehalten. Der damalige Vorsitzende des KONGRA-GEL, Zübeyir AYDAR, betonte in seiner Rede: "Wir sind an der Seite unseres Volksführers201, bis er die Freiheit erlangt. Das kurdische Volk wird seinen Kampf im 11. Jahr des internationalen Komplotts noch intensiver und entschlossener weiterführen." 202 Regionale Demonstrationen mit mehreren Hundert Teilnehmern fanden unter anderem am 31. Januar 2009 in Stuttgart und am 7. Februar 2009 in Mannheim statt. In Stuttgart führten Anhänger der Organisation einen Protestmarsch durch. Die Demonstranten zogen bis zum türkischen Konsulat, wo ein Vertreter der YEK-KOM eine Erklärung abgab. Abschließend legten die Teilnehmer der Veranstaltung vor dem Konsulat einen schwarzen Kranz nieder. An der Demonstration in Mannheim nahmen etwa 200 zumeist jugendliche PKK-Anhänger teil. Die Demonstranten skandierten Slogans wie etwa "Mörder Erdogan" oder "Es lebe Apo" und verlasen ein Flugblatt, das "Freiheit für Abdullah Öcalan" forderte.203 Anlässlich des elften Jahrestages der Ausweisung ÖCALANs aus Syrien und der darauf folgenden Verurteilung des PKK-Führers in der Türkei im Jahre 1999 fand am 10. Oktober 2009 in Straßburg eine von PKK-nahen Organisationen veranstaltete Demonstration mit über 3.000 Teilnehmern statt, darunter Hunderte aus Baden-Württemberg. In mehreren Reden und 201 Hier ist Abdullah ÖCALAN gemeint. 202 "Yeni Özgür Politika" vom 16. Februar 2009, Arbeitsübersetzung 122 203 "Yeni Özgür Politika" vom 9. Februar 2009, Arbeitsübersetzung. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Videobotschaften hochrangiger PKK-Funktionäre, beispielsweise des neuen KONGRA-GEL-Führers Remzi KARTAL, wurde unter anderem die Freilassung ÖCALANs sowie die Veröffentlichung der von ihm verfassten "Roadmap" gefordert. 2.8 Politische Entwicklungen in der Türkei Im Juli 2009 kündigte die türkische Regierung ein anfangs "kurdische Öffnung" genanntes Vorhaben an, das unter anderem mehr sprachlich-kulturelle Rechte für die kurdischsprachige Bevölkerung in der Türkei zum Ziel hat. Sowohl die Initiative, die langfristig auch zur Beilegung des Konfliktes mit der PKK beitragen soll, als auch der Sendebeginn des kurdischsprachigen Senders TRT-6 im Januar 2009 wurden von den PKK-Anhängern in BadenWürttemberg zwar als positives Signal gewertet. Aber die Bemühungen der türkischen Regierung, unter anderem wegen der Weigerung der Türkei, die PKK als offiziellen Ansprechpartner für weitere Schritte in der Kurdenfrage zu akzeptieren, wurden gleichzeitig mit Skepsis aufgenommen. Darüber hinaus wurde die im August 2009 von ÖCALAN in seiner Haft verfasste "Roadmap" mit Vorschlägen für eine Beilegung des seit Jahrzehnten andauernden Konfliktes zwischen der PKK und dem türkischen Staat von den türkischen Behörden beschlagnahmt. Daher fordert die PKK die Veröffentlichung der "Roadmap" und beurteilt die politische Entwicklung in der Türkei insgesamt kritisch. Der KCK-Exekutivratsvorsitzende KARAYILAN warnte beispielsweise in einer Videobotschaft anlässlich der Großdemonstration am 10. Oktober 2009 in Straßburg, dass bei einem Scheitern der "kurdischen Öffnung" durch den türkischen Staat die Organisation weiterhin die Kraft zum Widerstand habe.204 Das KCK-Exekutivratsmitglied Mustafa KARASU bewertete die aktuelle Politik der türkischen Regierung als "ein neues Vernichtungskonzept".205 Auf Vorschlag ÖCALANs reisten als eine Art Friedenssignal zwei Gruppen mit PKK-Anhängern aus dem Irak - eine aus dem Kandilgebirge und eine aus dem Flüchtlingslager Makhmur - am 19. Oktober 2009 in die Türkei 204 "Yeni Özgür Politika" vom 12. Oktober 2009, Arbeitsübersetzung. 205 "ROJ-TV" vom 24. November 2009, Arbeitsübersetzung. 123 ein. Nach einer Befragung der PKK-Mitglieder durch die türkische Justiz wurden diese zwar wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch die an der irakischtürkischen Grenze und in mehreren Städten in der Türkei feierlich inszenierten Sympathiebekundungen für die verbotene PKK führten umgehend zu zahlreichen Protesten in der Türkei. Die für den 28. Oktober 2009 angekündigte Entsendung einer weiteren Gruppe von PKK-Anhängern aus Europa in die Türkei wurde daraufhin bis auf Weiteres ausgesetzt. Trotz der Bemühungen um Entspannung seitens der türkischen Regierung - im November 2009 etwa wurden die Haftbedingungen für den inhaftierten PKK-Führer unter anderem durch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit Mithäftlingen verbessert - deuten einerseits die andauernden Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und den PKK-Kämpfern, andererseits die angespannte Atmosphäre in der türkischen Gesellschaft auf eine insgesamt labile politische Lage hin. Medienberichten zufolge verübten am 7. Dezember 2009 HPG-Kämpfer einen Anschlag auf eine Patrouille der türkischen Sicherheitskräfte in der Provinz Tokat, bei dem sieben Soldaten getötet worden sein sollen.206 Wie die HPG auf ihrer Website berichtete, soll die Aktion zwar nicht auf Befehl des HPG-Hauptquartiers durchgeführt worden sein, vielmehr habe eine lokale Einheit selbständig gehandelt. Jedoch billige die HPG-Führung angesichts der aktuellen Situation jeder Einheit das Recht auf Eigeninitiative zu. Zu zusätzlichen Spannungen und Protestaktionen unter PKK-Anhängern führte das am 11. Dezember 2009 verkündete Verbot der pro-kurdischen "Partei der demokratischen Gesellschaft" (DTP) durch das türkische Verfassungsgericht.207 Die DTP soll - so die Begründung für das Verbot - gegen die türkische Verfassung verstoßen haben, indem sie als der "politische Arm" der PKK die Einheit des türkischen Staates in Frage gestellt habe. Auch die angekündigten Veränderungen der Haftsituation ÖCALANs stießen bei der Organisation auf scharfe Kritik und veranlassten die Anhänger zu zahlreichen, in der Türkei auch gewalttätigen Protestaktionen.208 Zwar waren im November und Dezember bundesweit, unter anderem in Mannheim und Freiburg im Breisgau, meist friedlich verlaufende Aktionen zu verzeichnen. Jedoch kam es am 19. Dezember 2009 in Stuttgart bei einer Kundgebung mit bis zu 800 weitgehend jugendlichen Teilnehmern zu gewalttätigen Ausschreitungen.209 Während der Kundgebung in der Stuttgarter Innenstadt und vor dem türkischen Generalkonsulat wurden Polizeibeamte 206 "Hürriyet" vom 7. und 10. Dezember 2009, Arbeitsübersetzung. 207 "Neue Zürcher Zeitung" vom 11. Dezember 2009. 208 "Frankfurter Rundschau" vom 3. Dezember 2009. 124 209 "Stuttgarter Zeitung" vom 22. Dezember 2009. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Stahlkugeln beworfen, Schaufensterscheiben zerschlagen und parkende Autos beschädigt. Die Teilnehmer skandierten darüber hinaus PKK-Parolen und zeigten verbotene Fahnen der Organisation. Mehrere Teilnehmer wurden vorübergehend festgenommen. 2.9 Ausblick Weiterhin wirken sich in erster Linie die Ereignisse in der Türkei, insbesondere die prekäre Sicherheitslage im dortigen Südosten und im Nordirak mit Gefechten zwischen den Kämpfern der PKK und den türkischen Streitkräften, sowie das Wohlergehen ÖCALANs auf die Stimmung und die Aktionsbereitschaft der PKKAnhänger in Baden-Württemberg aus. Die nach wie vor äußerst starke Verbundenheit mit der zentralen Identifikationsfigur der Organisation drückt sich durch mehrere anlassbezogene Aktionen wie etwa zum 10. Jahrestag seiner Verhaftung aus. Vor allem vom weiteren Umgang des türkischen Staates mit dem inhaftierten PKK-Führer hängt daher ab, ob die Anhänger den bisherigen "Friedenskurs" unterstützen oder sich frustriert von der Organisation abwenden, eventuell auch eigenständig gewalttätige Aktionen durchführen. Einerseits werden in Baden-Württemberg immer wieder Protestaktionen durch PKK-Anhänger durchgeführt, andererseits ist gegenüber der aktuellen politischen Entwicklung eine abwartend-skeptische Haltung erkennbar. Dabei belegen die zahlreichen Demonstrationen, die teilweise von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Anschlägen insbesondere jugendlicher Anhänger der Organisation begleitet wurden, das in Baden-Württemberg vorhandene Konfliktpotenzial. Die PKK ist weiterhin und derzeit offensichtlich mehr als zuvor an Nachwuchs interessiert. Auch in Deutschland versucht sie, junge Anhänger für sich zu gewinnen, sei es als Kader für das Kampfgebiet oder für gewaltbereite Gruppen, die bei besonderen Ereignissen wie etwa eine angebliche Misshandlung ÖCALANs militante Aktionen durchführen. Generell bilden junge PKK-Anhänger den aggressiven, aktionsbereiten Teil der Organisation, was sich zunehmend in entsprechenden Handlungen äußerte. Ein zusätzliches, dauerhaftes Gewaltpotenzial auch in Deutschland liegt in der offenen Feindschaft zwischen Anhängern der PKK und nationalistischen Türken. Abhängig von den gesellschaftlich-politischen Ent125 wicklungen in der Türkei muss auch in Baden-Württemberg mit weiteren Auseinandersetzungen insbesondere zwischen den jugendlichen Anhängern beider Lager gerechnet werden. Trotz des im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Entwicklung im Jahr 2009 mehrmals verlängerten "einseitigen Waffenstillstands" durch die PKK ist die Organisation weiterhin fähig, ihre Anhänger zu mobilisieren. Sie dürfte auch in Zukunft an der bisherigen "Doppelstrategie", des Einsatzes auch militanter Aktionen in der Türkei und der Beibehaltung des "Friedens"beziehungsweise "Akzeptanzkurses" in Deutschland, festhalten. Trotz einzelner Gewaltaktionen in Deutschland ist zurzeit kein Strategiewechsel der PKK erkennbar. 3. Türkische Vereinigungen 3.1 "Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.070 Baden-Württemberg (2008: ca. 2.070) ca. 7.000 Deutschland (2008: ca. 7.000) Die "Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) ist das Sammelbecken extrem nationalistischer Türken in Deutschland. Sie verfolgt Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind. Die Anhänger der ADÜTDF sind auch unter dem Namen "Graue Wölfe", auf türkisch "Bozkurtlar", bekannt. Die "Mutterorganisation" der ADÜTDF ist die "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) in der Türkei. An ihren Positionen zu aktuellen politischen Themen orientieren sich die "Grauen Wölfe" in Deutschland. Die ADÜTDF legt großen Wert auf Jugendarbeit. Sie organisiert sportliche, kulturelle und religiöse Veranstaltungen, um junge Türken an sich zu binden. Man erkennt die Jugendlichen, die sich mit dem Gedankengut der ADÜTDF identifizieren, an unterschiedlichen Symbolen. Sie formen die Finger der rechten Hand zum "Wolfsgruß", tragen Kleidung, auf der ein heulender Wolf abgebildet ist, oder Kettenanhänger mit drei 126 Halbmonden. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Nicht alle Anhänger der nationalistischen Bewegung sind jedoch in der ADÜTDF organisiert. So können jene Jugendliche, die Hetzvideos und andere rassistische Beiträge, vor allem gegen Kurden, ins Internet stellen oder in Schulen durch provokantes Verhalten auffallen, nicht in jedem Fall der ADÜTDF zugeordnet werden. Bei diesen Personen kann es sich auch um nichtorganisierte Einzelpersonen handeln, die sich nationalistisches Gedankengut zu Eigen gemacht haben. 3.1.1 Historie und Charakterisierung Die "Föderation der "türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." ("Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF) wurde im Juni 1978 in Frankfurt am Main gegründet, wo sie auch heute noch ihren Sitz hat. Generalvorsitzender der ADÜTDF ist Sentürk DOGRUYOL. Bis Mai 2007 lautete der Organisationsname "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." ("Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu"). Die ADÜTDF und ihre Mitgliedsvereine ("Ülkü Ocaklari", "Idealistenvereine") sind das Sammelbecken extrem nationalistischer Türken. Von ihnen gehen Bestrebungen aus, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung und insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Die Anhänger der ADÜTDF bedienen sich einer eindeutigen Symbolik. Der mit den Fingern der rechten Hand geformte "Wolfsgruß" ist ein unverkennbares Zeichen für die Zugehörigkeit zur nationalistischen Bewegung. Mit dem erhobenen Arm ausgeführt, wird die Anlehnung dieses Grußes an Symbole rechtsextremer totalitärer Bewegungen in Europa deutlich. Auch das Logo der "Partei der Nationalistischen Bewegung", das drei weiße Halbmonde210 auf rotem Untergrund zeigt, gehört zu diesen Erkennungszeichen. Der Schriftzug "CCC" oder "cCc" ist eine vereinfachte Darstellungsweise dieses Logos. Um die Ideen der nationalistischen Bewegung zu transportieren und sie bei ihren Mitgliedern zu verfestigen, organisieren die Ortsvereine regelmäßig Veranstaltungen zu bestimmten nationalen und religiösen Anlässen. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Vereine den türkischen Jugendlichen. Ihnen werden die "idealistischen" Werte im Rahmen von sportlichen, kulturellen und religiösen Aktivitäten vermittelt, gekoppelt mit der Botschaft, in der "Fremde" die türkisch-islamische Kultur verteidigen und erhalten zu 210 Die drei Halbmonde stellen eine Hommage an das Osmanische Reich dar, auf dessen 127 Kriegsflagge ebenfalls drei Halbmonde abgebildet waren. müssen. Dass Deutschland, das Land des ständigen Aufenthalts und für viele Jugendliche auch das Land ihrer Geburt, als "fremde Kultur" angesehen und vermittelt wird, wirkt abgrenzend und nicht integrativ. 3.1.2 Ideologie Die ADÜTDF ist die inoffizielle Auslandsvertretung der türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci Hareket Partisi", MHP). Diese stützt sich hauptsächlich auf einen übersteigerten Nationalismus sowie auf die Ideen einer an den Grenzen des Osmanischen Reiches orientierten "Großtürkei" und der Vereinigung aller Turkvölker vom Balkan bis Zentralasien. Zur eigenen Positionierung bedient sich die nationalistische Bewegung seit jeher auch rassistischer und politischer Feindbilder. Ideologisch bekennen sich die ADÜTDF sowie ihre Mitgliedsvereine weiterhin zu Alparslan TÜRKES, dem 1997 verstorbenen Gründer der MHP. Der ehemalige Oberst wird weiterhin uneingeschränkt als "Basbug" ("Führer") verehrt. Sein Abbild fehlt in keinem Vereinshaus und bei keiner Veranstaltung der ADÜTDF. Seine Ideen sind in der von ihm aufgestellten und als programmatische Basis für seine Anhänger geltenden "Neun-LichterDoktrin" zusammengefasst, deren wesentliche Komponenten "Idealismus" (ülkücülük), "Nationalismus" (milliyetcilik) und "Moralismus" (ahlakcilik) sind. Die übersteigerte Auslegung dieser Werte macht den antidemokratischen Charakter dieser Organisation aus. Beispielsweise führt der extreme Nationalismus, gekoppelt mit der Vorstellung einer ethnisch homogenen Gesellschaft, zu Intoleranz gegenüber anderen Völkern. Der extreme Moralismus bedeutet starke soziale Kontrolle und damit Einschränkung der individuellen Freiheit. Die ADÜTDF orientiert sich nicht nur historisch, sondern auch bei aktuellen gesellschaftlichen Themen an der MHP, einer Oppositionspartei im türkischen Parlament. So veröffentlicht die ADÜTDF auf ihrer Homepage regelmäßig Reden des derzeitigen MHP-Vorsitzenden, Devlet BAHCELI, und lädt ihn als Gastredner zu ihren Großveranstaltungen ein. Auch wenn sich die MHP weiterhin zu den von TÜRKES formulierten Grundsätzen bekennt, so ist sie unter BAHCELI weniger militant und erkennbar toleranter gegenüber Andersdenkenden. Neben BAHCELI sind auch andere MHP-Abgeordnete zu unterschiedlichen Anlässen Gast bei der ADÜTDF in Deutschland. Jedoch nicht alle Anhänger der ADÜTDF sind mit der momentan eher gemäßigten Linie der Partei und damit auch der Organisation in Deutschland einverstanden, die Aktionismus untersagt und von ihren Mitgliedern ein be128 herrschtes Auftreten erwartet. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 3.1.3 Struktur Als Dachverband auf europäischer Ebene wurde im Oktober 2007 in Frankfurt am Main die "Türkische Konföderation in Europa" ("Avrupa Türk Konfedarasyon", ATK) gegründet. Dieser gehören die nationalen Föderationen Deutschland, Belgiens, der Niederlande, Dänemarks, der Schweiz, Österreichs und Frankreichs an. Deutschland ist in der Organisationsstruktur der ADÜTDF in mehrere "Bölge" ("Gebiete") aufgeteilt. Baden-Württemberg, das die drei Gebiete "BW1" (Großraum Stuttgart), "BW2" (westlicher Teil des Landes) und "BW3" (südöstlicher Landesteil) umfasst, bildet neben Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen einen Schwerpunkt. Hier bestehen über 45 Ortsvereine, von denen die in Filderstadt, Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart und Wangen im Allgäu besonders aktiv sind. Bundesweit hat die Organisation circa 7.000 Mitglieder, in Baden-Württemberg sind es circa 2.070. Die Anhänger der nationalistischen Bewegung sind auch unter den Bezeichnungen "Ülkücüler" ("Idealisten") bekannt. Unter Jugendlichen ist die Selbstbezeichnung "Bozkurtlar" ("Graue Wölfe") verbreitet. 3.1.4 Aktivitäten Am 30. Mai 2009 fand in der Grugahalle in Essen der 26. Kongress der ADÜTDF mit mehreren Tausend Teilnehmern statt. Neben Sentürk DOGRUYOL, dem Vorsitzenden der ADÜTDF, hielt auch der aus der Türkei angereiste BAHCELI eine Rede. Des Weiteren traten Musiker auf, die für ihre Nähe zur MHP bekannt sind. In den Beiträgen wurde die türkische Identität der Anwesenden betont und die nationalistische Bewegung von TÜRKES glorifiziert. Zu den Zielen der ADÜTDF und zum innerhalb der Organisation vorherrschenden Selbstverständnis führte DOGRUYOL unter anderem aus: "Wir kämpfen für den Erhalt der nationalen und ideellen Werte der hiesigen türkischen Volksgemeinschaft und deren Weitergabe an die nachfolgenden Generationen. (...) Auch wenn sie [sc. die eingebürgerten Türken] deutsche Staatsbürger sind, so haben sie doch türkische Wurzeln und sind ehrenvolle Angehörige des großen türkischen Volkes. (...) Wir europäische Türken tragen den türkischen Ausweis mit Stolz und werden ihn auch weiterhin mit Stolz tragen." 211 211 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 27. November 2009. 129 BAHCELI lobte die hier lebenden Türken unter anderem wie folgt: "Wenn man bedenkt, dass jene fremden Gesellschaften, mit denen ihr zusammenlebt, Jahrhunderte lang die türkisch-islamischen Werte negiert haben, ist die Tatsache, dass ihr euch Anerkennung verschafft habt, eine große soziale Leistung." Das Ziel der im Ausland lebenden Türken müsse ein tadelloses und erfolgreiches Leben in ihren Aufenthaltsländern sein, doch sollten sie niemals ihre "nationalen Werte" und die "Bindungen an die Türkei" vergessen, so BAHCELI. Weiter betonte er, dass die "nationalistisch-idealistische Sache" die einzige Rettung der Türkei und der Türken sei. Im Nachgang zu dieser Hauptversammlung wurden die Gebietsleiter neu bestimmt, so auch in Baden-Württemberg. Die ADÜTDF und ihre Mitgliedsvereine waren auch im Jahr 2009 sehr darum bemüht, türkische Jugendliche für die nationalistische Bewegung zu gewinnen. So veranstaltete beispielsweise das ADÜTDF-Gebiet "BW1" im März in Stuttgart einen Wettbewerb im Singen der Nationalhymne für Kinder (6bis 12-Jährige) und Jugendliche (13bis 18-Jährige). Die Erstplazierten dieses Wettbewerbs durften kostenlos an einer jährlich von der ADÜTDF organisierten Türkeireise teilnehmen, die sie auch an das Grab von TÜRKES führte. Ebenfalls im März 2009 fand in Neckarweihingen/Krs. Ludwigsburg ein Wissenswettbewerb statt, an dem Jugendliche bis 19 Jahre aus Stuttgart und Umgebung teilnahmen. Bei derartigen Wissenswettbewerben geht es auch um Kenntnisse in der türkischen beziehungsweise der osmanischen Geschichte sowie um Kenntnisse in der Ideologie der nationalistischen Bewegung. Am 21. November 2009 fand in Filderstadt ein Jugendfest mit mehreren Hundert Teilnehmern statt, bei dem Mitglieder unterschiedlicher Idealistenvereine Sketche aufführten und Gedichte vortrugen sowie ein in ADÜTDF-Kreisen bekannter Sänger auftrat. In einer der Vorführungen wurden die Bedeutung des Wolfsgrußes und der drei Halbmonde mit dem Fazit erklärt, dass man diese Symbole ganz bewusst im Sinne des Idealismus verwenden solle.212 Im Oktober 2009 hielten die Jugendabteilungen der ADÜTDF-Vereine aus dem Gebiet "BW1" im Göppinger Idealistenverein eine Versammlung ab, an der der "BW1"-Gebietsleiter sowie Mitglieder des ADÜTDF-Lenkungsgremiums teilnahmen. Ebenfalls im Oktober besuchten die Jugendabteilun130 212 Internetauswertung vom 27. November 2009. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S gen aus dem Gebiet "BW2" die ADÜTDF-Zentrale in Frankfurt am Main, wo sie mit dem Generalvorsitzenden sowie weiteren Vorstandsmitgliedern zusammentrafen. Diese Versammlungen verdeutlichen den hohen Vernetzungsgrad sowie die starke Orientierung an Hierarchien innerhalb der Organisation. 3.1.5 Thematische Ausrichtung der ADÜTDF im Jahr 2009 Hauptsächlich zwei Themen bewegten die ADÜTDF und die Menschen in ihren Mitgliedsvereinen im Jahr 2009: zum einen die Situation des muslimischen Turkvolks der Uiguren in Westchina, zum anderen die "demokratische Öffnung" der türkischen Regierung. Als es im Juli 2009 zu Ausschreitungen zwischen Uiguren und Han-Chinesen im westchinesischen Xinjiang kam, reagierte die europäische Dachorganisation ATK mit einer Erklärung, die den Titel trug "Wir verurteilen die chinesische Tyrannei" und auf der Homepage der ADÜTDF veröffentlicht wurde.213 Darin ist die Rede von "türkische[n] Uiguren" und "unsere[n] Volksgenossen in Ostturkestan", was ein Zeichen für das Festhalten an der turanistischen Idee und damit der Vereinigung aller Turkvölker in einem fiktiven Land "Turan"214 ist. Anlässlich des 86. Jahrestages der Gründung der türkischen Republik am 29. Oktober 2009 veröffentlichte die ADÜTDF auf ihrer Homepage eine Erklärung der ATK, in welcher diese kritisch auf die "demokratische Öffnung" der türkischen Regierung eingeht. Hierbei handelt es sich um ein politisches Konzept der Liberalisierung, das vor allem zur Lösung der "Kurdenfrage" beitragen soll. Vorgesehen sind gesetzliche Neuregelungen, unter anderem auch in der Terrorismusbekämpfung. Die Anhänger der nationalistischen Bewegung sowohl in der Türkei als auch in Deutschland sehen darin einen Verrat an den Grundfesten der türkischen Republik. Sie befürchten nicht nur eine Gefahr für die Einheit ihres Landes, sondern auch für den Status des türkischen Volkes. Entsprechend heißt es in der Erklärung der ATK: "Es wird versucht, das türkische Volk zu einer Minderheit herabzustufen. Unsere Märtyrer und Veteranen, die für die Unteilbarkeit von Vaterland und Volk gekämpft und ihr Leben gelassen haben, werden nun mit jenen Terroristen, die unser Vaterland spalten wollen und Blut an den Händen haben, in ein und das213 Hier und im Folgenden: Homepage der ADÜTDF vom 15. Juli 2009. 214 "Turan" ist die Bezeichnung für eine mythische Landschaft in Zentralasien. 131 selbe Grab gebettet. (...) Terroristen mit blutverschmierten Händen werden wie Helden empfangen und nach einer Pseudovernehmung in die Freiheit entlassen." 215 3.1.6 Bewertung und Ausblick Nicht alle Anhänger der nationalistischen Bewegung beziehungsweise nicht alle "Idealisten" ("Ülkücüler") sind in der ADÜTDF und ihren Mitgliedsvereinen organisiert. Dabei handelt es sich vor allem um jene, die sich nicht mit der gegenwärtigen Linie der MHP und damit der ADÜTDF identifizieren können, sondern eine Rückbesinnung auf den viel polarisierenderen und aggressiveren Politikstil zu Zeiten von TÜRKES fordern. Diese Lagerbildung ist so weit fortgeschritten, dass es im Mai 2009 bei Auftritten eines als BAHCELI-Gegner bekannten Sängers aus der Türkei zu Auseinandersetzungen unter den "Idealisten" kam. Weitere derartige Auseinandersetzungen fanden am 1. Juni 2009 in Stuttgart statt. Noch ist ungewiss, ob die derzeitige Führung der ADÜTDF bei ihrer gemäßigten Linie bleibt oder ob sie auf jene Stimmen innerhalb der nationalistischen Bewegung reagiert, die sich eine radikalere politische Positionierung wünschen. 3.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung: 30. März 1994 in Damaskus/Syrien nach Spaltung der 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke). In Deutschland seit 13. August 1998 verboten. Leitung: Funktionärsgruppe um den Generalsekretär; nach dem Tod von Generalsekretär Dursun KARATAS am 11. August 2008 ist noch kein Nachfolger benannt Mitglieder: ca. 65 Baden-Württemberg (2008: ca. 70) ca. 650 Deutschland (2008: ca. 650) Publikationen: "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke), erscheint unregelmäßig, "Yürüyüs" (Marsch), erscheint wöchentlich Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) ist aus der 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") 132 215 Homepage der ADÜTDF vom 29. Oktober 2009. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S hervorgegangen. Sie wurde am 13. August 1998 durch den Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. Die Organisation ist in der Türkei terroristisch aktiv und zielt auf eine gewaltsame Zerschlagung der bestehenden türkischen Staatsund Gesellschaftsordnung. Sie propagiert das Endziel einer sozialistischen Gesellschaft ohne Klassen. Anders als in der Türkei agiert sie in Europa seit 1992 gewaltfrei. Der Organisation gehören in BadenWürttemberg noch etwa 65 Personen an, die hauptsächlich im Großraum Stuttgart aktiv sind. Die intensiven Strafverfolgungsmaßnahmen der letzten Jahre mit Durchsuchungen, Festnahmen und Verurteilungen wichtiger Führungsfunktionäre haben die DHKP-C nachhaltig geschwächt. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Bereich den vor den Oberlandesgerichten Stuttgart und Düsseldorf anhängigen Strafverfahren zu, in denen die Anklage auch auf dem Tatvorwurf des SS 129b Strafgesetzbuch beruht. Danach ist die Gründung und die Mitgliedschaft sowie das Unterstützen oder Werben für eine terroristische Vereinigung, die im Ausland besteht, in Deutschland unter Strafe gestellt. Die kommunistische Ausrichtung der Gruppierung hat auch die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland zum Ziel und gefährdet auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 3 Abs. 2 Ziff. 1 und 3 LVSG. 3.2.1 Historie und Charakterisierung Der Ursprung der heutigen "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) liegt im revolutionären Aufbruch von 1968. Das im Lauf der Jahre aus verschiedenen linksextremistischen türkischen Organisationen hervorgegangene revolutionäre Potenzial gründete 1978 mit der "Devrimci Sol" eine neue politisch-militärische Organisation. Diese verfolgte insbesondere das Ziel, in der Türkei einen Umsturz der dortigen politischen Verhältnisse herbeizuführen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. 133 Die "Devrimci Sol" war seit ihrer Gründung im Jahr 1978 in der Türkei terroristisch aktiv. Vor allem Anfang der 1980er-Jahre verübte sie zahlreiche Bombenanschläge gegen militärische und staatliche Einrichtungen, organisierte illegale Massendemonstrationen und Straßenkämpfe und beging Attentate auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Die "Devrimci Sol" wird für weit über 200 Tötungsdelikte verantwortlich gemacht, zu denen sie sich in der Regel auch bekannte. Als terroristisch-linksextremistische Organisation wurde sie 1980 in der Türkei und am 27. Januar 1983 (bestandskräftig seit 1989) durch den Bundesminister des Innern in der Bundesrepublik Deutschland verboten, nachdem von ihr massive und äußerst gewalttätige Ausschreitungen ausgegangen waren. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und persönliche Dispute führender Funktionäre spalteten die konspirativ agierende "Devrimci Sol" Ende 1992 in zwei konkurrierende und alsbald verfeindete Flügel, obwohl beide die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele hatten. Fortan bezeichneten sich die beiden rivalisierenden Fraktionen nach ihren damaligen Führungsfunktionären Dursun KARATAS und Bedri YAGAN als "KARATAS"beziehungsweise "YAGAN"-Flügel. Mit dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" hat der "KARATAS"-Flügel, der sich seitdem DHKP-C nennt, endgültig die organisatorische Trennung vollzogen. 3.2.2 Ideologie Die DHKP-C sieht sich als Erbe der "Devrimci Sol" und hält an deren ideologischen Leitgedanken fest. Der Bundesminister des Innern bewertete deshalb 1998 die DHKP-C als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" und bezog sie in das frühere Verbot mit ein. Die Anfechtungsklage der DHKP-C hiergegen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am 1. Februar 2000 letztinstanzlich ab.216 Erklärtes Ziel ist die Beseitigung des türkischen Staats in seiner jetzigen Form. Dieser soll durch ein marxistisch-leninistisches System ersetzt werden, das schließlich in die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft münden soll. Die Organisation versteht es als "heilige Pflicht", gegen die "Tyrannei und Ausbeutung" in der Türkei zu kämpfen. Dazu bedient sich die DHKP-C auch des bewaffneten Kampfes. Angriffsziele sind nicht nur der türkische Staat und dessen Organe, sondern auch andere "Feinde des Volkes", zu denen die DHKP-C in erster Linie den "US-Imperialismus" zählt. 134 216 BVerwG Az.: 1 A 4.98 vom 1. Februar 2000. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 3.2.3 Struktur Die DHKP-C gliedert sich in einen politischen Flügel, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) und einen militärischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). An der Spitze der DHKP-C steht das Zentralkomitee, das von KARATAS bis zu dessen Tod am 11. August 2008 geleitet wurde. Seitdem hat die Organisation keinen neuen Generalsekretär ernannt. An der Spitze der Europaorganisation steht der von der Parteiführung eingesetzte Europaverantwortliche mit seinen Stellvertretern. Zur Führung in der Bundesrepublik Deutschland zählen neben dem Deutschlandverantwortlichen und dessen Vertretern die Regionsund Gebietsverantwortlichen sowie weitere, mit Sonderaufgaben betraute Funktionäre, wie die Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit. Die Deutschlandorganisation ist zwar dem Zentralkomitee der DHKP-C gegenüber für die Ausführung der von dort geplanten und angeordneten Maßnahmen und Aktionen verantwortlich, mit denen der "Kampf" in der Türkei unterstützt werden soll. Die konkrete Umsetzung obliegt jedoch den Führungskadern der Deutschlandorganisation. In diesem Netzwerk von Kontrollund Verbindungsinstanzen wird die Organisation in den einzelnen Ebenen von ideologisch geschulten und äußerst konspirativ auftretenden Führungsfunktionären geleitet. Für die Umsetzung von Vorgaben der Führungsspitze und den Informationsfluss zur Basis bedient sich die DHKP-C der örtlichen DHKP-C-nahen Vereine, die den Anhängern zwar als Treffpunkte und Anlaufstellen dienen, deren Satzungen jedoch keinen Rückschluss auf die Organisation zulassen. Der Tätigkeitsschwerpunkt in Baden-Württemberg liegt im Großraum Stuttgart. 3.2.4 Aktivitäten n Veranstaltungen Zusammenkünfte von Aktivisten und Großveranstaltungen verlagerte die Organisation zunehmend ins benachbarte Ausland. So fanden zuletzt die traditionelle Veranstaltung zum Parteigründungstag am 21. April 2009 in Frankreich, ein Sommerlager im Juni 2009 in Österreich sowie eine als Familienund Jugendcamp getarnte Veranstaltung Ende Juli/Anfang August 2009 in Frankreich statt. 135 n Printmedien Seit ihrer Gründung veröffentlicht die DHKP-C regelmäßig türkischsprachige Publikationen, aktuell die "Yürüyüs" (Marsch), wobei sie es aber stets vermied, als Herausgeber oder Autor in Erscheinung zu treten. Die Inhalte dieser Zeitschriften spiegeln jedoch im Wesentlichen die politischen Aussagen und Einschätzungen der DHKP-C wider. Deshalb konnten sie bisher durchweg der DHKP-C zugeordnet werden und wurden verboten beziehungsweise als Nachfolgepublikation in das bereits bestehende Verbot einbezogen. Die seit März 1980 bestehende Publikation "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke) ist durchgängig durch politische Aussagen geprägt, die sich mit der Ideologie der DHKP-C decken. In der 20. Ausgabe gab sie in einer Erklärung bekannt: "Wir müssen uns bewaffnen, um unseren Krieg zu verstärken! Die Waffe ist der Ausdruck für unseren Anspruch auf die Herrschaft und unser Ziel der Revolution. Die Waffe ist notwendig, um den Imperialismus zu vernichten und die Volksherrschaft zu gründen sowie die erlangte Volksherrschaft zu erhalten! (...) Wir lieben die Waffe, weil sie uns bei der Bestrafung der Volksfeinde und bei der Durchsetzung der Gerechtigkeit hilft! (...) Die Waffe stellt sicher, dass wir unsere Gefallenen rächen können. Sie ebnet unseren Weg zur Revolution! (...) Wenn ein Kadermitglied, das jahrzehntelang seinen Platz im revolutionären Kampf einnahm, niemals Waffen in die Hand genommen hat und nicht die geringste Ahnung von Waffen hat, zeigt dies, dass es sich selbst nicht als Mitglied einer Kriegsorganisation betrachtet!" 217 Weitere inhaltliche Bezüge zur DHKP-C ergeben sich aus den Berichten zu DHKP-CMitgliedern und -"Märtyrern", der allgemeinen Berichterstattung über Aktivitäten der Gruppierung sowie den Erklärungen zu den von der DHKP-C verübten Anschlägen in der Türkei. Redaktion, Druck und Vertriebswege der "Devrimci Sol" sind weitgehend unbekannt. 136 217 "Devrimci Sol" Nr. 20 vom April 2009, S. 25, Arbeitsübersetzung. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S n Internet Auf der in türkischer Sprache verfassten Homepage der DHKP-C findet sich neben aktuellen Artikeln ein vollständiges Archiv der bisher erschienenen Erklärungen. Anders als bei ihrer Zeitschrift werden Veröffentlichungen auf dieser Homepage stets im Namen der "Partei" oder ihrer Frontorganisation abgegeben. 3.2.5 Finanzierung Die DHKP-C finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spendensammlungen in den Reihen der Anhänger und dem Verkauf von Tonträgern. Die Herausgabe gedruckter Publikationen verursacht eher Defizite. Einen maßgeblichen Beitrag zur Finanzierung dürften die Einnahmen aus Musikund Kulturveranstaltungen leisten. Die Spendenbereitschaft der Anhänger ist in den letzten Jahren zurückgegangen, was zu einer anhaltenden finanziellen Misere der Organisation geführt hat. Wie in den vergangenen Jahren konnte der Zielbetrag der jährlichen Spendenkampagne auch im Jahr 2009 bei weitem nicht erreicht werden. Trotz der finanziellen Engpässe scheint es aber nicht zu Spendengelderpressungen zu kommen. 3.2.6 Strafverfahren Das am 17. März 2008 vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart begonnene Strafverfahren gegen fünf mutmaßliche Führungsfunktionäre der DHKP-C wegen Verdachts der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung (SS 129b StGB218) nahm im Juli 2009 insofern eine unerwartete Wendung, als aufgrund von Teilgeständnissen der Angeklagten Mustafa A., Ilhan D. und Hasan S. das gegen sie gerichtete Verfahren abgespalten und am 7. August 2009 durch Urteil in erster Instanz beendet werden konnte.219 Die genannten drei Angeklagten hatten eingeräumt, sich in Kenntnis der Programmatik der DHKP-C für die Organisation engagiert zu haben, insbesondere durch Bereitstellung von Pkws und Fälschung von Dokumenten. Mustafa A. wurde zu fünf Jahren, Ilhan D. zu drei Jahren und sechs Monaten und Hasan S. zu zwei Jahren und elf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das Urteil wurde Revision eingelegt. Das nunmehr noch gegen Ahmet Düzgün Y. und Devrim G. gerichtete Ausgangsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. 218 SS 129b StGB erstreckt die Strafbarkeit nach SS 129a StGB bei inländischen terroristischen Vereinigungen auf solche im Ausland. 219 Az. 6-2St-E/07-b. 137 3.2.7 Ausblick Seit der Gewaltverzichtserklärung von KARATAS Anfang 1999 sind keine gewaltsamen Aktionen im Bundesgebiet mehr festzustellen. Jedoch bezieht sich der Gewaltverzicht lediglich auf Deutschland und Europa, nicht aber auf die Türkei. So verübte die DHKP-C am 29. April 2009 durch ihren militärischen Arm an der Universität Bilkent in Ankara/Türkei einen Anschlag auf den ehemaligen Justizminister. Der Anschlag schlug fehl, die Attentäter konnten festgenommen werden. Der in Strafverfahren und Exekutivmaßnahmen im Bundesgebiet manifestierte anhaltende Ermittlungsdruck der Sicherheitsbehörden trägt dazu bei, die Organisation in Deutschland zu schwächen. Insgesamt fällt die politische Botschaft der DHKP-C immer weniger auf fruchtbaren Boden. Zwar versammeln sich zu großen Veranstaltungen immer noch mehrere Hundert Personen, jedoch kommen viele der Teilnehmer dabei nicht aus politischen Gründen, sondern lediglich wegen des musikalischen und kulturellen Rahmenprogramms. Ob die Organisation auch in Zukunft am Gewaltverzicht festhalten wird, ist derzeit nicht sicher. Eine unbekannte Größe stellt insofern die Person des noch zu wählenden neuen Generalsekretärs der DHKP-C dar. Bei entsprechender Vorprägung ist es durchaus möglich, dass er wieder zu militantem Vorgehen auch in Deutschland und Europa tendiert. Darüber hinaus herrscht in der DHKP-C die Auffassung, dass der Gewaltverzicht von den deutschen staatlichen Stellen nicht honoriert wird, was sich unter anderem in dem bereits erwähnten, fortdauernden Ermittlungsdruck äußere. Um einer weiteren Schwächung der DHKP-C entgegenzuwirken, ist es bei dieser Sachlage möglich, dass auch grundsätzliche Änderungen einschließlich der Aufhebung des Gewaltverzichts für Deutschland erfolgen. 3.3 Sonstige türkische linksextremistische Organisationen Das erklärte Ziel der in Deutschland nicht verbotenen türkischen kommunistischen Gruppierungen "Türkische Kommunistische Partei/ Marxisten-Leninisten" (TKP/ML), "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP), "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) und weiterer Splitterorganisationen ist es, das türkische Staatsgefüge durch eine gewaltsame Revolution zu beseitigen und auf dem Weg zum Kommunismus eine Diktatur des Proletariats zu errichten. Neben den konspirativen Parteistrukturen existieren in Deutschland 138 und Europa auch offen agierende Basisorganisationen. Zu den wich- A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S tigsten Finanzierungsquellen dieser Organisationen und der Guerilla im Heimatland zählen die jährlich im Herbst beginnenden Spendenaktionen und die Erlöse aus Kulturveranstaltungen sowie dem Verkauf von Publikationen. Diese kommunistisch ausgerichteten Gruppierungen haben letztlich die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel und gefährden auch die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des SS 3 Abs. 2 Ziff. 1 und 3 LVSG. 3.3.1 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 315 Baden-Württemberg (2008: ca. 315) ca. 1.300 Deutschland (2008: ca. 1.300) Die Organisation ist in folgende Flügel gespalten: "Partizan" (im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP/ML" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 120 Baden-Württemberg (2008: ca. 120) Militärische Teilorganisation: "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg der neuen Demokratie) und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) bis Ende 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee" (DABK) (im schriftlichen Sprachgebrauch früher "TKP(ML)" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 195 Baden-Württemberg (2008: ca. 195) Militärische Teilorganisation: "Volksbefreiungsarmee" (HKO); übt auf dem Gebiet der Türkei Guerillaktionen aus Publikation: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) Seit 1994 ist die von Ibrahim KAYPAKKAYA 1972 gegründete, in der Türkei verbotene TKP/ML in zwei miteinander konkurrierende Fraktionen gespal139 ten. In ihrer Schreibweise unterschieden sich die beiden Flügel zunächst nur geringfügig: TKP/ML für den Partizanund TKP(ML) für den DABK-Flügel. Letzterer benannte sich auf seinem 1. Kongress220 in MKP um. Damit die Abgrenzung von der TKP/ML in der Öffentlichkeit bekannt wurde, führte die MKP bezüglich der Namensänderung in Deutschland ein internationales Symposium durch.221 Aber auch diese Umbenennung brachte bis heute keine wesentliche Neuausrichtung in ideologischer Hinsicht. In ihrer Denkweise auf den von KAYPAKKAYA propagierten Marxismus-Leninismus mit maoistischen Elementen gestützt, zielen beide Parteien auf die gewaltsame Zerschlagung des türkischen Staates und die Errichtung einer "demokratischen Volksregierung". Zur Umsetzung dieses Ziels unterhalten die Gruppierungen jeweils eigene Guerillaeinheiten, die in der Türkei terroristische Anschläge verüben. Wie bereits in den Vorjahren wurden die beiden Gruppierungen bei der Durchführung von Veranstaltungen, Demonstrationen und sonstigen Aktionen in Europa von ihnen thematisch nahe stehenden Organisationen unterstützt. Bei der TKP/ML-Partizan handelt es sich dabei in Deutschland um die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF) und deren Dachorganisation auf Europaebene "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK); bei der MKP haben die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF) und die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK) die entsprechenden Funktionen inne. Wie in der Vergangenheit bemühen sich diese Dachverbände, in der Öffentlichkeit keinen eindeutigen Bezug zu den in der Türkei verbotenen Mutterparteien erkennen zu lassen. Auch im Jahr 2009 führten beide Gruppierungen Gedenkveranstaltungen zu Ehren des Parteigründers der TKP/ML durch. In Köln organisierte die MKP eine solche am 23. Mai 2009 unter dem Motto "Im 37. Jahr unseres Kampfes gedenken wir des kommunistischen Führers KAYPAKKAYA. Wir gedenken der Märtyrer der Partei und der Revolution!". Daran nahmen etwa 220 Dieser Kongress wurde im Herbst 2002 in der Region Dersim in Ostanatolien/Türkei durchgeführt. 140 221 Das Symposium fand im Jahr 2003 in Eltville am Rhein/Hessen statt. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 1.200 Personen teil. Ebenfalls zum Gedenken an den 36. Todestag von KAYPAKKAYA führte die TKP/ML-Partizan am 9. Mai 2009 in der FriedrichEbert-Halle in Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) eine Saalveranstaltung durch. Die für Deutschland zentral abgehaltene Veranstaltung wurde von circa 3.000 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet und dem angrenzenden Ausland besucht. An mehreren Info-Ständen boten zahlreiche linksextremistische Organisationen, darunter die MLKP, die "MarxistischLeninistische Partei Deutschlands" (MLPD)222 und die PKK einschlägige Publikationen und Literatur zum Kauf an. In einem von dem Politbüro des Zentralkomitees der TKP/ML unter dem Motto "Unsere Partei steht auch nach 37 Jahren konsequent zu ihrer militanten und kämpferischen Identität!" in deutscher und türkischer Sprache verteilten Flugblatt bekannte sich der "Partizan-Flügel" unverändert zum Marxismus-Leninismus-Maoismus und dem in der Türkei praktizierten bewaffneten "Volkskrieg". In dem Flugblatt kam die in der Parteisatzung verankerte Charakterisierung der Organisation als "eine selbstbewusste, bewaffnete und politische Partei", die die bekannten Ziele des Marxismus-Leninismus-Maoismus verfolge, zum Ausdruck.223 Eine anlässlich der Bundestagswahl 2009 im Internet zu Gunsten der MLPD veröffentlichte "Gemeinsame Erklärung" der Dachorganisationen ATIF, AGIF224 und der Plattform BIR-KAR225, endete mit dem Aufruf: "Unterstützt die Wahlkampagne der MLPD zu den Bundestagswahlen - wählt die revolutionäre Alternative MLPD! Für die Einheit von deutschen und migrantischen Arbeitern! Hoch die internationale Solidarität!" 226 Die alljährlich im Herbst stattfindenden Spendenkampagnen beider Organisationen dienen vorwiegend der Stärkung und Konsolidierung der Parteien und der Finanzierung des Guerillakriegs in der Türkei. 222 Siehe Kap. E, 3.4. 223 Internetauswertung vom 26. November 2009. 224 Siehe Kap. C, 3.3.2. 225 Plattform der Einheit der Arbeiter und der Brüderlichkeit der Völker. 226 Internetauswertung vom 20. Juli 2009. 141 3.3.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Anhänger: ca. 235 Baden-Württemberg (2008: ca. 235) ca. 600 Deutschland (2008: ca. 600) Publikation: "Partinin Sesi" (Stimme der Partei), zweimonatlich Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) wurde im September 1994 auf einem Einheitskongress durch den Zusammenschluss der "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML-Hareketi) und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) gegründet. Ideologisch bekennt sie sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Erklärtes Ziel der Organisation ist es, das türkische Staatsgefüge durch eine gewaltsame Revolution zu beseitigen und auf dem Weg zum Kommunismus eine Diktatur des Proletariats zu errichten. Eigenen Angaben zufolge versteht sich die MLKP als die politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten. In der Türkei gilt die Bewegung als eine illegale Organisation, die den Straftatbestand der "bewaffneten Bande" erfüllt. Um ihren Anhängern und Sympathisanten Informationen zu übermitteln, publizieren die MLKP und die ihr thematisch nahe stehenden Organisationen "Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa" (AvEG-KON) und "Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V." (AGIF) regelmäßig Artikel in der politischen Wochenzeitung "Atilim" (Angriff). Darüber hinaus veröffentlicht diese Zeitung auf ihrer Homepage Erklärungen der genannten Organisationen mit dem Zusatz "Auf elektronischem Wege haben wir erhalten (...)" 227 Parteiorgane zur Veröffentlichung von Botschaften sind die zweimonatlich erscheinende "Partinin Sesi" (Stimme der Partei) sowie eine eigene Website, auf der die Informationen in mehreren Sprachen abrufbar sind. In der Türkei werden die "Bewaffneten Einheiten der Armen und Unterdrückten" (F.E.S.K.) von den türkischen Sicherheitsbehörden als bewaffneter Arm der MLKP angesehen. Anlässlich der Feierlichkeiten zu ihrem 15. Jahrestag veröffentlichte das Zentralkomitee der MLKP auf deren Homepage am 17. August 2009 in deutscher Sprache eine Erklärung228, in der es unter anderem hieß: 227 Internetauswertung vom 8. September 2009, Arbeitsübersetzung. 142 228 Internetauswertung vom 23. November 2009. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S "(...) MLKP heißt Rebellion, Aufstand in Gazi, Kampf um die Verschwundenen, Angriff in Sultanbeyli, Konferenz der Mütter, Streik und Widerstand in Tuzla, Protest gegen den NATO-Gipfel, Boykott, Besetzung und Barrikaden, die explodierende Wut der Unterdrückten." In Deutschland feierten die Anhänger der MLKP den 15. Jahrestag der Gründung am 17. Oktober 2009 in Leverkusen. An dieser Veranstaltung nahmen etwa 4.000 Personen aus Deutschland, Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz teil. Ein Redner sprach über die Geschichte der MLKP und informierte die Anwesenden über die Beschlüsse des 4. Parteikongresses. Nach einer im Internet veröffentlichten Verlautbarung 229 des Zentralkomitees der MLKP wurde dieser 4. Parteitag vom 15. August bis 1. September 2009 durchgeführt.230 Es erging folgender Appell an die "Arbeitsmigranten und werktätigen Migranten": "(...) Der 4. Parteitag der MLKP ruft euch dazu auf, aufmerksam gegenüber dem Klassenkampf des jeweiligen Landes zu sein, in dem ihr lebt und gegen Kapitalismus und Imperialismus für Freiheit und Sozialismus zu kämpfen. (...)" Anlässlich ihres 4. Parteitages habe die MLKP nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa Aktionen durchgeführt. Weiter hieß es: "Auch in Stuttgart, Gießen, Wuppertal, Ulm sowie London und Paris begrüßten unsere MLKP und unsere 'Kommunistische Jugendorganisation' (KGÖ) den 4. Kongress mit Flugblättern, Plakaten und Aktionen. Sie gratulierten zum 15. Jahrestag des Kampfes." Sehr deutlich zeigten die Anhänger der MLKP ihre Gewaltbereitschaft während des NATO-Gipfels am 3. und 4. April in Straßburg. Dort schlossen sie sich den NATO-Gegnern und den Aktionen des sogenannten schwarzen Blocks an. Die sehr ausgeprägte Militanz offenbaren auch die MLKP-Milizen in der Türkei. In einer Veröffentlichung im Internet hieß es: "(...) MLKP-Milizen haben gestern Abend die 1. Mai-Strasse in den Stadtteilen Esenler und Bahcelievler in Istanbul mit Molo229 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 23. November 2009, Übernahme wie im Original. 230 Ein Veranstaltungsort wurde in dieser Verlautbarung nicht angegeben. 143 tow-Cocktails gesperrt und mit der Waffe in der Hand das 15. Gründungsjahr begrüßt. Hierbei wurden Transparente getragen, auf denen gestanden hat, dass der 4. Kongress der MLKP begrüßt werde." 231 Zu den wichtigsten Finanzierungsquellen der MLKP, der ihr nahe stehenden Basisorganisationen und der MLKP-Milizen zählen die jährlich im Herbst beginnende Spendenaktion und die Erlöse aus Kulturveranstaltungen sowie dem Verkauf von Publikationen. Die Gelder setzt die MLKP auch zur Unterstützung ihrer in der Türkei inhaftierten Gefangenen ein. 4. Bestrebungen ethnischer Albaner Aufgrund des Verfolgungsdrucks serbischer Sicherheitskräfte gegen die albanische Bevölkerung kamen seit Anfang der 1980er Jahre eine Vielzahl von Personen aus der Krisenregion Kosovo nach Deutschland und auch nach Baden-Württemberg. Darunter waren auch Anhänger extremistischer Organisationen. Sie nutzten Deutschland vor allem als Rückzugsraum und Finanzierungsbasis. Auch nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 agieren in Baden-Württemberg weiterhin Zirkel extremistischer kosovo-albanischer und mazedonischer Gruppierungen, allerdings in deutlich geringerem Umfang als in früheren Jahren. 4.1 Volksbewegung von Kosovo (LPK) Anhänger der nur noch in Reststrukturen in Baden-Württemberg existierenden linksextremistischen "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) beteiligten sich überwiegend an Gedenkveranstaltungen zu Ehren der im Kosovokrieg (1999) getöteten Kämpfer der von der Organisation unterstützten "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK) und an "Unabhängigkeitsfeiern", wie denen am 15. Februar 2009 in Rastatt und am 21. Februar 2009 in Ludwigsburg. Wie in den Vorjahren wurde im Rahmen einer Feierstunde am 21. Januar 2009 in Stuttgart der im Januar 1982 in Untergruppenbach/Krs. Heilbronn ermordeten drei Funktionäre232 der Organisation gedacht. 231 Internetauswertung vom 3. November 2009, Arbeitsübersetzung. 232 Die Getöteten waren Mitbegründer der ehemaligen "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ), die später in "Volksbewegung von Kosovo" um144 benannt wurde. Sie wurden vermutlich von Angehörigen des damaligen jugoslawischen Geheimdienstes erschossen. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Die seit längerer Zeit schwelenden ideologischen Streitigkeiten wegen einer Umbenennung der Organisation und deren zukünftiger Ausrichtung haben sich unvermindert fortgesetzt. So kam es bereits im Vorfeld einer LPK-Delegiertenversammlung am 30. und 31. Mai 2009 in Pristina/Kosovo zu öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen über den künftigen Kurs der LPK. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Frage einer Umwandlung der LPK in eine politische Partei. Auf der Versammlung einigten sich führende Funktionäre darauf, ihre Organisation in eine Partei mit der Bezeichnung "Sozialistische Partei Kosovos" (PSK) umzubenennen. Gegner der Umbenennung - die "Hardliner" der LPK, unter anderem auch die LPK-Sektion Ausland - reagierten ihrerseits mit öffentlichen Verlautbarungen. In einer Presseerklärung vom 4. Juni 2009 hieß es: "(...) es muss deutlich gemacht werden, dass die zurückliegende 8. LPK-Ratsversammlung vom 30.05.2009 in Pristina, wo behauptet wurde, dass die LPK in eine Sozialistische Partei des Kosovo umgewandelt wird, einen krassen Verstoß gegen die Statuten der LPK darstellt und dass gegen den Willen der Mehrheit der LPK-Mitglieder gehandelt wurde (...). Wir werden es niemandem verbieten, eine neue Partei zu gründen, aber wir werden uns wehren und nicht zulassen, dass jemals die LPK aufgelöst wird, so lange das Programm der LPK zur Herstellung der albanischen Einheit nicht realisiert worden ist (...). Unser Wille ist, dass die LPK ihre Ziele weiter verfolgt, auch ohne die, die unsere Sache sabotieren wollen." 233 Am 14. Juni 2009 wurde in Pristina der Vorstand der neuen Partei gewählt, in den auch Delegierte aus dem Ausland, unter anderem aus Süddeutschland, gewählt wurden. Zu der Frage der Umbenennung trafen sich LPK-Funktionäre am 17. Juli 2009 im Raum Heidelberg zu einem ersten Gedankenaustausch. 4.2 "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) Funktionäre der FBKSH fanden sich aufgrund restriktiver Maßnahmen von Sicherheitsbehörden in der Schweiz, in Belgien, Österreich und Deutschland lediglich konspirativ in kleinen Zirkeln zusammen, unter anderem im Raum Heidelberg. Die FBKSH versteht sich als politischer Arm der nach wie vor in Mazedonien und Kosovo existierenden "Albanischen Nationalarmee" (AKSH), deren erklärtes Ziel die Vereinigung aller albanischen Siedlungsgebiete in einem "Großalbanien" ist. In verschiedenen Kommuni233 Übernahme wie im Original. 145 ques betonten die Verantwortlichen wiederholt, dass trotz der Unabhängigkeit des Kosovo der Anspruch auf ein "Großalbanien" bestehen bleibe. Ähnliche Richtungsstreitigkeiten wie bei der "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) zeichnen sich ebenfalls innerhalb der FBKSH ab. Vor dem Hintergrund der Frage, ob die FBKSH im Kosovo eine politische Partei gründen solle, veröffentlichte das "Entscheidungssekretariat der FBKSH" auf einer dieser Organisation zuzurechnenden Internetseite234 ein "End-Kommunique" mit der Anweisung, vorerst alle Aktivitäten der FBKSH und ihres militärischen Arms, der AKSH, einzustellen. Auf der FBKSH-Homepage 235 hat der "Zentralvorstand der FBKSH im Kosovo" hingegen dieser Anweisung widersprochen und das "End-Kommunique" für nichtig erklärt. Wie auch bei der LPK sehen viele Anhänger der FBKSH durch die Gründung einer politischen Partei die Gefahr, dass die Vereinigung aller Albaner und damit das primäre Ziel der Organisationen aufgegeben würde. Der Präsident der FBKSH im Kosovo hat dennoch die neue Partei "Demokratische Front der nationalen Einheit" (FDBK) gegründet. Der Vorstand der FBKSH in Deutschland ist ebenfalls gespalten. Bei einer Sitzung am 28. Juni 2008 in Düsseldorf hat ein Teil des Führungszirkels die Neugründung beraten. In einer Veröffentlichung des "Sicherheitsdienstes" der FBKSH, der "Sigurimi Kombetar Shqiptare" (SKSH), wurden Funktionäre aus Deutschland unter anderem des Verrats und der Veruntreuung von Spendengeldern bezichtigt. Dem Sekretär der FBKSH in Deutschland aus dem Raum Heidelberg unterstellte man neben der Unterschlagung von Geldern auch die Zusammenarbeit mit einem deutschen Nachrichtendienst. 234 Internetauswertung vom 28. Mai 2009. 146 235 Internetauswertung vom 28. Mai 2009. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S 5. Sikh-Organisationen n "Babbar Khalsa International" (BKI) Gründung: 1978 in Indien Sitz: Düren (Nordrhein-Westfalen) Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (2008: ca. 30) ca. 200 Deutschland (2008: ca. 200) n "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main Im Juni 2007 Umbenennung in "Sikh Federation Germany" (SFG) Sitz: Offenbach am Main Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2008: ca. 80) ca. 550 Deutschland (2008: ca. 550) n "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: ca. 15 Baden-Württemberg (2008: ca. 15) ca. 40 Deutschland (2008: ca. 40) Die im indischen Bundesstaat Pandschab lebenden Sikhs kämpfen seit über 20 Jahren für einen eigenen Staat "Khalistan" (Land der Reinen). In der Zeit der britischen Kolonialherrschaft waren es Angehörige der Volksgruppe der Sikhs, die in der britischen Armee und in der Verwaltung aufgrund ihrer Zuverlässigkeit herausragende Posten besetzen konnten. Aus Dank für ihre Loyalität wurde ihnen zugesagt, nach der Beendigung der Kolonialzeit einen eigenen Staat gründen zu können. Tatsächlich aber blieb dieses Versprechen in der indischen Verfassung unerwähnt. Die Bestrebungen extremistischer Sikhs führten im Zusammenhang mit der gewünschten Gründung des Staates "Khalistan" zu unzähligen ge147 walttätigen Übergriffen von "Sikh-Kämpfern" und Auseinandersetzungen mit indischen Sicherheitskräften. Dabei wurde eine Vielzahl von Separatisten festgenommen oder getötet. Höhepunkt war der Sturm indischer Truppen auf das religiöse Heiligtum der Sikhs, den Heiligen Tempel von Amritsar, im Jahre 1984. Wegen des anhaltenden Verfolgungsdrucks flohen viele Sikhs ins Ausland. Dort gründeten sie Auslandsorganisationen ihrer Mutterorganisationen im Heimatland. Die Bestrebungen extremistischer Sikhs, im indischen Bundesstaat Pandschab einen eigenen Staat "Khalistan" (Land der Reinen) zu gründen, führten in den vergangenen 20 Jahren zu unzähligen gewalttätigen Übergriffen von "Sikh-Kämpfern" und Auseinandersetzungen mit indischen Sicherheitskräften, bei denen eine Vielzahl von Separatisten festgenommen oder getötet wurde. In den vergangenen Jahren wurden viele Aktivisten der "International Sikh Youth Federation" (ISYF) und der "Babbar Khalsa" (BKI) aufgrund des Vorwurfs inhaftiert, Bombenanschläge verübt zu haben. Dadurch erhielten diese Organisationen zumindest im Heimatland vermehrt Zulauf von Sympathisanten. Terroristische Aktivitäten außerhalb Indiens sind in den letzten Jahren dagegen nicht bekannt geworden. Aufgrund ihrer gewalttätigen Aktionen in Indien wurde die ISYF dort verboten. Außerdem ist die ISYF in Großbritannien durch den "Terrorism Act 2000" verboten. Sowohl die "Babbar Khalsa" (BKI) als auch die ISYF wurden von der Europäischen Union in die Liste der terroristischen Organisationen aufgenommen. Starke Auslandsgruppen von Sikhs bestehen in Kanada, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Großbritannien. Dort sind überwiegend Aktivisten der in verschiedene Flügel gespaltenen ISYF und der "Babbar Khalsa International" (BKI) aktiv, die untereinander und auch zu entsprechenden Stützpunkten in Deutschland enge Kontakte unterhalten. Die BKI hat sich in Deutschland aufgrund langjähriger Streitigkeiten unter den Führungsfunktionären gespalten. So wurde bereits im September 2008 im Sikhtempel Frankfurt am Main die "Babbar Khalsa Germany" (B.K.G.) neu gegründet. Politische Meinungsverschiedenheiten der Organisationen werden in der Regel in den Versammlungsstätten der Sikhs, den "Gurdwaras" (Tempeln), ausgetragen. Oftmals versuchen Funktionäre der einzelnen Gruppierungen, ihren Einfluss in den Tempelkomitees auszuweiten. Dabei kommt es immer wieder zu Gewaltanwendungen oder Einschüchterungen. Die wichtigsten Sikhtempel in Deutschland befinden sich in Frankfurt am Main und in Köln. Daneben gibt es unter anderem Tempel in Hamburg, München, 148 Stuttgart und Mannheim. A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S Die in Baden-Württemberg lebenden Anhänger extremistischer Sikhgruppierungen beteiligten sich auch im Jahre 2009 wieder an den traditionellen Protestdemonstrationen vor dem indischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main. Bei diesen Veranstaltungen wurde beispielsweise am 26. Januar 2009 gegen den indischen Nationalfeiertag236 und am 6. Juni 2009 gegen den "Sturm indischer Truppen auf den goldenen Tempel von Amritsar" am 6. Juni 1984 protestiert. Auch bei einer Protestaktion anlässlich des indischen Unabhängigkeitstages (15. August 1947) in Frankfurt am Main konnten Anhänger extremistischer Gruppierungen aus Baden-Württemberg festgestellt werden. Dabei traten Funktionäre der ISYF, die im Jahr 2007 in "Sikh Federation Germany" (S.F.G.) umbenannt wurde, immer wieder unter ihrer alten Organisationsbezeichnung öffentlich in Erscheinung. Die Löschung aus dem Vereinsregister beim Amtsgericht Offenbach am Main erfolgte am 17. August 2009. Darüber hinaus nutzten Funktionäre sogenannte Märtyrer-Gedenkveranstaltungen in den Sikhtempeln als politische Plattform und zum Aufruf zu Spendensammlungen zur Unterstützung der Angehörigen gefallener Kämpfer und der jeweiligen Partei in der Heimat. Zellen extremistischer Sikhs gibt es in Baden-Württemberg im Raum Reutlingen, Tübingen, Herrenberg, Stuttgart, Heilbronn, Mannheim und Weil am Rhein. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten extremistischer Sikhorganisationen wurden nicht bekannt. Politisch relevante Themen wurden hauptsächlich in internen, manchmal auch gruppenübergreifenden Zirkeln in den Tempeln diskutiert. Die genannten Tempel sind zwar die Orte, an denen entsprechende Diskussionen und sonstige Aktivitäten durchgeführt werden. Allerdings verfolgen die Trägervereine dieser Einrichtungen keine extremistischen Bestrebungen und unterliegen somit auch nicht der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden. 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 110 Baden-Württemberg (2008: ca. 110) ca. 800 Deutschland (2008: ca. 800) 236 Tag der Republik am 26. Januar 1950. 149 Die "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) kämpften von ihrer Gründung 1972 bis zu ihrer militärischen Niederlage im Mai 2009 für einen unabhängigen tamilischen Staat auf dem Staatsgebiet Sri Lankas. Der Anteil der Tamilen an der sri-lankischen Gesamtbevölkerung beträgt circa 18 Prozent. Sie bewohnen vor allem den Norden und Osten des Landes. Zwar sind die LTTE in Deutschland nicht verboten, doch sind sie als terroristische Organisation in der sogenannten EU-Terrorliste aufgeführt. In der Vergangenheit verübten sie in Sri Lanka zahlreiche Anschläge mit einer Vielzahl von Toten und Verletzten. Sie verfügten über eine speziell für Selbstmordattentate zuständige Kamikazetruppe ("Black Tigers"), eine Marineeinheit ("Sea-Tigers") sowie eine eigene Luftwaffe ("Tamil Eelam Air Force"). In Deutschland verhalten sich die Anhänger der LTTE zwar friedlich, doch unterliegen sie wegen der Gefährdung auswärtiger Belange der Bundesrepublik Deutschland der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden. Hier wird vor allem demonstriert, um auf die Situation der Tamilen auf Sri Lanka aufmerksam zu machen. Außerdem wird Geld gesammelt, um die Organisation im Heimatland zu unterstützen. Für diese Aktivitäten haben die LTTE weltweit Strukturen und Netzwerke aufgebaut, die trotz ihrer militärischen Niederlage bisher weiter existieren. 6.1 Historie und Charakterisierung Seit den 1980er-Jahren kämpften die "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) unter Velupillai PRABHAKARAN, dem Gründer und seitherigen Führer der LTTE, für einen eigenständigen und unabhängigen Staat "Tamil Eelam" im ursprünglich mehrheitlich von Tamilen bewohnten Norden und 150 Osten Sri Lankas. Diese Gebiete standen für mehrere Jahre unter der Kon- A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S trolle der LTTE, die dort im Lauf der Zeit umfangreiche parastaatliche Strukturen aufgebaut hatten. In ihrer Gründungsphase orientierten sich die LTTE an einer marxistischrevolutionären Ideologie, die allmählich von einer tamilisch-nationalistischen Ausrichtung überlagert wurde. Bis zu ihrer militärischen Niederlage im Mai 2009 waren die LTTE eine Bürgerkriegspartei, die auf Sri Lanka terroristische Mittel anwandte. Sie begingen Anschläge und Selbstmordattentate, die gegen den Staat und die staatliche Ordnung gerichtet waren. Daher sind die LTTE auf nationalen237 und internationalen Listen terroristischer Organisationen aufgeführt, so auch seit Mai 2006 in der "Terror-Liste" der Europäischen Union. In der letzten Phase des Bürgerkrieges waren die LTTE laut dem Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zunehmend in Verletzungen von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht gegenüber der Zivilbevölkerung verwickelt.238 6.2 Ende des Bürgerkriegs auf Sri Lanka und Reaktionen der Diaspora Nach Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens mit der LTTE im Januar 2008 startete die Regierung auf Sri Lanka eine Armeeoffensive mit dem Ziel der endgültigen Zerschlagung der LTTE-Strukturen und der Beendigung des Bürgerkrieges. Dem erneuten Verbot der LTTE im Januar 2009 folgte eine schrittweise Eroberung aller von den LTTE kontrollierten Gebiete. Im Mai 2009 verkündete die sri-lankische Regierung die militärische Niederlage der LTTE. Der Niedergang der Organisation wurde durch den Tod PRABHAKARANs und nicht zuletzt durch die Verhaftung seines Nachfolgers Kumar PATHMANATHAN in Malaysia und dessen anschließende Auslieferung nach Sri Lanka im August 2009 besiegelt. Die im Ausland lebenden Tamilen reagierten auf die sich abzeichnende Niederlage der LTTE und auf die sich zuspitzende humanitäre Situation ihrer Landsleute auf Sri Lanka nicht nur mit zahlreichen Demonstrationen, sondern auch mit Aufsehen erregenden Einzelaktionen. So verbrannte sich im Februar 2009 ein Demonstrant vor dem UN-Gebäude in Genf. Im selben Monat fand ein Selbstverbrennungsversuch in London statt. In Deutschland fanden ebenfalls mehrere öffentlichkeitswirksame Aktionen hier lebender Tamilen statt, die teilweise unfriedlich verliefen. Über 237 So in den entsprechenden Listen der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritanniens. 238 UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs sri-lankischer Asylsuchender vom April 2009. 151 5.000 Personen, darunter auch Teilnehmer aus Baden-Württemberg, demonstrierten am 4. Februar 2009 in Berlin, um auf die kritische Situation in den Bürgerkriegsgebieten auf Sri Lanka aufmerksam zu machen. Am 14. April 2009 versammelten sich in Berlin circa 300 Personen vor dem Deutschen Bundestag. Nach heftigen verbalen Äußerungen und Sitzblockaden stellte die Polizei mehrere Benzinkanistern sicher und löste die Versammlung auf. Ebenfalls im April 2009 warfen unbekannte Täter zwei Molotowcocktails auf das Gelände der Botschaft von Sri Lanka in Berlin. Auch in Baden-Württemberg fanden größere Demonstrationen statt. In Ludwigsburg führten am 18. April 2009 rund 100 Personen eine Kundgebung durch und in Stuttgart versammelten sich am 21. April 2009 rund 200 Demonstranten. Beide Veranstaltungen verliefen störungsfrei. Wohl aufgrund von Mobilisierungsproblemen der LTTE nahm die Zahl öffentlichkeitswirksamer Aktionen zum Ende des Jahres ab. Für die tamilische Diaspora stellte sich die grundsätzliche Frage, welche Ziele in der Zukunft überhaupt noch verfolgt werden können und sollen. Um darüber Klarheit zu schaffen, sollten die Tamilen weltweit darüber abstimmen, ob sie weiterhin einen unabhängigen tamilischen Staat auf Sri Lanka anstreben. Im Dezember 2009 wurde diese Abstimmung in Norwegen, Frankreich, Kanada und der Schweiz durchgeführt. In Deutschland fand sie am 24. Januar 2010 fast ausnahmslos in den Räumlichkeiten tamilischer Bildungseinrichtungen, den sogenannten Tamilalayams, statt. Bundesweit konnte in 110 und in Baden-Württemberg in 17 Wahllokalen, unter anderem in Aalen, Backnang, Bruchsal, Ludwigsburg, Mannheim, Ravensburg, Sinsheim und Stuttgart, abgestimmt werden. Von den 60.000 in Deutschland lebenden Personen tamilischer Herkunft sollen über 20.000 an der Wahl teilgenommen haben, von denen wiederum über 90 Prozent für ein unabhängiges "Tamil Eelam" gestimmt haben sollen. 6.3 Organisationsstruktur in Deutschland und Baden-Württemberg Wie in vielen anderen Ländern auch haben die LTTE in Deutschland über Jahre hinweg versucht, durch ein Netz von Nebenund Tarnorganisationen auf die Auslandstamilen Einfluss zu nehmen. Sie bedienten sich dabei auch tamilischer Sportvereine und Schulen. Die militärische Niederlage der LTTE auf Sri Lanka wirkte sich bisher kaum auf die hiesigen Strukturen der Organisation aus. So gilt das "Tamil Coordinating Comittee" mit Sitz in Oberhausen als eine LTTE-nahe Organisation, die bundesweit aktiv ist. Sie tritt 152 A U S LÄ N DE R E X T R E M IS M U S vor allem als Organisator von Demonstrationen und anderen Großveranstaltungen in Erscheinung. In Baden-Württemberg konnten LTTE-Zellen vor allem im Raum Bad Friedrichshall, Heilbronn und Stuttgart festgestellt werden. Seit der Aufnahme der LTTE in die Liste terroristischer Organisationen der Europäischen Union verhalten sich die Kader äußerst konspirativ. 6.4 Finanzierung Die LTTE finanzierten sich über die Jahre hinweg selbst, zum größten Teil durch in der Diaspora regelmäßig durchgeführte Geldbeschaffungsaktionen, sogenannte Spendenkampagnen. Vermutlich wurde auch der bewaffnete Kampf weitgehend mit diesen Einnahmen finanziert. Daneben unterstützten die LTTE mit diesen Geldern humanitäre Maßnahmen wie Flüchtlingshilfe. Trotz der militärischen Niederlage der LTTE auf Sri Lanka gibt es Bestrebungen, in der Diaspora weiterhin gewaltfreie Spendensammlungen durchzuführen, so auch in Baden-Württemberg. 6.5 Aktivitäten Neben Demonstrationen, mit denen auf die Situation der Tamilen auf Sri Lanka aufmerksam gemacht werden soll, gehört vor allem der jährlich am 27. November zentral ausgerichtete "Heldengedenktag" zu den typischen LTTE-Veranstaltungen. An diesem Tag wird der getöteten Kämpfer der LTTE gedacht und der Geburtstag PRABHAKARANs gefeiert. Im Jahr 2009 wurde dieser "Feiertag" in Essen mit 5.000 Teilnehmern begangen. 153 D. RECHTSEXTREMISMUS Der Rechtsextremismus hat keine einheitliche Ideologie. Es gibt aber Ideologiebestandteile, die im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielen und für die meisten Rechtsextremisten konsensfähig sind. Dazu gehören etwa Antisemitismus, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit. Es gibt nicht nur unterschiedliche ideologische Strömungen im Rechtsextremismus, auch die rechtsextremistische Szene ist uneinheitlich und zersplittert: Sie gliedert sich in Teilszenen, Subkulturen, Parteien, Vereine, informelle Personenzusammenschlüsse und - mehr oder minder - organisationsunabhängige Verlage, Medien und Einzelaktivisten. Trotz dieser Zersplitterung sind in vielen Fällen verschiedene Segmente des Rechtsextremismus in netzwerkartigen Strukturen miteinander verbunden. Im Jahr 2009 setzte sich der nun rund eineinhalb Jahrzehnte andauernde drastische Rückgang des rechtsextremistischen Gesamtpersonenpotenzials fort: In Baden-Württemberg von circa 2.700 Personen (2008) auf circa 2.400 und deutschlandweit von rund 30.000 Personen (2008) auf rund 26.600. Die Zahl der Rechtsextremisten im Land sank somit zwischen 1993 und 2009 um knapp zwei Drittel. In demselben Zeitraum reduzierte sich die Zahl deutscher Rechtsextremisten insgesamt um deutlich über die Hälfte. Das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial hat sich dabei jedoch verjüngt und besteht zu einem höheren Prozentsatz als früher aus besonders überzeugten Rechtsextremisten. Auch der Anteil der gewaltbereiten Rechtsextremisten am rechtsextremistischen Gesamtpersonenpotenzial lag 2009 in Bund wie Land deutlich höher als Anfang/Mitte der 1990er-Jahre. Die Zahl der in BadenWürttemberg verübten rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten fiel im Jahr 2009 auf 47 (2008: 56), die der rechtsextremistisch motivierten Straftaten insgesamt von 1.209 (2008) auf nunmehr 1.139 (2009). 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Wahljahr 2009 Das Jahr 2009 war ein Wahljahr mit einer Bundestagsund einer Europawahl, sechs Landtagswahlen und diversen Kommunalwahlen. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) trat mit Ausnahme der Europawahl zu allen Wahlen des Jahres 2009 an. Bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen konnten Rechtsextremisten fast 154 keine Erfolge verzeichnen. R E C H T S E X T R E M IS M U S Bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 kam die NPD mit 1,5 Prozent der Zweitstimmen über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus. Genauso schlecht beziehungsweise noch schlechter schnitt sie bei den Landtagswahlen in Hessen, Schleswig-Holstein (jeweils 0,9 Prozent der Zweitstimmen) und im Saarland (1,5 Prozent) ab. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg erreichte sie einen Zweitstimmenanteil von 2,6 Prozent und in Thüringen von 4,3 Prozent. In Sachsen erreichte die NPD mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen trotz Verlusten den Wiedereinzug ins Parlament. Die Wahlergebnisse der NPD im Jahr 2009 offenbaren ein Problem der NPD: Offensichtlich kann sie Wahlerfolge bislang nur in Ostdeutschland erringen. In den westdeutschen Landtagen verfügt sie nach wie vor über kein parlamentarisches Standbein. Dadurch wird sie in der Öffentlichkeit immer mehr als ostdeutsches Sonderphänomen ohne ernstzunehmende Chancen in Westdeutschland wahrgenommen. Für die "Deutsche Volksunion" (DVU), die über Jahre die bei Wahlen erfolgreichste rechtsextremistische Partei in Deutschland war, wurde das Wahljahr 2009 zum Desaster: Bei der Europawahl erreichte sie 0,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, bei der Bundestagswahl sogar nur 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Ihr Absturz auf 1,1 Prozent Zweitstimmenanteil bei der brandenburgischen Landtagswahl hat zur Folge, dass sie erstmals seit Ende der 1990er-Jahre in keinem deutschen Landesparlament mehr vertreten ist. Zu dem schlechten Abschneiden der DVU und der NPD bei der Bundestagswahl und in Brandenburg könnte beigetragen haben, dass die NPD den sogenannten Deutschland-Pakt Mitte 2009 faktisch einseitig aufgekündigt hatte, so dass es zu Konkurrenzkandidaturen der beiden Parteien gekommen war. NPD und DVU hatten sich bis dahin durch den am 15. Januar 2005 unterzeichneten "Deutschland-Pakt" darauf verständigt, sich bis einschließlich 2009 bei Wahlen auf Europa-, Bundesoder Landesebene keine Konkurrenz zu machen. 1.2 Demonstrationstätigkeit der rechtsextremistischen Szene Seit 2007 ist das rechtsextremistische Demonstrationsaufkommen in Baden-Württemberg rückläufig. Im Jahr 2006 gab es noch 35 rechtsextre155 Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2007 - 2009 2007 2008 2009 BW Bund BW Bund BW Bund Skinheads und sonstige 850 10.000 740 9.500 600 9.000 gewaltbereite Zirkel Neonazis* 340 4.400 400 4.800 440 5.000 Parteien 1.170 14.450 1.050 13.000 860 11.300 davon: DVU 700 7.000 600 6.000 400 4.500 NPD 440 7.200 450 7.000 460 6.800 Sonstige Organisationen 650 3.750 510 3.800 510 2.500 Personenpotenzial nach Abzug der 3.000 31.000 2.700 30.000 2.400 26.600 Mehrfachmitgliedschaften * Organisationen und Einzelpersonen nach Abzug der Doppelmitgliedschaften. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts sowie rechtsextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2009 BW* Bund** 2009 2008 2009 2008 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts 1.269 1.220 19.468 20.422 insgesamt davon: Straftaten 1.139 1.209 18.750 19.894 davon: Gewalttaten 47 56 891 1.042 * Zahlen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. ** Zahlen des Bundesministeriums des Innern. 156 R E C H T S E X T R E M IS M U S mistische Demonstrationen239 im Land.240 Im Jahr 2009 fanden elf rechtsextremistische Demonstrationen statt (2008: 12; 2007: 18). Die Zahl der Demonstrationen mit eindeutigem neonazistischen Bezug ging von neun im Jahr 2008 (2007: sechs; 2006: rund 25) auf sieben im Jahr 2009 zurück. Hierbei handelte es sich bei vier Demonstrationen um im Jahr 2009 erstmals veranstaltete Flashmobs241 aus Anlass des 22. Todestages von Rudolf Heß, die am 17. August 2009 mit zehn bis zwölf Teilnehmern stattfanden.242 Wie im Jahr 2008 trat die NPD durch ihre Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) auch im Jahr 2009 zweimal (2007: achtmal) mit öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen in Erscheinung, die allerdings deutlich mehr Teilnehmer verbuchen konnten als die Demonstrationen mit eindeutigem neonazistischen Bezug. In einem Fall traten erstmals seit Jahren auch wieder rechtsextremistische Skinheads als Initiatoren auf: Am 6. Februar 2009 versammelten sich circa 50 von ihnen als Reaktion auf die Verhinderung eines Skinheadkonzerts durch die Polizei zu einer spontanen Demonstration in Schorndorf/Rems-Murr-Kreis. Trotz des in Baden-Württemberg seit dem Jahr 2007 rückläufigen rechtsextremistischen Demonstrationsaufkommens darf nicht übersehen werden, dass baden-württembergische Rechtsextremisten weiterhin und zuweilen in erheblicher Anzahl an rechtsextremistischen Demonstrationen in anderen Bundesländern teilnehmen. So beteiligten sich an der rechtsextremistischen Demonstration am 14. Februar 2009 in Dresden aus Anlass des 64. Jahrestages der Zerstörung durch alliierte Luftangriffe rund 300 bis 400 Personen aus Baden-Württemberg. Insgesamt nahmen an dieser Veranstaltung, die jährlich stattfindet und zu den größten rechtsextremistischen Kundgebungen in Deutschland zählt, etwa 6.500 Personen teil. Anders als in Baden-Württemberg nahm die Zahl der rechtsextremistischen Demonstrationen im Bund insgesamt im Jahr 2009 deutlich zu. So stieg die Zahl der Neonazidemonstrationen in ganz Deutschland von 83 im Jahr 2008 auf 143 im Jahr 2009 an. Und auch bei den von der NPD und ihrer Jugendorganisation JN organisierten Demonstrationen war ein Anstieg von 239 Hierbei werden unter Demonstrationen angemeldete wie unangemeldete Kundgebungen und Aufzüge, aber auch Eilund Spontanversammlungen verstanden. Letztere machen mit ihrem in der Regel sehr kleinen Teilnehmerkreis (meist im unteren zweistelligen Bereich) einen erheblichen Anteil der rechtsextremistischen Demonstrationen aus. 240 Siehe zu den vielschichtigen Gründen für diese Entwicklung ausführlich: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 141ff. 241 Ein Flashmob ist eine ursprünglich unpolitische Aktionsform. Es handelt sich dabei um eine auf den Betrachter spontan und oftmals auch sinnfrei wirkende, mittels Internet organisierte Versammlung von Menschen im öffentlichen Raum nach vorher festgelegten Choreographien. 242 Siehe zu diesen Heß-Flashmobs detaillierter Kap. D, 3.2.1. 157 75 im Jahr 2008 auf 95 im Jahr 2009 zu verzeichnen. Bei diesen Bundeszahlen sind anders als bei den baden-württembergischen Vergleichszahlen Flahsmobs nicht berücksichtigt. Die Teilnehmerzahlen der rechtsextremistischen Demonstrationen in Baden-Württemberg lagen im Jahr 2009 zwischen zehn (bei den beiden HeßFlashmobs am 17. August 2009 in Ulm und Emmendingen) und rund 700 Personen. Allerdings waren Demonstrationen mit über 100 Teilnehmern die Ausnahme, erst recht die rund 700 Personen, die sich am 1. Mai 2009 zur JN-Demonstration in Ulm versammelten. An einer sich nach dem Konzept einer "Doppeldemo" direkt anschließenden rechtsextremistischen Demonstration im benachbarten bayerischen Neu-Ulm beteiligten sich sogar rund 800 Rechtsextremisten. Wie schon im Jahr 2008 lagen die meisten rechtsextremistischen Demonstrationen mit den Teilnehmerzahlen im unteren zweistelligen Bereich. So nahmen an sieben der elf rechtsextremistischen Demonstrationen in Baden-Württemberg im Jahr 2009 höchstens rund 50 Personen teil. Die meist niedrigen Teilnehmerzahlen bei rechtsextremistischen Demonstrationen in Baden-Württemberg im Jahr 2009 lassen sich wie im Jahr 2008 unter anderem dadurch erklären, dass die meisten dieser Veranstaltungen spontan, zum Teil aus aktuellem Anlass und daher ohne die Möglichkeit langfristiger Mobilisierung durchgeführt wurden. Niedrige und weiter sinkende Teilnehmerzahlen sind seit Jahren ein Problem für die Szene und 158 besonders für ihr öffentliches Erscheinungsbild. Schwach frequentierte De- R E C H T S E X T R E M IS M U S monstrationen können vor allem dann leicht zum Beleg der eigenen Schwäche werden, wenn sich eine Vielzahl von Teilnehmern zu Gegendemonstrationen einfindet. Das Missverhältnis bei den Teilnehmerzahlen wird auch von manchen Szeneangehörigen mittlerweile aufmerksam zur Kenntnis genommen und mündet in die Forderung nach weniger, aber thematisch zielgerichteteren Demonstrationen bei gleichzeitig effektiverer Mobilisierung. Die rückläufigen Teilnehmerzahlen dürfen nicht zu der Annahme verführen, dies sei Ausdruck einer grundlegenden Trendumkehr. Öffentliche Demonstrationen behalten - das wird auch in der Szene selbst immer wieder betont - weiterhin ihre Bedeutung unter den Aktionsund Agitationsformen des deutschen Rechtsextremismus, beispielsweise im Zuge des "Kampfes um die Straße" im Rahmen des NPD-"Vier-Säulen-Konzeptes".243 Ein zentrales, schon länger und wohl auch in Zukunft gültiges Motiv, das Rechtsextremisten bei ihrer Demonstrationstätigkeit leitet, besteht darin, rechtsextremistische und neonazistische Präsenz auf der Straße zu zeigen. Vor dem Hintergrund der eigenen gesamtgesellschaftlichen Isolation und einer negativen Medienberichterstattung über Rechtsextremismus und Neonazismus erscheint dieser Demonstrationsaktionismus rechtsextremistischen Aktivisten offensichtlich als die beste Möglichkeit, die Szene und ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen und Aufmerksamkeit zu erregen. 1.3 Rechtsextremistische Positionen zur Finanzund Wirtschaftskrise Rechtsextremisten führen seit dem Beginn der öffentlichen Diskussion um die Wirtschaftsund Finanzkrise im Herbst 2008 einen eigenen Krisendiskurs. Ihre Beiträge zur Debatte erschöpfen sich bei genauerer Betrachtung in althergebrachten rechtsextremistischen Feindbildkonstruktionen, Deutungsmustern und Forderungen, die nunmehr als Erklärung und Lösungsvorschläge herhalten sollen. So beantworten Rechtsextremisten die Frage nach den Ursachen und Verantwortlichen für die aktuelle Finanzund Wirtschaftskrise fast immer mit einseitigen, teils verschwörungsideologischen Schuldzuweisungen an ihre althergebrachten Feindbilder und mit der Wiederbelebung lange bestehender rechtsextremistischer Vorstellungen. Manche Rechtsextremisten hegen zudem Hoffnungen auf einen Untergang der Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Finanzund Wirtschaftskrise und auf eine darauf folgende tiefgreifende Umgestaltung der politisch-konstitutionellen Verhältnisse in Deutschland nach entschieden rechtsextremistischen Maßstäben.244 243 Zum "Vier-Säulen-Konzept" der NPD siehe Kap. D, 4.1.2. 244 Siehe dazu detaillierter Kap. D, 6.1. 159 1.4 Jugendspezifische rechtsextremistische Rekrutierungsmittel Rechtsextremisten gehen bei ihren Bemühungen, Kinder und Jugendliche zu rekrutieren oder in der Szene zu halten, auf vielerlei Art und Weise vor. Neben durchstrukturierten Jugendorganisationen existieren eher lose strukturierte jugendliche Segmente des deutschen Rechtsextremismus. Zudem veröffentlichen Rechtsextremisten unterschiedlicher Provenienz seit Jahren immer wieder neue Varianten teils multimedialer sogenannter SchulhofCDs245, aber auch "Schülerzeitschriften"246, oder stellen jugendspezifische Internetseiten und Videos ins Netz, um Kinder und Jugendliche zu ködern. Im Laufe des Jahres 2009 veröffentlichten unterschiedliche rechtsextremistische Urheber zwei speziell an Jugendliche gerichtete Schriftpublikationen, die allerdings den Ansprüchen an eine jugendgerechte Aufmachung nur sehr unterschiedlich genügten.247 1.5 Ideologie und Begriffsbestimmungen Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ist in sich ideologisch zersplittert. Einzelne Ideologiebestandteile haben aufgrund wechselnder historisch-politischer Rahmenbedingungen an Bedeutung innerhalb des ideologischen Gesamtgefüges verloren wie zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antikommunismus seit der historischen Zäsur von 1989; andere haben gewonnen, beispielsweise die rechtsextremistische Variante des Antiamerikanismus. Dennoch gibt es diverse Ideologiebestandteile, die bereits seit vielen Jahrzehnten (teils seit dem 19. Jahrhundert) im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielen und bis heute für viele oder gar für die meisten Rechtsextremisten im Grundsatz konsensfähig sind. Dazu gehören: n Die Ideologie der Ungleichheit, insbesondere der rechtsextremistische Nationalismus, Sozialdarwinismus248 und Rassismus. Der Rassismus erhält eine erhöhte Brisanz, wenn er zur Begründung des im rechtsextremistischen Lager allgegenwärtigen Antisemitismus herangezogen wird (Rassenantisemitismus). 245 Siehe zu den "Schulhof-CDs" Kap. D, 4.1.2 und detaillierter Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 176ff., Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 124ff. und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2006, S. 140ff. 246 Siehe zu diesen "Schülerzeitschriften" Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 126f. 247 Siehe dazu detaillierter Kap. D, 6.2. 248 Sozialwissenschaftliche Theorie, die Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf 160 die Entwicklung menschlicher Gesellschaften überträgt. R E C H T S E X T R E M IS M U S n Die Ideologie der Volksgemeinschaft, die auch als Völkischer Kollektivismus bezeichnet wird. Rechtsextremistische Fremdenund Ausländerfeindlichkeit haben nicht zuletzt in diesem rassistisch-nationalistischen Konzept ihren Ursprung. n Der Autoritarismus. Konkrete Ausformungen des rechtsextremistischen Autoritarismus sind Militarismus und Antiliberalismus249, aber auch ein auf das "Führerprinzip" reduziertes Staatsund Politikverständnis, das wiederum Demokratiefeindschaft und Antiparlamentarismus beinhaltet. n Der Revisionismus. Von Geschichtsrevisionismus spricht man, wenn Rechtsextremisten die NS-Verbrechen - besonders den Holocaust und die nationalsozialistische Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs - verschweigen, rechtfertigen, verharmlosen, durch Aufrechnung mit vermeintlichen und tatsächlichen Verbrechen anderer Nationen und politischer Systeme relativieren oder sogar leugnen. Von Gebietsrevisionismus ist die Rede, wenn Rechtsextremisten die Anerkennung der deutschen Gebietsverluste, wie sie sich aus den beiden Weltkriegen ergeben haben, verweigern oder noch weitere Gebiete entgegen den vertraglichen Verpflichtungen, die Deutschland seit 1918 beziehungsweise 1945 eingegangen ist, für Deutschland beanspruchen. n Der rechtsextremistische Antimodernismus äußert sich in deutlich ablehnenden Reaktionen auf geistige, wissenschaftlich-technische, ökonomische, soziale und kulturelle Modernisierungsschübe und in der Verklärung vergangener Zeiten. 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus Gewalt war und ist eine dem Rechtsextremismus zumindest im Grundsatz innewohnende Konsequenz. Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit gehen im heutigen deutschen Rechtsextremismus in der Regel aber fast ausschließlich von der Skinheadszene und von Teilen der Neonaziszene (zum Beispiel von den "Autonomen Nationalisten") aus. Seit wenigen Jahren verdichten sich Hinweise auf eine Krise der als jugendliche Subkultur einzustufenden rechtsextremistischen Skinhead249 Ablehnung einer Staatsund Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gewährt werden soll. 161 szene.250 So ging die Zahl der in Baden-Württemberg ansässigen rechtsextremistischen Skinheads von circa 700 im Jahr 2008 auf rund 560 im Jahr 2009 zurück, wodurch sich auch die Gesamtzahl der hiesigen gewaltbereiten Rechtsextremisten auf rund 600 reduzierte (2008: circa 740). In Deutschland war im Jahr 2009 von insgesamt noch ungefähr 9.000 gewaltbereiten Rechtsextremisten auszugehen (2008: circa 9.500). Der rechtsextremistische, teils neonazistische Charakter der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene offenbart sich auch bei der Analyse der von rechtsextremistischen Skinheadbands veröffentlichten Lieder. Rechtsextremistische Skinheadmusik ist eine potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt. Die Zahl der in Baden-Württemberg verübten rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten fiel im Jahr 2009 auf 47 (2008: 56). 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt Wie zuletzt 2007 ging auch 2009 nicht nur die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten, sondern auch die der rechtsextremistisch motivierten Straftaten in Baden-Württemberg insgesamt zurück. Dabei sank die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten sogar zum dritten Mal in Folge und zwar von 56 im Jahr 2008 (2007: 78) auf 47. Seit der Wiedervereinigung lag diese Zahl lediglich zweimal niedriger, nämlich 1995 (28) und 1996 (36). Diese Entwicklung dürfte 2009 wie schon 2007 und 2008 unter anderem darauf zurückzuführen gewesen sein, dass aufgrund der in diesen drei Jahren in der Summe drastisch rückläufigen rechtsextremistischen Demonstrationstätigkeit die Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten ebenfalls abnahmen.251 Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten insgesamt fiel im Land von 1.209 (2008) auf nunmehr 1.139. Dieser Jahreswert gehört aber immer noch zu den höheren, die seit der Wiedervereinigung zu verzeichnen waren. Beispiele für rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten in BadenWürttemberg im Jahr 2009: n Am 3. Mai 2009 wurden in Reutlingen rund 20 Punks von einer etwa zehnköpfigen Gruppe überfallartig angegriffen und teilweise mit Fäus250 Nicht alle Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. Neben rechtsextremistischen existieren auch linksorientierte, linksextremistische, aber auch unbis antipolitische Skinheads. 162 251 Vgl. dazu Kap. D, 1.2. R E C H T S E X T R E M IS M U S ten, Baseball-Schlägern und Nietengürteln niedergeschlagen. Die Geschädigten erlitten dabei leichte bis mittelschwere Verletzungen. Die Tatverdächtigen flüchteten anschließend. Ermittlungen ergaben, dass es sich bei den Tatverdächtigen um Mitglieder der rechtsextremistischen Szene aus Reutlingen handelt, zu deren Anführern ein polizeibekannter Rechtsextremist zählt. n Am 12. Dezember 2009 skandierte eine dreiköpfige Personengruppe, die sich als "Nationalsozialistische Einheit" bezeichnete, in einem Bistro in Esslingen rechtsextremistische, volksverhetzende Parolen und Liedtexte. Einer der Tatverdächtigen beleidigte und bedrohte zudem die Tochter der Bistroinhaber, woraufhin deren Eltern einschritten und angegriffen wurden. Die Mutter wurde dabei durch einen Faustschlag am linken Auge getroffen. Die Auseinandersetzung ging im Freien weiter. Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit sind heutzutage im deutschen Rechtsextremismus fast ausschließlich auf die Skinheadszene und Teile der Neonaziszene - hier insbesondere auf die erst seit Ende 2003 im Bund und seit Mitte 2005 auch im Land auftretenden "Autonomen Nationalisten" (AN)252 - begrenzt. Doch greift zur Erklärung rechtsextremistisch motivierter Gewalt eine einseitige Fokussierung auf die Gewaltbereitschaft der Skinheads und Neonazis zu kurz. Grundsätzlich bleibt festzuhalten: n Auch bei Rechtsextremisten, die nicht dem gewaltbereiten Spektrum zuzurechnen sind, ist immer wieder eine Bejahung, Rechtfertigung, Relativierung oder mangelnde Distanzierung von Gewalt beziehungsweise von Gewalttätern festzustellen. n Rechtsextremistische Gewaltbejahung, -bereitschaft und -tätigkeit stellen historische Konstanten dar. Sie sind nicht nur in der bundesdeutschen Gegenwart zu beklagen, sondern auch in der Geschichte des deutschen Rechtsextremismus bis ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Dimensionen nachweisbar. Mit den NS-Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 erfuhren sie ihre extremste Ausprägung. n Die Ursachen und Anlässe für rechtsextremistisch motivierte Gewalt mögen im jeweils konkreten Fall vielfältig und komplex sein. Doch ist eine erhebliche Nähe zur Gewalt schon in den ideologischen Tra252 Zu den "Autonomen Nationalisten" siehe Kap. D, 3.3. 163 ditionsbeständen des Rechtsextremismus angelegt. Zu dieser traditionellen ideologischen Gewaltaffinität kommen heutzutage weitere, der aktuellen rechtsextremistischen Szene immanente Faktoren hinzu, die zur Entstehung rechtsextremistisch motivierter Gewalt beitragen. Dazu zählen besonders die - teils unpolitischen - gewaltbegünstigenden Eigenschaften der rechtsextremistischen Skinheadszene, nicht zuletzt der szenetypische exzessive Alkoholkonsum. 2.2 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene in der Krise Seit wenigen Jahren verdichten sich Hinweise auf eine Krise, wenn nicht sogar auf einen schleichenden Marginalisierungsoder gar Auflösungsprozess der als jugendliche Subkultur einzustufenden rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene. Diese Entwicklung drückt sich unter anderem in einem andauernden personellen Schrumpfungsprozess aus. Damit korrespondiert ein ebenfalls seit Jahren festzustellender Anstieg des Altersdurchschnitts in der rechtsextremistischen Skinheadszene BadenWürttembergs. Der Krise der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene liegen verschiedene Faktoren zugrunde. 2.2.1 Schrumpfung der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene Auch im Jahr 2009 wiesen wieder fast alle relevanten Indikatoren, an denen man noch im Jahr 2005 den bis in die frühen 1990er-Jahre zurückreichenden Boom der rechtsextremistischen Skinheadszene im Allgemeinen und der dazugehörigen Musikszene im Besonderen hatte ablesen können, deutlich rückläufige Tendenzen auf. So sank die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads in Baden-Württemberg im Jahr 2009 auf rund 560.253 Sie ging damit zum vierten Mal in Folge zurück (2008: circa 700; 2007: circa 800; 2006: circa 840; 2005: circa 1.040) und liegt damit wieder auf dem Niveau von 1997. Da die rechtsextremistischen Skinheads nach wie vor die größte Gruppe innerhalb der gewaltbereiten Rechtsextremisten sind, reduzierte sich auch deren Anzahl wieder (2009: circa 600; 2008: circa 740; 2007: circa 850; 2006: circa 900; 2005: circa 1.080). Auch auf Bundesebene ging die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten im Jahr 2009 weiter zurück und zwar von circa 9.500 im Jahr 2008 (2007: circa 10.000; 2006 und 2005: circa 10.400) auf circa 9.000. 253 Der Anteil der weiblichen Skinheads, der sogenannten Renees, lag 2009 bei etwa 19 Prozent 164 (2008: knapp 20 Prozent). R E C H T S E X T R E M IS M U S Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in BadenWürttemberg nach Wohnund Veranstaltungsorten/Szeneaktivitäten Mannheim Heidelberg Schwäbisch Hall Karlsruhe Pforzheim Ludwigsburg Waiblingen Schwäbisch Gmünd Stuttgart Böblingen Göppingen Sigmaringen Freiburg Ravensburg Konstanz Friedrichshafen Der personelle Schrumpfungsprozess in der rechtsextremistischen Skinheadszene ist umso bemerkenswerter, als andere Erscheinungsformen des Rechtsextremismus nach wie vor eine fatale Attraktivität auf manche Jugendliche und junge Menschen ausstrahlen. Dies wird allein schon dadurch unter Beweis gestellt, dass der baden-württembergische Landesverband der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN)254 seine Mitgliederzahl seit 2005 mehr als verdoppeln konnte (2005: circa 50; 2009: circa 110). Außerdem tritt in den letzten Jahren mit den neonazistischen "Autonomen Nationalisten" (AN) eine neue, jugendlich geprägte Erscheinungsform des deutschen Rechtsextremismus bundesweit und im 254 Siehe zu den JN ausführlicher Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 182ff. 165 Land auf. Die AN verzeichnen zumindest in Baden-Württemberg ein kontinuierlich wachsendes Personenpotenzial. In welchem Ausmaß auch eine Fluktuation aus der rechtsextremistischen Skinheadszene in die JN oder AN für die personellen Rückgänge bei den Skinheads verantwortlich ist, kann nicht quantifiziert werden. Auch andere Indikatoren, die über die Entwicklungen der rechtsextremistischen Skinheadszene und insbesondere der dazugehörigen Musikszene in Baden-Württemberg Aufschluss geben, wiesen im Jahr 2009 nach unten. So ging die Zahl der in Baden-Württemberg beheimateten rechtsextremistischen Skinheadbands weiter von 14 (2008) auf zwölf zurück. Im Bund hinSkinheadkonzerte in Baden-Württemberg 2009 Tauberbischofsheim Weikersheim-Elpersheim 21.02.2009 | ca. 50 Pers. Waghäusel-Wiesental 28.02.2009 | ca. 100 Pers. Mühlacker-Lomersheim 10.10.2009 | ca. 70 Pers. Karlsruhe Schwäbisch Gmünd-Weiler 04.04.2009 | ca. 100 Pers. Stuttgart Heimsheim Rheinmünster-Söllingen 26.09.2009 | ca. 130 Pers. 07.02.2009 | ca. 240 Pers. Sigmaringen-Oberschmeien 19.09.2009 | ca. 110 Pers. Villingen-Schwenningen 21.11.2009 | ca. 100 Pers. Freiburg Schliengen 18.07.2009 | ca. 60 Pers. 166 R E C H T S E X T R E M IS M U S Übersicht über rechtsextremistische Skinheadbands und Vertriebe in Baden-Württemberg Mannheim 1 Schwarzach 2 Sinsheim 3 Stuttgart 4 Frickenhausen 5 Laichingen 7 Ulm 8 Balingen 6 Villingen-Schwenningen 9 Singen 10 Die räumliche Zuordnung der Skinheadbands orientiert sich an den Skinheadbands Wohnsitzen der aktuellen bzw. Gründungsmitglieder. Vertriebe Aufbruch Propaganda Blue Max vfve-Versand Asgard-Versand Act of Violence Carpe Diem, Devil's Project, White Voice Kommando Skin, Noie Werte, RACords Kurzschluss, Kommando 88 Hrungnir Records Blutrausch/unbekannt 167 gegen stieg die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadbands von 146 (2008 und 2007) auf 151. Die Anzahl der im Land veranstalteten rechtsextremistischen Skinheadkonzerte stagnierte zwar bei neun, womit aber wie schon 2008 nur noch gut ein Drittel des bisherigen Höchstwertes aus dem Jahr 2005 (26 Konzerte) erreicht wurde. Zudem sank die durchschnittliche Konzertbesucherzahl relativ deutlich ab, und zwar von rund 140 Personen (2008) auf circa 110 (2009). Die neun rechtsextremistischen Skinheadkonzerte des Jahres 2009 wiesen damit eine deutlich geringere Gesamtbesucherzahl auf als dieselbe Anzahl von Konzerten im Jahr 2008. Im Bund nahm die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadkonzerte im Jahr 2009 noch einmal, wenn auch nur minimal auf 125 ab (2008: 127; 2007: 138; 2006: 163). Gleichzeitig sank die durschnittliche Besucherzahl im Bund von circa 150 Personen (2008 und 2007) relativ deutlich auf circa 120 Personen ab. Die Anzahl der von jeweils einer baden-württembergischen Skinheadband veröffentlichten CDs lag wie schon 2008 auch 2009 bei sechs. Diejenige der CD-Sampler, zu denen neben baden-württembergischen auch andere Skinheadbands Titel beisteuerten, stieg von zwei im Jahr 2008 auf drei im Jahr 2009. Rechtsextremistische sogenannte Schulhof-CDs spielten im Jahr 2009 - zumindest in Baden-Württemberg - kaum eine Rolle, sieht man einmal von der "Schulhof-CD" der NPD ab, zu der auch drei rechtsextremistische Skinheadbands aus Baden-Württemberg Musikstücke beitrugen und die zumindest vereinzelt auch im Land zur Verteilung kam.255 Mit den unter anderem von der NPD auch als Wahlkampfmedium eingesetzten CDs versuchen Rechtsextremisten vor allem Jugendliche für den Rechtsextremismus zu interessieren und zu rekrutieren. 2.2.2 Wandlungen im äußeren Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Skinheadszene In der öffentlich-medialen Wahrnehmung wird die rechtsextremistische Skinheadszene - und damit unzutreffenderweise zuweilen die gesamte rechtsextremistische Szene - mit einem stereotypen, uniformen äußeren Erscheinungsbild assoziiert. In der Tat sind bis in die Gegenwart in Teilen der rechtsextremistischen Skinheadszene typische Erkennungsmerkmale wie Kahlkopf, Springerstiefel und Bomberjacke anzutreffen. Doch ist seit einiger Zeit auch die Tendenz zu beobachten, sich hiervon zu lösen. Es werden bei 168 255 Siehe zu dieser "Schulhof-CD" Kap. D, 4.2.1. R E C H T S E X T R E M IS M U S anderen jugendlichen Subkulturen Anleihen genommen und längeren Haaren, modischer Kleidung und Turnschuhen der Vorzug gegeben, auch wenn zuweilen an der Selbstbezeichnung "Skinhead" festgehalten wird. Je nachdem, wie diese Äußerlichkeiten bei der Definition einer jugendlichen Subkultur bewertet werden, hat dieser Trend möglicherweise Folgen für die rechtsextremistische Skinheadszene. Wenn man nämlich dem äußeren Erscheinungsbild einen hohen Stellenwert beimisst, stellt sich in der Konsequenz die Frage, ob es sich bei einem "Skinhead" mit von der bisherigen Norm abweichendem Aussehen tatsächlich um einen Skinhead handelt oder um einen jungen Rechtsextremisten, den man zwar noch an seinen ideologischen Überzeugungen, aber nicht mehr ohne weiteres an seinem Äußeren erkennen kann.256 Zumindest ist nicht auszuschließen, dass mit der Abkehr vom bisher typischen Skinhead-Äußeren in vielen Fällen bereits der erste Schritt zur Abkehr von der rechtsextremistischen Skinheadszene - wenn auch nicht zwangsläufig vom Rechtsextremismus insgesamt - vollzogen ist. 2.2.3 Vorbehalte und Kritik an der rechtsextremistischen Skinheadszene von Seiten anderer Rechtsextremisten Das Bild vom rechtsextremistischen Skinhead mit "Glatze", Springerstiefeln und Bomberjacke sowie vom streng gescheitelten Neonazi bestimmt seit vielen Jahren das Bild des Rechtsextremismus insgesamt. Unabhängig davon, dass diese verbreitete Reduktion auf Skinheads und Neonazis beziehungsweise auf deren Symbole und Äußerlichkeiten der komplexen Vielgestaltigkeit des deutschen Rechtsextremismus nicht gerecht wird, hat sie dazu beigetragen, die bundesdeutsche Gesellschaft gegen rechtsextremistische Skinheads (und Neonazis) sowie gegen deren besonders primitive, gewaltbejahende rechtsextremistische Gesinnung zu sensibilisieren. Die rechtsextremistischen Skinheads und Neonazis sind in der Bundesrepublik Deutschland gesamtgesellschaftlich isoliert. Zu der breiten gesellschaftlichen Ächtung gesellt sich für die rechtsextremistische Skinheadszene in der Bundesrepublik besonders in den letzten Jahren Kritik auch aus den Reihen der rechtsextremistischen Gesamtszene: Manche Rechtsextremisten hegen nämlich trotz zuweilen gleichzei256 Siehe zum Wandel in der rechtsextremistischen Skinheadszene auch: Menhorn, Christian, Skinheads - eine aussterbende Subkultur? Eine Jugendbewegung im Wandel der Zeit, in: Pfahl-Traughber, Armin; Monika Rose-Stahl (Hrsg.), Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz und für Andreas Hübsch, Brühl/Rheinland 2007, S. 284ff. Siehe zudem: Menhorn, Christian, Die Bedeutung subkultureller Bewegungen für den deutschen Rechtsextremismus. Die Strategie und Taktik von Neonationalsozialisten und NPD gegenüber subkulturell geprägten Rechtsextremisten, in: Pfahl-Traughber, Armin (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismusund Terrorismusforschung 2008, Brühl/Rheinland 2008, S. 247ff. 169 tig unternommener Bemühungen um einen Schulterschluss Vorbehalte gegenüber der rechtsextremistischen Skinheadszene. Zum einen sind die britischen und damit nichtdeutschen Ursprünge dieser Subkultur sowie die in ihr bis heute verbreiteten Anglizismen diesen Rechtsextremisten immer noch als "undeutsch" suspekt. Zudem fürchten speziell Vertreter der NPD, dass das subkulturell-martialische Erscheinungsbild von Skinheads negative Auswirkungen auf das eigene Bild in der Öffentlichkeit und damit auf das Parteiimage haben könnte. Weil die NPD seit Jahren bestrebt ist, in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorzudringen, versucht sie, jedes äußerliche "Bürgerschreck-Image" zu vermeiden. Die Partei will die Skinheads daher nicht als solche, sondern eher als mit konventionelleren Ordnungsund Ästhetikvorstellungen kompatible junge Rechtsextremisten für sich gewinnen. Daraus resultierender Druck unter anderem von Seiten der NPD mag zum beschriebenen Wandel im äußeren Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Szene beitragen. Vor diesem Hintergrund sind Stimmen aus den Reihen der NPD, aber auch von anderen Rechtsextremisten einzuordnen, die sich sehr kritisch mit der rechtsextremistischen Skinheadszene auseinandersetzen. Beispielsweise verwahrte sich die den neonazistischen "Autonomen Nationalisten" zuzurechnende, seit Oktober 2009 im Internet mit einer Homepage vertretene "Aktionsgruppe Lörrach" gegen die mediale Darstellung als "sozial schwache Skinheads, die nicht reden, aber dafür Gewalt anwenden können". Darin ist eine klare Abgrenzung zumindest vom negativen Image, wenn nicht sogar eine mindestens indirekte Kritik an der rechtsextremistischen Skinheadszene zu erkennen. 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? Charakteristika der rechtsextremistischen Skinheadszene sind ein verbreitetes Desinteresse an ideologisch-politischen Fragen, Oberflächlichkeit, Widersprüchlichkeit und Unreflektiertheit entsprechender "Überzeugungen", 170 primitiv-proletenhaftes Auftreten (zum Beispiel verbunden mit exzessivem R E C H T S E X T R E M IS M U S Alkoholkonsum), Disziplinlosigkeit, mangelnde Intellektualität, Unfähigkeit und mangelnder Wille zu konkreter Organisierung (zum Beispiel in rechtsextremistischen Parteien und Vereinen), der hohe identitätsstiftende und freizeitorientierte Stellenwert von szeneeigener Musik und Konzerten. Dieses Erscheinungsbild verleitet Teile der Öffentlichkeit bis heute zu der Einschätzung, dass es sich bei rechtsextremistischen Skinheads nicht um ernstzunehmende Rechtsextremisten handle, da sie nicht fähig oder willens seien, eine vermeintlich komplexe Ideologie wie den Rechtsextremismus zu verstehen, zu verinnerlichen und zur Richtschnur ihres täglichen Handelns zu machen. Ein solcher Einwand unterstellt, dass ein bestimmtes Mindestmaß an Intellektualität nötig sei, um eine extremistische Ideologie zu begreifen und zu vertreten. Gerade das Gegenteil ist jedoch häufig der Fall: Denn extremistische Ideologien reduzieren die komplexen Realitäten des modernen Lebens auf wenige ideologische Leitsätze, präsentieren zur Erklärung zahlreicher vermeintlicher und tatsächlicher gesellschaftlicher Missstände wenige Feindbildgruppen (zum Beispiel "Juden" oder "Ausländer") als "Alleinschuldige" und bieten angeblich einfache Lösungen für tatsächlich schwierige gesellschaftspolitische Zusammenhänge an. Einfache Erklärungsmuster und die Verheißung simpler Problemlösungen können gerade auf tendenziell weniger gebildete und intellektuell einfacher strukturierte Menschen, aber auch auf Jugendliche, die sich noch suchend und ungefestigt in ihrer persönlichen Selbstfindungsphase befinden, eine hohe Anziehungskraft ausüben. Denn mit dem aufgezeigten ideologischen Weltbild wird ihnen die fatale Illusion vermittelt, diese Welt vollständig verstanden zu haben und Andersdenkenden damit überlegen zu sein. Von gesellschaftlichen Missständen (zum Beispiel von Arbeitslosigkeit) Betroffenen werden die Selbstzweifel genommen, für ihre Situation selbst (mit)verantwortlich zu sein (zum Beispiel aufgrund schulischen oder beruflichen Versagens). Die "Schuld" daran wird stattdessen auf ideologische Feindbilder projiziert, wie beispielsweise die Parole "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!" deutlich macht. Die rechtsextremistische Skinheadszene selbst liefert zahlreiche Belege für ihre Gesinnung: n Ein erstes wichtiges Indiz für die grundsätzliche ideologische Ausrichtung der rechtsextremistischen Skinheadszene liefert ein Blick auf die Opfer der von den Skinheads begangenen Gewalttaten. Die Opfer kommen überdurchschnittlich häufig aus den Gruppen, die zu den klassischen Feindbildern des Rechtsextremismus wie Ausländer, Farbige oder Homosexuelle gehören. 171 n Rechtsextremistische Skinheadbands produzieren immer wieder Liedtexte, in denen sie ihre rechtsextremistische, verfassungsfeindliche Gesinnung mehr oder weniger offen zu erkennen geben. So heißt es beispielsweise in dem Lied "Nie wieder Knecht" auf der CD "Trotz allem heiter", die die Band "Kommando Skin" aus dem Raum Stuttgart 2009 veröffentlichte: "(...) Kämpf' mit uns für ein Deutschland, das stark ist und souverän, für ein Land, in dem fremde Interessen nie wieder über eigenen stehen! Für eine deutsche Verfassung! Hinfort mit dem Besatzerdiktat! Für die Zukunft unserer Kinder, einen freien, völkischen Staat! (...)" 257 Auch dafür, dass zumindest Teile der rechtsextremistischen Skinheadszene sich zum historischen Nationalsozialismus bekennen, liefern Liedtexte baden-württembergischer Skinheadbands immer wieder eindeutige Belege. n Das äußere Erscheinungsbild und die Symbolwelt der rechtsextremistischen Skinheadszene beschränkt sich nicht auf Komponenten wie Kahlkopf, Springerstiefel oder Bomberjacke, die ursprünglich einen unpolitischen Hintergrund haben. Typische Kennzeichen dieser Szene reichen längst auch von rechtsextremistischen bis hin zu nationalsozialistischen Bildern und Symbolen. n Auf den rechtsextremistischen Charakter weiter Teile der Skinheadszene lässt auch ihre - trotz der beschriebenen Vorbehalte und Kritik von Seiten anderer Rechtsextremisten - fortbestehende Vernetzung mit anderen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus schließen, die nur vor dem Hintergrund gemeinsamer ideologischer Anknüpfungspunkte erklärbar ist. Diese Vernetzung manifestiert sich zum Beispiel in der Existenz vereinzelter Mischszenen aus Skinheads und Neonazis. So ist es durchaus üblich, dass rechtsextremistische Organisationen, die nicht der Skinheadszene zuzurechnen sind, Skinheadkonzerte veranstalten oder doch zumindest Skinheads oder Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen begrüßen oder auftreten lassen. Ziel ist dabei unter anderem, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. 172 257 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. Die Liedtextversion, die dem CD-Booklet zu entnehmen ist, unterscheidet sich nicht von der gesungenen Version. R E C H T S E X T R E M IS M U S 2.3.2 Rechtsextremistische Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Texte rechtsextremistischer Skinheadbands thematisieren einerseits das Selbstverständnis und das Lebensgefühl der rechtsextremistischen Skinheadszene. So ist die Verherrlichung des Skinheaddaseins (zum Beispiel des szenetypischen exzessiven Alkoholkonsums) ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Liedern dieser Bands. Andererseits ist rechtsextremistische Skinheadmusik das wichtigste Propagandamedium, über das rechtsextremistische Inhalte in die Skinheadszene transportiert werden. So hetzen nicht wenige dieser Lieder gegen szenetypische Feindbilder wie Ausländer, Juden, Israel, die USA, Homosexuelle, "Linke", Punker, die Presse sowie staatliche Institutionen und Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Bei solcher Hetze wird zuweilen auch - direkt oder indirekt - zur Gewaltanwendung aufgerufen. Spätestens in solchen Fällen kann der gewaltbejahende Charakter zumindest von Teilen der rechtsextremistischen Skinheadmusik nicht in Zweifel gezogen werden. Dieser inhaltlich verhetzende Charakter wird oft noch akustisch-stilistisch unterstrichen und verstärkt, zum Beispiel durch stakkatohafte, aufpeitschende und aggressive Rhythmen und Melodien sowie durch bis zur akustischen Unverständlichkeit gepresst vorgetragenen und gegrölten Gesang. Derartige Texte entfalten bei ihren meist jugendlichen Konsumenten langfristig eine ideologisch indoktrinierende, fanatisierende und gleichzeitig eine moralisch verrohende, enthemmende Wirkung und können damit auch Gewaltbereitschaft, in letzter Konsequenz sogar Gewalttätigkeit erzeugen. Außerdem geben solche Texte durch die wiederholt in ihnen artikulierte Hetze gegen gängige rechtsextremistische Feindbilder der Gewalt die Angriffsziele vor. Die meisten von rechtsextremistischen Skinheadbands produzierten Liedtexte bewegen sich jedoch unterhalb der Schwelle zum konkreten Gewaltaufruf - wohl auch deshalb, weil die Bands andernfalls strafrechtliche Folgen zu befürchten hätten. Dies dürfte auch die Ursache dafür sein, dass zumindest in den letzten Jahren sehr viel häufiger solche rechtsextremistischen Skinheadtexte nachweisbar sind, die zwar eine dumpfe, inhumane Atmosphäre aus Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung, aus Hass, Wut, Zorn, Rachefantasien, Verachtung sowie Mitleidund Gnadenlosigkeit verströmen, jedoch nicht zu konkreten Gewalttaten aufzurufen. So heißt es beispielsweise in dem Lied "DP Crew", das die Band "Devil's Project" aus dem Großraum Stuttgart 2009 auf ihrer CD "Wir sind bereit!" veröffentlichte: 173 "(...) Für unsern Sieg zu kämpfen, is' sich keiner zu bequem. Denn wir sind wie tausend Stacheln im Fleisch vom System. Der Staatsanwalt denkt, er bläst uns den Marsch. Gerechtigkeit wird siegen. Drum leckt uns doch am Arsch! [Refrain:] Wir sind Devil's Project, wir schlagen zu! Devil's Project, ein Leben mit der Crew! Devil's Project, wir sind bereit! Devil's Project in alle Ewigkeit! Wir sind bereit! Wir sind bereit! Triffst du auf unsre Crew, dann vergreif' dich nicht im Ton! Denn jeder von uns Jungs ist der Teufel in Person. (...)"258 3. Neonazismus Neonazismus ist eine Erscheinungsform des Gesamtphänomens Rechtsextremismus. Neonazismus ist definiert durch ein Bekenntnis seiner Anhänger zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus. Neonazis wollen in letzter Konsequenz die freiheitliche demokratische Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaats nach dem Vorbild des "Dritten Reichs" abschaffen. In Baden-Württemberg gibt es circa 440 (2008: circa 400) und bundesweit circa 5.000 Neonazis (2008: circa 4.800). Die Neonaziszene zählt bereits seit Jahren zu den wenigen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus, die personelle Zuwächse zu verzeichnen haben. In Deutschland existiert nicht nur die eine neonazistische Organisation. Vielmehr besteht die Neonaziszene aus wenigen bundesweit agierenden Organisationen wie der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG), zahlreichen regionalen Kleingruppen (zum Beispiel sogenannte Kameradschaften), Teilszenen (wie zum Beispiel als relativ neues Phänomen innerhalb der Neonaziszene die "Autonomen Nationalisten") und organisationsunab258 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. Die Liedtextversion, die dem CD-Book174 let zu entnehmen ist, unterscheidet sich von der gesungenen Version nur geringfügig. R E C H T S E X T R E M IS M U S hängigen Medien (wie zum Beispiel die vom "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" mit Sitz im thüringischen Fretterode259 herausgegebene Zeitschrift "Volk in Bewegung & Der Reichsbote - Das nationale Magazin" [ViB]260), die überregionale bis bundesweite Netzwerke bilden. Neonazistisches Gedankengut und Neonazis sind auch in rechtsextremistischen Szenebereichen anzutreffen, die weder ganz noch überwiegend als neonazistisch zu bezeichnen sind. 3.1 Allgemeines Als neonazistisch werden Personenzusammenschlüsse und Bestrebungen bezeichnet, die ein direktes oder indirektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem Vorbild des "Dritten Reichs" ausgerichtet sind. Aus dieser Definition folgt: Jeder Neonazi ist Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist ist Neonazi. Denn nicht jeder Rechtsextremist bekennt sich zum historischen Nationalsozialismus und sieht im "Dritten Reich" ein Vorbild für die zukünftige konstitutionelle Gestaltung Deutschlands. Der Neonazismus ist nur eine von mehreren Erscheinungsformen des Gesamtphänomens Rechtsextremismus, die aber von einem ganz besonders ausgeprägten ideologischen Fanatismus ihrer Anhänger gekennzeichnet ist. Damit wird deutlich, dass die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig vorgenommene Gleichsetzung "Rechtsextremismus = Neonazismus" eine Vereinfachung darstellt, die der komplexen Realität der ideologisch zersplitterten rechtsextremistischen Szene nicht gerecht wird. Zu dieser komplexen Realität gehört aber auch, dass die Grenzen zwischen dem Neonazismus und bestimmten anderen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus zuweilen fließend sind: Neonazistisches Gedankengut und Neonazis sind auch in rechtsextremistischen Szenebereichen anzutreffen, die nicht in Gänze oder nicht überwiegend als neonazistisch zu bezeichnen sind. So bekennen sich zumindest Teile der rechtsextremistischen Skinheadszene zum historischen Nationalsozialismus, wofür immer wieder Liedtexte von Skinheadbands eindeutige Belege liefern. Auch die NPD muss in 259 Bis einschließlich ViB-Ausgabe 5-2009 hatte das "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" seinen Sitz in Ellwangen/Ostalbkreis. 260 Die Zeitschrift ViB hieß bis einschließlich 2007 "Volk in Bewegung - Vierteljahresschrift für eine neue Ordnung!". Nach ihrem Zusammenschluss mit der Zeitschrift "Der Reichsbote" erhielt sie mit der Ausgabe 1-2008 den Namen "Volk in Bewegung & Der Reichsbote". Erst seit der Ausgabe 6-2009 erhielt ihr Name den Zusatz "Das nationale Magazin". 175 Teilen als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden. Sie nimmt auch überregional bis bundesweit bekannte Neonazis als Mitglieder in ihre Reihen auf und lässt manche von ihnen in hohe Parteifunktionen aufsteigen. Der Neonaziszene im engeren Sinne werden in Baden-Württemberg circa 440 (2008: circa 400) und bundesweit circa 5.000 Personen (2008: circa 4.800) zugerechnet. Damit zählt die Neonaziszene bereits seit dem Jahr 2002 (Land: circa 270 Neonazis; Bund: circa 2.600 Neonazis) trotz ihres immer noch relativ geringen Personenpotenzials zu den wenigen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus, die personelle Zuwächse zu verzeichnen haben. Ihr Eintreten für die Wiedererrichtung einer NS-Diktatur trug der deutschen Neonaziszene in den 1990er-Jahren das Verbot zahlreicher ihrer Vereinigungen ein, was ihr Erscheinungsbild nachhaltig veränderte. Um sowohl bereits vollzogene als auch für die Zukunft erwartete Vereinigungsverbote zu unterlaufen, sind seither in der Neonaziszene an die Stelle fester Organisationsstrukturen zumeist lockere, organisationsunabhängige und informelle Personenzusammenschlüsse getreten. Meistens geben sich diese Gruppen den Anstrich privater Cliquen oder Freundeskreise und verfügen nur über eine regionale Basis sowie über relativ wenige Angehörige (in der Regel pro Gruppe nicht mehr als circa fünf bis 20 Personen, meist junge Männer). Allerdings können viele dieser Gruppen im Bedarfsfall auf ein Mobilisierungspotenzial zurückgreifen, das über die Zahl ihrer jeweiligen Angehörigen deutlich hinausgeht. Privater Anstrich und regionale Basis kommen auch in den Selbstbezeichnungen der Gruppen zum Ausdruck (zum Beispiel "Kameradschaft Rastatt"). Die typische Aktivität dieser Gruppen ist der "Kameradschaftsabend", der in Privatwohnungen oder Gaststätten stattfindet, keine Außenwirkung entfaltet und dessen Inhalte aus politisch-ideologischen Schulungen, der Vorbereitung von Aktionen oder einfach aus geselligem Zusammensein bestehen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast jede dieser Gruppen meist fest in die bundesweite Neonaziszene, partiell auch in andere Teile der rechtsextremistischen Szene eingebunden ist und zuweilen bis ins Ausland Kontakte zu Gesinnungsgenossen pflegt. Innerhalb dieser netzwerkartigen Strukturen legen Neonazis einen erheblichen Aktionismus an den Tag, den sie vor allem durch Teilnahme an zahlreichen, nicht nur neonazistischen Demonstrationen - auch fernab ihrer regionalen Basis - ausleben. Die Überschneidungen zwischen Neonaziund rechtsextremistischer Skinheadszene äußern sich unter anderem in der Existenz entsprechender Mischszenen und in der Teilnahme einzelner 176 Neonazis an Skinheadkonzerten. R E C H T S E X T R E M IS M U S Ein typisches Beispiel für bundesländerübergreifende Netzwerkstrukturen innerhalb des deutschen Neonazismus gibt das seit dem Jahr 2003 bestehende, im Dreiländereck zwischen Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz aktive neonazistische "Aktionsbüro Rhein-Neckar" (AB Rhein-Neckar) ab. Es koordiniert im gesamten Rhein-Neckar-Raum die Aktivitäten der dort vertretenen Neonaziund rechtsextremistischen Skinheadgruppierungen, ist personell mit der NPD verflochten und hat enge Kontakte zu rechtsextremistischen Führungspersonen und Gruppierungen in den angrenzenden Regionen. Sein Aktionsschwerpunkt scheint weiterhin außerhalb Baden-Württembergs zu liegen. Es gibt auf seinem Internetportal als Kontaktadresse ein Postfach im hessischen Viernheim an.261 Aus Furcht vor staatlichen Repressionsmaßnahmen und um nicht immer sofort als - gesellschaftlich stigmatisierter - Neonazi erkannt zu werden, ergreifen manche Neonazis "Tarnmaßnahmen". Dahinter kann der Versuch stecken, mit den eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen Gehör auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene zu finden. So ist immer wieder festzustellen, dass Neonazis auf Veranstaltungen, die von Demokraten oder Linksextremisten organisiert werden, erscheinen und das Wort ergreifen.262 Einzelne Neonazis nehmen äußerliche Anleihen bei der linksextremistischen autonomen Szene auf, beispielsweise indem sie sich die Eigenbezeichnung "Autonome Nationalisten"263 geben. 3.2 Bundesweite Aktivitäten 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene Führende NS-Protagonisten wie Hitler, Himmler oder Goebbels auch nur punktuell zu Vorbildern zu erheben, indem man mehr oder minder marginale Details ihres politisch-ideologischen Denkens oder Handelns aus dem Bezugsrahmen ihrer Verbrechen herauszulösen und für sich genommen als vorbildlich darzustellen versucht, ist absurd und verwerflich. Darüber besteht in der Bundesrepublik Deutschland ein breiter Konsens. Ein entsprechender Versuch hat in der Regel nachteilige Folgen für das Ansehen der Personen, die ihn unternehmen. Vor diesem Hintergrund haben die heutigen Neonazis Probleme, hochrangige Protagonisten aus NSDAP und NSStaat zu identifizieren, die sich dazu eignen, ihr Bekenntnis zum historisch261 Homepage des AB Rhein-Neckar vom 3. November 2009. 262 Siehe zur sogenannten Wortergreifungsstrategie Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 179ff. und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 171f. 263 Zu den "Autonomen Nationalisten" siehe Kap. D, 3.3. 177 en Nationalsozialismus wenigstens ansatzweise positiv zu personalisieren. Sie riskieren damit, sich gesamtgesellschaftlich, also außerhalb der sehr engen eigenen Szene, noch weiter ins moralische und gegebenenfalls auch strafrechtliche Abseits zu stellen, als dies ohnehin schon der Fall ist. In dem "Stellvertreter des Führers" und Reichsminister ohne Geschäftsbereich Rudolf Heß (1894-1987) meinen deutsche, aber auch ausländische Neonazis über ein hochrangiges Beispiel für eine positive Personalisierung des historischen Nationalsozialismus zu verfügen. Für Neonazis ist Heß die zentrale Symbolund Integrationsfigur, um die sie bereits seit Jahrzehnten einen teilweise religiös anmutenden Märtyrerkult und eine einzigartige Mythenbildung betreiben. Dieser Märtyrerkult wird von Neonazis auf die Spitze getrieben, indem sie seit Heß' Selbstmord im Berlin-Spandauer Kriegsverbrechergefängnis 1987 so faktenwidrig wie unbeirrbar behaupten, Heß sei ermordet worden, um die "wahren" Hintergründe seines GroßbritannienFluges vom Mai 1941 zu vertuschen. Deshalb ist auch nicht Heß' Geburtstag, sondern sein Todestag (17. August) ein wichtiges Datum im neonazistischen Veranstaltungskalender. Mit ihrem Versuch, den historischen Nationalsozialismus am Beispiel von Rudolf Heß positiv zu personalisieren, verbinden deutsche und ausländische Neonazis ihr zentrales Anliegen, den historischen Nationalsozialismus zu rehabilitieren, indem sie diesem ein vermeintlich unschuldiges Opferund Märtyrergesicht verleihen.264 Im Jahr 2009 konnte - wie schon in den vier vorangegangenen Jahren - kein zentraler "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" im bayerischen Wunsiedel, wo Heß begraben liegt, stattfinden. Schon vor mehreren Jahren hatte der im Oktober 2009 verstorbene Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen RIEGER, der seit 2008 stellvertretender NPD-Bundesvorsitzender war, bis einschließlich 2010 jährliche Gedenkveranstaltungen um den 17. August herum in Wunsiedel angemeldet. Daraufhin konnte die Neonaziszene in den Jahren 2001 bis 2004 zentrale "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" in dieser Stadt durchführen. Die Zahl der Demonstrationsteilnehmer stieg laut Polizeiangaben von rund 900 (2001) auf circa 3.800 (2004). Mittlerweile hat sich die Rechtsprechung deutlich zu Ungunsten der neonazistischen Heß-Verehrer geändert: Am 25. Juni 2008 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht265 in letzter Instanz das Verbot des Wunsiedeler "Rudolf264 Siehe zu weiteren Hintergründen und Details: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 145f. Siehe zu den vielschichtigen Aspekten des Heß-Kultes in der rechtsextremistischen Szene: Kohlstruck, Michael, Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik - Die Mythologisierung von Rudolf Hess im deutschen Rechtsextremismus, in: Fröhlich, Claudia/Horst-Alfred, Heinrich (Hrsg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Re178 zipienten?, Stuttgart 2004, S. 95ff. 265 Az.: 6 C 21/07. R E C H T S E X T R E M IS M U S Heß-Gedenkmarsches" von 2005, das - wie auch in den folgenden Jahren - auf der Basis des im Jahr 2005 in Kraft getretenen SS 130 Absatz 4 Strafgesetzbuch (StGB) erfolgt war.266 Das Bundesverwaltungsgericht bejahte gleichzeitig die Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsnorm.267 Vor diesem Hintergrund hatten auch die vom Landratsamt Wunsiedel ausgesprochenen Verbote der "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" 2008 und 2009 vor den zuständigen Gerichten und im Eilrechtsschutzverfahren auch vor dem Bundesverfassungsgericht268 Bestand. Mit Beschluss vom 4. November 2009 wies das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde des wenige Tage zuvor verstorbenen Rechtsanwalts RIEGER als unbegründet zurück und stellte fest, dass sowohl SS 130 Abs. 4 StGB als auch das sich daraus ableitende Verbot des "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" 2005 mit dem Grundgesetz vereinbar sind.269 So musste die Szene zum wiederholten Male auf mehrere kleinere, dezentrale Veranstaltungen ausweichen. An diesen Ersatzveranstaltungen nahmen zwischen dem 13. und dem 23. August 2009 nur noch insgesamt rund 650 Personen teil, während zu den Ersatzveranstaltungen im Jahr 2008 noch circa 780 Teilnehmer erschienen waren. Am 15. August 2009 fand im mecklenburg-vorpommerschen Friedland ein Fackelmarsch statt, der mit rund 150 Teilnehmern die größte Veranstaltung mit Heß-Bezug war. Sie wurde von der Polizei aufgelöst. In Ungarn geplante Gedenkveranstaltungen wurden verboten; Ersatzveranstaltungen fanden nicht statt. Darüber hinaus kam es um den 17. August 2009 in verschiedenen Orten Baden-Württembergs zu zahlreichen Farbschmierereien sowie Plakatund Transparentaktionen mit Heß-Bezug. Unter anderem wurden Farbschmierereien in Emmendingen, Langenau/Alb-Donau-Kreis, Singen/Krs. Konstanz sowie in Mosbach, Osterburken, Limbach und Neckarzimmern/Neckar-Odenwald-Kreis festgestellt. Über der Autobahn A 5 bei Freiburg wurden 266 Auch 2006 und 2007 wurden die Verbote der Versammlungen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2007, S. 140. 267 SS 130 Absatz 4 StGB lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt." Siehe zur Vorgeschichte der Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung vom 25. Juni 2008: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 140. 268 Beschluss vom 13. August 2008, Az. 1 BvR 2102/08, und vom 10. August 2009, Az.: 1 BvQ 34/09. 269 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. November 2009, Az.: 1 BvR 2150/08. 179 zwei Transparente mit den Aufschriften "Rudolf Hess wir gedenken Dir" und "Rudolf Hess wir sind da" angebracht. Weitere Transparente mit vergleichbarem Inhalt wurden unter anderem im Raum Ulm an der Autobahn A 8 und im Stadtgebiet von Pforzheim festgestellt. Im letztgenannten Fall war der Name Heß mit einem doppelten "s" in Form der Sigrune geschrieben. Neben diesen neonazistischen Aktionen aus Anlass des Heß-Todestages waren im Jahr 2009 bundesweit erstmals auch dezentrale Kundgebungen zu verzeichnen, die in Form von sogenannten Flashmobs (von "flash" = Blitz und "mob" von mobilis = beweglich, unbeständig) durchgeführt wurden. Eine offene Internet-Mobilisierungsseite existierte für einen Flashmob anlässlich des 22. Heß-Todestages 2009. Auf dieser Seite wurden für den 17. August 2009 weit über 100 Veranstaltungsorte im ganzen Bundesgebiet benannt und folgender Ablauf festgelegt: "Choreographie 19:30 Uhr Alle kommen schnell zusammen und bleiben versteinert stehen um ein spannendes Stillebeben für die Presse zu schaffen. 19:33 Uhr Langsames und deutliches Vorlesen der Schlussworte von Rudolf Heß. Übt in der Gruppe das synchrone Lesen um einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Die Worte '...er spricht mich frei' sollten lauter als die vorherigen gelesen werden. 19:35 Uhr Alle haben den Platz in unterschiedliche Richtungen verlassen. (Synchronisiert Eure Uhren mit dieser Atomuhr.)"270 Häufig wird nach einem Flashmob ein Film darüber in ein Videoportal im Internet eingestellt, so auch in einzelnen Fällen zu den bundesweiten Flashmobs anlässlich des diesjährigen Heß-Gedenkens. Zum Teil aber wurden die Filme bald darauf wieder entfernt. In Baden-Württemberg fanden sich in verschiedenen Orten Rechtsextremisten ein, wobei nur für Emmendingen ein Ablauf bekannt wurde, der der zitierten Flashmob-Choreographie entsprach. Auf dem Bahnhofsvorplatz versammelten sich zehn Aktivisten 270 Mobilisierungsinternetseite vom 12. August 2009; Übernahme wie im Original. Die Schlussworte, die Rudolf Heß anlässlich der Urteilsverkündung vor dem internationalen Militärtribu180 nal in Nürnberg 1946 sprach, waren als PDF-Datei von dieser Seite herunterladbar. R E C H T S E X T R E M IS M U S und verlasen die Heß-Schlussworte. Nach rund 15 Minuten war die Aktion ohne besondere polizeiliche Vorkommnisse beendet. In Ulm fanden sich zehn Rechtsextremisten ein, wurden aber noch vor Beginn der Aktion von der Polizei des Platzes verwiesen. Zwölf Aktivisten in Bad Säckingen/Krs. Waldshut zogen sich zurück, als sie die vor Ort befindlichen Polizeikräfte bemerkten. In Offenburg versammelten sich zwölf Personen, die Kundgebung wurde aber polizeilich untersagt. Die Teilnehmer führten ein Plakat mit der Aufschrift "Wir gedenken Rudolf Hess. Mit seinem Genick brach auch die Freiheit" mit sich. Der Name "Heß" war mit einer Doppelsigrune geschrieben. In Karlsruhe-Stupferich führten Neonazis eine kleinere Kundgebung durch, ohne sich an die Abläufe und den angegebenen Ort des Flashmob zu halten. 20 bis 30 Personen skandierten die Worte "Heil", "Frei", "National" und beendeten die Aktion nach etwa zehn Minuten. Entgegen vereinzelter positiver Einschätzungen, die in der Neonaziszene vorgenommen wurden, können die neonazistischen Flashmob-Aktionen aus Anlass des Heß-Todestages 2009 insgesamt als Fehlschlag bezeichnet werden. Von Anbeginn war die Resonanz in der Szene auf diese Flashmobs verhalten. Offensichtlich bestand eine erhebliche Verunsicherung, ob diese neue Art der Mobilisierung ernst gemeint und ob es sinnvoll und Erfolg versprechend sei, dem Aufruf zu folgen. Die Realität bestätigte dann diese Bedenken: Selbst in den relativ wenigen Fällen, in denen ein Flashmob-Versuch tatsächlich unternommen wurde, verhinderten das Eingreifen der Polizei oder die Anwesenheit von Gegendemonstranten oft die Umsetzung. Die Flashmobs, die zustande kamen, hatten in der Regel sehr wenige Teilnehmer, wie die angeführten baden-württembergischen Beispiele belegen. Die Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2009 - nicht zuletzt die beständig sinkenden Teilnehmerzahlen - zeigen, dass die Variante der Heß-Verehrung mit mehreren dezentralen Ersatzveranstaltungen für die neonazistische Szene immer unattraktiver wird. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Zum einen ist fraglich, ob der neonazistische Heß-Kult bei jüngeren Neonazis, die womöglich erst nach 1987 geboren beziehungsweise politisch-ideologisch geprägt wurden, noch dieselbe Bedeutung hat wie bei älteren. Aber auch für erklärte neonazistische Heß-Verehrer ist der Gedenkmarsch in Wunsiedel mit seinem Symbolwert und seiner Mobilisierungskraft offenbar nicht ersetzbar. Selbst bei ihnen ist mittlerweile ein erhebliches Maß an Resignation und 181 fehlender Motivation, an den Ersatzveranstaltungen teilzunehmen, festzustellen. Resignation bei gleichzeitig heftigen Vorwürfen an die Bundesrepublik kommt auch in dem Text "17. August 1987 - Unvergessen!" zum Ausdruck, der im Jahr 2009, unterzeichnet vom JN-Bundesvorsitzenden Michael SCHÄFER, auf der Homepage des JN-Bundesvorstands veröffentlicht wurde. Gleichzeitig lässt dieser Text ein Festhalten am neonazistischen Heß-Kult erkennen, was wiederum ein bezeichnendes Schlaglicht wirft auf die Nähe, die Teile der JN und damit der NPD zum Neonazismus aufweisen (Übernahme wie im Original): "Die Bundesrepublik nimmt für sich oft in Anspruch ein freies und offenes Land zu sein. Hier kann man tun und lassen was man möchte, jeder perverse oder dumme Dreck wird geduldet, solange man sich nicht mit wirklich ernsthaften Themen beschäftigt oder über Dinge ernsthaft nachdenkt und den Status quo hinterfragt. So ist es auch wenn man heute über den Menschen 'Rudolf Heß' spricht und offen über sein Schicksal nachdenkt. Hier wird nicht die historische oder offene Auseinandersetzung gesucht sonder es wird verboten, verboten und nochmal verboten. Nicht nur die Demonstrationen, die Rudolf Heß, sein Leben und besonders sein Ableben thematisieren werden verboten. Es werden extra Sondergesetze erlassen, um hier das Ende einer noch zu führenden öffentlichen Diskussion zu erzwingen. Für einen Staat der sich als frei, aufgeklärt und demokratisch versteht ein Armutszeugnis. Mittlerweile ist es so weit, dass man ein vorgegebenes Geschichtsbild haben muss, um nicht mit der Justiz aneinander zu geraten. So ist es mittlerweile strafrechtlich relevant, wenn man sagt, dass Rudolf Heß ermordet wurde. Auch bekommt man Probleme, wenn man Rudolf Heß Flug nach Britannien als Friedensflug sieht und von der steinernen Siegergeschichtsschreibung abweicht. So ist das Leben in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009. Ein Leben, das eindeutig mehr Freiheit, Anstand und Wahrheit braucht. (...) Der 17. August ist da - Seid fleißig!" 182 R E C H T S E X T R E M IS M U S 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 50 Baden-Württemberg (2008: ca. 50) ca. 600 Deutschland (2008: ca. 600) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die 1979 gegründete "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) mit Sitz in Frankfurt am Main ist die langlebigste und mitgliederstärkste Einzelorganisation in der deutschen Neonaziszene. Ihr Selbstverständnis und ihre spezialisierte Funktion in der rechtsextremistischen Szene kommen bereits in ihrem Namen zum Ausdruck. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, inhaftierte Gesinnungsgenossen moralisch und materiell zu unterstützen, um sie auch während der Haftzeit sozial und ideologisch an die rechtsextremistische Szene zu binden und den staatlichen Ausstiegsangeboten entgegen zu treten. Mit den "Nachrichten der HNG" verfügt sie über eine eigene Publikation. 2009 beging die HNG ihr 30-jähriges Bestehen. Mit ihrer Langlebigkeit und ihrer Mitgliederstärke ist die HNG für die deutsche Neonaziszene vor dem Hintergrund der zahlreichen Verbote neonazistischer Vereinigungen in den 1990er-Jahren ein eigentlich untypisches Phänomen. In ihren Aktivitäten ist die HNG absolut spezialisiert: Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, inhaftierte Gesinnungsgenossen unter anderem durch Rechtsberatung, Überlassung rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten moralisch und materiell zu unterstützen, um sie auch während der Haftzeit sozial und ideologisch an die rechtsextremistische Szene zu binden und somit die staatlichen Ausstiegsangebote zu unterlaufen. Ansonsten erschöpfen sich Aktivitäten und Bedeutung der HNG in der monatlichen Veröffentlichung ihrer 20-seitigen, 2009 im 31. Jahrgang erschienenen Publikation "Nachrichten der HNG" und in der regelmäßigen Veranstaltung einer Jahreshauptversammlung. Zur Jahreshauptversammlung 2009 lud die seit 1991 amtierende HNG-Vorsitzende Ursula MÜLLER aus Mainz für den 25. April 2009 in den "Großraum Würzburg".271 271 "Nachrichten der HNG" Nr. 335 vom März/Lenzing 2009, S. 10f. 183 Die strikt verfassungsfeindliche und neonazistische Ausrichtung der HNG wird nicht zuletzt in diversen Beiträgen in den "Nachrichten der HNG" offenbar. So beschwor MÜLLER in einem kurzen Beitrag in der Januar-Ausgabe der "Nachrichten der HNG" den "Kampf gegen dieses antideutsche System".272 Auf der Rückseite derselben Ausgabe findet sich in der Rubrik "Das Ketzerbrevier" ein Gedicht, dessen teils konfus-wirrer Wortlaut unter anderem eine fanatische Ablehnung der demokratischen Gesellschaft Deutschlands ausdrückt: "AUCH IM NEUEN KAMPFJAHR 2009 IN DIE SATANSFRATZE EINER GESCHMEISSZEIT GESAGT SEI ES EUCH ALLEN STEISSGEBURTEN DER NULLEN DIE IHR SEID: ZUR SAU HABT IHR DIE DEUTSCHE FRAU GEMACHT ZUM SPOTT - EHRLICHER ARBEIT SPUREN UND EUCH IM KONTERFEI GEBRACHT: SCHWULE - BLÄHBOYS - LESBEN - HUREN!"273 In jeder Ausgabe des Jahres 2009 - und bereits davor - huldigten die "Nachrichten der HNG" Rudolf Heß jeweils auf Seite 3 mit einem ähnlich verquasten Text samt Foto. In der Mai-Ausgabe 2009 druckte das Blatt zum wiederholten Male ein Gedicht von Adolf Hitler ab.274 3.3 "Autonome Nationalisten" - Militanter Neonazismus mit ungewohntem Erscheinungsbild Die "Autonomen Nationalisten" (AN) sind Teil der Neonaziszene. Sie unterscheiden sich von anderen Neonazis durch ihr äußeres, an linksextremistische Autonome angelehntes Erscheinungsbild und ihren Hang zur Militanz. Die im Bundesgebiet im Jahr 2003 erstmals aufgetretenen AN verfügen über keine bundesweite Gesamtorganisation, sondern bestehen aus mehreren, meist regional organisierten Gruppierungen mit jeweils nur wenigen Mitgliedern. Diese Gruppierungen treten nicht immer unter der Selbstbezeichnung "Autonome Nationalis272 "Nachrichten der HNG" Nr. 333 vom Januar/Hartung 2009, Beitrag "Danksagung - Alle Jahre wieder." von Ursula MÜLLER, S. 5. 273 Ebd., Gedicht "Auch im neuen Kampfjahr 2009", S. 20; Übernahme wie im Original. 274 "Nachrichten der HNG" Nr. 337 vom Mai/Wonnemond 2009, Gedicht "Der Mutter!" von A. H. 184 [i. e. Adolf Hitler], S. 5. R E C H T S E X T R E M IS M U S ten" auf. Bundesweit betrug die Anzahl der AN im Jahr 2009 ungefähr 15 Prozent (2008 und 2007: circa ein Zehntel) der circa 5.000 (2008: circa 4.800; 2007: circa 4.400) deutschen Neonazis. In Baden-Württemberg, wo die AN seit 2005 aktiv sind, gehören ihnen circa 120 Personen an (2008: circa 90; 2007: circa 70). Damit sind gut ein Viertel der baden-württembergischen Neonazis den AN zuzurechnen. Das Anwachsen der Neonaziszene ist maßgeblich auf personelle Zuwächse bei den AN zurückzuführen. Seit Ende 2003 treten im Bundesgebiet bei rechtsextremistischen Demonstrationen immer wieder Personengruppen auf, die sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten vom gewohnten Auftreten der NeonaziSzene bewusst abheben. Spätestens seit der ersten Jahreshälfte 2004 erlangten diese Gruppen unter der seither häufig verwendeten Eigenbezeichnung "Autonome Nationalisten" bundesweite Bekanntheit. Dabei stellt der Begriff "Autonome Nationalisten" keine Bezeichnung für eine bestimmte Organisation dar, sondern wird als Oberbegriff für mehrere, meist regional organisierte Gruppierungen innerhalb der Neonazi-Szene benutzt, die durch den Zusatz der Stadt oder der Region unterscheidbar werden. Allerdings findet nicht bei allen Gruppierungen, die die typischen Charakteristika "Autonomer Nationalisten" aufweisen, der Begriff "Autonome Nationalisten" als Selbstbezeichnung Verwendung. Zuweilen treten "Autonome Nationalisten" unter Selbstbezeichnungen wie "Freie Kräfte" oder - zumal in Baden-Württemberg - "Aktionsgruppe" auf (zum Beispiel "Aktionsgruppe Voralb" [AG Voralb]). Seit Mitte des Jahres 2005 treten "Autonome Nationalisten" in Baden-Württemberg als Anmelder und Veranstalter von Demonstrationen in Erscheinung, so auch im Jahr 2009. Beispielsweise führte die seit Anfang 2009 aktive "Aktionsgruppe St. Leon-Rot" (AG St. LeonRot) am 4. Juli 2009 in Mauer/Rhein-NeckarKreis eine Demonstration mit rund 70 Teilnehmern unter dem Motto "Härtere Strafen für Kinderschänder" durch. Auf ihrer Internetseite, die mit "Aktionsgruppe Rhein-Neckar" (AG RheinNeckar) überschrieben ist, gab sie im Vorfeld an, dass diese Demonstration vom Aktionsbüro (AB) Rhein-Neckar und vom NPD-Kreisverband RheinNeckar unterstützt werde.275 275 Beitrag "Demo in Mauer bei Heidelberg!" vom 29. Juni 2009, Homepage der AG RheinNeckar/AG St. Leon-Rot vom 9. November 2009. 185 3.3.1 Äußeres Erscheinungsbild Die Unterschiede der "Autonomen Nationalisten" (AN) zu den übrigen Neonazis bestehen vor allem in Äußerlichkeiten. Gerade aber diese rein äußerlichen Unterschiede bergen nicht nur gegenüber Linksextremisten und der demokratischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch gegenüber weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene ein erhebliches Provokationsund Konfliktpotenzial. Denn das äußere Erscheinungsbild der AN ist in erster Linie durch eine Übernahme des Kleidungsstils der linksextremistischen autonomen Szene gekennzeichnet. Bei Demonstrationen treten sie in einheitlicher schwarzer Kleidung auf, tragen Baseballkappen oder Kapuzenpullover, Sonnenbrillen und gelegentlich auch sogenannte Palästinensertücher, letztlich also eine Bekleidung, die nicht nur ein geschlossenes Auftreten in einem "Schwarzen Block" ermöglicht, sondern auch der Vermummung dienen kann. Darüber hinaus sehen AN in ihrer Abkehr vom typischen Neonazi-Outfit noch einen weiteren Vorteil: Diese Kleidung dient ihnen offensichtlich auch als Verkleidung, in der sie von der linksextremistischen Antifa und von Sicherheitskräften nicht mehr ohne weiteres als Neonazis erkannt werden können. AN imitieren linksextremistische Autonome auch terminologischsprachlich und stilistisch. So sind Anglizismen, die von vielen anderen Rechtsextremisten seit jeher als "undeutsch" vehement abgelehnt werden, auf den Transparenten und in sonstigen Propagandamedien "Autonomer Nationalisten" ein gängiges Stilmittel. Auch verbreiten AN antikapitalistische und revolutionäre Parolen (zum Beispiel "Kapitalismus tötet!!!"276), die in ih186 276 Text einer Spuckivorlage auf der Homepage der AG Schwaben vom 9. November 2009. R E C H T S E X T R E M IS M U S rer Formulierungsweise eher an das linksextremistische Lager erinnern. Selbst bei der graphischen Gestaltung von Flyern und Transparenten orientieren sich AN häufig an "linken" Vorbildern und Symbolen, bedienen sich zum Beispiel der Graffiti-Ästhetik. 3.3.2 Militanz Einigen Verlautbarungen zumindest baden-württembergischer "Autonomer Nationalisten" war im Jahr 2009 eine gewisse verbale Abgrenzung von militantem Verhalten zu entnehmen. Das tatsächliche Verhalten "Autonomer Nationalisten" spricht aber immer wieder eine andere Sprache, wie Beispiele auf Bundesebene belegen: Ihre Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit richten sich besonders bei rechtsextremistischen Demonstrationen gegen Polizeibeamte und Gegendemonstranten, insbesondere wenn es sich bei letzteren um gewaltbereite Linksextremisten handelt. In dieser Frage stehen die AN in Opposition nicht nur zu rechtsextremistischen Parteien, sondern auch zu den meisten anderen Neonazis, die mehrheitlich - und sei es aus rein taktischen Erwägungen - den Ordnungsanspruch und das Gewaltmonopol des Staates anerkennen und im öffentlichen Raum auf ein gesetzeskonformes Auftreten achten. 3.3.3 Ideologische Ausrichtung Trotz ihres an "linken" bis linksextremistischen Vorbildern orientierten äußeren Erscheinungsbildes handelt es sich bei AN ohne Einschränkung um neonazistische Rechtsextremisten. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, wenn die AG St. Leon-Rot alias AG Rhein-Neckar - wie im Juli 2009 geschehen - ein Zitat des ehemaligen Mitgliedes der linksterroristischen "Roten Armee Fraktion" Gudrun Ensslin (1940-1977) auf ihrer Homepage einstellt.277 Allerdings sind bisher nur sehr wenige grundsätzliche theoretische Abhandlungen aus dem Kreis "Autonomer Nationalisten" bekannt geworden. Wenn das doch der Fall ist, äußern sie neben populistischen Phrasen klassische rechtsextremistische oder neonazistische Positionen, die in rechtsextremistischen und neonazistischen Kreisen weder neu noch originell sind, auch wenn sie mit "linker" bis linksextremistischer Ter277 Homepage der AG Rhein-Neckar/AG St. Leon-Rot vom 9. November 2009. 187 minologie garniert werden. Die fundamentale Verfassungsfeindlichkeit der AN spiegelt sich beispielhaft in der Internet-Selbstdarstellung der AG Voralb wider, wo es unter anderem heißt: "Wir sind junge Deutsche, die sich nicht von den Medien blenden lassen wollen, sondern sich gegen die Ungerechtigkeiten dieser Zeit zur Wehr setzen wollen. Wir schaffen dies durch eine revolutionäre Bewegung jenseits der korrupten Parteien im System der unfähigen und wirtschaftlich gesteuerten Demokratie. (...) Durch radikale, aber gewaltfreie! Und legitime! Arbeit, leisten wir gegen dieses marode und dem Untergang geweihten (Wirtschafts-)System widerstand und wollen so die Idee eines neuen Deutschlands in die Gesellschaft und die Jugend tragen."278 3.3.4 "Autonome Nationalisten" - szeneintern umstritten, aber mit Zulauf Folgerichtig liegt es weniger an ideologischen Differenzen, sondern vielmehr am äußeren Erscheinungsbild der AN und ihrem Hang zur Militanz, dass von anderen Rechtsextremisten (auch Neonazis) zumindest in der Vergangenheit teils heftige Kritik an ihnen geübt wurde. Allerdings war im Jahr 2009 zumindest in Baden-Württemberg kaum mehr Kritik aus den Reihen der rechtsextremistischen Szene an die Adresse "Autonomer Nationalisten" vernehmbar. Dies mag an einem gewissen Gewöhnungseffekt gelegen haben, aber auch an der verbalen Abgrenzung von militantem Verhalten durch einige baden-württembergische AN im Jahr 2009. Zudem konnte generell schon in der Vergangenheit beobachtet werden, dass Rechtsextremisten vor dem Hintergrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Isolation und ihres zuweilen mangelnden Personenpotenzials meinen, auch auf Gesinnungsgenossen mit problematischem Erscheinungsbild und Verhaltensweisen nicht verzichten zu können (zum Beispiel als Mobilisierungspotenzial bei Demonstrationen), und daher von allzu eindeutigen Distanzierungen Abstand nehmen. 278 Text "Wer wir sind," [sic!], Homepage der AG Voralb vom 9. November 2009; Übernahme 188 wie im Original. R E C H T S E X T R E M IS M U S Trotz des erheblichen Aufsehens, für das die AN mit ihren "Schwarzen Blöcken" sorgen, handelt es sich zumindest quantitativ immer noch um ein begrenztes Phänomen, das aber seit Jahren personellen Zuwachs zu verzeichnen hat. Der bundesweite Bestand der AN dürfte im Jahr 2009 ungefähr 15 Prozent (2008 und 2007: circa ein Zehntel) der circa 5.000 (2008: circa 4.800; 2007: circa 4.400) deutschen Neonazis betragen haben. Davon entfielen auf Baden-Württemberg circa 120 AN (2008: circa 90; 2007: circa 70), was gut einem Viertel der baden-württembergischen Neonazis entspricht. Bezogen auf das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial in Bund und Land stellen AN nur knapp drei beziehungsweise rund fünf Prozent der deutschen beziehungsweise baden-württembergischen Rechtsextremisten. Erfahrungsgemäß verfügen AN über Unterstützer und damit über ein Mobilisierungspotenzial bei ihren Demonstrationen, das über ihr immer noch relativ geringes Personenpotenzial deutlich hinausgeht. 279 3.4 "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ) Die 1990 gegründete "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ)280 mit Sitz in Berlin war eine parteiunabhängige neonazistische Kinderund Jugendorganisation. Sie wurde am 31. März 2009 vom Bundesministerium des Innern verboten. Gegen die sofort vollziehbare Verbotsverfügung hat die HDJ Rechtsmittel eingelegt. Eine abschließende gerichtliche Entscheidung liegt noch nicht vor. Die HDJ hatte im Jahr 2008 in Baden-Württemberg circa 25 und in Deutschland insgesamt circa 500 Mitglieder. Mit der von ihr herausgegebenen Zeitschrift "Funkenflug" verfügte die HDJ über ein eigenes Publikationsorgan. 3.4.1 Ideologische Ausrichtung Ganz offensichtlich bemühte sich die HDJ in ihren öffentlichen Verlautbarungen darum, ihren Charakter als neonazistische Organisation zumindest teilweise zu verschleiern. Die wenigen, relativ kurzen Texte, die die HDJ auf ihrer vereinseigenen Homepage zur Selbstdarstellung eingestellt hatte, waren unter extremismusanalytischem Aspekt eher nichtssagend. Die laut Impressum von der HDJ herausgegebene, vierteljährlich erscheinende 279 Siehe zu den AN auch folgende Broschüre: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), "Autonome Nationalisten" - Rechtsextremistische Militanz, Stand: Mai 2009, Köln 2009. Die Broschüre ist abrufbar unter http://www.verfassungsschutz.de. 280 Vollständiger Name seit 2001: "Heimattreue Deutsche Jugend - Bund zum Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e.V.", davor: "Die Heimattreue Deutsche Jugend - Bund für Umwelt, Mitwelt und Heimat e.V.". 189 "volkstreue Zeitschrift für Jugend und Familien" 281 namens "Funkenflug" (Untertitel: "jung - stürmisch - volkstreu") veröffentlichte hingegen auch Beiträge eindeutig rechtsextremistischen und neonazistischen Inhalts. 3.4.2 Aktivitäten und Außenwirkung Die HDJ war auch in den ersten drei Monaten des Jahres 2009 nicht auf öffentlichkeitswirksame Propagandaaktionen (zum Beispiel Demonstrationen, Informationsstände) bedacht, um auf sich und ihre rechtsextremistischen Positionen aufmerksam zu machen und neue Sympathisanten und Mitglieder zu werben. Wenn sie sich wie bei ihrer Homepage zwangsläufig einem breiten Publikum öffnete, gab sie sehr wenig von sich preis. Die HDJ schien im Umgang mit der bundesdeutschen Gesellschaft auf größtmögliche Abschottung bedacht zu sein. Offenbar suchte die Organisation ganz bewusst neue Mitglieder vor allem in Familien, die bereits der rechtsextremistischen oder der neonazistischen Szene angehörten. Bei den für die HDJ typischen Aktivitäten, über die im "Funkenflug" häufig eingehend berichtet wurde, handelte es sich offenbar um rein interne Veranstaltungen, bei denen eine Außenwirkung ganz bewusst vermieden wurde. Sie dienten unter anderem der ideologischen Indoktrination und Selbstvergewisserung der Teilnehmer sowie der Schaffung beziehungsweise Aufrechterhaltung von Kameradschaft, Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl innerhalb der HDJ sowie einer wehrsportähnlich anmutenden Körperertüchtigung der männlichen HDJ-Mitglieder. Nicht zuletzt dienten sie auch als kurzzeitige, kollektive mentale Flucht aus einer von der HDJ zutiefst abgelehnten westlich-modernen, demokratischen Gegenwart, gegen deren Einflüsse man sich beziehungsweise seine Kinder in der verschworenen Gemeinschaft Gleichgesinnter abzuschotten und zu immunisieren versuchte. Auch in Baden-Württemberg fanden vereinzelt HDJ-Aktivitäten statt. Diese wurden konspirativ vorbereitet und ohne Außenwirkung durchgeführt. 190 281 "Funkenflug" 02/Sommer 2008, Impressum, S. 23. R E C H T S E X T R E M IS M U S 4. Rechtsextremistische Parteien 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 460 Baden-Württemberg (2008: ca. 450) ca. 6.800 Deutschland (2008: ca. 7.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) Die 1964 gegründete "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ist eine rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei, die in Teilen als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden muss. Sie ist mittlerweile als die bedeutendste rechtsextremistische Kernorganisation in der Bundesrepublik einzuordnen. Mit ihren bundesweit rund 6.800 Mitgliedern war sie auch im Jahr 2009 die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. In Baden-Württemberg hatte sie im Jahr 2009 circa 460 Mitglieder, wovon ungefähr 110 zugleich der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN)282 angehörten. Die JN haben bundesweit über rund 430 Mitglieder. Der baden-württembergische JN-Landesverband gehört zu den strukturell am deutlichsten ausgeprägten JN-Landesverbänden. Der hiesige NPD-Landesverband zählt nicht zu den bedeutenderen NPD-Landesverbänden. Nach dem Ausscheiden der DVU aus dem brandenburgischen Landtag im Herbst 2009 ist die NPD nunmehr als einzige rechtsextremistische Partei in Fraktionsstärke in Landesparlamenten vertreten, nämlich in Sachsen (seit 2004) und in Mecklenburg-Vorpommern (seit 2006). Die Bundes-NPD verfügt mit der monatlich erscheinenden "Deutschen Stimme" (DS) über eine eigene Parteizeitung, die bei der "Deutsche Stimme Verlags GmbH" im sächsischen Riesa erscheint und vom NPD-Bundesparteivorstand in Berlin herausgegeben wird. 4.1.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Dass sich die NPD in den letzten Jahren zur bedeutendsten rechtsextremistischen Kernorganisation in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln konnte, lässt sich nur zum Teil mit ihren Mitgliederzuwächsen, die im Jahr 2008 und 2009 auf Bundesebene ausblieben, und ihren verein282 Siehe zu den JN ausführlicher Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 182ff. 191 zelten Wahlerfolgen erklären. Entscheidend ist, dass die Partei seit Jahren relativ erfolgreich versucht, durch eine gezielte Bündnispolitik sowie durch personelle Verzahnungen einen spürbaren Einfluss auf weite Teile der übrigen rechtsextremistischen Szene auszuüben. In den letzten Jahren hat sich dadurch sogar eine schrittweise Ausrichtung oder Konzentration größerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD ergeben. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sprach bereits Ende 2006 in diesem Zusammenhang von der NPD als dem "Gravitationsfeld" im deutschen Rechtsextremismus.283 Der baden-württembergische NPD-Landesverband spielt in diesem Entwicklungsprozess der Gesamtpartei anders als manche anderen, mitgliederstärkeren, aktiveren oder bei Wahlen erfolgreicheren Landesverbände keine Vorreiterrolle. Dennoch sind diese Entwicklungen zumindest zum Teil auch an seinem Beispiel nachvollziehbar. Die herausgehobene Position der NPD innerhalb der rechtsextremistischen Organisationslandschaft auf Bundesebene und im Land lässt sich unter anderem an folgenden Anhaltspunkten festmachen: Ansteigende Mitgliederentwicklung Bei der NPD war auf Bundesebene bis einschließlich 2007 - und in BadenWürttemberg sogar noch darüber hinaus - eine im Vergleich zu anderen rechtsextremistischen Parteien völlig untypische, weil ansteigende Mitgliederentwicklung zu verzeichnen. Die NPD ist daher seit dem Jahr 2007 in Deutschland und seit 2009 auch in Baden-Württemberg die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei. Die Entwicklung verlief auf Bundesebene und im Land seit der Einstellung des vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen die NPD angestrengten Parteiverbotsverfahrens am 18. März 2003 weitgehend kontinuierlich. Auf Bundesebene verlief der Zuwachs der Mitgliederzahlen allerdings deutlich steiler als in Baden-Württemberg. Die Partei hatte in den Jahren 2003 bis 2007 wieder an die steigende Mitgliederentwicklung anknüpfen können, die sie in den Jahren 1996 bis 2001 schon einmal auf Bundesebene genommen hatte. Als 1996 ihr jetziger Bundesvorsitzender Udo VOIGT sein Amt antrat, hatte 283 Vgl. zu diesem Thema: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) als Gravitationsfeld im Rechtsextremismus. Stand: De192 zember 2006; abrufbar unter http://www.verfassungsschutz.de. R E C H T S E X T R E M IS M U S die Bundes-NPD mit circa 3.500 Mitgliedern ihren bisherigen personellen Tiefpunkt erreicht. Seither konnte die NPD ihre Mitgliederzahl trotz Rückgängen in den Jahren 2008 und 2009 also annähernd verdoppeln. Die baden-württembergische Landes-NPD konnte ihren Mitgliederstand zwar auch in den Jahren 2008 und 2009 steigern, doch selbst im Jahr 2009 übertrifft er mit circa 460 Mitgliedern kaum den Bestand von 1996 (circa 440). Der Mitgliederbestand der Bundes-NPD fiel im Jahr 2009 von circa 7.000 im Jahr 2008 auf circa 6.800 Mitglieder. Im Gegensatz dazu musste die DVU in demselben Zeitraum dramatische Mitgliederverluste hinnehmen. Sie wies auf Bundesebene im Jahr 2009 (circa 4.500) nicht einmal mehr ein Drittel der Mitgliederzahl auf wie im Jahr 1996 (circa 15.000), auf Landesebene sogar nur noch gut ein Fünftel (1996: circa 1.900; 2009: circa 400). Aber nicht nur rein quantitativ machte die NPD in den vergangenen Jahren eine aus ihrer Sicht alles in allem positive Mitgliederentwicklung durch. Gleichzeitig gelingt es ihr offenbar, sich immer weiter zu verjüngen: Der baden-württembergische JN-Landesverband stagnierte im Jahre 2009 zwar bei circa 110 Mitgliedern (2008: circa 110; 2007: circa 90; 2006: circa 60), stellte damit aber weiterhin rund knapp ein Viertel der baden-württembergischen NPD-Mitglieder. Kampagnefähige Organisation Der Anstieg der NPD-Mitgliederzahlen in den letzten Jahren wird in seiner Bedeutung durch den Umstand verstärkt, dass die Partei an ihrer Bundesspitze, aber auch auf mancher Landesund Kommunalebene über aktionistische, kampagnefähige Kader verfügt, die zudem häufig ideologisch geschult und gefestigt sind. Auch diese Faktoren unterscheiden die NPD von der DVU und verleihen der Partei eine öffentliche Präsenz (zum Beispiel durch die Veranstaltung von Demonstrationen oder im Rahmen der sogenannten Wortergreifungsstrategie284), die von keiner anderen rechtextremistischen Einzelorganisation in diesem Ausmaß erreicht wird. Öffnung zur Skinheadszene Die NPD strebt nach einem Schulterschluss mit der rechtsextremistischen Skinheadszene. Zu diesem Zweck veranstaltet sie zum Beispiel 284 Siehe zur sogenannten Wortergreifungsstrategie Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 179ff. und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 171f. 193 Skinheadkonzerte oder lässt Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen auftreten. So trat nach parteieigenen Angaben auf einem NPD-Sommerfest aus Anlass des sächsischen Landtagswahlkampfauftaktes am 27. Juni 2009 im ostsächsischen Jänkendorf unter anderem die Skinheadband "Carpe Diem" aus dem Großraum Stuttgart auf.285 Ziel ist dabei, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. Doch aufgrund der für Skinheads typischen Unfähigkeit oder Abneigung, sich langfristig in eine festere Organisationsstruktur einbinden zu lassen und dort auch diszipliniert mitzuarbeiten, sind die Erfolgsaussichten dieser Annäherungsversuche begrenzt. Selbst soweit es der Partei gelingt, Skinheads bei sich einzubinden - und sei es nur vorübergehend als Teilnehmer an NPD-Demonstrationen - begegnen manche NPD-Vertreter den Skinheads mit Vorbehalten. Schulterschluss mit Neonaziszene Die NPD, die in Teilen selbst als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden muss, bemüht sich bereits seit Jahren und nicht ohne Erfolg auch um einen Schulterschluss mit der bislang mehr oder minder parteiunabhängigen Neonaziszene, was in der von ihr seit dem Jahr 2004 betriebenen "Volksfront"-Strategie zum Ausdruck kommt. Dabei nimmt sie Neonazis nicht nur als einfache Mitglieder auf, sondern wählt auch überregional bis bundesweit bekannte Neonazi-Kader in hohe Parteifunktionen. So waren im Jahr 2009 mit Thorsten HEISE, Thomas WULFF und dem am 29. Oktober 2009 verstorbenen Jürgen RIEGER drei bundesweit bekannte Neonazis Mitglieder im NPD-Bundesvorstand. RIEGER war seit 2008 einer von drei stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Der Neonazi Andreas THIERRY, der 2007 bis 2009 als einer der stellvertretenden baden-württembergischen NPD-Landesvorsitzenden fungierte, wurde auf dem NPD-Bundessonderparteitag am 4. und 5. April 2009 in Berlin als Beisitzer in den NPD-Bundesvorstand gewählt.286 THIERRY bekannte sich noch zum Beginn des Jahres 2009 zu "kompromissloser Fundamentalopposition"287 und zeigte sich unter anderem damit als innerparteilicher Hardliner. Er taucht bereits seit 2004 (2004 bis 2006 als Mitglied im "Wissenschaftlichen Beirat", seit 2006 285 Beitrag "Sachsen: Wahlkampfauftakt - 'Helft alle tatkräftig mit...'" vom 28. Juni 2009, Homepage der Bundes-NPD vom 2. Juli 2009. 286 Homepage der Bundes-NPD vom 9. Oktober 2009. 287 "Volk in Bewegung & Der Reichsbote" Nr. 1-2009, Vorwort "Gegen faule Kompromisse - für 194 eine Neue Ordnung!" von Andreas THIERRY, S. 3. R E C H T S E X T R E M IS M U S als "Verantwortlicher Schriftleiter" und seit 2007 als Mitglied der "Schriftleitung") im Impressum der neonazistischen Zeitschrift "Volk in Bewegung & Der Reichsbote - Das nationale Magazin" (ViB) auf, die vom "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" mit Sitz im thüringischen Fretterode288 herausgegebenen wird und in der er seit Jahren Artikel publiziert. Mit dem Landespressesprecher des NPD-Landesverbandes Bayern ist ein weiterer relativ hochrangiger NPD-Funktionär seit 2006 Mitglied der ViB-"Schriftleitung".289 Der Schulterschluss der NPD und der JN mit der Neonaziszene kommt auch darin zum Ausdruck, dass auf den Unterstützerlisten zu den von den baden-württembergischen JN veranstalteten Demonstrationen am 1. Mai 2009 in Ulm und am 3. Oktober 2009 in Friedrichshafen zahlreiche Neonazigruppierungen aus Baden-Württemberg und anderen Ländern auftauchen.290 Der offen und zum Teil mit Erfolg angestrebte Schulterschluss der NPD mit der Neonaziszene bleibt für die Partei ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist die personelle Verzahnung zwischen NPD und Neonaziszene grundsätzlich dazu geeignet, das immer wieder angespannte gegenseitige Verhältnis zu verbessern. Das wiederum erhöht das Ansehen und damit die Einflussmöglichkeiten der Partei unter den Neonazis. Zudem verschafft die Kooperation mit Neonazis der Partei ein zusätzliches Reservoir an einsatzbereiten Aktivisten, unabhängig davon, ob diese Parteimitglieder sind oder nicht. Dies ist für die NPD zum Beispiel in Regionen wichtig, in denen sie selbst nur über geringe personelle Ressourcen verfügt. Andererseits birgt die unverhohlene Annäherung an die Neonaziszene die Gefahr, potenzielle Mitglieder oder Wähler abzuschrecken, die nicht diesem härtesten Kern des deutschen Rechtsextremismus zuzurechnen sind. Darüber hinaus ist das Personenpotenzial der Neonaziszene trotz der seit Jahren steigenden Tendenz immer noch sehr überschaubar und würde der NPD selbst im Fall einer fast völligen Verschmelzung mit der Partei nur einen relativ geringen Wählerund Mitgliederzuwachs bescheren, der die Erschließung breiterer Bevölkerungsgruppen nicht ersetzen könnte. Unabhängig davon zeigen sich im Verhältnis zwischen der NPD, deren Vordenker gerade in den letzten Jahren verstärkt auf das Erscheinungsbild der Partei in der Öffentlichkeit bedacht sind, und den Neonazis, die selten wil288 Bis einschließlich ViB-Ausgabe 5-2009 hatte das "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" seinen Sitz in Ellwangen/Ostalbkreis gehabt. 289 ViB Nr. 5-2009, Impressum, S. 2. 290 Entsprechende Unterstützerlisten auf der Mobilisierungsseite der JN Baden-Württemberg für den 1. Mai 2009 in Ulm vom 9. Oktober 2009 und auf einer Mobilisierungsseite für den 3. Oktober 2009 in Friedrichshafen vom 13. Oktober 2009. 195 lens oder in der Lage sind, ihren ideologischen Fanatismus wenigstens nach außen zu zügeln, immer wieder Brüche. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür lieferte zu Beginn des Jahres 2009 Thomas WULFF, einer derjenigen führenden Protagonisten der Neonaziszene, die 2004 durch ihren Eintritt in die NPD mit ein Startsignal für die "Volksfront" von Partei und Neonaziszene gegeben hatten.291 Unter der Überschrift "Thomas 'Steiner' Wulff: 2008 - Das Ende der Volksfront" tauchte um den Jahreswechsel 2008/2009 ein mit WULFFs Pseudonym "STEINER" unterzeichneter und vom 1. Januar 2009 datierter Text im Internet auf. Darin wird in einer Art Generalabrechnung mit der damaligen NPD-Bundesparteiführung und den beiden NPD-Landtagsfraktionen "führende[n] Parteifunktionäre[n]" vorgeworfen, "eine sich ständig verschärfende Abkehr vom gemeinsamen Volksfrontgedanken" zu vertreten. Der Text gipfelt bereits ziemlich am Anfang in den Satz "DIESE PARTEIFÜHRUNG IST ZU EINER ZUSAMMENARBEIT AUF BUNDESEBENE NICHT MEHR WILLENS UND IN DER LAGE!". Der folgende Hauptteil des Textes besteht im Wesentlichen aus scharf formulierten Begründungen für diesen Vorwurf. Allerdings ruft der Text ausdrücklich nicht zum Parteiaustritt auf und bekundet den Willen zu einer weiteren, zumindest punktuellen Zusammenarbeit mit der NPD. Die im Umgang miteinander "bisher gebotene revolutionäre Disziplin politischer Kämpfer" werde man nun jedoch "beiseite legen".292 Der Bruch WULFFs mit der NPD-Bundesparteispitze erwies sich jedoch nicht als endgültig: Obwohl einige der in dem zitierten Text vehement angegriffenen Funktionäre nach wie vor NPD-Bundesvorstandsmitglieder sind, wurde WULFF auf dem NPD-Bundessonderparteitag am 4. und 5. April 2009 in Berlin als Beisitzer selber in den NPD-Bundesvorstand gewählt, dem er bereits früher einmal angehört hatte. Personelle Verflechtungen der NPD mit anderen rechtsextremistischen Organisationen Auch im Jahr 2009 hielt die seit Jahren zu beobachtende Entwicklung hin zu einer engen personellen Verflechtung der NPD mit anderen rechtsextremistischen Organisationen an. Dies äußert sich nach wie vor etwa darin, dass führende NPD-Mitglieder Leitungsfunktionen in solchen Organisationen übernehmen und somit ihrer Partei entsprechende Einflussmöglichkeiten eröffnen. 291 Siehe zur "Volksfront" auch Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 141f. 292 Beitrag "Thomas 'Steiner' Wulff: 2008 - Das Ende der Volksfront" vom 1. Januar 2009, 196 rechtsextremistische Homepage vom 12. Oktober 2009; Übernahme wie im Original. R E C H T S E X T R E M IS M U S n So bekleidet der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER aus Villingen-Schwenningen eine führende Funktion in der rechtsextremistischen "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH): Auf seiner eigenen Homepage gab er im Oktober 2009 bekannt, dass er auf einer DLVH-Mitgliederversammlung am 3. Oktober 2009 "bei Würzburg" erneut zum Geschäftsführenden Bundessprecher der DLVH gewählt worden sei.293 Im selben Zeitraum wurde ein Beitrag auf die Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg eingestellt, demzufolge die DLVH die "NPD stärken" wolle.294 Bei den Kommunalwahlen am 7. Juni 2009 zog SCHÜTZINGER für die DLVH in den Kreistag des Schwarzwald-Baar-Kreises und in den Gemeinderat von Villingen-Schwenningen ein. SCHÜTZINGER wird außerdem von der rechtsextremistischen "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP) auf deren Homepage als Vorstandsmitglied geführt.295 n Der auf dem Bundessonderparteitag am 4. und 5. April 2009 in Berlin zu einem von drei stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden gewählte Karl RICHTER war laut Impressum eines von vier Redaktionsmitgliedern bei "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" (N&E)296, die ihr Erscheinen Ende 2009 allerdings einstellte. In diesem ältesten rechtsextremistischen Strategieund Theorieorgan in Deutschland trat er auch als Autor in Erscheinung. Außerdem ist er Vorsitzender der rechtsextremistischen, NPD-nahen Münchener "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA), für die er seit 2008 im Münchener Stadtrat sitzt. Die NPD-Nähe der BIA wird auch dadurch dokumentiert, dass RICHTER Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes München-Stadt/Land ist.297 Die NPD produziert immer wieder Querelen und Skandale, die nicht nur das ohnehin schlechte Image der Partei in der demokratischen Mehrheits293 Meldung "Jürgen Schützinger wiedergewählt", Homepage von Jürgen SCHÜTZINGER vom 11. November 2009. 294 Beitrag "'Deutsche Liga' will NPD stärken", Homepage des NPD-Landesverbandes BadenWürttemberg vom 12. November 2009. 295 GfP-Homepage vom 22. Dezember 2009. 296 N&E Heft 9 vom September 2009, Impressum, S. 2. 297 RICHTER kann als NPD-Multifunktionär bezeichnet werden: Neben den aktuellen, oben genannten Funktionen auf Bundesund Kreisebene war er von 2004 bis 2008 Leiter des Parlamentarischen Beratungsdienstes der sächsischen NPD-Landtagsfraktion, Juli 2008 bis April 2009 stellvertretender Chefredakteur und ist seit der Mai-Ausgabe 2009 Chefredakteur 197 der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme". gesellschaft weiter verschlechtern, sondern auch die eigene Position innerhalb der rechtsextremistischen Szene beschädigen und teils heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen heraufbeschwören. Solche Auseinandersetzungen gab es auch in Reaktion auf die Vorfälle um den ehemaligen NPD-Bundesschatzmeister Erwin KEMNA. KEMNA war am 12. September 2008 durch das Landgericht Münster zu zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte gestanden, Parteigelder in sechsstelliger Höhe veruntreut zu haben.298 Diese Auseinandersetzungen entwickelten sich im Jahr 2009 zu einem in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Machtkampf und mündeten auf dem Berliner Bundessonderparteitag im April in eine Kampfkandidatur des mecklenburg-vorpommerschen Landtagsfraktionsvorsitzenden Udo PASTÖRS um den Bundesparteivorsitz gegen den Amtsinhaber Udo VOIGT. VOIGT hat die Wahl für sich entschieden. Am 26. August 2009 wurde ein Rechtsextremist aus dem Raum Lörrach unter dem Verdacht der Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens 299 festgenommen. Der Beschuldigte, der in der Vergangenheit auch in der Neonaziszene verkehrt hatte, war im Juni 2009 zusammen mit weiteren Personen aus dem Raum Lörrach mit der Gründung eines JN-"Stützpunktes"300 in Erscheinung getreten. Der Beschuldigte befindet sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Das Ermittlungsverfahren dauert noch an. 298 Siehe dazu auch Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 164f. 299 Vgl. SS 308 StGB. 198 300 Siehe zu den JN-"Stützpunkten" Kap. D, 4.1.5. R E C H T S E X T R E M IS M U S 4.1.2 Wahlen Die NPD trat im Jahr 2009 zur Bundestags-, sechs Landtagsund den baden-württembergischen Kommunalwahlen an. Bei der Europawahl war sie nicht vertreten. Sie stellte damit unter Beweis, dass der "Kampf um die Parlamente" innerhalb des von ihr verfolgten "Vier-Säulen-Konzepts"301 nach wie vor einen hohen Stellenwert besitzt. Die NPD führte bundesweit zwei Infostand-Aktionstage durch, am 7. März 2009 und - kurz vor der Bundestagswahl - am 19. September 2009. In Baden-Württemberg gab es Aktivitäten am 7. März in Eislingen/Fils im Kreis Göppingen und am 19. September in Weinheim/Rhein-NeckarKreis. Die baden-württembergische Kommunalwahl vom 7. Juni 2009 Gleichzeitig mit den Wahlen zum Europäischen Parlament fanden am 7. Juni 2009 in mehreren Bundesländern, darunter auch in Baden-Württemberg, Kommunalwahlen statt. Bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen konnten Rechtsextremisten fast keine Erfolge verzeichnen. Die baden-württembergische NPD hatte ihren Kommunalwahlkampf langfristig und strategisch angelegt. Bereits im September 2006 war vom baden-württembergischen NPD-Landesverband ein "kommunalpolitischer Arbeitskreis" gegründet worden, dessen Zielvorgabe darin bestand, ein möglichst gutes Abschneiden der Partei bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen zu erreichen. Dabei sollte sich der "Arbeitskreis" schwerpunktmäßig auf die Region Stuttgart konzentrieren, um dort in das Regionalparlament einzuziehen. Die von der Südwest-NPD angestrebte Verankerung auf kommunaler Ebene sollte dabei langfristig als Schritt hin zu einem Einzug in den baden-württembergischen Landtag im Jahr 2011 dienen. Nicht nur gemessen an dieser Zielvorgabe ist das Abschneiden der NPD bei der Wahl zur Regionalversammlung Stuttgart als klarer Misserfolg zu werten: Die Partei konnte nur 0,9 Prozent Stimmenanteil auf sich vereinigen und daher keine eigenen Vertreter in die Regionalversammlung entsenden. Damit erhielten nach der NPD-eigenen Logik auch die Hoffnungen der Partei auf einen Einzug in den baden-württembergischen Landtag im Jahr 2011 einen schweren Dämpfer. Lediglich bei der gleichzeitig abgehaltenen Kreis301 Zum "Vier-Säulen-Konzept" gehören neben dem "Kampf um die Parlamente" der "Kampf um die Straße", der "Kampf um die Köpfe" und der "Kampf um den organisierten Willen". 199 tagswahl im Kreis Böblingen errang die NPD laut dem amtlichen Endergebnis mit knapp 1,3 Prozent einen Ausgleichssitz. Bei der Kreistagswahl im Schwarzwald-Baar-Kreis konnte die "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) mit 3,2 Prozent der abgegebenen Stimmen (2004: 3,4 Prozent) zwar besser abschneiden als die NPD in Böblingen, entsandte allerdings - wie schon 2004 - auch nur einen Vertreter in den Kreistag. Bei diesem DLVH-Vertreter handelt es sich um den NPDLandesvorsitzenden Jürgen SCHÜTZINGER. Bei der Gemeinderatswahl in Villingen-Schwenningen erreichte die DLVH laut dem amtlichen Endergebnis einen Stimmenanteil von 4,4 Prozent (2004: 5,4 Prozent) und erlangte damit ein Mandat, das wiederum durch SCHÜTZINGER wahrgenommen wird (2004: zwei Mandate). Die Bundestagswahl vom 27. September 2009 Schon bei früheren Wahlkämpfen - auch in Baden-Württemberg - hatte die NPD sogenannte Schulhof-CDs eingesetzt, um insbesondere Erstund andere Jungwähler anzusprechen. Auch im Jahr 2009 - zuletzt anlässlich des Bundestagswahlkampfs - nutzte die Partei dieses Medium zur Wahlwerbung. Im August 2009 wurde auf einer Vielzahl von Internetseiten der NPD und der JN eine neue "Schulhof-CD" der Partei mit dem Titel "BRD vs. Deutschland" zum Download bereitgestellt. Auf dieser CD befinden sich vor allem Musikstücke, darunter unter anderem von den rechtsextremistischen Skinheadbands "Noie Werte" aus dem Rems-Murr-Kreis/Raum Tübingen, "Act of Violence" aus dem Raum Ulm und "Blue Max" aus Schwarzach/Neckar-Odenwald-Kreis. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass unterschiedliche Versionen der CD zur Verteilung kamen. Die Generalstaatsanwaltschaften des Freistaats Sachsen, von Karlsruhe und Stuttgart stellten nach juristischer Prüfung der CD keine strafrechtliche Relevanz fest. Im Laufe des Bundestagswahlkampfs wurde die CD am 16. September 2009 vor einem Gymnasium in Weinheim/Rhein-Neckar-Kreis verteilt. Nach NPD-eigenen Angaben kam die CD außerdem in Mannheim sowie in Ladenburg und Sinsheim (beide im Rhein-NeckarKreis) zur Verteilung. Die Aktionen sollten demzufolge bis zur Bundestagswahl fortgesetzt werden.302 302 Beitrag ",Schulhof-CD' Verteilaktion läuft auf vollen Touren", Homepage des NPD-Kreisver200 bandes Rhein-Neckar vom 23. Oktober 2009. R E C H T S E X T R E M IS M U S Derlei Wahlkampfanstrengungen brachten der NPD nicht den von ihr selbst erwünschten Erfolg: Sie schnitt bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 mit 1,5 Prozent der Zweitstimmen noch etwas schlechter ab als bei der Bundestagswahl 2005, als sie 1,6 Prozent erreicht hatte. Von der deutlich gesunkenen Wahlbeteiligung (2005: 77,7 Prozent; 2009: 70,8 Prozent) konnte sie nicht profitieren. Damit kommt sie weiterhin bei bundesweiten Wahlen über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus. Lediglich die Tatsache, dass sie mit ihrem Ergebnis in den Genuss der staatlichen Teilfinanzierung303 kam, konnte die mit finanziellen Problemen behaftete NPD als Teilerfolg verbuchen. Ein Blick auf die NPD-Landesergebnisse ergibt ein differenziertes Bild. Mit ihren jeweiligen Landeslisten erreichte die NPD Ergebnisse zwischen 0,9 Prozent (in Hamburg und Nordrhein-Westfalen) und 4,0 Prozent (in Sachsen). Auch ist ein sichtbares Ost-West-Gefälle festzustellen: Ihr schlechtestes Ergebnis in Ostdeutschland betrug 1,6 Prozent in Berlin, hingegen ihr bestes in Westdeutschland 1,3 Prozent in Bayern und im Saarland. In Baden-Württemberg erreichte sie wie in Bremen und Hessen nur unterdurchschnittliche 1,1 Prozent der Zweitstimmen und landete damit im Vergleich der westdeutschen NPD-Landesverbände im Mittelfeld. Die sechs Landtagswahlen des Jahres 2009 Ein Blick auf die NPD-Landtagswahlergebnisse des Jahres 2009 zeigt ein sehr unterschiedliches Bild: Deutlichen Niederlagen mit höchstens 1,5 Prozent Zweitstimmenanteil im Westen stehen Erfolge bis hin zum Wiedereinzug in den sächsischen Landtag im Osten gegenüber. Dass die NPD bei allen sechs Landtagswahlen des Jahres 2009 antrat, ist die Konsequenz ihrer einseitigen faktischen Kündigung des sogenannten Deutschland-Pakts Mitte 2009. NPD und DVU waren bis dahin durch den am 15. Januar 2005 unterzeichneten "Deutschland-Pakt" verbunden gewesen, demzufolge sich DVU und NPD bis einschließlich 2009 bei Wahlen auf Europa-, Bundesoder Landesebene keine Konkurrenz machen wollten. Dabei handelte es sich inhaltlich um die Fortschreibung der "Gemeinsamen 303 Anspruch auf staatliche Mittel haben Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der jeweils letzten Bundestagswahl mindestens 0,5 Prozent der für die Listen abgegebenen gültigen Stimmen erreicht haben. 201 Erklärung" vom 23. Juni 2004, mit der beide Seiten vereinbart hatten, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im September 2004 nicht gegeneinander anzutreten.304 Eine erste Abänderung erfuhr der "Deutschland-Pakt" bereits im Oktober 2008, als der NPD-Landesverband Thüringen entgegen der ursprünglichen Vereinbarungen ankündigte, zur thüringischen Landtagswahl am 30. August 2009 anzutreten. Dies setzte er dann auch um, während die DVU auf den eigentlich ihr zugestandenen Wahlantritt im Freistaat verzichtete. Die NPD scheiterte mit 4,3 Prozent der Zweitstimmen relativ knapp (2004: 1,6 Prozent). Zu diesem Zeitpunkt war der "Deutschland-Pakt" schon Geschichte: Am 27. Juni 2009 hatte der NPD-Bundesvorstand dem Antrag des brandenburgischen NPD-Landesverbands zugestimmt, am 27. September 2009 neben der DVU zur dortigen Landtagswahl anzutreten. Dies kam einer einseitigen Aufkündigung des "Deutschland-Pakts" gleich. Daraufhin kam es nicht nur zu Konkurrenzkandidaturen von DVU und NPD in Brandenburg, sondern auch bei der Bundestagswahl. Die NPD konnte bei der brandenburgischen Landtagswahl dann zwar mit einem Zweitstimmenanteil von 2,6 Prozent klar die DVU (1,1 Prozent) überrunden, kam damit aber nicht in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde. Besonders schlecht schnitt die NPD bei den Landtagswahlen am 18. Januar 2009 in Hessen und am 27. September 2009 in Schleswig-Holstein ab, wo sie jeweils nur 0,9 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinigen konnte, obwohl sie sich in beiden Bundesländern nicht mit einer Konkurrenzkandidatur durch die DVU konfrontiert sah. Während sie damit ihr schlechtes hessisches Wahlergebnis beim letzten dortigen Urnengang vom Januar 2008 einstellte, errang sie in Schleswig-Holstein einen nicht einmal mehr halb so großen Zweitstimmenanteil wie noch bei der letzten dortigen Landtagswahl 2005 (damals 1,9 Prozent). In beiden Ländern kommt sie somit nicht einmal in den Genuss staatlicher Teilfinanzierung.305 Besonders enttäuschend für die NPD endete auch die saarländische Landtagswahl am 30. August 2009. Ihre 1,5 Prozent Stimmenanteil lagen deutlich unter ihrem Ergebnis von 2004, als sie mit 4,0 Prozent in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde gekommen war und damit einen für westdeutsche NPD-Verhältnisse außergewöhnlich hohen Stimmenanteil erreicht hatte. 304 Siehe zum "Deutschland-Pakt" auch Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 166f. 305 Anspruch auf staatliche Mittel haben Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der jeweils letzten Landtagswahl mindestens 1,0 Prozent der für die Listen abgegebenen gülti202 gen Stimmen erreicht haben. R E C H T S E X T R E M IS M U S Bei der Landtagswahl in Sachsen am 30. August 2009 erreichte die NPD mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen den Wiedereinzug in das Landesparlament. Im Vergleich zu ihrem ersten derartigen Wahlerfolg in Sachsen von 2004 (damals 9,2 Prozent) musste sie sichtbare Verluste hinnehmen. Die Partei ist im neuen sächsischen Landtag mit einer achtköpfigen Fraktion vertreten. Die Landtagswahlergebnisse der NPD im Jahr 2009 wie auch ihr Abschneiden in den einzelnen Ländern bei der Bundestagswahl werfen erneut Schlaglichter auf ein grundsätzliches und sich offenbar immer stärker verfestigendes Problem der NPD: Die Partei konnte, nachdem sie nach 1968 bei sämtlichen Landtagswahlen, zu denen sie antrat, gescheitert war, in Ostdeutschland seit 2004 in zwei Landesparlamente einziehen und dort in den letzten Jahren auch sonst in der Regel deutlich bessere Wahlergebnisse erzielen als in den alten Bundesländern. In Sachsen gelang ihr 2009 sogar erstmals in ihrer Parteigeschichte der Wiedereinzug in ein Landesparlament. Dagegen kommt sie in Westdeutschland bei Urnengängen über den Status einer Splitterpartei kaum hinaus. Offensichtlich kann sie Ergebnisse wie bei den sächsischen Landtagswahlen 2004 und 2009 und bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006 (7,3 Prozent) bislang nur unter den spezifischen ökonomischen und sozialen Bedingungen Ostdeutschlands erringen. In den westdeutschen Landtagen verfügt sie nach wie vor über kein parlamentarisches Standbein. Dadurch wird sie in der Öffentlichkeit immer mehr als ostdeutsches Sonderphänomen ohne ernstzunehmende Chancen in Westdeutschland wahrgenommen. 4.1.3 Ideologische Ausrichtung Die NPD ist eine unverhohlen rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei. Zahlreiche Vertreter der Partei - bis hin zu hochrangigen Funktionären - artikulieren und propagieren in unterschiedlicher Deutlichkeit ihre fundamentale Ablehnung der westlichen Moderne und Wertegemeinschaft im Allgemeinen und der von diesen Werten bestimmten freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen. So schrieb der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT in der Ausgabe der "Deutschen Stimme" (DS) vom Januar 2009 unter der Überschrift "Das System ist der Fehler": "'BRD heißt das System - morgen wird es untergehen!' - Wie oft haben wir aus Leibeskräften diese Parole bei unseren Demonstrationen gerufen? Unser systemkritischer Ansatz dient den Etablierten bis heute zur immer wiederkehrenden Begründung 203 der angeblichen Verfassungsfeindlichkeit der NPD. Nun scheint die Zeit des liberalkapitalistischen BRD-Systems gekommen zu sein. Wir weinen ihm sicher keine Träne nach (...) Es liegt auf der Hand, dass das Superwahljahr 2009 zu einem Supergau für die Systemparteien, wenn nicht gleich für die Weiterexistenz der Bundesrepublik werde könnte. - 'Unsere Stunde, die wird kommen...' heißt es in einem alten JN-Lied. Wenn 'unsere Stunde kommt', dann wird so manch einem Systempolitiker 'das Stündlein schlagen'." Dass VOIGT unter dem von ihm begrüßten Untergang "des liberalkapitalistischen BRD-Systems" nicht allein den Untergang des bundesdeutschen Wirtschaftssystems versteht, stellt er spätestens klar, wenn er am Ende seines DS-Artikels "unsere Vision von einem besseren Deutschland und einem gerechteren politischen System" beschwört.306 Ebenso war es als Absage an die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik zu verstehen, als VOIGT zwei Monate später in einem DS-Interview seine Überzeugung ausdrückte, dass "wir erst auf den Trümmern der liberalkapitalistischen BRD ein neues Deutschland aufbauen können".307 Dieselbe fundamental verfassungsfeindliche Einstellung kommt auch in dem acht Punkte umfassenden "Positionspapier" beziehungsweise "Grundsatzpapier" mit dem Titel "Der deutsche Weg" zum Ausdruck, das der NPD-Bundesparteivorstand am 26. April 2009 verabschiedete und das "als Grundlage weiterer politischer, strategischer und taktischer Überlegungen der Partei dienen soll". Schon unter Punkt "2. Eigenes Selbstverständnis: Systemüberwindung" des Papiers wird "eine ganz klare und vor allem kompromisslose Ausrichtung auf Überwindung des liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaats" zum Erfolgsrezept der NPD erklärt. Umgekehrt erteilt das Papier einer "einseitige[n] Anpassung an national-konservative Inhalte" eine klare Absage. Es preist die NPD wiederholt "als einzige echte Systemalternative" an, deren "eigenes Selbstverständnis" sie "davor bewahren" sollte, "Teil dieses uns von den Alliierten aufgezwungenen Systems werden zu wollen". Die Bundesrepublik wird als "gesamtgesellschaftliches Gefängnis" bezeichnet.308 306 DS Nr. 01/09 vom Januar 2009, Artikel "Das System ist der Fehler" von Udo VOIGT, S. 2. 307 DS Nr. 03/09 vom März 2009, Interview "'Die Herrschenden haben ihre Zukunft bereits verspielt' - Die DS im Gespräch mit Udo Voigt", S. 14f., Zitat: S. 15. 308 DS Nr. 06/09 vom Juni 2009, Artikel "Der Deutsche Weg. Dokument des Monats: Das Grund204 satzpapier des NPD-Parteivorstandes zur zukünftigen Ausrichtung nationaler Politik in Deutschland", S. 15f.; Übernahme wie im Original. R E C H T S E X T R E M IS M U S Der baden-württembergische NPD-Landesverband steht in seiner eindeutigen Verfassungsfeindlichkeit der Bundespartei in nichts nach. So veröffentlichte der NPD-Kreisverband Rhein-Neckar auf seiner Internetseite im August 2009 einen Text, in dem fundamentale Ablehnung und Verachtung für das westliche Demokratiemodell in aller Offenheit formuliert wird. Unter anderem heißt es dort: "Was ist nun diese Westliche-Werte-Demokratie? Es ist die schlimmste, am besten getarnte Diktatur aller Zeiten, die Demokratendiktatur! Das Demokraten-Kartell gleichgeschalteter internationalistischer Parteien ist Ausdruck, Büttel und Durchsetzungsinstrument des Finanzkapitals. (...) Die Westliche-WerteDemokratie gaukelt den Menschen scheinbare (Selbst-) Bestimmungsrechte vor und fordert sogar zum Selbstengagement heuchlerisch auf. Dies gilt aber nur insofern, wie diese Aktivitäten der Zersetzung der Nation und der Selbstzerstörung dienen: z.B.: Abtreibung 'Mein Bauch gehört mir!', Drogenkonsum und dem Kampf gegen Dissidenten. (...) Lügen, Unwahrheiten, Täuschungen und Korruption sind (...) keine Ausrutscher, sondern die system-immanenten Wegbegleiter in der Demokratie. Das System hat eben keine Fehler, sondern ist der Fehler. (...) Die Verschleierungs-Strategie des Systems (Demokraten und Medien) führt im Ergebnis zu dem folgenschweren Irrtum, dem die meisten Deutschen unterliegen, wir würden in einer Demokratie (= Herrschaft des bzw. für das Volk) leben. (...) Tatsächlich leben wir in einem totalitären System, das heuchlerisch in anderen Staaten wie Iran oder China Dissidenten-Verfolgung anprangert. In der BRD verfolgen die Demokraten Selbstdenker und Systemkritiker, die diese Zustände ans Licht bringen, gnadenlos, ächten sie sozial, versuchen sie materiell zu zerstören und/oder werfen sie in den Kerker."309 Gleichzeitig lässt dieser Text deutliche Sympathien erkennen für die Errichtung "einer volksverbundenen und sich der Nation verantwortlichen Diktatur, die nicht nach den Interessen des Finanzkapitals" handele. In einer solchen Diktatur "könnten die Handlungen zum Wohle der Nation erfolgen. So wie ein Patriach eines Familienunternehmens zum Nutzen aller das 309 Texte "Warum bist auch Du ein begeisterter Demokrat? - Der kleine Demokratie-Leitfaden für jedermann! Teil 1" und "Warum bist auch Du ein begeisterter Demokrat? - Der kleine Demokratie-Leitfaden für jedermann! Teil 2", Homepage des NPD-Kreisverbandes Rhein-Ne205 ckar vom 6. Oktober 2009. Unternehmen steuert. (...) Überall dort, wo es auf Leistung ankommt, gibt es eine 'Diktatur' - z. B. Management in Unternehmen oder beim Militär. Also ist die 'Diktatur' etwas völlig Normales in allen Lebensbereichen. Entscheidend ist nur - zu wessen Gunsten wird diese geführt. Und mit welchen Instrumenten."310 Die kompromisslos-fanatische Ablehnung der bundesdeutschen Verfassungsordnung innerhalb der NPD geht so weit, dass manche Vertreter der Partei auf ihrer Suche nach Gegenentwürfen und vermeintlichen "Alternativen" auch vor offen neonazistischer NS-Verherrlichung nicht zurückschrecken. "Deutsche Stimme": Ein führendes rechtsextremistisches Theorieund Strategieorgan Die DS erweist sich seit Jahren als Organ zur Verbreitung von rechtsextremistischen bis hin zu neonazistischen Äußerungen, auch wenn sie sich dabei zuweilen diverser, meist jedoch fadenscheiniger Verschleierungstaktiken bedient. Die DS ist aber nicht nur ein Forum für dezidierte Systemopposition bis hin zur NS-Verherrlichung. In ihr leisten mehr oder minder prominente Rechtsextremisten auch theoretisch-strategische Grundlagenarbeit: Sie ist ein Ort für Grundsatzdebatten und hat mittlerweile den Charakter eines führenden rechtsextremistischen Theorieund Strategieorgans angenommen. Beispielsweise wird in der DS einer Aktualisierung und Modernisierung des rechtsextremistischen Propagandathemenkanons das Wort geredet. Dabei wird eine Abkehr von vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen (besonders aus dem Bereich des Geschichtsrevisionismus) gefordert, die außerhalb der rechtsextremistischen Szene in der Regel mindestens auf Desinteresse, wenn nicht auf entschiedene Ablehnung stoßen. Stattdessen wird eine stärkere Hinwendung zu gegenwartsbezogenen bis hin zu tagesaktuellen Themen (beispielsweise aus dem 310 Texte "Warum bist auch Du ein begeisterter Demokrat? - Der kleine Demokratie-Leitfaden für jedermann! Teil 1", Homepage des NPD-Kreisverbandes Rhein-Neckar vom 6. Oktober 206 2009; Übernahme wie im Original. R E C H T S E X T R E M IS M U S Bereich der Sozialund Wirtschaftspolitik) angemahnt, die gesamtgesellschaftlich relevant sind und daher auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene diskutiert werden. Ziel ist es, die eigene Propaganda attraktiver, oberflächlich weniger angreifbar und damit effektiver zu machen, also möglichst bis in die Mitte der Gesellschaft neue Bündnispartner, Anhänger, Mitglieder und Wähler zu gewinnen. Den vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen scheint in dieser Strategie nur noch eine Rolle in der parteibeziehungsweise szeneinternen Kommunikation zugedacht zu sein, insbesondere bei der ideologischen Selbstvergewisserung längst eingeschworener Rechtsextremisten, die es nicht mehr zu überzeugen gilt. Mit der Überholung des eigenen Propagandathemenkanons ist keine Aufgabe oder auch nur Relativierung althergebrachter rechtsextremistischer Positionen in der NPD beabsichtigt. Ganz im Gegenteil: Mit der Aufbereitung zeitgemäßer Themen soll rechtsextremistisches Gedankengut erfolgreicher transportiert werden. 4.1.4 Aktivitäten Der Umfang der öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten der NPD bewegte sich im Jahr 2009 in Baden-Württemberg auf vergleichbarem Niveau wie 2008. Die bereits 2008 vom baden-württembergischen JN-Landesvorsitzenden, Lars GOLD aus Ulm, vorgenommene Relativierung der Bedeutung von landesweiten, überregionalen Demonstrationen dürfte es unter anderem ursächlich dafür sein, dass auch im Jahr 2009 - wie schon 2008 - in BadenWürttemberg gerade einmal zwei öffentlichkeitswirksame JN-Demonstrationen veranstaltet wurden. Allerdings konnten zu diesen beiden Demonstrationen jeweils deutlich mehr Teilnehmer mobilisiert werden, als die JN in Baden-Württemberg Mitglieder haben. So nahmen an der JN-Demonstration in Ulm am 1. Mai 2009 unter dem Motto "Aufruhr im Paradies! Die Jugend stellt sich quer für den Nationalen Sozialismus" rund 700 Personen teil. An einer sich nach dem Konzept einer "Doppeldemo" direkt anschließenden rechtsextremistischen Demonstration im benachbarten, bayerischen Neu-Ulm beteiligten sich sogar rund 800 Rechtsextremisten. Zu der JN-Demonstration am 3. Oktober 2009 in Friedrichshafen erschienen immerhin knapp 200 Teilnehmer. Am 17. Mai 2009 veranstaltete der NPD-Landesverband in Korb/RemsMurr-Kreis seinen 45. ordentlichen Parteitag. Im Rahmen der Vorstandswahlen wurde der Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt. An dem Parteitag nahmen circa 60 Delegierte teil. Als Gastredner trat der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT auf. 207 Mit dem 2006 gegründeten "Ring Nationaler Frauen" (RNF) verfügt die NPD über eine eigene Frauenorganisation. Der RNF legte 2009 in Baden-Württemberg nur geringe Aktivitäten an den Tag. Auf dem RNF-Bundeskongress am 17. Oktober 2009 in der NPD-Bundesparteizentrale in Berlin wurde Edda SCHMIDT aus Bisingen im Zollernalbkreis zur neuen RNFBundesvorsitzenden gewählt. Nach RNF-eigenen Angaben war SCHMIDT schon zuvor Beisitzerin im RNF-Bundesvorstand. Sie ist langjähriges NPD-Mitglied und aktuell Beisitzerin im NPD-Landesvorstand Baden-Württemberg.311 "Wortergreifungen" als gezielte Strategie von NPD und JN Bei einer sogenannten Wortergreifung handelt es sich um das gezielte und ostentative Erscheinen von Rechtsextremisten auf oder am Rande von öffentlichen Veranstaltungen (zum Beispiel auf Versammlungen, Demonstrationen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen), die gerade nicht von Rechtsextremisten durchgeführt werden. Das Spektrum der Organisationen, deren öffentliche Veranstaltungen von solchen "Besuchen" durch Rechtsextremisten potenziell betroffen sind, ist breit: Es umfasst unter anderem Parteien, Bürgerinitiativen, Vereine oder staatliche Einrichtungen. Das Themenspektrum der Veranstaltungen, auf denen Rechtsextremisten bevorzugt das Wort ergreifen, ist dagegen etwas übersichtlicher, scheinen hier doch Veranstaltungen zum Thema "Rechtsextremismus" stärker im Fokus zu stehen als andere Themen. Rechtsextremistische "Wortergreifungen" erfolgen also auf fremdem Terrain, aber häufig in eigener Sache. Bei diesen Aktionen lassen es Rechtsextremisten meist nicht bei bloßer Präsenz bewenden. Sie versuchen, das Wort zu ergreifen, also durch Diskussionsbeiträge oder in anderer Weise ihre Positionen vorzubringen, beispielsweise durch das Skandieren von Parolen, das Entrollen von Transparenten oder das Verteilen von Propagandamaterial. Die Rechtsextremisten verfolgen mit ihrer "Wortergreifungsstrategie" im Wesentlichen zwei Ziele: Einerseits soll die "Wortergreifungsstrategie" dem Rechtsextremismus selber möglichst großen Nutzen bringen, insbesondere zum Aufbrechen seiner gesellschaftlichen Isolation beitragen. Andererseits sollen die politischen Gegner des Rechtsextremismus möglichst schwer und nachhaltig, weil vor den Augen der Öffentlichkeit, beschädigt werden.312 311 Beitrag "Bundeskongress des Ring [sic!] Nationaler Frauen in Berlin - Neue RNF-Bundesvorsitzende ist Edda Schmidt" vom 18. Oktober 2009, RNF-Homepage vom 3. November 2009. 208 312 Siehe zur sogenannten Wortergreifungsstrategie Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 179ff. und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 171f. R E C H T S E X T R E M IS M U S Die NPD setzte auch 2009 auf die "Wortergreifungsstrategie", nicht zuletzt im Bundestagswahlkampf. Bereits in der März-Ausgabe der "Deutschen Stimme" forderte der damalige NPD-Generalsekretär Peter MARX in seiner 2008/2009 in der DS veröffentlichten Artikelreihe "Operation Bundestag - Informationen der Bundeswahlkampfleitung der NPD" die NPD-Mitglieder auf: "Hinein in Versammlungen - das Wort ergreifen! (...) Besucht die politischen Versammlungen in Eurem Bereich und streitet für die Nationaldemokratie!"313 In einer Pressemitteilung des JN-Bundesvorstandes vom 8. September 2009 aus Anlass des Bundestagswahlkampfs wurde der JN-Bundesvorsitzende Michael SCHÄFER unter anderem mit folgenden Worten zitiert: "'Unsere politischen Gegner werden damit rechnen müssen, dass junge Nationalisten sie auf ihren Veranstaltungen besuchen, um sie mit ihrer verlogenen Politik der letzten Jahrzehnte zu konfrontieren.'"314 Auch baden-württembergische NPD-Vertreter bekannten sich im Jahr 2009 zur "Wortergreifungsstrategie". So berichteten einschlägige NPDbeziehungsweise JN-Internetseiten über entsprechende Aktionen am 5. Februar 2009 in Sindelfingen/Krs. Böblingen und am 15. April 2009 in Ulm. 4.1.5 NPD-Organisationsstrukturen in Baden-Württemberg Die NPD weist auf ihrer Bundeshomepage Landesverbände für alle 16 Bundesländer aus.315 Der NPD-Landesverband Baden-Württemberg ist laut eigener Homepage vom Oktober 2009 im Land mit einem Regionalverband für den Bereich Böblingen-Stuttgart-Ludwigsburg und 13 Kreisverbänden vertreten.316 Diese Organisationsstrukturen decken das gesamte Land Baden-Württemberg in unterschiedlicher Dichte ab. Insgesamt weist der NPDLandesverband Baden-Württemberg ein weitmaschigeres Netz an derartigen Organisationsstrukturen auf als manch anderer NPD-Landesverband in ungefähr vergleichbaren Bundesländern. Zudem musste er Mitte 2009 seine im Jahr 2007 in einer ehemaligen Gaststätte in Rosenberg-Ho313 DS Nr. 03/09 vom März 2009, Artikel "Mit Volldampf in den Erfolgs-Sommer 2009!" von Peter MARX, S. 13; Übernahme wie im Original. 314 JN-Pressemitteilung "'Deine Stimme für Deutschland' - Junge Nationaldemokraten (JN) gehen erstmals mit eigenem Jungwählermaterial in die Bundestagswahl", Homepage des JNBundesvorstandes vom 14. Oktober 2009. 315 Homepage der Bundes-NPD vom 26. Oktober 2009. 316 Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2009. NPDKreisverbände existieren demzufolge in den Bereichen Alb-Donau/Ulm, Biberach, Bodensee/Konstanz, Esslingen/Göppingen, Heilbronn, Karlsruhe-Stadt, Karlsruhe-Land, RemsMurr, Rhein-Neckar, Schwäbisch Hall/Main-Tauber, Schwarzwald-Baar, Freiburg-Südlicher 209 Oberrhein und Zollernalb/Reutlingen. henberg/Ostalbkreis eingerichtete Landesgeschäftsstelle aufgeben, da die Immobilie an die Gemeinde verkauft worden war. Die Jugendorganisation der NPD (JN) verfügt anders als ihre Mutterpartei nicht über ein bundesweites Netz von Organisationsstrukturen: Auf der Homepage ihres Bundesvorstands führen sie solche Strukturen in nur elf Bundesländern auf. So existiert in dem Flächenland Brandenburg kein Landesverband, sondern nur ein regionaler, sogenannter "Stützpunkt", während für das Flächenland Hessen zwar der Landesverband, aber keine "Stützpunkte" aufgelistet werden.317 Geht man nach der Zahl der von den JN im Internet ausgewiesenen "Stützpunkte" und der Zahl der Mitglieder, zählt der baden-württembergische JN-Landesverband zu den strukturell am deutlichsten ausgeprägten JN-Landesverbänden. Laut Homepage des JN-Landesverbandes gab es im Januar 2010 in Baden-Württemberg 13 JN-Stützpunkte 318 (Dezember 2008: zehn). Die häufigen Neugründungen und Auflösungen von "Stützpunkten" zeigen, dass die Personaldecke der baden-württembergischen JN trotz der Mitgliederzuwächse der vergangenen Jahre noch immer recht dünn ist: Bei circa 110 baden-württembergischen JN-Mitgliedern und 13 "Stützpunkten" haben die einzelnen "Stützpunkte" im statistischen Durchschnitt nur rund acht bis neun Mitglieder. Hinzu kommt, dass das hiesige JN-"Stützpunkte"-Netz immer noch Lücken aufweist und daher zumindest 317 Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 23. Oktober 2009. 318 Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 20. Januar 2010. Hier werden Stützpunkte im Bereich Bodensee mit Postfach in Friedrichshafen, in Göppingen mit Postfach in Uhingen, in Heilbronn, im Bereich Hohenlohe mit Postfach in Künzelsau, in Karlsruhe, in Konstanz mit Postfach in Singen, in Lörrach, im Bereich Main-Tauber mit Postfach 210 in Weikersheim, im Bereich Ostalb, in Reutlingen/Esslingen, in Schwäbisch Hall, Stuttgart und Ulm/Heidenheim aufgelistet. R E C H T S E X T R E M IS M U S einzelne JN-Mitglieder keinen Stützpunkt in erreichbarer Nähe haben dürften. Verliert ein schwach besetzter "Stützpunkt" auch nur wenige Mitglieder (beispielsweise durch Austritt aus den JN, Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene oder durch Wegzug) kann das schon die Auflösung des "Stützpunkts" bedeuten, während im Gegenzug bereits der Eintritt von wenigen Jugendlichen in die JN zu einer "Stützpunkt"-Neugründung führen kann. 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 400 Baden-Württemberg (2008: ca. 600) ca. 4.500 Deutschland (2008: ca. 6.000) Die rechtsextremistische "Deutsche Volksunion" (DVU) wurde 1971 als eingetragener Verein und 1987 als politische Partei gegründet. Die fest in der rechtsextremistischen Szene verankerte Partei befindet sich seit Anfang 2009 in einer tiefgreifenden Umbruchsituation. Der DVU-Landesverband Baden-Württemberg legte 2009 sogar Zerfallserscheinungen an den Tag. Mit nunmehr 4.500 Mitgliedern im Bund und 400 Mitgliedern in Baden-Württemberg setzte sich auch 2009 der drastische personelle Niedergang fort. Die in vergangenen Jahren erfolgreichste rechtsextremistische deutsche Wahlpartei musste bei den Wahlen, zu denen sie 2009 antrat, schwere Niederlagen verkraften. So ist die DVU seit ihrem Ausscheiden aus dem brandenburgischen Landtag im September 2009 in keinem deutschen Landesparlament mehr vertreten. 4.2.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Noch in den 1990er-Jahren war die DVU bundesweit schon aufgrund ihrer relativ hohen Mitgliederzahl (1993: circa 26.000) ein quantitativ bedeutender Faktor innerhalb des deutschen Rechtsextremismus. Doch die Zahl von nunmehr circa 4.500 Parteiangehörigen (2008: circa 6.000) dokumentiert ihren drastischen personellen Niedergang innerhalb der letzten anderthalb Jahrzehnte. Auch der baden-württembergische DVU-Landesverband mit seinen mittlerweile nur noch circa 400 Mitgliedern (2008: circa 600) büßte seit 1993 (damals rund 2.900 Mitglieder) rund 85 Prozent seiner personellen Substanz ein. Dieser drastische Mitgliederschwund trifft mit der DVU eine Partei, deren Mitglieder ohnehin eine schon traditionell zu nennende ausgeprägte Passivität an den Tag legen. 211 Die DVU befindet sich seit Anfang 2009 in einer tiefgreifenden Umbruchsituation: Auf dem DVU-Bundesparteitag am 11. Januar 2009 in Calbe (Sachsen-Anhalt) wurde Matthias FAUST aus Hamburg zum neuen Bundesvorsitzenden der Partei gewählt. Der Rückzug ihrer bisherigen Schlüsselfigur Dr. Gerhard FREY von dieser Position bedeutet einen tiefen Einschnitt für die Partei. Die DVU wurde seit ihrem Bestehen von ihrem Gründer und bislang einzigen Bundesvorsitzenden, dem finanzkräftigen Münchner Verleger FREY, dominiert. Sie stand in einem weitgehenden finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, was er dazu nutzte, jeden innerparteilichen Pluralismus oder gar Widerspruch zu unterbinden. Daher konnte sich weder auf Bundesnoch auf Landesebene eine eigenständige, nicht von ihm gelenkte Parteiarbeit entwickeln. Der dominante Führungsstil von FREY hatte zudem zur Folge, dass neben ihm kaum überregional bekanntes, profiliertes DVU-Führungspersonal existiert. Ob und wie die Partei diese Umbruchsituation bewältigen kann und welche Rolle sie innerhalb der rechtsextremistischen Szene danach noch spielen wird, scheint momentan offen. Die feste Verankerung der DVU mitten in der rechtsextremistischen Szene ist auch daran abzulesen, dass die Partei seit Januar 2005 an dem sogenannten Deutschland-Pakt mit der dezidiert rechtsextremistischen, in Teilen sogar neonazistisch ausgerichteten NPD festhielt, bis dieser im Juni 2009 von NPD-Seite faktisch einseitig aufgekündigt wurde.319 Die von FREY herausgegebene "National-Zeitung/Deutsche Wochenzeitung" (NZ) konnte zumindest bis zum Rückzug FREYs von der Position des DVU-Bundesvorsitzenden als Sprachrohr der Partei angesehen werden. Sie ist das auflagenstärkste und in der Öffentlichkeit wohl bekannteste rechtsextremistische Presseorgan in Deutschland. Damit kommt ihr für die rechtsextremistische Szene eine erhebliche Bedeutung zu. Die NZ blieb auch im Jahr 2009 ihrer rechtsextremistischen Ausrichtung treu: So vertrat Bruno WETZEL, einer der DVU-Kandidaten zur Europawahl am 7. Juni 2009 und damaliger bayerischer DVU-Landesvorsitzender, in der NZ-Ausgabe vom 16. Januar 2009 eindeutige gebietsrevisionistische Thesen: 212 319 Siehe zum "Deutschland-Pakt" Kap. D, 4.1.2 und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 166f. R E C H T S E X T R E M IS M U S "Hätte Deutschland eine Regierung, die deutsche Interessen konsequent wahrnimmt, wären Verhandlungen über einen Rückerwerb Nordostpreußens auch heute ohne Weiteres vorstellbar. (...) Jedenfalls ist in der Königsberg-Frage noch nichts auf Dauer entschieden, so wie es in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie 'endgültige' Regelungen gegeben hat."320 4.2.2 Wahlen Unter der Führung von FREY war die DVU als Wahlpartei erfolgreicher als jede andere rechtsextremistische Partei: Seit Gründung der DVU als politische Partei im Jahr 1987 konnten rechtsextremistische Parteien 15 Mal in deutsche Landesparlamente einziehen, davon allein neun Mal die DVU. Hierfür war in vier Fällen eine Besonderheit des Bremer Bürgerschaftswahlrechts ursächlich.321 Unabhängig davon waren die Erfolge vor allem darauf zurückzuführen, dass FREY seine Partei nur zu Wahlen antreten ließ, bei denen er ihr eine wenigstens halbwegs realistische Aussicht auf Erfolg einräumte322, und dann auch bereit war, erhebliche Summen in den Wahlkampf zu investieren. Zudem war die DVU aufgrund der bereits genannten Absprachen zwischen 2004 und Juni 2009 bei Wahlen vor Konkurrenzkandidaturen durch die NPD geschützt. Im Wahljahr 2009 trat die DVU zur Europawahl, zur Bundestagswahl, aber nur zu einer der sechs Landtagswahlen an. In Brandenburg verfehlte sie ihr Ziel, ihre letzte Vertretung in einem deutschen Landesparlament zu verteidigen. Die Europawahl vom 7. Juni 2009 Obwohl die DVU bei der Europawahl durch den damals noch gültigen "Deutschland-Pakt" vor einer Konkurrenzkandidatur der NPD geschützt war, erreichte sie bundesweit gerade einmal 0,4 Prozent der abgegebenen Stimmen und bewegte sich somit in der Größenordnung einer Splitterpartei. In Baden-Württemberg entfielen sogar nur 0,2 Prozent der Stimmen auf sie. 320 NZ Nr. 4 vom 16. Januar 2009, Artikel "Deutsch auf dem Vormarsch - In Königsberg kommt es zur Rückbesinnung" von Bruno WETZEL, S. 20. 321 Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft muss eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete, in Bremen oder Bremerhaven, die Fünf-Prozent-Hürde überwinden, um in das Parlament einzuziehen. Lediglich bei der Bürgerschaftswahl 1991 gelang der DVU mit 6,2 Prozent im gesamten Land Bremen der Sprung in das Parlament in Fraktionsstärke. 1987, 1999, 2003 und 2007 überwand sie diese Hürde nur in Bremerhaven. 322 Die DVU trat seit 1987 daher nur zu 19 Landtagswahlen und zu je zwei Bundestagsbeziehungsweise Europawahlen an. 213 Auch von der für eine bundesweite Parlamentswahl extrem niedrigen Wahlbeteiligung von bundesweit gerade einmal 43,3 Prozent (Baden-Württemberg: 52,0 Prozent) konnte die DVU offenbar nicht profitieren. Bei der letzten Europawahl war die DVU nicht angetreten. Die Bundestagswahl vom 27. September 2009 Die DVU erzielte bei der Bundestagswahl 2009 mit 0,1 Prozent der Zweitstimmen ein desolates Ergebnis. Dieser Befund wird auch nicht wesentlich dadurch relativiert, dass die Partei nur in zwölf Bundesländern mit Landeslisten antrat. Nur in dreien dieser zwölf Bundesländer konnte die DVU geringfügig besser als mit 0,1 Prozent abschneiden, nämlich in Bremen, Sachsen-Anhalt (jeweils 0,3 Prozent) und in Brandenburg (0,9 Prozent). In Baden-Württemberg erreichte die DVU ebenfalls nur 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der DVU-Antritt eine kurzfristige Trotzreaktion auf die Aufkündigung des "Deutschland-Pakts" durch die NPD war und sie der lagerinternen Konkurrenz der Nationaldemokraten ausgesetzt war, führt das Abschneiden der Partei zu dem Schluss, den schon die Ergebnisse der Europawahl nahe gelegt hatten: Die DVU ist zumindest bei bundesweiten Wahlen eine vernachlässigenswerte Größe. Bei der letzten Bundestagswahl war die DVU nicht angetreten. Die Landtagswahl in Brandenburg vom 27. September 2009 Die brandenburgische Landtagswahl endete für die DVU ebenfalls mit einem Desaster. Von 6,1 Prozent bei der letzten Landtagswahl 2004 stürzte ihr Zweitstimmenanteil auf 1,1 Prozent ab. Die DVU ist damit erstmals seit zehn Jahren nicht mehr im brandenburgischen Landtag vertreten. Der Absturz der DVU bei der brandenburgischen Landtagswahl ist unter anderem auf die Konkurrenzkandidatur der in der Regel strukturstärkeren und in Wahlkämpfen agileren NPD zurückzuführen, die auf Anhieb mit 2,6 Prozent deutlich besser abschneiden konnte als die DVU. Mit dem Ausscheiden aus dem brandenburgischen Landtag ist die DVU das erste Mal seit Ende der 1990er-Jahre in keinem deutschen Landesparlament mehr vertreten.323 Dieser Umstand und der seit den 1990er-Jahren zu beobachtende drastische Mitgliederschwund der DVU weisen auf die immer prekärer werdende Gesamtsituation der Partei hin. 323 Ihr einziger Vertreter in der Bremischen Bürgerschaft war bereits im Juli 2007 aus der Partei 214 ausgetreten. R E C H T S E X T R E M IS M U S 4.2.3 Aktivitäten Im Jahr 2009 entwickelte der baden-württembergische DVU-Landesverband noch weniger Aktivitäten als in den vorangegangenen Jahren. Immer seltener führt die Partei in Baden-Württemberg Veranstaltungen durch, die dann zudem in der Regel keine ernsthafte Außenwirkung entfalten. Mittlerweile kann sogar von Zerfallserscheinungen innerhalb der baden-württembergischen DVU gesprochen werden: Ende September 2009 meldete der bayerische NPD-Landesverband auf seiner Homepage, dass der in Bayern wohnhafte ehemalige baden-württembergische Landesvorsitzende Walter BAUR "bereits seit mehreren Jahren NPD-Mitglied" und am 25. September 2009 aus der DVU ausgetreten sei.324 Die 2009 neu gestaltete Homepage der Bundes-DVU weist für Baden-Württemberg aktuell keinen Landesvorsitzenden, sondern nur einen Landesbeauftragen aus.325 Nach DVU-Angaben wurde im Juli 2009 eine eigene DVU-Jugendorganisation namens "Junge Rechte" gegründet326, die in Baden-Württemberg allerdings bislang nicht in Erscheinung getreten ist. 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag" Der 1953 von Dr. Herbert GRABERT (verstorben 1978) in Tübingen gegründete "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" firmiert seit 1974 unter seinem jetzigen Namen "GRABERT-Verlag". Seit 1972 fungiert GRABERTs Sohn Wigbert als Verlagsleiter und seit dem Tod seines Vaters als alleiniger Geschäftsführer. Der Verlag zählt nicht nur zu den ältesten, sondern auch zu den bedeutendsten organisationsunabhängigen rechtsextremistischen Verlagen in Deutschland. Mittlerweile verfügt er über mehrere Tochterunternehmen, darunter den 1985 gegründeten und ebenfalls in Tübingen ansässigen "Hohenrain-Verlag", der wie der "GRABERT-Verlag" seit 2004 mit einer eigenen Seite im Internet vertreten ist. 324 Beitrag "Walter Baur aus der DVU ausgetreten" vom 26. September 2009, Homepage des NPD-Landesverbandes Bayern vom 8. Oktober 2009. 325 Homepage der Bundes-DVU vom 20. Januar 2010. 326 Beitrag "Junge Rechte gegründet" vom 6. Juli 2009, Homepage der Bundes-DVU vom 21. Juli 2009. 215 In den zahlreichen Veröffentlichungen des "GRABERT-" und des "Hohenrain-Verlages" werden immer wieder entschieden rechtsextremistische Positionen propagiert. Schon wiederholt wurden daher Publikationen der beiden Verlage wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener eingezogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert. Wigbert GRABERT wurde am 21. Dezember 2009 in einer Berufungsverhandlung, die auf zwei Verurteilungen GRABERTs aus dem Jahr 2007 zurückging, vom Landgericht Tübingen wegen Volksverhetzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.327 GRABERTs Verteidigung legte nach Angaben des im "GRABERT-Verlag" erscheinenden "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten" Revision beim Oberlandesgericht Stuttgart ein. 328 Das Urteil ist demnach noch nicht rechtskräftig. Grund für die Verurteilung GRABERTs hatten Artikel aus der vierteljährlich im mittlerweile 57. Jahrgang in Tübingen erscheinenden Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart - Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik" (DGG) gegeben. Die pseudowissenschaftlich aufgemachte, meist knapp 50seitige DGG wird seit der Juni-Ausgabe 2009 wieder - wie schon in den Jahren 1979 bis 2007 - von Wigbert GRABERT herausgegeben. Mit dem mittlerweile im 20. Jahrgang erscheinenden "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund VerlagsNachrichten" verfügt der "GRABERTVerlag" über ein weiteres Periodikum, das bislang alle zwei Monate erschien und dessen Umstellung auf sogar monatliche Erscheinungsweise ab Januar 2010 avisiert ist329, dafür aber weit weniger umfangreich ist als die DGG. Der rechtsextremistische Charakter vieler der im "Euro-Kurier" veröffentlichten Beiträge, die zu einem erheblichen Teil auch der Werbung für Publikationen aus "GRABERT-" beziehungsweise "Hohenrain-Verlag" dienen, steht demjenigen der meisten DGG-Artikel in nichts nach. 327 Az.: 24 Ns 14 Js 6938/06. 328 "Euro-Kurier" Nr. 1 vom Januar 2010, Artikel "Wigbert Graberts Berufung abgelehnt - Landgericht verurteilt Verleger wegen Volksverhetzung", S. 1. 216 329 "Euro-Kurier" Nr. 1 vom Januar 2010, S. 1 und 13. R E C H T S E X T R E M IS M U S 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP) Die "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP), 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründet, ist trotz ihrer eindeutig rechtsextremistischen Ausrichtung nicht dem neonazistischen Spektrum zuzurechnen. Sie hatte im Jahr 2009 bundesweit circa 500 Mitglieder (2008: etwa 500). In Baden-Württemberg stagniert die GfP-Mitgliederzahl bereits seit Jahren bei circa 40. Sie bleibt damit die mitgliederstärkste rechtsextremistische Kulturvereinigung in Deutschland und rekrutiert sich vor allem aus Verlegern, Redakteuren, Publizisten und Buchhändlern. Ihr im 49. Jahrgang erscheinendes Mitteilungsblatt "Das Freie Forum" erscheint vierteljährlich. Als Kontaktadresse gibt die GfP auf ihrer Homepage ein Postfach in Oberboihingen/Krs. Esslingen an.330 Die GfP ist an ihrer Spitze personell eng mit anderen rechtsextremistischen Organisationen verflochten: Der seit 2005 amtierende GfP-Vorsitzende Andreas MOLAU ist zugleich Bundespressesprecher der DVU und war zuvor hochrangiger NPD-Funktionär. Ebenfalls bereits seit Jahren wird der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER von der GfP auf deren Homepage als Vorstandsmitglied geführt. 331 Im Jahr 2009 scheiterte die GfP wiederholt damit, ihren Jahreskongress durchzuführen. Der Jahreskongress, den sie unter dem Motto "EU - Europas Unglück" vom 8. bis 10. Mai 2009 nahe Berlin veranstalten wollte, konnte nicht stattfinden, da nach GfP-Angaben das vorgesehene Tagungshotel Ende April den Vertrag kündigte.332 Aus demselben Grund schlug auch der Versuch fehl, einen GfP-Jahreskongress zum Thema "Die Krise überwinden" am 7./8. November 2009 in Steinheim/Krs. Ludwigsburg zu veranstalten. 6. Aktionsfelder 6.1 "Das ist unsere Stunde!" - Rechtsextremistische Positionen zur Finanzund Wirtschaftskrise Im Rahmen der Aktualisierung und Modernisierung des rechtsextremistischen Propagandathemenkanons333, die seit Jahren mindestens von wich330 GfP-Homepage vom 11. November 2009. 331 GfP-Homepage vom 22. Dezember 2009. 332 "Das Freie Forum" Nr. 1 vom Januar/Februar/März 2009, S. 2. "Das Freie Forum" Nr. 2 vom April/Mai/Juni 2009, Artikel "GFP-Kongreß mußte verschoben werden", S. 1f. 333 Siehe dazu Kap. D, 4.1.3. 217 tigen Teilen der rechtsextremistischen Szene betrieben wird, führen Rechtsextremisten seit dem offenen Ausbruch der Finanzund Wirtschaftskrise im Herbst 2008 einen eigenen Krisendiskurs.334 Sie bemühen sich darum, mit diesem Themenkomplex an gesamtgesellschaftliche Diskussionen anzuknüpfen, in der Mehrheitsgesellschaft an Akzeptanz zu gewinnen, so die eigene Isolation aufzubrechen und vielleicht sogar Bündnispartner außerhalb des eigenen ideologischen Lagers zu werben. Es handelt sich damit auf den ersten Blick nicht um ein "klassisches" rechtsextremistisches Thema (wie zum Beispiel Geschichtsoder Gebietsrevisionismus), sondern um ein tendenziell neues Thema, mit dem Rechtsextremisten nicht nur grundsätzliche ideologische Positionen, sondern auch strategische Optionen verbinden. Ein genauerer Blick offenbart aber, dass Rechtsextremisten auf diesem neuen Aktionsfeld keine neuen Positionen entwickeln. Vielmehr entpuppen sich ihre Beiträge zur Krisendebatte als Wiederauflage althergebrachter rechtsextremistischer Feindbildkonstruktionen, Deutungsmuster und Forderungen, die nunmehr als Krisenerklärung beziehungsweise Lösungsvorschläge herhalten sollen. 6.1.1 Rechtsextremistische "Ursachenforschung" in Sachen Finanzund Wirtschaftskrise: Verschwörungsideologien Wenn Rechtsextremisten nach den Ursachen und Verantwortlichen für die aktuelle Finanzund Wirtschaftskrise fragen, geraten ihnen die Antworten fast immer zu einseitigen Schuldzuweisungen an ihre althergebrachten Feindbilder und zur Wiederaufbereitung längst existenter rechtsextremistischer Vorstellungen. Das zeigt zum einen, dass hier die Grenzen zu "klassischen" rechtsextremistischen Themen fließend sind, und zum anderen den instrumentellen Charakter, den der rechtsextremistische Krisendiskurs aufweist: Die aktuellen Probleme werden zur Agitation gegen die althergebrachten rechtsextremistischen Hassobjekte und Feindbilder instrumentalisiert. Beispielsweise erging sich der im Tübinger "GRABERT-Verlag" erscheinende "Euro-Kurier" in seiner Ausgabe vom Februar 2009 in klassischen rechtsextremistischen Verschwörungsideologien über die Gründe und vermeintlichen nutznießenden Urheber der Finanzund Wirtschaftskrise: "Bestimmte Kreise der Ostküste haben diesen vorläufigen Zusammenbruch des Weltfinanz und -wirtschaftssystems herbeigeführt und verdienen dabei sicher unmäßig. Parallelen zu vergleichbaren Manipulationen der Rothschilds 1815, in der Vor218 334 Siehe für das Jahr 2008 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 125 und 170. R E C H T S E X T R E M IS M U S geschichte und bei der Gründung der privaten Federal Reserve Bank (FED) in Washington oder beim Schwarzen Freitag 1929 werden sichtbar. Früher wurden Kriege geführt, heute wird der Wohlstand ganzer Länder durch derartige eingeleitete drastische Kursverluste und Pleiten abgeschöpft - zugunsten bestimmender Finanzkreise, die vor allem an der Wall Street beheimatet sind. Das ist eine neue Masche milliardenschwerer Ausplünderung unseres Landes. Dabei wird über die Grenzen hinweg umverteilt: moderner Raub."335 Die in der rechtsextremistischen Szene sehr oft und sehr negativ gebrauchten Begriffe "Wall Street" beziehungsweise "Ostküste" weisen im rechtsextremistischen Kontext immer entweder eine antiamerikanische, oder eine antisemitische Nebenbedeutung auf. So auch im folgenden Zitat aus der April-Ausgabe 2009 des "Euro-Kurier", in dem Wigbert GRABERT sich persönlich an der Verbreitung derartiger Verschwörungsideologien beteiligte: "Das Jahr 2009 wird als Katastrophenjahr in die Geschichte eingehen. Noch niemals wurde soviel Geld 'verbrannt', wurde soviel Eigentum umverteilt. Und es soll noch viel schlimmer kommen. (...) Die Verstaatlichung großer Banken kann wohl nicht mehr vermieden werden. Der Steuerzahler muss für die gigantischen Verluste aufkommen. (...) Neben diesen für marode Banken aufzubringenden deutschen Zahlungen, die im wesentlichen irgendwie an der Ostküste der USA landen und dann teilweise in den Nahen Osten fließen, dürfen die Deutschen auch weitere Beiträge leisten (...)"336 In einen noch breiteren verschwörungsideologischen Rahmen passte der Schweizer Bernhard SCHAUB seine antiamerikanisch-antiisraelische Deutung der Finanzund Wirtschaftkrise ein. Im ersten Heft des Jahres 2009 der vom "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" mit Sitz im thüringischen Fretterode337 herausgegebenen neonazistischen Zeitschrift "Volk in Bewegung & Der Reichsbote - Das nationale Magazin" (ViB)338 führte er unter anderem aus: 335 "Euro-Kurier" Nr. 1 vom Februar 2009, Artikel "Deutsche zahlen für fremde Pleiten - Eine neue Masche finanzieller Erpressung", S. 1; Übernahme wie im Original. 336 "Euro-Kurier" Nr. 2 vom April 2009, Editorial von Wigbert GRABERT, S. 1. 337 Bis einschließlich ViB-Ausgabe 5-2009 hatte das "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" seinen Sitz in Ellwangen/Ostalbkreis. 338 Den Zusatz "Das nationale Magazin" erhielt der Name der Zeitschrift erst mit der Ausgabe 6-2009. 219 "Die Wirtschaftskrise ist für Europa Anlass zum Nachdenken und vielleicht die letzte Gelegenheit zur Tat. (...) Diese farbigen Zivilokkupanten gehören zum Programm der Neuen Weltordnung - und deren Schutzherr sind die Vereinigten Staaten. US-Truppen stehen in über hundert Ländern der Erde. Amerika kontrolliert die Welt - und die Israel-Lobby kontrolliert Amerika. Via Medien manipulieren die Zionisten die öffentliche Meinung der ganzen westlichen Hemisphäre. Die EU mit ihren Denkverboten, Maulkörben und Haftbefehlen ist nicht viel mehr als der Laufbursche Washingtons. Und die gegenwärtige Finanzkrise ist in Wirklichkeit eine gigantische Umverteilungsaktion zugunsten der Macht dieser Lobby. Das dreivereinte Gaunertum von Wallstreet, Pentagon und Hollywood scheint alles in der Hand zu haben. (...) Es ist hohe Zeit, aus der Sattheit, Schläfrigkeit und Gefühlsduselei aufzuwachen, denn in der Neuen Weltordnung der Vereinigten Staaten und Israels wartet auf alle Unabhängigen und Selbständigen nur noch eins: Guantanamo."339 6.1.2 Rechtsextremistische Hoffnungen auf die Finanzund Wirtschaftskrise Manche Rechtsextremisten sind sich angesichts ihrer eigenen Schwäche im Klaren darüber, dass sie die von ihnen bereits seit Jahrzehnten beschworene Abschaffung der Bundesrepublik Deutschland höchstens dann erreichen könnten, wenn zuvor deren wirtschaftliche und staatliche Stabilität geschwächt wäre. Zugleich nehmen diese Rechtsextremisten die bundesdeutsche Gesellschaft als eine extrem genusssüchtige, materialistische und über materielle Konsumbefriedigung, nicht über ideelle Überzeugungen mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbundene Gesellschaft wahr. Sie sehen die politisch-konstitutionelle Stabilität der Bundesrepublik in starker Abhängigkeit von ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit. Daher sehnen sie schwere ökonomisch-soziale Krisen geradezu herbei und tendieren aus diesem Wunschdenken heraus dazu, selbst vorübergehende, eher geringfügige ökonomische Probleme zu langfristigen, tiefgreifenden Systemkrisen umzudeuten. 339 ViB Nr. 1-2009, Artikel "Europa: Reconquista - oder Requiem?" von Bernhard SCHAUB, 220 S. 15. R E C H T S E X T R E M IS M U S Diese Rechtsextremisten mit einem hohen Fanatisierungsgrad - zum Beispiel und vor allem Neonazis und entsprechende Teile der NPD - interpretieren auch die derzeitigen wirtschaftlichen Krisenerscheinungen - wie bereits bei anderen, vorangegangenen Krisen - als erste, aber ernste Anzeichen einer ökonomisch-sozialen und damit politischen Destabilisierung der Bundesrepublik. Sie gehen davon aus, dass soziale Marktwirtschaft und freiheitliche demokratische Grundordnung als wechselseitig abhängige, bestimmende Elemente der Bundesrepublik in einer strukturellen und Existenz gefährdenden Krise stecken. Deshalb sei das "System" aus sich selbst heraus gar nicht mehr reformierbar und zumindest langfristig dem Untergang geweiht. Es stellt sich aus diesem Blickwinkel also weniger die Reformals vielmehr die Systemfrage. An einer evolutionären Lösung der Finanzund Wirtschaftskrise im Rahmen des Grundgesetzes ist ihnen dabei ausdrücklich nicht gelegen, sondern an einem politisch-revolutionären "Systemwechsel" von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu einer rechtsextremistischen "Volksgemeinschaft". Diese Untergangsund Revolutionsszenarien sollen im Folgenden schwerpunktmäßig anhand der ViB-Ausgaben des Jahres 2009 nachvollzogen werden, da sie in diesem Publikationsorgan im Berichtsjahr in besonderer Eindeutigkeit artikuliert wurden. Im Vorwort zur ersten ViB-Ausgabe des Jahres 2009 rechtfertigte der ViB"Hauptschriftleiter" Andreas THIERRY seine Befürwortung "kompromissloser Fundamentalopposition" durch die NPD unter anderem mit dem aus seiner Sicht offensichtlich unmittelbar bevorstehenden Untergang der Bundesrepublik im Zuge der Finanzkrise: "Ist es wirklich wünschenswert, in der Mitte der (BRD-) Gesellschaft anzukommen, die sich als Gegenentwurf zu Deutschland, zum deutschen Volke und seiner selbstbestimmten Staatsordnung sieht? (...) Wenn in der NPD-Führung Stimmen laut werden, die NPD müsste eine 'national-konservative Partei' (...) werden (...), dann ist das geradezu eine gefährliche Drohung! Dies würde nichts anderes bedeuten, als dass die NPD eine systemkonforme Rechtspartei würde, wie es derer viele in Europa gibt. Allesamt Parteien freilich, die letztlich nur den einen Zweck haben, nämlich die bestehenden Regime zu stabilisieren. Aber die Zeit dieser rechtspopulistischen Protestparteien ist ohnehin vorbei, da den Problemen, vor denen wir heute stehen, nur noch mit dem Stellen der Systemfrage begegnet werden kann. Denn das polit-ökonomische System ist spätestens seit der Finanz221 krise in Frage gestellt: Wer also jetzt noch glaubt, sich den Systemkräften anpassen zu müssen, verkennt die Zeichen der Zeit!" Der Neonazi THIERRY, der von 2007 bis 2009 einer der stellvertretenden baden-württembergischen NPD-Landesvorsitzenden war und auf dem NPD-Bundessonderparteitag im April 2009 in Berlin als Beisitzer in den NPD-Bundesvorstand gewählt wurde, schrieb in demselben ViB-Vorwort, dass "unsere Schriftleitung zum überwiegenden Teil der NPD nahesteht".340 Hoffnungen auf einen Untergang der Bundesrepublik im Zuge der Finanzund Wirtschaftskrise und auf eine darauf folgende tiefgreifende Umgestaltung der politisch-konstitutionellen Verhältnisse in Deutschland nach entschieden rechtsextremistischen Maßstäben durchziehen noch weitere Artikel dieser ViB-Ausgabe. So schrieb Dr. Rigolf HENNIG, ein Mitglied der ViB-Schriftleitung, in dem direkt an das Vorwort THIERRYs anschließenden Artikel: "Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in der schwersten Krise seit ihrem Bestehen. Es handelt sich weniger um eine Finanzals vielmehr um eine Systemkrise. Die NPD wäre in dieser Lage berufen, für eine Neue Ordnung Sorge zu tragen. (...) Noch nie war die deutsche Rechte wichtiger als jetzt!"341 In der folgenden ViB-Ausgabe postulierte Roland WUTTKE, Mitglied der ViB-Schriftleitung und Landespressesprecher des NPD-Landesverbandes Bayern, apodiktisch: "Anpassung heißt Untergang! (...) Am Vorabend des Zusammenbruchs des kapitalistischen Regimes kann und darf es keine wie auch immer geartete Anpassung an dessen Mechanismen geben!"342 Für die folgende ViB-Ausgabe verfasste WUTTKE das Vorwort. Darin offenbarte er in aller Offenheit seine Entschlossenheit, selbst schwerste ökonomischsoziale Verwerfungen bis hin zur Andeutung eines Bürgerkriegsszenarios in Kauf zu nehmen, wenn am Ende nur der von ihm erwünschte Systemwechsel steht: "Wahlen ändern (...) nichts, sie zeigen allenfalls Tendenzen über die Unzufriedenheit des Wahlvolkes auf. Somit muss der Karren an die Wand fahren. Das Chaos muss groß werden, um den Neubeginn zu ermöglichen. Die Zahl der Insolvenzen, der Ar340 ViB Nr. 1-2009, Vorwort "Gegen faule Kompromisse - für eine Neue Ordnung!" von Andreas THIERRY, S. 3. 341 Ebd., Artikel "Wird die deutsche Rechte von der 'Israel-Connection' vereinnahmt? Welchen Weg geht die NPD?" von Dr. Rigolf HENNIG, S. 4f., Zitat: S. 5. 342 ViB Nr. 2-2009, Artikel "Richtungsentscheidender NPD-Bundesparteitag - Das Debakel der 222 'Politikfähigen'" von Roland WUTTKE, S. 32f., Zitat: S. 33; Übernahme wie im Original. R E C H T S E X T R E M IS M U S beitslosen und der sonstigen Leistungsempfänger muss steigen. Abgabenhöhe und Staatsdefizit müssen schmerzlich werden. Verelendung und Perspektivlosigkeit müssen die Wut handlungsfähiger Menschen stimulieren. Deren Unruhepotential muss größer werden als das Beharrungsvermögen des verrotteten Bürgertums. Wenn die 68er-Politschauspieler, auf Geheiß ihrer Auftraggeber, die von ihnen einst bekämpften Notstandsgesetze aus den Schubladen holen, ist die Stunde der Entscheidung gekommen. Europas große Städte werden dann brennen - die Herrschenden wissen das. Die Entscheidung wird nicht am Wahltag 2009 fallen, aber es könnte der letzte reguläre Wahltermin des alten Regimes gewesen sein."343 Das von WUTTKE nur angedeutete Bürgerkriegsszenario wurde in derselben ViB-Ausgabe in einem Beitrag des wenig später, im Oktober 2009, verstorbenen stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Jürgen RIEGER ganz offen benannt, gekoppelt mit einer fundamentalen Absage an die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie der emphatisch vorgebrachten Hoffnung, dieses "System" nach seinem Untergang zu beerben: "Eine nationale Regierung würde das Verantwortungsprinzip einführen. Alle die, die deutsches Geld verschwendet und für ausländische Zwecke ausgegeben haben, werden mit ihrem eigenen Vermögen, mit ihren Renten und Pensionen zur Wiedergutmachung des von ihnen angerichteten Schadens und zur Linderung der finanziellen Last, die sie auf die kommenden Generationen des deutschen Volkes gelegt haben, herangezogen. Sie wissen, dass wir sie daran messen werden, wieviel Schaden sie für Deutschland angerichtet haben, und deswegen kämpfen sie mit rattenhafter Wut gegen uns. Es wird ihnen nichts nützen; spätestens wenn Staatsbankrott, Chaos und Bürgerkrieg da sind, wird niemand mehr auf sie hören. Dann wird der Wähler auf die Kräfte setzen, die schon immer gesagt haben, dass dieses System deutschfeindlich, antinational, auslandshörig, korrupt, den Ban343 ViB Nr. 3/4-2009, Vorwort "Zwischen Chaos und Neubeginn" von Roland WUTTKE, S. 3. 223 ken hörig und steuerverschwendend ist. Das ist unsere Stunde!"344 Ein weiterer Autor der ViB-Ausgabe 3/4-2009 meint sogar, die Finanzund Wirtschaftskrise habe eine regelrecht kathartische Wirkung für die Deutschen. Zugleich sieht er das deutsche Volk als Vorbild der gesamten Menschheit und als eine Art Erlöser für die Zeit nach dieser Krise: "Die zweite Aufgabe des deutschen Volkes sehe ich für die heraufkommende Zeit darin, eine Vorbildfunktion zu übernehmen für die Völker unseres Globus. Ich leide nicht an Größenwahn, sondern bin überzeugt, dass wenn der finanzielle Zusammenbruch des Geldsystems, was eine logische Folgerung des Zinssystems ist, und in seiner Folge der wirtschaftliche Zusammenbruch des Kapitalismus hinter uns liegt, da der Handel zum Erliegen kommt und wir als Volk das Tal von Blut und Tränen durchschritten haben, der Aufgang einer neuen Zeit uns beflügeln wird, für die Völker unseres Globus selbstlos unterstützend für die Gestaltung der Zukunft zu wirken - zum Wohle der Menschheit dieser Erde. (...) Der als drittes Ereignis zu erwartende politische Umbruch wird dann der auslösende Faktor und die bestimmende Kraft sein, diese Zukunft zu gestalten."345 Nach ViB-Angaben beruhte dieser Artikel auf einem Vortrag, der auf dem ViB-Lesertreffen 2009 gehalten worden ist.346 6.2 Jugendspezifische rechtsextremistische Rekrutierungsmittel anhand zweier Beispiele aus dem Jahr 2009 Rechtsextremisten gehen bei ihren Bemühungen, Kinder und Jugendliche zu rekrutieren oder in der Szene zu halten, vielfältig vor. Sie setzen dabei auch auf elektronische Medien. Schon das Angebot an Kinder und Jugendliche ist mannigfaltig: Neben durchstrukturierten Jugendorganisationen wie den JN347 oder der mittlerweile verbotenen HDJ348 existieren eher 344 Ebd., Artikel "Der vertuschte Staatsbankrott - 1,4 Billionen Neuverschuldung!" von Jürgen RIEGER, S. 18f., Zitat: S. 19. In der im Wortlaut teilweise abweichenden Variante dieses RIEGER-Artikels, die in der NPD-Zeitung "Deutsche Stimme" veröffentlicht wurde, fehlt unter anderem das Wort "Bürgerkrieg": DS Nr. 09/09 vom September 2009, Artikel "Der Sargnagel - Das dicke Ende: 1,4 Billionen Euro Neuverschuldung" von Jürgen RIEGER, S. 7. 345 ViB Nr. 3/4-2009, Artikel "Deutschland kann nur durch Deutschland gerettet werden! Die Rückbesinnung auf das Deutschtum", S. 4ff., Zitat: S. 4. 346 Ebd., S. 13. 347 Siehe zu den JN Kap. D, 4.1 und detaillierter Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 224 2008, S. 182ff. 348 Siehe zur HDJ Kap. D, 3.4. R E C H T S E X T R E M IS M U S lose strukturierte jugendliche Segmente des deutschen Rechtsextremismus wie die als jugendliche Subkultur einzustufende rechtsextremistische Skinhead(musik)szene349 oder die jugendlich geprägten neonazistischen "Autonomen Nationalisten" (AN).350 Zudem veröffentlichen Rechtsextremisten unterschiedlicher Provenienz seit Jahren immer wieder neue Varianten teils multimedialer sogenannter Schulhof-CDs351, aber auch "Schülerzeitschriften"352, oder stellen jugendspezifische Internetseiten, Videos und so weiter ins Internet, um Kinder und Jugendliche zu ködern. Im Laufe des Jahres 2009 veröffentlichten unterschiedliche rechtsextremistische Urheber zwei speziell an Jugendliche gerichtete Schriftpublikationen, die allerdings den Ansprüchen an eine jugendgerechte Aufmachung nur sehr unterschiedlich genügten. 6.2.1 Der JN-Comic "Der große Kampf Enten gegen Hühner" Im Juli 2009 veröffentlichte der Bundesvorstand der NPDJugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) als Herausgeber in 1. Auflage mit 30.000 Exemplaren als "Eigendruck im Selbstverlag" einen Comic mit dem Titel "Der große Kampf Enten gegen Hühner - Eine fabelhafte Geschichte von Intrige, Propaganda und Zerstörung". Verantwortlich im Sinne des Presserechts zeichnet der JN-Bundesvorsitzende Michael SCHÄFER (Impressum auf S. 2). Nach einer Pressemitteilung der JN-Bundesgeschäftsstelle vom 13. August 2009 soll der Comic an die Kinder und Jugendlichen kostenlos verteilt werden. In dieser Pressemitteilung bezeichneten die JN ihren Comic als einen weiteren "Schritt beim Ausbau" ihrer "Jugendarbeit". Dieser Comic sei "der Start einer ganzen politischen Comicreihe, bei der wir die verschiedensten Comicgenres streifen werden. (...) In der nächsten Ausgabe werden wir uns dem Genre Science-Fiction widmen und auch der erste nationale Superheldencomic ist schon in Planung." 349 Siehe zur rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene Kap. D, 2.2. 350 Siehe zu den AN Kap. D, 3.3. 351 Siehe zu den "Schulhof-CDs" Kap. D, 4.1.2 und detaillierter Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 176ff., Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 124ff. und Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2006, S. 140ff. 352 Siehe zu diesen "Schülerzeitschriften" Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 126f. 225 "Einige NPD-Landesverbände" hätten - neben der 30.000 Exemplare umfassenden "JN-Version" des Comics - "für die Verteilung in ihren Landtagswahlkämpfen eigene regionale Versionen drucken lassen". Die JN kündigten an, den Comic an "Schulen, vor Jugendclubs und am Badesee" an "die Jugend" zu verteilen.353 Entsprechende Verteilaktionen in Baden-Württemberg sind bislang jedoch nicht bekannt geworden. Im späteren Verlauf des Jahres 2009 vermeldeten die JN, dass "die erste Auflage komplett vergriffen" und eine 2. Auflage von noch einmal 30.000 Exemplaren gedruckt worden sei.354 Der Comic kann nicht nur über ein Postfach in Bernburg (Sachsen-Anhalt), wo auch der JN-Bundesvorstand seinen Sitz hat, bestellt, sondern auch auf verschiedenen NPD-Homepages abgerufen werden.355 Der im Vierfarbdruck sehr bunt und graphisch äußerst professionell gestaltete JN-Comic umfasst mit Titelund Rückseite insgesamt 28 Seiten. Der JNbeziehungsweise NPD-Bezug ist nicht nur aus dem Impressum klar erkennbar: Auf der Titelseite prangt oben links ein JN-Emblem, auf Seite 27 ist eine ganzseitige Anzeige des "Deutsche Stimme Verlages" abgedruckt und auf der Comic-Rückseite werden in verschiedener Weise JN, NPD und die im August 2009 auf einer Vielzahl von Internetseiten der NPD und der JN zum Download bereitgestellte "Schulhof-CD"356 beworben. Die Inhalte des Comics werden dem Leser in Form einer Tierfabel präsentiert: Die Akteure sind verschiedene Vogelarten (neben Enten und Hühnern noch Gänse, Schwäne und am Rande Krähen), die menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen (zum Beispiel sich kleiden, Häuser bauen). Dabei handeln die Vogelarten in diesem Comic fast nur als jeweilige Gesamtspezies, individuelle Charaktere - gar mit Eigennamen (klassisches Beispiel: der Storch "Adebar") - werden kaum herausgearbeitet. Der Comic-Text besteht aus gereimten Versen. Die zentrale Handlung des Comics wird bereits mit dem Comic-Titel umrissen: Den "Hühnern", die ursprünglich als arme Flüchtlinge ins Land der "Enten" gekommen und gastfreundlich aufgenommen worden sind, gelingt es unter anderem mit Hilfe von "Intrige, Propaganda und Zerstörung", sich zu Herren über die als fleißig, gutmütig und naiv dargestellten "Enten" aufzu353 Pressemitteilung "Die Jungen Nationaldemokraten (JN) bringen das erste 100% politisch unkorrekte Comicheft Deutschlands heraus" vom 13. August 2009, Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 25. November 2009; Übernahme wie im Original. 354 Beitrag "JN-Comic zu gefährlich für die Bundesrepublik - 2. Auflage gerade erschienen", Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 25. November 2009. 355 Homepage der Bundes-NPD vom 25. November 2009 und Homepage des NPD-Kreisverbands Heilbronn vom 2. Dezember 2009. 226 356 Siehe zu dieser "Schulhof-CD" Kap. D, 4.1.2. R E C H T S E X T R E M IS M U S schwingen. Danach erobern und zerstören die "Hühner" mit Hilfe der zu "Söldner[n] der Hühner" (S. 2) degradierten "Enten" nunmehr "Das alte Reich der Gänse" (S. 18) und schließlich die von "Schwänen" bewohnte "Festung Schwanenstein" (S. 21). Währenddessen verkommt das Land der "Enten" unter der Herrschaft der "Hühner" zu einem Horrorgemälde aus Drogenmissbrauch, Gewalt, Kriminalität, Schmutz und (von Rechtsextremisten fundamental abgelehnter) Homosexualität. Die "Enten" selber degenerieren zu korrupten "Heloten" (S. 22). Doch schließlich fliehen einige "Enten" aus ihrer alten Heimat "Richtung Polarpol", um sich dort ein "Paradies auf Erden" (S. 25) zu schaffen. Als später erneut auf der Flucht befindliche "Hühner" Einlass auch in dieses, diesmal aber ummauerte und fest verriegelte "Paradies" Einlass begehren, verweigern die "Enten" ihnen den Zutritt. Mit der "Moral von der Geschicht: Folgt fremden Vögeln nicht." (S. 26; Übernahme wie im Original) endet der Comic. Um die propagandistische Stoßrichtung und den ideologischen Gehalt des JN-Comics zu analysieren, ist insbesondere die negative Charakterisierung der "Hühner" bezeichnend. Bei genauerer Analyse des gesamten Comics stehen die "Hühner" nicht nur für ein einzelnes, bestimmtes rechtsextremistisches Feindbild, sondern für ein ganzes Bündel klassischer rechtsextremistischer Feindbilder. Drei Beispiele: n Feindbild "Fremder": Zu Beginn des Comics begegnen die "Hühner" dem Leser als vertriebene Flüchtlinge, die bei den "Enten" Asyl finden. Gemäß dem gängigen, ideologisch motivierten Bild deutscher Rechtsextremisten von Migranten ernten die "Enten" von den "Hühnern" nur "Undank", "Spott und Hohn" (S. 4) für ihre großzügige Gastfreundschaft. Während die "Enten" als fleißige Arbeiter dargestellt werden, erscheinen die "Hühner" als gebärfreudige, von den Früchten fremder Arbeit lebende Faulenzer, die zudem die von Rechtsextremisten fundamental abgelehnte multikulturelle Gesellschaft predigen (S. 5). Rechtsextremistische Fremdenfeindlichkeit bildet ein zentrales Grundmotiv des Comics, wie auch die "Moral von der Geschicht: Folgt fremden Vögeln nicht." am Ende zeigt. n Feindbild "Jude": Das Bild, das in dem Comic von den "Hühnern" vermittelt wird, weist mindestens Anklänge an zentrale antisemitische Stereotypen auf. So wird das seit dem Mittelalter kolportierte Stereotyp von den Juden als angeblichen "Brunnenvergiftern" aufgegriffen, mit Verschwörungsideologien kombiniert und mit entsprechenden Zeichnungen in düster gehaltenen Farben illustriert: 227 "Im dunklen Kreis der 'Illuminaten' wird feiger Meuchelmord geplant. Sie scheuen Licht, sie suchen Schatten, vergiften Brunnen, Vieh und Land." (S. 17) n Feindbild "Schwarzer": Unter anderem auf dem Titelbild, aber eher beiläufig, da ohne nähere Erläuterung im Comic-Text, tauchen insgesamt vier "Krähen" im Comic auf. Sie alle sind ausgestattet mit bestimmten Symbolen (Joint, Spritze, Pistole, Messer), die sie ganz offensichtlich als Personifizierungen der unter der Herrschaft der "Hühner" eskalierenden Kriminalität, Gewalt und Drogenproblematik ausweisen sollen. Der entsprechende Text unterstreicht dies: "Vorbei ist jetzt das traute Glück. Von nun an gibt es kein Zurück. Gewalt, Verbrechen, selbst bei Tage, bringt die seltsam fremde Plage." (S. 24) Dies zusammen mit dem schwarzen Gefieder der "Krähen" und dem Kleidungsstil von zweien von ihnen (unter anderem Muskel-Shirt mit dem Aufdruck "CROW GANG$TAZ", Baseball-Mütze [S. 24; Übernahme wie im Original]) soll offensichtlich an Klischeevorstellungen von schwarzen USamerikanischen Ghetto-Jugendlichen anknüpfen. Diese in der Tendenz rassistische Assoziation von farbigen "Vögeln" mit Gewalt, Kriminalität und 228 R E C H T S E X T R E M IS M U S Drogen wird vervollständigt durch eine Zeichnung, auf der ein "Huhn" mit auffallend braunem Gefieder und schwarzem Haar auf dem roten Kamm ein "Entenweibchen" mit ebenso auffallend langem, blondem Haar würgt oder sogar erwürgt (S. 6). Zudem weist der Comic neonazistische Tendenzen auf. So gibt es in vielen Passagen Hinweise in Wort und Bild, dass "Das alte Reich der Gänse" und sein Schicksal symbolhaft für das nationalsozialistische "Dritte Reich" und dessen Untergang im Zweiten Weltkrieg stehen. Diesen "Gänsen" und ihrem untergehenden "Reich" gelten die Sympathien der Comic-Macher, wie zum Beispiel das folgende Zitat unterstreicht, mit dem die "Gänse" in die Comic-Handlung eingeführt werden: "Und wenn die Welt voll Hühner wär, gibt's doch ein Land, so ungefähr zwei rauschende Wildgänseflugstunden entfernt im hohen Norden, wo nur das Polarlicht wärmt, in dem die weißen Gänse wohnen. Sie lockt nicht leuchtendes Gold, das von den Hühnerthronen vor ihre Füße rollt." (S. 14) Dieses Zitat offenbart bei genauerer Betrachtung sowohl eine neonazistische wie auch eine antisemitische Dimension, handelt es sich bei den letzten drei Versen doch um ein in bezeichnender Weise verändertes Zitat aus dem NS-Lied "Brüder in Zechen und Gruben". Dort heißt die entsprechende Strophe: 229 "Hitler ist unser Führer, ihn lohnt nicht goldner Sold, der von den jüdischen Thronen vor seine Füße rollt." In der Comic-Version dieses Zitats stehen die "Gänse" für Adolf Hitler und die "Hühner" für die Juden. An anderer Stelle wird zudem aus demselben Lied die Zeile "'(...) brich Deine Ketten entzwei!'" (S. 12) zitiert. Die Idee, ein Comic bei der Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen einzusetzen, ist im Rechtsextremismus neu und ein Beleg für raffinierten Erfindungsreichtum, den Rechtsextremisten auf diesem Gebiet an den Tag legen können. Die in der Vergangenheit bei manchen Rechtsextremisten bestehenden Vorbehalte gegen das Genre Comic als zu westlich-modern, zu kulturlos-dekadent, zu "amerikanisch" und damit zu "undeutsch" scheinen zumindest in Reihen der JN vollständig überwunden. Hinzu kommt, dass das konkrete JN-Comic "Der große Kampf Enten gegen Hühner - Eine fabelhafte Geschichte von Intrige, Propaganda und Zerstörung" in seiner äußerst professionellen graphischen Umsetzung einen relativ hohen Grad an jugendgerechter Attraktivität erreicht. Der Text ist durch die gereimte Versform allerdings für Kinder und Jugendliche schwer lesbar. Darüber hinaus enthält er schlechte Reime sowie schiefe Vergleiche und Bilder. Nur ein Beispiel: "Doch nichts auf der Welten freier Flur währt ewig, nicht der Frieden, nicht das Glück. Denn unfühlend ist die Natur. Und unstet wie der Tropfen sacht, der zaghaft sich vom Grase löst, im Tau zergeht und rasch zu Staub zerfällt, so schwindet Stück für Stück der Traum in tiefe Nacht. Und ehe Du noch in Erinnerungen döst, ist längst Dir die Ruhe vergellt!" (S. 3) Es bleibt abzuwarten, ob die JN ihre Ankündigung wahr machen und tatsächlich weitere Comic-Varianten produzieren. Im Jahr 2009 wurde kein weiterer JN-Comic bekannt. 6.2.2 Die Broschüre "Amalia Hinterwäldlerin vor Gericht und andere Geschichten" Seit Anfang Juli 2009 wurden mehreren Schulen in Baden-Württemberg 230 (zum Beispiel in Karlsruhe, Waiblingen und Künzelsau) unaufgefordert per R E C H T S E X T R E M IS M U S Post Päckchen ohne Absenderangabe zugesandt. Die Päckchen waren an die Klassensprecher der Klasse 11a adressiert. Auch in anderen Ländern gab es derartige Zusendungen. Die Päckchen enthielten eine 80-seitige Broschüre mit dem Titel "Amalia Hinterwäldlerin vor Gericht und andere Geschichten - Man kann nicht immer nur weinen...SS 130 StGB ^". Laut den Angaben auf der Rückseite ist die Broschüre als "Sonderdruck" in einem "Eigenverlag" im bayerischen Ottobrunn erschienen. Das genaue Erscheinungsjahr ist der Broschüre nicht zu entnehmen, allerdings ist aus dem Broschürentext zu schließen, dass die Publikation nach dem 7. Mai 2008 erschienen sein muss (S. 57). Auf der Vorderseite der Broschüre ist unter dem Titel der Name "Ursula Haverbeck" aufgedruckt, was nahe legt, dass es sich dabei um die Autorin handelt. "Ursula Haverbeck" heißt mit vollem Namen Ursula HAVERBECK-WETZEL und ist eine bekannte Rechtsextremistin und Geschichtsrevisionistin aus dem nordrhein-westfälischen Vlotho, die bereits mehrfach rechtskräftig verurteilt wurde, unter anderem auch wegen Leugnung des Holocaust. HAVERBECK-WETZEL war Vorsitzende des rechtsextremistischen Vereins "Collegium Humanum - Akademie für Umwelt und Lebensschutz e.V." und Vorstandsmitglied des rechtsextremistischen "Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten". Beide Vereine wurden am 7. Mai 2008 durch den Bundesminister des Innern verboten. Die Broschüre ist sehr einfach gestaltet. Die einzige graphische Auflockerung besteht aus rund einem Dutzend schwarz-weiß gehaltener Zeichnungen, die zum Teil von dem Dichter Wilhelm Busch (1832-1908) stammen und zum Inhalt der Broschüre keinen direkten Bezug aufweisen. Die Broschüre ist unterteilt in eine "Vorbemerkung" (Untertitel: "Es war ein Land - Bundesrepublik genannt...") (S. 1f.) und insgesamt elf in Dialogform geschriebene Szenen, die mit ihren Regieanweisungen nicht von ungefähr an kurze Theaterstücke erinnern, heißt es doch zum Abschluss der Vorbemerkung: "Diese kleinen Szenen eignen sich zu Leseübungen mit verteilten Rollen und sind auch zum Darstellen als Laienspiel geeignet." (S. 2) Hauptperson in neun dieser Szenen ist die bereits im Broschürentitel genannte 231 "Amalia Hinterwäldlerin". Sie wird in der Vorbemerkung als "einfache Bürgerin (...) schlichten Gemütes und ein wenig beschränkten Verstandes" (S. 1) charakterisiert. In einer der Szenen gibt "Amalia Hinterwäldlerin" als ihren Geburtstag "Reichskristallnacht" (S. 45), also die Reichspogromnacht am 9. November 1938 an. In der Szene "Wunsiedel 2004" (S. 65-68) tritt ein "Rudolf, der Deutsche" als Protagonist auf, in dem auch der nur oberflächlich informierte Leser unschwer Rudolf Heß erkennen kann. In fast allen Szenen der Broschüre werden - teils unter dem Deckmantel der Satire - eindeutig rechtsextremistische Inhalte dargestellt. So macht "Amalia Hinterwäldlerin" immer wieder den Holocaust leugnende Äußerungen, zum Beispiel: "Ich bin (...) der Ansicht, dass diese Straftat Holocaust von den Nationalsozialisten gar nicht begangen worden ist." (S. 31) "Wie oft soll ich noch erklären, dass ich nie eine vom NS begangene Straftat geleugnet habe, sondern lediglich feststelle, auf Grund meines derzeitigen Wissensstandes, dass es den Holocaust, so wie uns jüdischerseits unterstellt, nicht gegeben hat." (S. 35) "Den Holocaust gibt es gar nicht. Das ist so etwas wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase für Erwachsene." (S. 44) Dementsprechend wird in der Broschüre der SS 130 StGB massiv verurteilt, zum Beispiel als "Wahrheitsverhinderungsparagraph oder -gesetz" (S. 34). Eine der Szenen endet mit dem "Merksatz" "Merke: SS Volksverhetzung = demokratisches Mittel zur Verurteilung Unschuldiger" (S. 21; Übernahme wie im Original). Auch antisemitische Aussagen werden in der Broschüre den in den Szenen agierenden Figuren zugeschrieben. So sagt "Amalia Hinterwäldlerin" in einer Szene, die offensichtlich in der Zukunft spielt: "Ja, um die Politik brauchen wir uns zum Glück nicht mehr zu kümmern, dafür haben wir jetzt die Juden." Darauf antwortet ihr "Schulfreund August Leberecht": "Und die wussten schon, warum sie damals die Vereine verboten haben" (S. 60). In einer anderen Szene äußert "Amalia Hinterwäldlerin" verschwörungsideologische Thesen über die Terroranschläge vom 11. September 2001 in Washington und New York, wie sie in der rechtsextremistischen Szene weit verbreitet sind: "Inzwischen weiß ich mehr und halte die Sprengung des WTC (...) für ein nicht mehr zu überbietendes Verbrechen der USstaatlich gelenkten Geheimdienste und Helfershelfer, darunter 232 wohl auch der Mossad." (S. 22) (...) R E C H T S E X T R E M IS M U S "Ja, furchtbar, wenn man bedenkt, dass ein Staat eine so große Anzahl seiner eigenen Bürger einfach umbringt, weil er einen Kriegsgrund sucht!" (S. 23) (...) "Ich verstehe nicht, dass meine Meinung über die Hintergründe des 11. September, nämlich dass da der Präsident Bush und sein CIA dahinterstecken, strafbar sein soll." (S. 27) Auch eindeutige antidemokratische Tendenzen sind in der Broschüre enthalten: In einer Szene über einen Autounfall äußert eine der Figuren: "Ich weiß jetzt auch, was wir falsch gemacht haben. Wir haben keinen Führer bestimmt, der im richtigen Augenblick Halt kommandiert hätte." Darauf eine andere Figur: "Da habt Ihr ein Lehrstück für die verhängnisvolle Gefährlichkeit der Demokratie" (S. 75). Die Broschüre lässt kaum Bemühungen erkennen, die eindeutig rechtsextremistischen Inhalte auch nur ansatzweise jugendgerecht aufzubereiten und zu transportieren. Dies zeigt auch ihre starke Textlastigkeit im Zusammenspiel mit ihrem wenig jugendgerechten Layout. Ihre Attraktivität auf Jugendliche und ihr damit verbundenes Indoktrinationspotenzial ist eher gering. Ob mit Hilfe dieser Broschüre eine relevante Zahl an Jugendlichen an den Rechtsextremismus herangeführt werden kann, ist zweifelhaft. Die von mehreren Schulen eingeschaltete Polizei legte die Publikation den zuständigen Staatsanwaltschaften zur strafrechtlichen Prüfung vor, da der Anfangsverdacht einer Straftat nach SS 130 StGB besteht. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat inzwischen ein Ermittlungsverfahren gegen die Autorin, gegen den Verleger und die Verbreiter der Broschüre eingeleitet. Mittlerweile wurde die Broschüre von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert.357 Zudem erließ das Amtsgericht München mit Datum vom 26. November 2009 einen Beschluss358, in dem es die Beschlagnahme der Schrift anordnet. 357 BPJM-Aktuell Nr. 4/2009, S. 52. 358 Az.: Gs 9554/09. 233 E. LINKSEXTREMISMUS Linksextremisten kämpfen für die Überwindung, das heißt Abschaffung der bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Sie streben eine sozialistische/kommunistische Staatsordnung oder eine herrschaftsfreie, anarchistisch geprägte Ordnung ohne Staat an. Auch sogenannte Autonome wollen unseren Staat abschaffen. Ihre Vorstellung von "selbst bestimmtem" Leben versuchen sie bereits in der jetzt bestehenden Gesellschaftsordnung in ihrer eigenen Lebensweise und durch die Errichtung "herrschaftsfreier Räume" zu realisieren. Während linksextremistische Parteien und Organisationen einen legalistischen Kurs verfolgen und unter den gegebenen politischen Umständen für sich selbst die Anwendung von Gewalt ablehnen, betrachten autonome Gruppen die Ausübung von Gewalt als legitimen Bestandteil ihrer "Politik". Das linksextremistische Spektrum kann in einen legalistischen, organisierten und einen nicht organisierten, gewaltgeneigten sowie anarchistisch orientierten Bereich unterteilt werden. Zu den wichtigsten linksextremistischen Parteien und Organisationen gehören die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) und die Partei "DIE LINKE.". Zum nicht organisierten Spektrum zählen nahezu ausschließlich die Autonomen. Hinzu kommen anarchistische Kleinzirkel. Das Mitgliederpotenzial linksextremistischer Parteien und Organisationen in Baden-Württemberg liegt (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) seit Jahren unverändert bei circa 2.600 Personen. Bei Parteien wie der DKP und MLPD stagniert die Mitgliederzahl bei circa 500 beziehungsweise circa 550 Personen. Ursachen sind bei der DKP vor allem altersbedingte Abgänge. Noch nicht absehbar ist, inwieweit sich hier die internen Streitigkeiten zusätzlich auf deren Mitgliederbestand auswirken werden. Die MLPD vermag ihren Bestand aufgrund ihres sektenhaften Charakters und ihrer fortbestehenden Isolation im linksextremistischen Lager ebenfalls nicht dauerhaft zu erhöhen. Nur die Partei "DIE LINKE." konnte ihren Aufwärtstrend fortsetzen. Die Zahl gewaltbereiter Linksextremisten - die meisten sind sogenannte Autonome - ist mit circa 590 Personen seit Jahren konstant. 2009 kam es vereinzelt zur Neugründung autonomer Gruppen, doch lassen solche Entwicklungen bei einer von eher kurzlebigen Zusam234 LIN K S E X T R E M IS M U S menschlüssen geprägten Szene nicht auf ein Anwachsen des Personenpotenzials schließen. Die Entwicklung linksextremistisch motivierter Straftaten im Land war in den letzten Jahren zweigeteilt: Während die Zahl der Gewalttaten stark rückläufig war, stiegen die Straftaten insgesamt an. Im Jahr 2009 war für Baden-Württemberg demgegenüber ein deutlicher Anstieg sowohl der Strafals auch der Gewalttaten zu verzeichnen. Ursache dafür dürfte vor allem die Vielzahl szenerelevanter politischer Ereignisse und Themen gewesen sein, so vor allem der NATO-Gipfel, die Demonstrationen am 1. Mai, die Finanzund Wirtschaftskrise, "Links-Rechts-Auseinandersetzungen" innerhalb des linksextremistischen Aktionsfeldes "Antifaschismus" sowie die Bundestags-, Europaund Kommunalwahlen. BadenWürttemberg war im Jahr 2009 erstmals seit Jahren von mehreren schweren linksextremistisch motivierten Gewalttaten betroffen. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Großereignis NATO-Gipfel 2009 Das zentrale Großereignis des Jahres 2009 war für Linksextremisten der Jubiläums-Gipfel der NATO in Kehl und Straßburg (Frankreich) vom 3. bis 4. April 2009 anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens.359 Mobilisierung und Planung zu Gegenaktionen hatten bereits im Frühjahr 2008 begonnen. Hoffnungen, diese Proteste zu einem für die Szene ähnlich bedeutsamen Ereignis werden zu lassen wie die Aktionen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007, erfüllten sich nicht. Die Teilnehmerzahlen lagen unter den Erwartungen. Die "internationale Großdemonstration" am 4. April 2009 stand im Schatten massiver gewaltsamer Ausschreitungen in Straßburg. Nicht nur die Straßenschlachten, sondern vor allem die Inbrandsetzung zweier Gebäude und die Plünderung einer Tankstelle auf französischer Seite trafen in der linksextremistischen Szene selbst auf ein geteiltes Echo. 359 Siehe Kap. E, 2.1. 235 Linksextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2007 - 2009* 2007 2008 2009 BW Bund BW Bund BW Bund Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre 2.090 24.800 2.130 25.200 2.130 25.300 Marxisten davon: DKP 500 4.200 500 4.200 500 4.000 MLPD 600 2.300 600 2.300 550 2.000 "DIE LINKE."** 2.200 70.900 2.600 76.100 3.000 77.600 Gewaltbereite 590 6.300 590 6.300 590 6.600 Linksextremisten Summe der Mitgliedschaften ohne "DIE LINKE." und be2.680 31.100 2.720 31.500 2.720 31.900 einflusste Organisationen*** Personenpotenzial nach Abzug der 2.610 30.800 2.610 31.200 2.610 31.600 Mehrfachmitgliedschaften * Die Zahlenangaben Land/Bund sind zum Teil geschätzt und gerundet. ** "DIE LINKE." wird in der Gesamtsumme der Mitgliedschaften nicht mitgezählt, da das Bundesamt für Verfassungsschutz von den Mitgliedern der Partei "DIE LINKE." nur die der "Kommunistischen Plattform" (KPF) und weitere offen extremistische Zusammenschlüsse erfasst. Der Anstieg der Mitgliederzahl kam durch den Beitritt der Mitglieder der WASG zustande, die bis zur Fusion nicht Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg war. *** In den Zahlen nicht enthalten sind Mitglieder linksextremistisch beeinflusster Organisationen. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links sowie linksextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2009 BW* Bund** 2009 2008 2009 2008 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links 939 364 9.375 6.724 insgesamt davon: Straftaten 687 294 4.654 3.124 davon: Gewalttaten 93 28 1.096 701 * Zahlen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. ** Zahlen des Bundesministeriums des Innern. 236 LIN K S E X T R E M IS M U S Neben den Anti-NATO-Protesten blieben auch die damit in Zusammenhang stehende, aber eigenständig betriebene Antimilitarismuskampagne sowie die Agitation gegen die angeblich politisch motivierte staatliche Repression weiter auf der Tagesordnung. 1.2 Zentrales Thema: Wirtschaftsund Finanzkrise Stärker noch als im Jahr 2008 rückte die Wirtschaftskrise in den Fokus des linksextremistischen Spektrums. Die Theorie von Karl Marx von einem von Ausbeutung und Profitmaximierung getriebenen, immer wieder und zunehmend von Krisen geschüttelten Kapitalismus schien sich aus der Sicht von Linksextremisten zu bestätigen und neue Aktualität erlangt zu haben. Maßgeblich vom "Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband" (Die Linke.SDS) initiierte "Kapital-Lesekreise" sollten Interessenten die marxistische Lesart der Krise vermitteln. Bestandteil der Proteste gegen die Krise war auch ein bundesweiter Aktionstag am 17. September 2009, der mit dezentralen Aktionen kurz vor der Bundestagswahl "Widerstand und Protest" demonstrieren sollte. Einen Tag vor dem Wahltermin, am 26. September 2009, sollte eine "antikapitalistische Demonstration" in Mannheim zum Ausdruck bringen, dass es in der aktuellen "Krise des Kapitalismus" um "Klassenkampf statt Wahlkampf" gehen müsse.360 Bereits am 28. März 2009 protestierten mehrere Zehntausend Menschen in Berlin und Frankfurt am Main unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise! - Für eine solidarische Gesellschaft".361 Die Veranstaltungen waren der Auftakt einer Reihe von Protestaktionen im Jahr 2009 und Ausgangspunkt einer "Aktionswoche gegen Krise und Krieg" ab dem 28. März 2009, deren Abschluss die Proteste gegen den NATO-Gipfel in Straßburg und Kehl bilden sollten. Die Wirtschaftsund Finanzkrise war zugleich der große gemeinsame Nenner und zentrale Ansatzpunkt für Protestaktionen unterschiedlicher Ausrichtung. So wurde im vermeintlichen Zusammenhang zwischen "Krise und Krieg" verstärkt der Rückzug deutscher Soldaten aus Afghanistan oder der weitere "Abbau des Sozialstaats" thematisiert. Die Krise wurde aber auch als Ursache für die Fortsetzung des angeblich bereits seit Jahren betriebenen planmäßigen Ausbaus des "Sicherheitsund Überwachungsstaats" gesehen. Dieser sei verbunden mit einer anhaltenden "politischen Repression" gegen "Linke" im Interesse des vermeintlichen Ziels, "Staat" und "Kapital" präventiv vor "sozialem Widerstand" zu schützen. Die Ursache der Krise 360 Demonstrationsaufruf am 26. September 2009, Internetauswertung vom 9. Dezember 2009. 361 Flugblattaufruf laut Internetauswertung zuletzt vom 22. Januar 2010. 237 wurde im kapitalistischen System selbst verortet und als Lösung für die Bewältigung der gegenwärtigen Lage die Abschaffung des Systems als solches propagiert. Entsprechend forderten insbesondere autonome Gruppen offen eine "revolutionäre Umwälzung der bestehenden Produktionsund Eigentumsverhältnisse." 362 Einen eigenen Akzent innerhalb der Auseinandersetzung mit der "Krise des Kapitalismus" setzte für Linksextremisten der "Bildungsstreik 2009", dessen Fortsetzung aus dem Jahr 2008 seit Mitte des Jahres auch als eine erste "Gegenbewegung" und als Anzeichen für "sozialen Widerstand" interpretiert wurde. Linksextremisten haben nicht nur zur Teilnahme am "Bildungsstreik" aufgerufen, sondern waren selbst bei den Protesten präsent, haben diese unterstützt und - in regional und örtlich unterschiedlicher Intensität sowie Art und Weise - aktiv gefördert. 1.3 Wahljahr 2009 Linksextremistischen Parteien bot das Wahljahr 2009 reichlich Gelegenheit zu Selbstdarstellung und Eigenwerbung. Zur Bundestagswahl traten die Partei "DIE LINKE.", die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) und die trotzkistische "Partei für Soziale Gleichheit" (PSG) an. An der Europawahl nahm von diesen vier Parteien nur die MLPD nicht teil. Die Kommunalwahlen in Baden-Württemberg wurden überwiegend von der Partei "DIE LINKE." und mit nur wenigen örtlichen Einzelkandidaturen von der DKP bestritten. Im Ergebnis mussten außer der Partei "DIE LINKE." alle zu den verschiedenen Wahlen angetretenen linksextremistischen Parteien herbe Verluste einstecken, die sich vor allem in absoluten Zahlen zeigten. Es zeigte sich, dass "DIE LINKE." für linksgerichtete Wähler eindeutig am attraktivsten war und diese offenbar auch auf Kosten ihrer Konkurrenten aus dem eigenen Lager zulegen konnte. Das Resultat der Wahlen insgesamt bestätigte die überragende Rolle der Partei "DIE LINKE." im linksextremistischen Parteienspektrum. Bei ohnehin starker Präsenz in den ostdeutschen Bundesländern vermochte sie im Westen ihre Erfolgsserie fortzusetzen und erzielte vor allem im Saarland ein herausragendes Wahlergebnis. 362 "Antifaschistische Linke Freiburg": "Wir zahlen nicht für Eure Krise", Internetauswertung vom 238 2. November 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S 1.4 "Antifaschismus" als Aktionsfeld Das Thema "Antifaschismus" hat auch 2009 nichts von seiner hohen Bedeutung für die linksextremistische Szene eingebüßt.363 Selbst der etwas in den Hintergrund getretene Kampf um "autonome Zentren" erfuhr eine "antifaschistische" Akzentuierung, indem diese zu einem "wichtigen Schutzraum vor Konkurrenzdenken, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Faschismus, Rassismus und Nationalismus" erklärt wurden.364 Linksextremistischer "Antifaschismus" stand im Wahljahr 2009 außerdem besonders im Zeichen der Bekämpfung rechtsextremistisch eingeordneter Parteien. Der 60. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sowie der 20. Jahrestag des Mauerfalls waren vor allem für traditionskommunistische Organisationen Anlass, bei eher verhaltener Kritik an der früheren DDR vor allem deren Verdienste einerseits und die "(post)faschistischen" und antikommunistischen Kontinuitäten in Deutschland andererseits hervorzuheben. 2. Gewaltbereiter Linksextremismus Linksextremistisch motivierte Gewalt geht vornehmlich von Mitgliedern der autonomen Szene aus. Autonome betrachten die Anwendung von Gewalt als ein legitimes Mittel ihrer "Politik". Sie weigern sich, das Gewaltmonopol des Staates anzuerkennen. Als Ausdruck ihrer Gewaltbereitschaft treten Autonome oft bei Demonstrationen im sogenannten Schwarzen Block auf und werden im Rahmen von "Massenmilitanz" auf der Straße gewalttätig oder verüben in Kleingruppen nächtliche Anschläge oder Sabotageaktionen. Zu den typischen Gewalttaten gehören Brandanschläge, schwere Körperverletzung, Widerstandshandlungen und Landfriedensbruch. Beim Vorgehen konnten eine sinkende Hemmschwelle und zunehmende Brutalität konstatiert werden. Gerade bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner von "rechts" richtet sich Gewalt inzwischen bundesweit auch gegen Personen, unter Umständen wird sogar eine Tötung billigend in Kauf genommen. Die Taten richten sich je nach thematischem Zusammenhang gegen eine Vielzahl von Objekten, darunter staatliche Institutionen, Einrichtungen der Bundeswehr, Wirtschaftsunternehmen, aber auch Parteibüros, gegen Hab' und Gut von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten und verstärkt gegen Polizeibeamte und Polizeigebäude. 363 Siehe Kap. E, 4.4. 364 Aufruf der "Anarchistischen Gruppe Freiburg" zur "antifaschistischen" Demonstration am 14. November 2009 in Freiburg im Breisgau, Internetauswertung vom 2. November 2009. 239 2.1 Proteste gegen den NATO-Gipfel Die massiven Ausschreitungen und die Brandstiftung an Gebäuden in Straßburg während der Proteste gegen den NATO-Gipfel offenbarten ein hohes Maß an Aggression und Zerstörungswut. Wenngleich diese Aktionen nicht ausschließlich militanten Autonomen aus Deutschland zuzuschreiben waren und die Bewertung dieser Vorfälle in der linksextremistischen Szene unterschiedlich ausfiel, gab es beispielsweise aus dem autonomen Spektrum Freiburg Kommentare, die sich in erschreckender Deutlichkeit mit dem Vorgehen der Gewalttäter solidarisierten: "Mögen die Jugendlichen aus der Banlieue (Vorstadt) auch andere Lebenswirklichkeiten als die zugereisten Autonomen haben: Uns eint der Hass auf Staat und Polizei. Der französische Staat wollte in Strasbourg jeden Protest - ob friedlich oder militant - mit Gewalt unterdrücken. Die in einem grenzüberschreitenden Festakt abgefackelten Grenzgebäude sind ein Symbol des Scheiterns dieser Unterdrückungsstrategie, wie die entglaste Militärkaserne ein Symbol des Widerstands gegen die Kriegspolitik der NATO ist. Die Plünderung der Tankstelle war gelebte Enteignung und das niedergebrannte Hotel wird nie wieder Polizei beherbergen. Nur die verdammte Kirche (...) wollte partout nicht brennen."365 Andere Linksextremisten konzentrierten ihre kriminelle Energie auf eine "militante Begleitkampagne" im Vorfeld des NATO-Gipfels, mit der zu den Protesten mobilisiert werden sollte. So ereigneten sich seit Januar 2009 bundesweit acht Brandanschläge, die sich gegen das Postund Logistikunternehmen DHL in seiner Eigenschaft als Zulieferer und damit Unterstützer der Bundeswehr richteten.366 Solche Attacken gegen staatliche oder private Einrichtungen werden häufig von konspirativ agierenden militanten Kleingruppen begangen, die sich in der Regel unter wechselnden Eigenbezeichnungen schriftlich zu ihrer Tat bekennen und diese politisch begründen. 365 "Kein Frieden mit der NATO!" - Communique der "Autonomen Antifa Freiburg" vom 9. April 2009, in: Koraktor vom Mai 2009, S. 15, Übernahme wie im Original. 240 366 Die linksextremistische Szene nennt die DHL "Deutsche Heeres Logistik". LIN K S E X T R E M IS M U S Diese "Kleingruppentaktik" ist eine der charakteristischen gewaltsamen Aktionsformen der autonomen Szene. Zu ihnen zählt aber auch die gezielte Auseinandersetzung auf der Straße mit dem politischen Gegner oder der Polizei. In Baden-Württemberg kam es in Karlsruhe in den frühen Morgenstunden des 18. März 2009 zu einem Brandanschlag auf drei DHL-Fahrzeuge. Dabei entstand ein Sachschaden in Höhe von circa 120.000 Euro. In einem Selbstbezichtigungsschreiben gingen die bislang unbekannten Täter, die sich als "militante Antimilitaristen" bezeichneten, auf die angeblich imperialistisch ausgerichtete Rolle von DHL ein. Zudem sollte die Aktion vor dem Hintergrund des NATOGipfels verdeutlichen, dass die von "NATOKriegstreibern wie der BRD" angeblich forcierte, militärisch durchgesetzte Ressourcensicherung nicht widerstandslos hingenommen werde. So hieß es: " - Profiteure, Unterstützende sowie passive Kriegsteilnehmer müssen als solche demaskiert werden. - Der antimilitaristische Widerstand in Zeiten gewaltsam durchgesetzter, darwinistischer Wirtschaftsordnung, stellt in all seinen Formen eine Notwendigkeit dar."367 Der Text endete mit den Parolen: "Kriege sabotieren, NATO abschaffen! Für einen dauerhaften Frieden! Für den Kommunismus!" Die Kampagne gegen DHL wurde auch nach dem Ende des NATO-Gipfels fortgesetzt, zuletzt am 8. November 2009 in Bremen. 2.2 "Antimilitarismus-Kampagne" gegen Bundeswehr und NATO Innerhalb der "Antimilitarismus-Kampagne", die sich gegen Bundeswehr und NATO richtete, wurden bisher bundesweit elf Brandanschläge auf Bundeswehrfahrzeuge verübt368, darunter am 9. Mai 2009 auf eine Zugmaschine der Bundeswehr in Heilbronn und am 29. Juni 2009 auf vier Fahrzeuge der Bundeswehr in Ulm. Am 26. Juni 2009 bekannte sich eine 367 Übernahme wie im Original. 368 Zuletzt am 27. November 2009 in Berlin. 241 Gruppe namens "autonome antimilitaristen" zu der Tat in Heilbronn. In einer Selbstbezichtigung erklärten sie: "unsere aktion richtet sich gegen diese propagandamaschinerie. bundeswehr und nato sind keine bewaffneten hilfsorganisationen mit humanitärer mission. sie sind mittel der herrschenden zur durchsetzung ihrer 'neuen weltordnung' (...) gegen die militarisierung der gesellschaft und imperialistischen krieg! feuer und flamme für die bundeswehr!"369 Zu dem Brandanschlag in Ulm bekannte sich eine Gruppe unter der Bezeichnung "Engagierte Antimilitarist_Innen". Dazu hieß es: "Ziel dieser Aktion war es nicht nur unserer Ablehnung gegenüber dem vorherrschenden System und dessen Instandhalter ausdruck zu verschaffen, sondern auch um direkt vor Ort gegen Bundeswehr und unterstützende bzw. von Krieg profitierende Firmen vorzugehen und für finanziellen Schaden und Unbrauchbarmachung von Kriegsmaschinen zu sorgen. (...) Bundeswehr an Schulen, Unis und Job-Centern abdrängen! Gegen Aufrüstung nach Innen und Außen! Die Kriegsindustrie lahm legen!"370 2.3 Kampf gegen "Rechts" Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Rechtsextremisten waren die gewaltsamen Auseinandersetzungen am 1. Mai 2009 in Ulm ein herausragendes Beispiel für die anhaltende Gewaltbereitschaft autonomer "Antifaschisten". Anlässlich einer von den "Jungen Nationaldemokraten" (JN), der Jugendorganisation der NPD, angemeldeten Demonstration kam es zu schweren Ausschreitungen. Bei regelrechten Straßenschlachten wurden nicht nur Rechtsextremisten mit Steinen und Flaschen beworfen, auch Polizeibeamte gerieten in das Visier linksextremistischer Gewalttäter. In Bahnhofsnähe brannten Mülltonnen und mehrere Autos wurden beschädigt. Die Polizei schritt mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken ein und nahm 52 Demonstranten fest. Mehrere Beamte erlitten dabei Verletzungen. 2.4 Reaktion auf polizeiliche "Repression" In der Nacht zum 8. Juni 2009 wurde ein Streifenwagen der Polizei in Freiburg in Brand gesetzt. In einer Erklärung371 zu dem Anschlag hieß es: 369 Übernahme wie im Original. 242 370 Internetauswertung vom 3. Dezember 2009, Übernahme wie im Original. 371 Internetauswertung zuletzt vom 29. Januar 2010 (Fehler und Fettdruck wie im Original). LIN K S E X T R E M IS M U S "Die Gründe hierfür [für den Anschlag] sind vielfältig, exemplarisch zu nennen wären die ständigen gewalttätigen Polizeiübergriffe auf Demonstrant_Innen, allgemein die überdimensionalen Polizeiaufgebote während Demonstrationen und Aktionen, die Repressive Politik des OB Salomon und des herrschenden Systems. In Zukunft werden der Polizeistaat, die (schweren) Verletzungen und ständigen Festnahmen nicht einfach mehr so hingenommen, sondern beantwortet. Feuer und Flamme der Repression!" In Reaktion auf polizeiliche Maßnahmen bei den Ausschreitungen von Linksextremisten bei einer Demonstration in Freiburg am 14. November 2009 kam es in der Nacht zum 20. November 2009 zu einem Brandanschlag auf einen Pkw. In einem Bekennerschreiben hieß es dazu unter anderem: "wir haben euch ja gesagt, dass wir bullengewalt auf demos beantworten werden. Wenn ihr uns aufs maul haut, dann brennen in freiburg autos." Auch im Kontext mit Wahlen kam es zu Gewalttaten. Unbekannte Täter bekannten sich zu einem Anschlag auf das Mannheimer Parteibüro der Freien Demokratischen Partei in der Nacht zum 16. September 2009, bei dem die Örtlichkeit "mit Steinen angegriffen" und Scheiben zu Bruch gegangen waren. In dem Selbstbezichtigungsschreiben hieß es unter anderem zur Begründung: "Die Aktion wurde bewusst im Vorfeld der Wahlen durchgeführt, um zu zeigen, dass nicht die Wahl einer neuen Regierung, sondern nur die Abschaffung von Staat und Kapital eine wirkliche Veränderung bringen kann."372 Ebenfalls mit den Wahlen in Zusammenhang zu bringen war eine militante Aktion in der Nacht zum 24. September 2009 in Gaggenau-Ottenau aus Anlass des Auftrittes von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.373 372 Internetauswertung vom 2. November 2009. 373 Vgl. Kap. E, 4.3. 243 3. Parteien und Organisationen 3.1 "DIE LINKE." Gründung: Hervorgegangen aus der 1946 gegründeten SED, danach mehrfach umbenannt, zuletzt am 16. Juni 2007 nach dem Beitritt der WASG Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 3.000 Baden-Württemberg (2008: ca. 2.600) ca. 77.600 Deutschland (2008: ca. 76.100) Publikationen: "Disput", "Clara", "Landesinfo Baden-Württemberg" Die Partei "DIE LINKE." ist aus der 1946 gegründeten "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED), der ehemaligen DDR-Staatspartei, hervorgegangen. Als gesamtdeutsche Partei hat sie sich vom marxistisch-leninistischen Parteientypus in wesentlichen Teilen gelöst, nicht aber von den politischen Zielvorstellungen. Als "pluralistische Linkspartei" vereinigt sie unterschiedliche politische Strömungen, die sich in eine "traditionelle" und eine "reformorientierte" Richtung unterscheiden lassen. Beide zielen auf eine Überwindung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung ab, unterscheiden sich aber in ihren Vorstellungen über den Weg zu diesem Ziel. Während sich die einen als fundamentale Opposition verstehen, wollen andere über politisches Mitgestalten die Gesellschaftsordnung schrittweise verändern. Gleichwohl können nicht alle Mitglieder der Partei als Linksextremisten bezeichnet werden, da durch den Beitritt der WASG auch Nichtextremisten in die Partei übernommen wurden. Zu den bedeutendsten Strömungen gehören die "Kommunistische Plattform" (KPF), die "Sozialistische Linke" (SL), die "Antikapitalistische Linke" (AKL) oder das "Forum Demokratischer Sozialismus" (FDS). Bei der Zahl ihrer Parteimitglieder verzeichnet "DIE LINKE." seit dem Zusammengehen mit der WASG einen starken und kontinuierlichen Aufwärtstrend. Dieser bestätigte sich durch die Wahlergebnisse des Jahres 2009. 3.1.1 Wahlen Die Partei "DIE LINKE." konzentrierte im Jahr 2009 ihre ganze Kraft auf die Wahlen. Bei der Europawahl erreichte sie bundesweit 7,5 Prozent der Stimmen gegenüber 6,1 Prozent im Jahr 2004. Sie ist mit acht statt zuvor sieben Abgeordneten im Europaparlament vertreten. In Baden-Württem244 berg erhielt die Partei 3,0 Prozent gegenüber 1,1 Prozent der Stimmen im LIN K S E X T R E M IS M U S Jahr 2004.374 Dies bedeutet bei einem prozentualen Zuwachs von 1,9 Prozent fast eine Verdreifachung des Ergebnisses von 2004. Damit erreichte "DIE LINKE." bei der Europawahl bemerkenswerte Ergebnisse, die jedoch unter den eigenen Erwartungen lagen. Das Wahlziel von bundesweit "10 Prozent plus x" wurde verfehlt. Entsprechend zurückhaltend waren Stellungnahmen auch in BadenWürttemberg. Ein Beitrag im "Kommunal-Info Mannheim" bezeichnete das Ergebnis als "ernüchternd".375 Bei der Bundestagswahl kam die Partei "DIE LINKE." bundesweit auf 11,9 Prozent der Zweitstimmen gegenüber 8,7 Prozent im Jahr 2005. Damit ist sie mit 76 Abgeordneten im Bundestag vertreten. In Baden-Württemberg erreichte die Partei 7,2 Prozent (2005: 3,8 Prozent). Ihr bestes Resultat erzielte sie in den Wahlkreisen Mannheim (11,3 Prozent), Stuttgart II (9,0 Prozent), Freiburg (8,9 Prozent) und Karlsruhe Stadt (8,3 Prozent). Entsprechend zufrieden zeigte sich auch der Landesverband. Mit dem Einzug von nunmehr sechs Abgeordneten in den Bundestag hat die Partei im Land ihr Wahlziel einer Verdoppelung der Mandate erreicht. Bei den Kommunalwahlen haben die Personalressourcen der Partei für eine flächendeckende Kandidatur offenbar nicht ausgereicht. Ihr gelang es dennoch mühelos, vor allem in den Großstädten Fuß zu fassen. Zu den Ergebnissen hieß es, "DIE LINKE." sehe sich "deutlich gestärkt".376 Mit der erreichten Mandatszahl zeigte man sich zufrieden und interpretierte sie als einen "kommunalpolitischen Durchbruch". Die Partei stellt seither nach eigenen Angaben im Land 39 Gemeinderäte, 24 Kreisräte und drei Vertreter im Stuttgarter Regionalparlament gegenüber zwölf Gemeindeund zwei Kreisräten nach den Wahlen von 2004. Auch das Ziel, zum Stuttgarter Regionalparlament in allen betroffenen Wahlkreisen anzutreten, konnte "DIE LINKE." realisieren, nicht aber den ursprünglich angestrebten Einzug in Fraktionsstärke. Das Abschneiden bei der Regionalwahl mit 3,2 Prozent bewertete die Partei selbst als "positiv" und die Wahlergebnisse insgesamt "als Beitrag für das weitere kontinuierliche Wachstum in Baden-Württemberg".377 374 Damals noch als "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS). 375 "Kommunal-Info Mannheim" Nr. 12 vom 12. Juni 2009, S. 6. 376 Ebd. 377 Presseerklärung vom 8. Juni 2009, Internetauswertung vom 9. Dezember 2009. 245 Von den angetretenen linksextremistischen Parteien kann allein "DIE LINKE." ein deutlich gesteigertes Ergebnis vorweisen. Der Aufwärtstrend der Partei ist unverkennbar. Das politische Konzept, durch den Zusammenschluss mit der WASG seit Mitte 2007 die Basis der "neuen" Gesamtpartei im Westen zu verbreitern, hat sich bislang als erfolgreich erwiesen. Die Partei "DIE LINKE." hat begonnen, auch in den westdeutschen Landtagen Einzug zu halten. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend bis zur Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg fortsetzen wird. Die Wahlkämpfe des Wahljahrs 2009 haben der Partei "DIE LINKE." wenig Raum für eine innerparteiliche Diskussion und politisch-programmatische Weiterentwicklung gelassen. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Veranstaltung einer "Wirtschaftlichen Fachtagung" am 21. November 2009 in Stuttgart, die unter dem Motto "Schutzschirm für die Menschen" Referate und Diskussionen zur Frage der "Positionierung der Linken zur Wirtschaftsund Finanzkrise" zum Inhalt hatte. Zu den erörterten Themen gehörte laut Ankündigung auch der Punkt "Historische und aktuelle Ansätze zum Umbau des vom Finanzmarkt gesteuerten Kapitalismus in eine wirtschafts-demokratische Gesellschaftsformation".378 Unter Bezugnahme auf die Situation des Landesverbands äußerte sich der Landessprecher zu der Veranstaltung unter anderem wie folgt: "Als sozialistische Partei reicht es auf Dauer nicht aus, auf Zukunftsentwürfe für eine andere Gesellschaft zu verzichten. Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte. An den Alternativen muss jedoch noch kräftig gearbeitet werden."379 3.1.2 Akzeptanz von Linksextremisten über die Landesebene hinaus Die Wahlen des Jahres 2009 haben gezeigt, dass die Partei "DIE LINKE." die Zusammenarbeit mit anderen linksextremistischen Organisationen nicht scheut. So hatten auf der Landeswahlliste - wenn auch auf den hinteren Plätzen und daher erfolglos - Mitglieder trotzkistischer Gruppierungen kandidiert. Als Mitglieder der "Linksjugend ['solid]" waren Mitglieder der trotzkistischen "Sozialistischen Alternative" (SAV) unter anderem in Stuttgart bei der Mobilisierung und Organisierung von Protestveranstal378 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 3/4 vom November 2009, S. 2. 246 379 Internetauswertung vom 2. Dezember 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S tungen im Zusammenhang mit dem "Bildungsstreik" vom Sommer 2009 aktiv, der im November seine Fortsetzung fand. Trotzkisten sind in BadenWürttemberg überdies weiterhin im Landesvorstand der Partei "DIE LINKE.", in der Redaktion des "Landesinfos" oder auf Kreisvorstandsebene vertreten. Dass bis auf Bundesebene Trotzkisten nicht nur als Mitglieder, sondern auch als Angehörige des Parteivorstands akzeptiert und damit mehr als nur toleriert werden, zeigte der vom Studentenverband "Die Linke.SDS" vom 2. bis 4. Oktober 2009 in Berlin veranstaltete Kongress "Make Capitalism History": Ein Programmpunkt war eine Podiumsdiskussion zwischen Gregor GYSI und dem Parteivorstandsmitglied und gleichzeitigen Mitglied des trotzkistischen Netzwerks "marx21", Janine WISSLER, über "Alternativen zum Kapitalismus". Die Bundesorganisation von "Linksjugend ['solid]" veröffentlichte überdies auf ihrer Homepage einen offenen Briefwechsel mit der SAV, aus dem eine heftige Kontroverse zwischen beiden Organisationen hervorgeht. Allerdings ging es nicht um eine grundsätzliche Ablehnung von Trotzkisten durch den Jugendverband, sondern um die Sorge vor Unterwanderung durch eine streng zentralistisch ausgerichtete und intransparente Organisation. Ziel war von Seiten des Jugendverbands, SAV-Mitglieder zum Austritt aus ihrer Organisation und zum Eintritt in die eigene zu bewegen. So hieß es: "In der SAV gibt es viele junge Genossinnen und Genossen mit dem Herz an der richtigen Stelle und guten Positionen im Kopf! (...) Das Verhältnis von SAV und Jugendverband wird in nicht wenigen Landesverbänden derzeit heftig diskutiert. Oftmals schrecken weniger die Positionen der SAV ab, sondern vielmehr der politische Stil ihrer Kader. Bei vielen Jugendverbandsmitgliedern besteht die Sorge, dass die Souveränität des Verbandes durch eine extern organisierte Gruppierung unterlaufen wird. (...) Klar ist aber auch: Wir wollen alle jungen SAV-Mitglieder, die im Verband organisiert sind, für einen starken und pluralen sozialistischen Jugendverband gewinnen (...) ." 380 380 Internetauswertung vom 3. Dezember 2009. 247 Kontakte und Zusammenarbeit gab es zu weiteren Linksextremisten: Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2009 wurden auch Kandidaturen der DKP auf Listen der Partei "DIE LINKE." bekannt, so beispielsweise in Mannheim. Dass trotz offizieller Distanzierung auf Bundesund Landesebene eine Zusammenarbeit mit der DKP auf kommunaler Ebene auch in BadenWürttemberg kein Tabu für die Partei ist, zeigte sich unter anderem daran, dass es in Heidenheim zu einer Fraktionsgemeinschaft zwischen beiden Parteien kam. 3.1.3 Beteiligung an Aktionen und Kampagnen Zusammenarbeit mit anderen linksextremistischen oder linksextremistisch beeinflussten Organisationen praktizierte "DIE LINKE." auch im Rahmen ihrer Beteiligung an verschiedenen Protestaktionen. Sie engagierte sich dabei in allen Themenbereichen, die 2009 für das linksextremistische Spektrum relevant waren. Ihr Jugendverband "Linksjugend ['solid]" und die Studentenorganisation "Die Linke. Sozialistisch-Demokratischer-Studierendenverband" ("Die Linke.SDS") stellten dabei die aktivsten Teile der Partei dar. Dies galt etwa für Kampagnen wie "Aufmucken gegen Rechts", mit denen sich die "Linksjugend ['solid]" der Öffentlichkeit als ein "antifaschistischer Verband" zu präsentieren versuchte.381 Im Rahmen des Engagements gegen Rechtsextremismus äußerte sich auf einer "Rock-gegen Rechts"-Veranstaltung in Tübingen/Reutlingen am 20. Mai 2009 ein Vertreter der Jugendorganisation: "Eine Gesellschaft, in deren Mitte rassistische und antidemokratische Einstellungen vorherrschen, bringt Nazis hervor. Das kapitalistische System befördert Konkurrenz, Rassismus und Nationalismus. Deshalb setzen wir uns für eine freie und solidarische Gesellschaft ein. Eine Gesellschaft ohne Rassismus, ohne Grenzen, ohne Nationen."382 Beim "Bildungsstreik 2009" traten "Linksjugend ['solid]" und "Die Linke.SDS" unter den beteiligten linksextremistischen Organisationen am deutlichsten und aktivsten in Erscheinung. Sie unterstützten neben den Protesten vom Sommer 2009 auch die Bildungsproteste in der Woche vom 17. bis 21. November 2009. Ein von "Die Linke.SDS" veranstalteter Kon381 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 2 vom August 2009, S. 16. 248 382 Ebd. LIN K S E X T R E M IS M U S gress "Make Capitalism History!" vom 2. bis 4. Oktober 2009 in Berlin sollte am "Bildungsstreik" beteiligte Studierende, Schülerinnen und Schüler mit dem Protestfeld "Wirtschaftskrise" und der Antiglobalisierungsbewegung zusammenbringen. Neben Diskussionen sollte es dabei auch um die Frage gehen, "welche Rolle eigentlich Bildung im Kapitalismus einnimmt und wie wir Gegenwehr organisieren können."383 Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsund Finanzkrise kündigte der Landesverband Baden-Württemberg an, "in und außerhalb des Parlaments für einen grundlegenden Politikwechsel" zu kämpfen und machte deutlich: "DIE LINKE wird auch mit allen Kräften unterstützen, dass Gegenwehr auf der Straße und in den Betrieben organisiert wird."384 Der Landesverband mobilisierte auch für die Demonstration in Frankfurt am Main am 28. März 2009 unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise! - Für eine solidarische Gesellschaft" und erklärte dazu, die "außerparlamentarischen Proteste tatkräftig unterstützen und in den Parlamenten ihre wesentlichen Forderungen zur Sprache bringen" zu wollen.385 In ihren "Eckpunkte(n) zur Bekämpfung der Wirtschaftsund Finanzkrise" erklärte die Partei ein weiteres Mal, "für einen grundlegenden Politikwechsel" kämpfen zu wollen.386 Einen solchen wollte sie nicht auf das Parlament allein beschränkt sehen, denn sie rief weiter dazu auf, "diesen Kampf auch auf der Straße zu führen". Die Partei stellte damit parlamentarische und außerparlamentarische Willensbildung auf die gleiche Stufe. Indem sie sich außerdem für die Einführung des "politischen Streikrechts" einsetzte, zielt sie offenkundig auf eine weitere Stärkung der Möglichkeiten außerparlamentarischer Einflussnahme ab. Politische Streiks sind in Deutschland verboten. Da sie geeignet sind, die parlamentarische Willensbildung in unzulässiger Weise von außen zu beeinflussen, gelten sie nach gängiger Rechtsauffassung als Verstoß gegen das Demokratieprinzip und damit als verfassungswidrig. 383 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 2 vom August 2009, S. 15. 384 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 1 vom Januar 2009, S. 5. 385 Ebd. 386 Hier und im Folgenden: Ebd. 249 Zum Selbstverständnis der Partei "DIE LINKE." als Antikriegspartei gehörte auch das Engagement auf dem Feld des "Antimilitarismus". So unterstützte sie - zusammen mit anderen linksextremistischen Parteien, Organisationen und auch autonomen Gruppen wie der MLPD, der DKP, der SAV Stuttgart und der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS) die Demonstration "Bundeswehr und NATO raus aus Afghanistan" am 28. November 2009 in Stuttgart. Zusammen mit dem "Anti-NATO-Bündnis" Stuttgart protestierte sie am 14. Januar 2009 in Stuttgart gegen die "Militärpropaganda in der Bildungsarbeit". Der Protest richtete sich gegen das Auftreten von Bundeswehrangehörigen zur Nachwuchswerbung bei einer unter anderem von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg getragenen Fachtagung. Die Proteste gegen den NATO-Gipfel 2009 waren für die "DIE LINKE." "ein deutliches Signal gegen die imperiale Kriegspolitik des Bündnisses".387 Der Landesvorstand rief ausdrücklich zur Beteiligung an den Protesten auf und betonte, den internationalen Aufruf "Nein zum Krieg - Nein zur NATO" zu unterstützen.388 Das Parteiorgan "Landesinfo" publizierte den Aufruf zum Ostermarsch in Kehl am 4. April 2009, in dem ebenfalls von "der aggressiven und bedrohlichen Politik der NATO" die Rede war.389 Den veröffentlichten Polizeibericht zum Einsatz bei den Protesten gegen den NATOGipfel kommentierte ein Mitglied des Landesvorstands mit den Worten: "So geht die Landesregierung mit Kritik um. Wenn eine Mehrheit der Menschen den Krieg der NATO in Afghanistan ablehnt, dann werden in Baden-Württemberg Grundrechte außer Kraft gesetzt, um Gipfel zu schützen und Demonstranten mundtot zu machen."390 Das "Landesinfo" berichtete außerdem über die von "Die Linke.SDS" initiierten Lesekreise an Hochschulen zum Studium des "Werkes von Karl Marx 'Das Kapital', darunter in Freiburg, Konstanz, Tübingen und Stuttgart". Damit werde dem Mangel "an kritischem Werkzeug, diese Gesellschaft grundlegend zu analysieren und zu kritisieren", entgegengewirkt. 391 Der Landesverband definiert sich im Übrigen ausdrücklich als Bestandteil des Bundesverbandes, der sich unverändert offen zum Ziel der "Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung" bekennt. 387 Ebd. S. 8, Fettdruck nicht im Original. 388 Ebd. S. 8. 389 Ebd. S. 8. 390 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 2 vom August 2009, S. 18. 250 391 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 1 vom Januar 2009, S. 9. LIN K S E X T R E M IS M U S 3.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: unter 500 Baden-Württemberg (2008: unter 500) ca. 4.000 Deutschland (2008: ca. 4.200) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) Die DKP ist die traditionskommunistische Partei in Deutschland. Sie steht in der Nachfolge der historischen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) und orientiert sich noch immer weitgehend am Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung, wie er von der "Kommunistischen Partei der Sowjetunion" (KPdSU) bis zum Untergang des Ostblocks Ende der 1980erund Anfang der 1990er-Jahre vorgegeben war. 3.2.1 Wahlen Für die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) stand das Jahr 2009 ebenfalls ganz im Zeichen der Wahlen. Bei der Europawahl erreichte sie bundesweit wie 2004 lediglich ein Ergebnis von 0,1 Prozent. In der Betrachtung der absoluten Stimmenzahl zeigt sich jedoch in dem Rückgang von 37.160 (2004) auf 25.615 (2009) ein Stimmenverlust um etwa ein Drittel. Auf der 31 Personen umfassenden Bundeswahlliste befanden sich auch drei Kandidaten aus Baden-Württemberg. Bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg trat die Partei nur in Heidenheim eigenständig an, bekam dort allerdings statt der vormals 5,7 lediglich 4 Prozent der Stimmen und konnte damit nur noch eines der zuvor zwei Mandate im Gemeinderat verteidigen. In Freiburg im Breisgau und Konstanz wurde jeweils ein Mandat über gemeinsame "linke" Wahllisten mit der Partei "DIE LINKE." erreicht. Ihre Stimmenverluste bei den Kommunalwahlen führte die DKP auf die erstmalige Konkurrenzkandidatur der Partei "DIE LINKE." zurück. Auf der Basis eines Gesamtergebnisses beider Parteien von fast 10 Prozent in Heidenheim bildete der DKP-Stadtrat indes eine Fraktionsgemeinschaft mit den beiden neu gewählten Stadträten der Partei "DIE LINKE." Dies hat zur 251 Folge, dass Vertreter von "DIE LINKE./DKP" in fast allen Gremien und Ausschüssen des Stadtparlaments vertreten sind. Zur Bundestagswahl veröffentlichte die DKP eine Stellungnahme mit acht "Eckpunkten", kandidierte jedoch lediglich in Berlin mit einer Landesliste. Ihre Hoffnung, die Stimmen einer vom rot-roten Senat enttäuschten linken Klientel für sich gewinnen zu können, wurde angesichts eines Wahlergebnisses von nur 0,1 Prozent nicht erfüllt. Immerhin ein Lichtblick für die Partei war das im zweijährigen Turnus stattfindende "UZ-Pressefest". Die nach der wöchentlich erscheinenden Parteizeitung "Unsere Zeit" (UZ) benannte zweitägige Großveranstaltung vom 19. bis 21. Juni 2009 in Dortmund zog nach Parteiangaben rund 50.000 Besucher an. Langjährige Tradition und ein für "Linke" attraktives politisches und kulturelles Programm bei geringem Eintrittspreis erklären den für die ansonsten weitgehend bedeutungslos gewordene DKP immer wieder bemerkenswerten Erfolg dieser Veranstaltung. 3.2.2 Vorstand, Mitglieder, Programmatik Die Gesamtsituation der DKP hat sich auch 2009 nicht zum Besseren gewendet. Ihr Mitgliederschwund und vor allem die daraus resultierende finanzielle Krise stellen den Parteivorstand vor große Probleme. Hinzu kommt, dass ein geordnetes Parteileben fast nicht mehr zu führen ist, weil eine wortgewaltige Minderheit den politischen Kurs des Vorsitzenden Heinz STEHR bekämpft. Im September 2009 unterzeichneten 84 Parteimitglieder ein Statement, das eine strengere dogmatische Ausrichtung einfordert. Nach Meinung der Gegenseite widerspricht es in Einzelpunkten auch dem erst 2006 verabschiedeten Parteiprogramm. Der Parteivorstand entschloss sich, das Papier für eine offene Diskussion im Nachrichtenportal der DKP zu veröffentlichen. Die danach einsetzende, auch mit offenen Feindseligkeiten durchsetzte Debatte offenbarte die tiefe Zerrissenheit der Partei. Mit einer Erklärung vom 2. Oktober 2009392 ging das "Sekretariat" des Parteivorstands auf den 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und den Jahrestag des Mauerfalls ein, der mit "großem Propagandaaufwand" gefeiert worden sei. In einer "Kampagne" sei die Ge252 392 "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 40 vom 2. Oktober 2009, S. 9. LIN K S E X T R E M IS M U S schichte der Bundesrepublik Deutschland als "Erfolgsgeschichte und alternativlos", die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hingegen nur in düstersten Farben dargestellt worden. Verbunden habe man dies mit "massiven Anstrengungen, die faschistische Vergangenheit und die Verantwortung des deutschen Kapitals für 1933, den 1. September 1939 sowie die Folgen zu verdrängen und die Ursachen für die Spaltung Deutschlands zu verschweigen". Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik galt der DKP als "negative(r) Endpunkt" einer mit dem ersten Aufbegehren der DDR-Bevölkerung einsetzenden Entwicklung. Die Wirtschaftsund Währungsunion seit Juli 1990 habe bereits "die Besitzergreifung der DDR durch die BRD, die Auslieferung Ostdeutschlands an das große Kapital" bedeutet. Die gegenwärtige Situation in Deutschland fordere eine "grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse" im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung. In der Erklärung hieß es abschließend: "Der Kapitalismus muss überwunden werden! Sozialismus ist notwendig! Die DDR zeigte 40 Jahre lang: Sozialismus ist möglich." 3.3 Linksextremistisch beeinflusste Organisation: "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V." (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Berlin Publikationen: "antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur", "AntiFa Nachrichten" (Baden-Württemberg) Die VVN-BdA wurde 1947 auf Initiative und unter prägendem Einfluss der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Ihre eigentliche Funktion war nicht die überparteiliche Interessenvertretung von Verfolgten des Nationalsozialismus, sondern die eines politischen Kampfinstruments der KPD beziehungsweise der DDR-Staatspartei SED. Die VVN-BdA befand sich von Anfang an und über Jahrzehnte hinweg nicht nur programmatisch, sondern auch personell und organisatorisch in völliger Abhängigkeit von der SED. Den Namenszusatz "Bund der Antifaschisten" (BdA) führt die VVN seit 1971. Ab diesem Zeitpunkt öffnete sie sich auch für jüngere "Antifaschisten". In den 1970erund 1980er-Jahren bis zum Zusammenbruch der DDR war die VVN-BdA die bedeutendste und mitgliederstärkste Vorfeldorganisation der DKP. Heute versteht sich die VVN-BdA als "Bündnis im Bündnis" einer breiten "antifaschistischen Bewegung". Dies bedeutet faktisch die 253 Öffnung gegenüber "linken", insbesondere aber linksextremistischen Strömungen, darunter ausdrücklich auch gegenüber "autonomen Antifaschisten". Die VVN-BdA gilt heute als eine linksextremistisch beeinflusste Organisation. Das heißt, dass nicht alle Mitglieder Linksextremisten sind, jedoch wird der politische Kurs der VVNBdA entscheidend von Funktionären geprägt, die ihrerseits Linksextremisten beziehungsweise Mitglieder linksextremistischer Organisationen sind. Der "Antifaschismus" der VVN-BdA steht auf der Basis des klassischen kommunistischen Faschismusverständnisses, das einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus herstellt. Eine dauerhafte und endgültige Überwindung faschistischer Tendenzen soll danach in letzter Konsequenz nur durch die Überwindung des Kapitalismus und Etablierung eines sozialistisch/kommunistischen Gesellschaftssystems möglich sein. 3.3.1 Aktivitäten 2009 Schwerpunkt der Aktivitäten der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V." (VVN-BdA) im Jahr 2009 war die Fortführung ihrer "nonpd"-Kampagne, in der sich die VVN-BdA für ein Verbot der NPD einsetzt. Sie hatte bereits in den Jahren 2007 und 2008 über 175.000 Unterschriften für einen entsprechenden Aufruf an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags gesammelt. Am 27. Januar 2009 startete die Fortsetzungskampagne, die bis zum 8. Mai 2010, dem 65. Jahrestag "der Befreiung von Faschismus und Krieg"393, abgeschlossen sein soll. Neu daran ist eine zentrale Einbindung des Internets mit dem Ziel, 5.000 Gründe für ein NPD-Verbot zu sammeln. Auf einer extra eingerichteten Homepage können entsprechende Stellungnahmen abgegeben werden. Erhofft wird die Unterstützung durch Menschen, "denen das Logo 'nonpd' und die Losung 'NPD-Verbot jetzt!' etwas bedeuten und die an einer offensiven 254 393 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 5. November 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S und zielgerichteten Aktion teilnehmen wollen." Zur Vorstellung der neuen Kampagne hieß es außerdem: "Nach aller bisherigen Erfahrung kann man auch nicht darauf setzen, dass die politisch Verantwortlichen (...) auf einmal von sich aus die Energie entwickeln, die nach wie vor gefährlichste neofaschistische Organisation Deutschlands endlich auszuschalten. Hier muss nachgeholfen werden!" In einer solchen Formulierung manifestiert sich die Unterstellung, der Staat habe kein wirkliches Interesse an der Bekämpfung des Rechtsextremismus beziehungsweise des "Faschismus". Der kommunistischen Faschismusdoktrin zufolge rührt dies daher, dass der "Faschismus" ein Reserveinstrument des Staates in Krisenzeiten sei und dieser ihn deshalb toleriere und fördere. Zusätzlich erschien zur "nonpd"-Kampagne eine Sonderausgabe des Mitgliedermagazins "antifa". In der Mitte des Blattes wurden der damalige Bundesinnenminister und die 16 Innenminister der Bundesländer unter der Überschrift "Sie sind verantwortlich!" doppelseitig abgebildet.394 Im Begleittext unterbreitete die VVN-BdA den Lesern einen Textvorschlag für ein Schreiben an ihren jeweiligen Innenminister. Darin sollte die tiefe Empörung "darüber, dass aus Steuergeldern eine rechtsextreme Partei wie die NPD finanziert wird", zum Ausdruck gebracht und die Forderung nach Schaffung der Voraussetzungen für ein NPD-Verbot erhoben werden. Die der NPD wie allen anderen Parteien nach dem Parteiengesetz zustehenden staatlichen Zuschüsse, Fraktionsgelder oder Wahlkampfkostenerstattungen diffamierte die VVN-BdA als "staatlich geförderte Verbreitung dieses [sc. rechtsextremistischen] Gedankengutes". Bei der Bewertung des 60. Jahrestags der Verkündigung des Grundgesetzes konzentrierten sich Beiträge verschiedener Autoren im Publikationsorgan "antifa" vornehmlich auf angebliche Mängel, Versäumnisse und Fehlleistungen der westdeutschen Spitzenpolitiker von den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland bis heute. Stets bezogen die Autoren die "Systemalternative" der sozialistischen Staaten um die Sowjetunion, hier insbesondere die DDR, wohlwollend in ihre Analysen ein.395 Die Existenz dieser "Systemalternative" habe die "BRD" vor allem in militärischer Hinsicht zur Mäßigung gezwungen. Das verpflichtende "Erbe des antifaschistischen 394 Hier und im Folgenden: Sonderausgabe der Zeitschrift "antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur", ohne Datum, S. 7. 395 Hier und im Folgenden: "antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kul255 tur", Ausgabe 5-6/2009. Widerstandes 1945", das sich angeblich im Grundgesetz manifestiere, sei in der Bundesrepublik Deutschland von den "Kapitalherren schrittweise aber zielorientiert" unterlaufen und im Sinne der "Herrschaftssicherung der privilegierten Minderheit uminterpretiert" worden. Konrad Adenauer und Kurt Schumacher hätten in der Nachkriegszeit durch die Westausrichtung ihrer Politik ein einiges Deutschland verhindert und so letztlich als Konsequenz die Gründung der DDR herbeigeführt: "Es vereinigten sich nicht die beiden traditionellen Arbeiterparteien SPD und KPD, um künftig den Kurs in Deutschland als Klassenpartei zu bestimmen, sondern es gewann ein virulenter, fortdauernder Antikommunismus, gemeinsam getragen von der sich in den Westen integrierenden SPD und Adenauers CDU. Beide 'Volksparteien' wurden zur politischen Trägerschaft des sich wieder fest installierenden Kapitalismus. Das führte zur herrschenden ideologischen Ausrichtung gegen die in den Sowjetkommunismus eingebundene 'Ostzone', die dann zur DDR wurde." Adenauer habe "mit Vehemenz" ein Verbot der KPD betrieben, das 1956 schließlich erfolgt sei. Der Autor rückte ihn deshalb in die Nähe eines geistigen Erfüllungsgehilfen Hitlers. Letzterer habe den "Marxismus 'mit Stumpf und Stiel ausrotten'" wollen. "Wer", so hieß es weiter, "hätte gedacht, dass seine Absicht so schnell wieder offene Anhängerschaft fand." 3.3.2 Verhältnis zu linksextremistischen Organisationen und Gruppen Die unveränderte Nähe der VVN-BdA zur DKP wurde auch in einem Bericht396 der VVN-BdA über den Erfolg ihrer Präsenz auf dem "UZ-Pressefest" der DKP in Dortmund deutlich. Nicht nur ein "zentral gelegene(r)" Informationsstand, sondern auch viele "weitere Beiträge (...) von Mitgliedern und Freunden der VVN-BdA", so hieß es darin, hätten zum Gelingen der DKPVeranstaltung beigetragen, die ein "großes Erlebnis" gewesen sei. Den Gleichklang zwischen VVN-BdA und DKP demonstrierte auch der Artikel des nordrhein-westfälischen VVN-BdA-Funktionärs und gleichzeitigen DKPMitglieds Ulrich SANDER in der Parteizeitung "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 1/2 vom 9. Januar 2009, indem dieser Parallelen zwischen Hitler und Mussolini auf der einen und der Bundeskanzlerin und dem italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi auf der anderen Seite konstruierte. In der Sache ging 256 396 Internetauswertung vom 28. August 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S es um eine Klage der Bundesregierung Ende Dezember 2008 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Abwehr individueller Entschädigungsklagen von italienischen Opfern eines Wehrmachtsmassakers von 1944.397 Die Unterstützung der deutschen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag durch die italienische Regierung wurde in dem Artikel als Wiedergeburt der "Achse Berlin-Rom" von 1939 bezeichnet. "Rechtzeitig zum Jahrestag" gebe es nun in Den Haag eine Neuauflage als "Merkel-Deutschland und Berlusconi-Italien gegen die Opfer der Achse Berlin-Rom". Um den Tenor des VVN-Artikels noch zu unterstreichen, griff die DKP zum politischen Mittel der Fotomontage, womit ein Bild entstand, das Merkel und Berlusconi optisch in genauer Parallele zu einem historischen Foto von Hitler und Mussolini zeigte. Die Einbindung der VVN-BdA in das linksextremistische Spektrum wird auch durch andere Kontakte belegt. So versicherte die Bundesvorsitzende der VVN-BdA gegenüber der "Roten Hilfe e.V.", dass man deren Einsatz "für kriminalisierte Antifaschistinnen und Antifaschisten" begrüße, der der "wichtigste Berührungspunkt" zwischen beiden Organisationen sei.398 "Seit langem" gebe es "Menschen, die durch ihr Engagement in beiden Organisationen Verbindung" schafften und hielten "und damit zur Bündelung von Kräften auf gemeinsame Ziele" mitwirkten. Mit der "Roten Hilfe e.V." teilt die VVN-BdA auch das Engagement für die Freilassung des in den Vereinigten Staaten von Amerika wegen Mordes an einem Polizisten zum Tode verurteilten Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL.399 397 Die Berechtigung der Ansprüche und eine solche Klagemöglichkeit hatte das oberste italienische Zivilgericht im Sommer 2008 bejaht. Die deutsche wie die italienische Regierung sind sich Medienberichten zufolge einig, entsprechende Ansprüche einzelner Betroffener gegen Deutschland oder andere Staaten aus völkerrechtlichen Prinzipien abzulehnen. 398 Hier und im Folgenden: Zeitschrift "Die Rote Hilfe" Nr. 3/2009, S. 11. 399 Zu ABU-JAMAL siehe Kap. E, 3.5.2. 257 Selbst mit der stalinistischen MLPD gibt es keine Berührungsängste. Bei einer Diskussion zum Thema "Antifaschistischer Kampf in Zeiten der Weltwirtschaftskrise" auf dem "14. Internationalen Pfingstjugendtreffen" der MLPD am 30./31. Mai 2009 in Gelsenkirchen gehörte neben je einem Funktionär der MLPD und ihres Jugendverbandes "REBELL" und einem Landtagsabgeordneten der Partei "DIE LINKE." aus Thüringen unter anderem auch ein Vertreter der VVN-BdA zu den Teilnehmern auf dem Podium. 400 Am Beispiel der VVN-BdA Heidelberg lässt sich aufzeigen, dass die Organisation 2009 auch auf regionaler Ebene mit Linksextremisten verschiedener Ausrichtungen zusammenarbeitete. So war die VVN-BdA neben der DKP, der Partei "DIE LINKE." und anderen, teilweise linksextremistisch beeinflussten Gruppierungen eine der einladenden Organisationen zu einem Vortrag am 25. März 2009 in Heidelberg mit dem Titel "60 Jahre Nato - Innenansichten einer Kriegsallianz".401 Als Redner war Rainer RUPP angekündigt.402 Der ehemalige Agent "Topas" trat als "NATO-Experte" auf. Über die NATO hieß es, sie sei eine "Organisation (...), die mit brutalen Interventionen und völkerrechtswidrigen Kriegen die Interessen der westlichen Mächte" durchsetze. Anlässlich der Tagung des "Heidelberger Sicherheitsforums" am 15. Mai 2009 gehörte die VVN-BdA unter anderem zusammen mit anderen linksextremistischen Organisationen und autonomen Gruppen wie der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD), dem "Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg", der DKP Heidelberg und dem Kreisverband Heidelberg/Rhein-Neckar der Partei "DIE LINKE." zu den Unterzeichnern des Aufrufs zu einer Demonstration und Kundgebung "Gegen das Heidelberger Kriegstreiberforum! Den Militärstrategen und Kriegsprofiteuren die Hummersuppe versalzen!".403 Laut diesem Aufruf handelte es sich bei dem Heidelberger Sicherheitsforum um ein Treffen zur Beratung von "Vertreter(n) aus Militär, Politik und Rüstungsindustrie" darüber, "wie sie den Ausbau der deutschen Militärmacht in der Krise vorantreiben könnten". Dass es den Gegnern des Treffens nicht in erster Linie um Abrüstungsfragen ging, sondern um politische Agitation gegen die bestehende Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, zeigte der weitere Text: 400 MLPD-Publikation "REBELL" Nr. 3/2009, S. 6. 401 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 17. April 2009. 402 RUPP war 1994 wegen Spionage in der NATO für die DDR und den Warschauer Pakt vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt worden. Am 27. Juli 2000 wurde er vorzeitig entlassen. 258 403 Internetauswertung vom 4. Mai 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S "Wenn im 'Heidelberger Sicherheitsforum' über den Krieg nach innen und nach außen diskutiert wird, so ist dies kein 'Ausrutscher', sondern liegt völlig in der Logik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und gehört zu den unabdingbaren Reaktionen des Kapitalismus auf seine immanenten Krisen." Der Aufruf endete mit der Losung "Gemeinsam gegen Krieg, Militarisierung und kapitalistische Verwertungslogik! (...)". Die VVN-BdA gehörte auch zu den Teilnehmern am Ostermarsch, der aus Anlass des NATO-Gipfels um eine Woche vorverlegt am 4. April 2009 in Kehl stattfand. Zum Ostermarsch zog der Landesgeschäftsführer der VVNBdA Baden-Württemberg eine positive Bilanz. 404 Die NATO habe sich in Kehl und Straßburg selbst feiern wollen: "Geschichte und Charakter eines aggressiven Militärbündnisses sollte als Erfolgsgeschichte der Völkerverständigung, der Friedenssicherung und des Einsatzes für Menschenrechte umgelogen werden. Es sollte Legitimation geschaffen werden für die Kriegsplanungen und Kriege der Zukunft". Stattdessen sei es gelungen, die NATO als ein "System, von dem Gewalt ausgeht und das auf demokratische Rechte pfeift", anzuprangern. Bedauert wurde, dass es seitens der Demonstranten auch zu gewaltsamen Reaktionen gekommen sei. "Unübersehbar" aber sei gewesen, "dass die Gewalt von der NATO, d. h. von Behörden und Polizei" ausgegangen sei. Man habe sie "bereits im Vorfeld herbeigeredet und dann auch herbeiorganisiert", indem der Zugang zur Auftaktkundgebung in Straßburg absprachewidrig versperrt "und dann mitten in die friedliche Menschenmenge Tränengas geworfen" worden sei. 3.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 550 Baden-Württemberg (2008: ca. 600) ca. 2.000 Deutschland (2008: ca. 2.300) Publikationen: "Rote Fahne" (RF), "Lernen und Kämpfen" (LuK), "REBELL" 404 Hier und im Folgenden: "AntiFa Nachrichten" Nr. 1 vom Mai 2009, S. 13. 259 Die revolutionär-marxistische MLPD unterscheidet sich von anderen linksextremistischen Parteien dadurch, dass sie sich neben der Orientierung an Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin auch auf Mao Tse-tung und Josef Stalin beruft. Weitere Unterscheidungskriterien sind ihre Sektenhaftigkeit, ein streng hierarchischer Aufbau, hohe Einsatzbereitschaft und Eingebundenheit der Mitglieder sowie eine für ihre Größe ausgezeichnete finanzielle Situation. In der Öffentlichkeit ist die MLPD kaum wahrnehmbar und selbst in der linksextremistischen Szene weitgehend isoliert. 3.4.1 Wahlen Die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) beteiligte sich mit 16 Landeslisten flächendeckend an der Bundestagswahl am 27. September 2009. Sie trat als "revolutionäre Alternative" zur Partei "DIE LINKE." auf. Außerdem trat sie mit insgesamt 46 Direktkandidaten und -kandidatinnen an, neun davon in Baden-Württemberg.405 2005 hatte es nur 36 Direktkandidaturen gegeben, davon sechs im Land. An den Kommunalwahlen und der Europawahl beteiligte sich die Partei nicht mit eigenen Listen. In einem wie schon 2005 aufwändig geführten Wahlkampf versuchte die MLPD, sich mit auffälligen Plakatierungen in nahezu allen größeren Städten, millionenfach verteilten Publikationen, mit Kundgebungen sowie Fernsehund Radio-Wahlwerbespots in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Bei bundesweit weiterhin 0,1 Prozent der Stimmen musste die MLPD allerdings in absoluten Zahlen einen gravierenden Rückgang auf 29.261 Stimmen gegenüber 45.238 Stimmen im Jahr 2005 hinnehmen. In Baden-Württemberg erhielt die Partei bei ebenfalls gleich gebliebenen 0,1 Prozent 3.640 Zweitstimmen (2005: 5.579). An Erststimmen hingegen konnte sie 2009 aufgrund der höheren Anzahl an Direktkandidaten mit 17.512 Stimmen bundesweit ein leichtes Plus im Vergleich zu 16.480 Stimmen im Jahre 2005 verbuchen. In Baden-Württemberg gelang mit den neun statt zuvor sechs Direktkandidaten eine Steigerung um 720 Stimmen von 2.287 auf 3.007 Stimmen. 405 Direktkandidaten der MLPD stellten sich in Baden-Württemberg in den Wahlkreisen Reut260 lingen, Stuttgart II, Mannheim, Esslingen, Heilbronn, Waiblingen, Ulm, Böblingen und Karlsruhe-Stadt zur Wahl. LIN K S E X T R E M IS M U S Trotz des enttäuschenden Ergebnisses zog der Parteivorsitzende Stefan ENGEL in einer ersten Bewertung noch am Wahlabend erwartungsgemäß ein positives Resümee. Das Abschneiden seiner Partei brachte er ausschließlich mit der "verschärften politischen Isolierungspolitik seitens der Medien" 406 in Zusammenhang. Dort, wo "die Linkspartei nicht alle linken Stimmen" abgeschöpft habe, habe man durchaus "einen Achtungserfolg" erzielen können. Im Zuge seiner wie üblich überzogenen Angaben behauptete ENGEL, "in einem hervorragenden Wahlkampf neue Interessenten und Mitstreiter und Mitglieder" gewonnen zu haben. Das Potenzial für die "sozialistische Alternative" sei eindeutig gewachsen, die "Offensive für den echten Sozialismus" habe ihre Ziele "voll erreicht". Auch wenn die MLPD mit Wahlkämpfen in erster Linie tatsächlich das Ziel des Parteiaufbaus verfolgt, dürften die erheblichen Stimmenverluste in diesem Jahr für große innerparteiliche Frustration gesorgt haben, zeigten sie doch, dass die Partei im Vergleich zum Jahr 2005 deutlich an Attraktivität verloren hat. Im Jahre 2009 machten sich innerhalb der MLPD fortschreitende Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Dies galt trotz des nach außen anderweitig erweckten Eindrucks selbst für ihre Anstrengungen bei der Beteiligung an der Bundestagswahl. Engagement und Einsatzstärke bei den einzelnen Aktionen haben im Vergleich zu ihrem letzten Bundestagswahlkampf nachgelassen. 3.4.2 Wirtschaftskrise als zentrales Thema Viel Aufmerksamkeit widmete die MLPD der anhaltenden Wirtschaftskrise, mit der sie sich unter anderem in umfangreichem Publikationsmaterial auseinandersetzte. In ihrer Kleinbroschüre "Banken und Konzerne sollen die Krisenlasten selbst bezahlen!" forderte sie in einem "13-Punkte-Programm" die Einführung einer sozialistischen Planwirtschaft. Auch in der umfangreichen Ausarbeitung "Bürgerliche politische Ökonomie vor dem Scherbenhaufen. Einige Ergänzungen zur marxistischleninistischen Krisentheorie", die der "Roten Fahne" Nr. 21 vom 22. Mai 2009 beilag, nahm die MLPD Stellung zu den vermeintlichen Ursachen der Krise und den aus ihrer Sicht notwendigen Schlussfolgerungen. Danach soll die Lösung in der "Vorbereitung und Durchfüh406 Hier und im Folgenden: "Rote Fahne News", Online-Nachrichtenmagazin der MLPD, Internetauswertung vom 28. September 2009. 261 rung der internationalen Revolution" und der "Erkämpfung einer von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreiten sozialistischen Gesellschaft - mit der Perspektive der vereinigten sozialistischen Staaten der Welt!" liegen.407 3.4.3 Rückgang des Teilnahmeinteresses Der allgemein nachlassende Elan der Partei spiegelte sich ansonsten auch in sinkenden Teilnehmerzahlen bei Parteiveranstaltungen wider. Dies galt nicht nur für den vom 15. bis 18. Oktober 2009 durchgeführten "6. Automobilarbeiterratschlag" in Hannover mit insgesamt nur 350 bis 400 Personen (2007: über 600).408 Auf die "6. Bundesweite Demonstration gegen die Regierung" am 24. Oktober 2009 in Berlin, - eine von der MLPD-dominierten "Montagsdemo-Bewegung" jährlich veranstaltete Großkundgebung, die sich gegen die Hartz IV-Reformen richtet -, traf Ähnliches zu. Circa 3.500 Teilnehmer im Vergleich zu circa 5.000 Teilnehmern 2008 und vor allem gegenüber rund 15.000 Teilnehmern im Jahre 2005 signalisierten einen drastischen Rückgang des Teilnahmeinteresses. Ein entsprechender Trend war auch bei dem im zweijährigen Rhythmus stattfindenden "Pfingstjugendtreffen" vom 30. bis 31. Mai 2009 in Gelsenkirchen feststellbar. 3.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz: Dortmund Geschäftsstelle: Göttingen Mitglieder: ca. 350 Baden-Württemberg (2008: ca. 330) ca. 5.300 Deutschland (2008: ca. 5.000) Publikationen: "Die Rote Hilfe" (erscheint vierteljährlich) Die "Rote Hilfe e.V." ist eine von Linksextremisten unterschiedlicher politisch-ideologischer Ausrichtung getragene Organisation, die sich schwerpunktmäßig der politischen und finanziellen Unterstützung von solchen Linksextremisten widmet, die bei ihren politischen Aktivitäten mit Staat und Gesetz in Konflikt geraten sind. Indem die "Rote Hilfe e.V." im Zusammenhang mit Maßnahmen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von "politischer Verfolgung" spricht, unterstellt sie Staat und Justiz politische Willkür im Umgang mit Andersdenkenden und zweifelt damit die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland an. 407 Beilage zur "Roten Fahne" Nr. 21 vom 22. Mai 2009, S. 12, Übernahme des Fettdrucks wie im Original. 262 408 Die hier und im Folgenden genannten Teilnehmerzahlen sind Eigenangaben der MLPD. LIN K S E X T R E M IS M U S Die "Rote Hilfe e.V." ist im Spektrum des deutschen Linksextremismus weiterhin eine der wenigen Organisationen, die auf eine stabile Mitgliederentwicklung verweisen können. In Baden-Württemberg unterhält sie Ortsgruppen in Freiburg im Breisgau, Stuttgart und Heidelberg. 3.5.1 Beteiligung an Anti-NATO-Protesten Im Vordergrund standen 2009 auch für die "Rote Hilfe e.V." die Anti-NATOProteste in Kehl und Straßburg. So veröffentlichte sie auf ihrer Internetseite Ende März 2009 für die Gipfelgegner "Rechtshilfetipps für Frankreich"409 mit den dazugehörigen Rufnummern sogenannter Ermittlungsausschüsse410 in Straßburg und Freiburg im Breisgau. In einer Presseerklärung vom 1. April 2009 kritisierte der Bundesvorstand die behördlichen Maßnahmen zur Sicherstellung eines friedlichen Demonstrationsverlaufs als massive "staatliche Repression im Vorfeld des NATO-Gipfels": So hieß es: "Die Rote Hilfe hofft, dass das Kalkül der staatlichen Repressionsorgane, mit solchen Maßnahmen die Einschüchterung zu verschärfen und einen unerträglichen 'rechtswidrigen Überwachungsdruck' aufzubauen, der politisches Handeln lähmen soll, nicht aufgehen wird." Ebenfalls im Zeichen der "Antirepressionsarbeit" ging es nach dem NATOGipfel vorrangig um die Aufarbeitung der im Zuge der Proteste erfolgten Festnahmen. 3.5.2 Solidaritätskampagnen für "politische Gefangene" Seit dem Frühsommer 2009 gewann auch die bereits seit Jahren laufende Solidaritätskampagne zugunsten des in den Vereinigten Staaten von Amerika wegen Mordes zum Tode verurteilten "politischen Gefangenen" Mumia ABU-JAMAL411 neue Aktualität. Im April 2009 lehnte der dortige Oberste Gerichtshof die Eröffnung eines neuen Verfahrens ab. Die Entscheidung über eine Bestätigung des Urteils von 1982 oder die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft steht noch aus. Nachdem sich internationale 409 Homepage der "Roten Hilfe e.V." vom 31. März 2009. 410 "Ermittlungsausschüsse" werden aus Szeneangehörigen gebildet. Sie betreuen im Zusammenhang mit Aktionen und Demonstrationen von der Polizei Festgenommene oder in Gewahrsam Genommene, indem sie allgemeine Informationen über die Geschehnisse sowie die Namen und Daten der Betroffenen sammeln und für deren anwaltliche Vertretung sorgen. 411 Ein ehemaliges Mitglied der "Black-Panther"-Bewegung, das 1982 zum Tode verurteilt wurde und sich seither in Haft befindet. Überwiegend der linksextremistischen Szene zuzurechnende Sympathisanten versuchen seit Jahren, die Aufhebung des Todesurteils und Freilassung ABU-JAMALs zu erreichen. 263 Proteste bereits zweimal erfolgreich gegen die Urteilsvollstreckung gerichtet hatten, sollte auch diesmal versucht werden, den "geplante(n) staatliche(n) Mord"412 zu verhindern. Aus diesem Anlass veröffentlichte die "Rote Hilfe e.V." im Internet einen von zahlreichen Unterstützern unterschriebenen Aufruf unter dem Motto "Macht Euch bereit für die Notfallproteste!".413 Darin rief sie zur Teilnahme an einer bundesweiten Demonstration am letzten Samstag vor dem voraussichtlichen Hinrichtungstermin vor der US-Botschaft in Berlin auf. Für den dritten Tag nach einer möglichen Bestätigung des Todesurteils war darüber hinaus ein dezentraler Aktionstag geplant, der sich mit Protesten und "Aktionen des zivilen Ungehorsams" gegen Einrichtungen der amerikanischen Regierung und amerikanische Konzerne richten sollte. Sollte die Entscheidung länger auf sich warten lassen, wurde zu einem weltweiten Aktionstag für die Freiheit ABU-JAMALs am 9. Dezember 2009 aufgerufen. Zuvor schon hatte die "Rote Hilfe e.V." zusammen mit dem Berliner "FREE MUMIA Bündnis" eine bundesweite "Infotour" organisiert414, die am 19. September 2009 auch in Karlsruhe Station machte und zugleich als Mobilisierungsveranstaltung zu der avisierten bundesweiten Demonstration in Berlin dienen sollte. Für den 12. Dezember 2009 hatte auch die Ortsgruppe Heidelberg der "Roten Hilfe e.V." eine Aktion unter dem Motto "Ein Leben am seidenen Faden - gegen die Hinrichtung von Mumia Abu Jamal" angekündigt.415 Die Stuttgarter Ortsgruppe der "Roten Hilfe e.V." forderte die sofortige Freilassung eines Stuttgarter "Antifaschisten". Dieser war Anfang Oktober 2009 aufgrund einer vorausgegangenen tätlichen Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten in einer Gaststätte nach "Denunziationen"416 aus dem rechtsextremistischen Spektrum in seiner Wohnung festund in Untersuchungshaft genommen worden. Die Stuttgarter Ortsgruppe der "Roten Hilfe e.V." gehörte auch zu den Organisatoren einer Kundgebung in Stuttgart am 16. Oktober 2009, die sich unter anderem gegen die Verurteilung der Angeklagten im Berliner "mg-Prozess"417 richtete. 412 Internetauswertung vom 28. September 2009. 413 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 28. September 2009. 414 Internetauswertung vom 28. Oktober 2009. 415 Internetauswertung vom 25. November 2009. 416 Internetauswertung vom 9. November 2009. 264 417 Siehe zu dem Prozess auch Kap. E, 4.3. LIN K S E X T R E M IS M U S In ihrer alljährlich zum 18. März, dem traditionellen "Tag der politischen Gefangenen"418, in der Tageszeitung "junge Welt" erscheinenden "Sonderausgabe der Roten Hilfe" erinnerte die Organisation an die "Opfer der politischen Justiz" und formulierte die Zielsetzung, im Zusammenhang mit der "Repression gegen linke Bewegungen" zu "einer stärkeren, strömungsübergreifenden Vernetzung der Solidaritätsarbeit für die Freiheit der inhaftierten GenossInnen beizutragen". Im Kampf gegen Repression wurde auch erneut die "Freiheit für die revolutionären Gefangenen" im DHKP-C-Prozess419 in Stuttgart-Stammheim gefordert. 3.6 Sonstige Vereinigungen Im Jahr 2009 setzten verschiedene trotzkistische Organisationen ihr Engagement in der Partei "DIE LINKE." fort. Neben dem Netzwerk "marx21" (früher: "Linksruck") war die "Sozialistische Alternative" (SAV) unverändert aktiv. Der Stellenwert des Netzwerks "marx 21" in der Partei "DIE LINKE." dokumentierte sich beispielsweise anlässlich des Kongresses "marx is' muss" vom 26. bis 29. November 2009 in Berlin, bei dem als Referenten auch zahlreiche namhafte Funktionäre der Partei "DIE LINKE." angekündigt waren. Zielsetzung des Kongresses war laut Ankündigung des Veranstalters unter anderem, "Alternativen zum Kapitalismus" aufzuspüren und "eine bessere Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu erstreiten".420 SAV-Mitglieder waren unter anderem in Stuttgart als Aktivisten von "Linksjugend ['solid]" an der Organisierung und Vorbereitung von Streikaktionen im Rahmen des bundesweiten "Bildungsstreiks 2009" beteiligt. Indem sich Funktionäre der SAV unter der Flagge des Jugendverbands der Partei "DIE LINKE." in Protestbewegungen engagieren, versuchen sie, Anhänger für die eigene Organisation zu gewinnen, aber auch, wie im Fall des "Bildungsstreiks", politischen Druck auf die Parteiführung im Sinne der eigenen Vorstellungen auszuüben. Die SAV trat darüber hinaus aber auch eigenständig in Erscheinung. So fanden am 6. und 7. November 2009 in Stuttgart die 418 Der 18. März soll historische Bezüge zu den Barrikadenkämpfen in Berlin während des Revolutionsjahrs 1848, zum Beginn der Pariser Commune im März 1871 und dem erstmals am 18. März 1923 von der damaligen KPD-nahen "Roten Hilfe" ausgerufenen "Internationalen Tag der politischen Gefangenen" knüpfen. 419 Siehe Kap. C, 3.2.6. 420 Hier und im Folgenden: Flugblatt "MARX IS MUSS 2009". 265 Sozialismustage 2009" statt. Themen waren unter anderem "20 Jahre Mauerfall: Revolution für Kapitalismus?" sowie die Behandlung von "Marxistische(r) Krisentheorie und sozialistische(r) Krisenlösung".421 Der mitgliederschwache "Revolutionär Sozialistische Bund" (RSB/IV. Internationale), der sein Bundesbüro in Mannheim hat, trat hauptsächlich durch seine Beteiligung an Demonstrationen und die Veröffentlichung von Flugblättern im Zusammenhang mit der Wirtschaftsund Finanzkrise in Erscheinung. Die unabhängig agierende "Partei für Soziale Gleichheit" (PSG) beteiligte sich an der Europaund Bundestagswahl 2009. Bei der Europawahl verschlechterte sich ihr Ergebnis von 0,1 auf 0,0 Prozent. In Baden-Württemberg rutschte die Kleinstpartei ebenfalls von 0,1 auf 0,0 Prozent. Bei der Bundestagswahl erlitt die PSG auf Bundesebene bei einem unveränderten Stimmenanteil von 0,0 Prozent einen schweren Einbruch bei der absoluten Stimmenzahl von 15.605 im Jahr 2005 auf 2.957 Stimmen im Jahr 2009. 4. Aktionsfelder 4.1 NATO-Gipfel 2009 Die Proteste gegen den NATO-Gipfel 2009 in Kehl und Straßburg standen bereits seit Frühjahr 2008 im Mittelpunkt der Diskussionen und Planungen der linksextremistischen Szene. Bundesweit waren überregionale Strukturen wie die "No to NATO-Kampagne", die "Interventionistische Linke" (IL), aber auch "'Dissent!' Frankreich"422 sowie eine Vielzahl regionaler Bündnisse die treibenden Kräfte. In Baden-Württemberg waren "Anti-NATO"-Gruppen oder "Anti-NATO-Bündnisse" unter Einschluss von Linksextremisten in den Räumen Freiburg, Kehl/Offenburg, Stuttgart, Mannheim/Heidelberg, Tübingen, Karlsruhe und Baden-Baden an den Vorbereitungen beteiligt. Vom 1. bis 5. April 2009 errichteten NATO-Gegner außerdem ein "internationales Camp" in einem Straßburger Vorort. Zu den Veranstaltungen gehörte auch ein "Gegenkongress", der unter dem Motto "Nein zur NATO - Nein zum Krieg. 60 Jahre sind genug!"423 am 3. und 5. April 2009 ebenfalls 421 Internetauswertung vom 7. Dezember 2009, Fettdruck wie im Original. 422 "'Dissent!' Frankreich" ist der französischsprachige Ableger des maßgeblich von militant orientierten britischen "Globalisierungskritikern" zur Vorbereitung der Proteste gegen das G8Treffen 2005 in Gleneagles (Schottland) initiierten Netzwerks "Dissent!". 266 423 Internetauswertung zuletzt vom 22. Januar 2010. LIN K S E X T R E M IS M U S in Straßburg stattfand. Vorausgegangen war eine Vielzahl von Mobilisierungsveranstaltungen. Im Zusammenhang mit einer im Januar 2009 gestarteten "militanten Begleitkampagne", die sich gegen die DHL richtete, wurden bundesweit insgesamt acht Brandanschläge verübt. Die Proteste gegen den NATO-Gipfel waren in eine "Aktionswoche" vom 28. März bis 4. April 2009 eingebettet. Schwerpunkt und Abschluss der Proteste sollte der 4. April 2009 sein: Neben von verschiedenen Punkten ausgehenden Aktionen zur Blockade des Gipfeltreffens in Straßburg stand eine "internationale Großdemonstration". Den Planungen zufolge sollte sich dazu der vorverlegte Ostermarsch mit einem zweiten Protestzug auf französischer Seite vereinen und in Richtung Straßburger Innenstadt ziehen. Während der "Aktionswoche" gegen den NATO-Gipfel fand in Baden-Württemberg unter anderem am 30. März 2009 eine Kundgebung auf dem Rathausplatz in Freiburg im Breisgau mit anschließender Demonstration unter dem Titel "Make Militarism History!" statt, an der sich bis zu 2.000 Personen beteiligten. An einer friedlich verlaufenen Kundgebung vor dem Baden-Badener Festspielhaus am 2. April 2009 beteiligten sich rund 200 Personen. Nur rund 600 statt der erwarteten etwa 2.000 Teilnehmer demonstrierten unter dem Motto "Kein Frieden mit der Nato" am 3. April 2009 in Baden-Baden. Ebenfalls am 3. April 2009 kam es in Straßburg zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Gipfelgegnern und der französischen Polizei. Bereits einen Tag zuvor, dem "Aktionstag Krieg und Krise" 424, war 424 Internetauswertung zuletzt vom 22. Januar 2010. 267 es zu massiven Ausschreitungen in der Straßburger Innenstadt bei einer unangemeldeten Demonstration gekommen. Hintergrund waren gewaltsame Auseinandersetzungen bei Protesten gegen den G20-Gipfel in London am 1. April 2009, bei denen ein Demonstrant aus noch unbekannten Gründen ums Leben gekommen war. Im Zuge der seit Monaten angekündigten Blockaden am Tag des Gipfeltreffens am 4. April 2009 gelang es Demonstranten, zahlreiche Zufahrtswege und Straßenbahnverbindungen nach Straßburg vorübergehend zu besetzen. Die erste massive Auseinandersetzung mit der Polizei begann kurz vor der Mittagszeit. Bis zu 1.000 Teilnehmer lieferten sich regelrechte Straßenschlachten mit der Polizei, die sich im Laufe des Tages fortsetzten. Dabei wurden auf der französischen Seite das Zollgebäude auf der Europabrücke, ein Hotel in der Nähe der Brücke sowie eine Apotheke in Brand gesetzt und eine Tankstelle geplündert. Aufgrund dieser Straßenkrawalle rückte die eigentliche "internationale Großdemonstration" vom 4. April 2009 unter dem Motto "No to War - No to NATO" mit insgesamt etwa 16.000 Teilnehmern in den Hintergrund. Die ursprünglich geplante Zusammenführung zweier Protestzüge kam nicht zustande. Wegen der Straßenkrawalle in Straßburg wurde die Europabrücke gesperrt, so dass ein Teil der Proteste in Kehl fortgesetzt wurde. Das öffentliche Bild von den Protesten gegen den NATO-Gipfel war damit auch von gewalttätigen Ausschreitungen geprägt, aber seit dem 2. April 2009 auch von täglichen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern des Protestcamps und der französischen Polizei. Stimmen, darunter auch von Vertretern der Partei "DIE LINKE.", machten wegen der "restriktiven und repressiven Vorgaben" die deutsche und die französische Regierung für die Eskalation verantwortlich.425 Andere szeneinterne Kommentare bemängelten, dass die politischen Inhalte der Protestbewegung wegen der in den Vordergrund getretenen Gewalt "auf der Strecke" geblieben seien. 268 425 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 26. November 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S 4.2 Antimilitarismus In kaum trennbarem Zusammenhang mit den Protesten gegen den NATOGipfel stand die Agitation gegen "Militarismus" und "Krieg". Außer der NATO rückten dabei die deutsche Bundeswehr und der Einsatz in Afghanistan, aber auch Veranstaltungen zu Fragen der militärischen Sicherheit in den Vordergrund. Gegen die Bundeswehr direkt richteten sich mehrere schwere Straftaten (zum Beispiel Brandstiftungen, Sachbeschädigungen). Betroffen waren jedoch auch Unternehmen, die die Bundeswehr logistisch unterstützen oder angeblich vom Afghanistankrieg profitieren. In Heidelberg rief Mitte Mai 2009 ein lokales Bündnis, darunter das linksextremistische "Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg" und die VVN-BdA, zu Protesten gegen das "Heidelberger Sicherheitsforum" auf. In dem Redebeitrag eines Vertreters der linksextremistischen "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD) während der Auftaktkundgebung hieß es unter anderem: "Offenherzig wird der Rüstungsindustrie ans Herz gelegt, sich die Aufstandsbekämpfung im Innern als neuen Markt zu erschließen und dabei den Weg hin zu Faschismus und Polizeistaat zu ebnen. Es ist legitim und angebracht, diese Gestalten aus dem Gruselkabinett des deutschen Militarismus, die sich heute zur exklusiven Konferenz im 'Crowne-Plaza'-Hotel treffen, als das zu bezeichnen, was sie sind: kaltblütige und menschenverachtende Profiteure von Krieg und Mord. (...) Es geht darum, ihnen ihr blutiges Handwerk zu legen - und das bedeutet eine Gesellschaftsordnung zu stürzen, in der der Mensch nicht mehr wert ist als der Gegenwert der Arbeitskraft, die sich ihm abpressen lässt."426 Vor dem Hintergrund des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan und der anstehenden Abstimmung im Deutschen Bundestag über eine Verlängerung des Truppeneinsatzes wurde unter dem Slogan "KEINE MANDATSVERLÄNGERUNG! BUNDESWEHR UND NATO RAUS AUS AFGHANISTAN!" 427 zur Teilnahme an einer Demonstration am 28. November 2009 in Stuttgart mobilisiert. Der Aufruf wurde auch von der Partei "DIE LINKE.", von der DKP, 426 Internetauswertung vom 26. November 2009, Übernahme wie im Original. 427 Flugblattaufruf. 269 der MLPD und der SAV unterstützt. Die linksextremistische "Revolutionäre Aktion Stuttgart" (RAS) rief ihrerseits zur Teilnahme an einem "antikapitalistischen Block" auf. Dabei hieß es: "Ebenso wie Krieg und Besatzung Folge einer nach Kapitalinteressen ausgerichteten Politik sind, ist eine Perspektive jenseits davon nur durch die Überwindung des Kapitalismus möglich (...). Lasst uns den Kriegstreibern zeigen, dass ihre Kriegspolitik mit unserem Widerstand rechnen muss! Engagiert euch gegen den Krieg. (...) Gemeinsam gegen Krieg und Kapitalismus! Für eine revolutionäre Perspektive!"428 Ein Beispiel dafür, auf welch vergleichsweise hohem Konfrontationsniveau die antimilitaristische Agitation von Linksextremisten geführt wurde, war eine Kampagne im Vorfeld des öffentlichen Rekrutengelöbnisses am 20. Juli 2009 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin. In der linksextremistischen Szenezeitschrift "INTERIM" wurde ein sechsseitiges Flugblatt veröffentlicht, in dem unbekannte Autoren offen zu Straftaten gegen Bundeswehrangehörige und deren Eigentum aufriefen. So hieß es: "Dies ist ein eindeutiger Aufruf, Soldatinnen und Soldaten nicht in Ruhe zu lassen, sie anzupöbeln, zu denunzieren, anzugreifen."429 Darüber hinaus wurden anhand abgebildeter Rangabzeichen die Dienstgruppen der Bundeswehr erläutert und gestaffelt "angemessene" Aktionen bis hin zu Gewalttaten empfohlen: "Ab General: Nicht zögern. Reinhauen. Und zwar richtig. Scheiben einhauen, Auto abfackeln, öffentliche Empfänge versauen etc." 4.3 "Antirepression" Prozesse gegen linksextremistische Gewalttäter, Festnahmen anlässlich von Ausschreitungen bei "antifaschistischen" Demonstrationen, polizeiliche 428 Internetauswertung vom 16. November 2009. 270 429 Hier und im Folgenden: INTERIM Nr. 694 vom 26. Juni 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S Wohnungsdurchsuchungen bei Tatverdächtigen, geplante Gesetzesverschärfungen oder der vergebliche Kampf um "autonome Zentren" dienten Linksextremisten auch 2009 als Beweis dafür, dass "Linke" Opfer einer gezielten "staatlichen Repression" seien. Im Prozess gegen die linksextremistische "militante gruppe" (mg) verurteilte das Berliner Kammergericht am 16. Oktober 2009 und damit knapp ein Jahr nach Verhandlungsbeginn zwei der Angeklagten wegen versuchter Brandstiftung an Bundeswehrfahrzeugen sowie Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu dreieinhalb sowie den dritten Angeklagten zu drei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung.430 Das Gericht folgte damit den Anträgen des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof. Die Verteidigung kündigte an, Revision einzulegen. Bereits im Vorfeld war innerhalb der linksextremistischen Szene bundesweit zu dezentralen Solidaritätsaktionen und Kundgebungen am Tag der Urteilsverkündung ("Tag X") aufgerufen worden. So wurden Protestveranstaltungen unter anderem in Berlin, Hamburg, Magdeburg, Düsseldorf, Bremen, Freiburg im Breisgau und Stuttgart durchgeführt. In Stuttgart versammelten sich etwa 30 Personen, um mit Flugblättern, Transparenten, Parolen sowie einem Infotisch auf das Urteil im "mg-Prozess" aufmerksam zu machen. Als Zeichen der Solidarität mit den von der "Repression der Herrschenden" Betroffenen wurde auf einer Fußgängerbrücke in der Stuttgarter Innenstadt ein Transparent mit der Aufschrift "FEUER UND FLAMME DER REPRESSION - SOLIDARITÄT IST EINE WAFFE" angebracht. Ferner hieß es in einem Bericht über diese Aktion: "Dass aktuell linke AktivistInnen und Strukturen, die die Überwindung des kapitalistischen Systems anstreben, kriminalisiert werden, wundert uns nicht. Denn so werden Leute eingeschüchtert, soll Widerstand unterbunden und im voraus jedes Potential für kollektives Handeln erstickt werden. Dies wird vor allem in Zeiten der Krise, in denen immer mehr Menschen der Klassencharakter des Systems bewusst wird, mithilfe von Gesetzen und Verschärfungen erleichtert. Das neue Versammlungsgesetz oder die Einführung des Paragraphen 129b, sind Beispiele für jene Entwicklung."431 Der Beitrag endet mit den Parolen: 430 Az.: 2 StE 2/08-2. 431 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 16. November 2009, Übernahme wie im Original. 271 "Der Prozess richtet sich gegen Einzelne, gemeint sind wir alle!! Krieg dem Krieg und Feuer der Repression!! Kapitalismus abschaffen, Solidarität aufbauen!!" Nach den Ausschreitungen vom 1. Mai 2009 in Ulm reagierte die autonome Szene auf die eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen. Dabei mahnte die linksextremistische "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm" eindringlich bei der Szene an, "solidarisch gegenüber Genossinnen und Genossen zu handeln", was konkret "Keine Kooperation mit den Behörden!" bedeute.432 Kurze Informationen über die Rechte und Pflichten der Betroffenen im Umgang mit den Strafverfolgungsbehörden endeten mit dem Appell: "Es gibt keine entlastenden oder harmlosen Aussagen! Anna und Arthur halten immer noch das Maul!"433 Das Muster des Umgangs der linksextremistischen Szene mit "staatlicher Repression" besteht traditionell in einer umfassenden Verweigerungshaltung. Gleichzeitig werden "Soli-Partys" veranstaltet "zur Unterstützung der von Repressalien betroffenen Aktivistinnen und Aktivisten".434 Mit den bei solchen Veranstaltungen eingenommenen Geldbeträgen sollen die für die Betroffenen anfallenden Kosten wie vor allem Anwaltsgebühren gedeckt werden. Weiter anhaltenden Widerstand gegen die geplante Änderung des Versammlungsgesetzes dokumentierten zu Beginn des Jahres 2009 einzelne Gewalttaten: In der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 2009 wurde das CDUBüro in Rastatt durch Steinwürfe "entglast", wie die Szene das Zerstören von Fensterscheiben bezeichnet. In der Nacht zum 10. Januar 2009 gab es einen Farbbeutelanschlag auf die Fassade des baden-württembergischen Innenministeriums in Stuttgart. Farbanschläge gegen die Fassade des Polizeireviers und des Rathauses der Stadt Bühl am 16. Juli 2009 waren offenbar die Antwort auf eine poli432 Internetauswertung vom 9. Dezember 2009. 433 Übernahme des Fettdrucks wie im Original. 272 434 Internetauswertung vom 9. Dezember 2009. LIN K S E X T R E M IS M U S zeiliche Durchsuchungsaktion am gleichen Tag des Vorjahres, die sich gegen Angehörige der linksextremistischen Szene wegen schweren Landfriedensbruchs gerichtet hatte. Die Tat stand vermutlich im Zusammenhang mit der Forderung nach einem "autonomen Zentrum". Vermutlich aus Anlass einer Wahlkampfveranstaltung der CDU mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble wurden in der Nacht zum 24. September 2009 zahlreiche Fensterscheiben der Merkurhalle in GaggenauOttenau eingeworfen und weitere Sachbeschädigungen begangen. Mit Sprühschablone wurde ein Konterfei des damaligen Bundesministers des Innern mit dem schriftlichen Zusatz "Stasi 2.0" an einer Wand angebracht. Aus Protest gegen angebliche "Repression" gegen Arbeitslose kam es Ende Juni 2009 zu einem Anschlag auf das Job-Center Mannheim, bei dem mehrere Fensterscheiben eingeworfen wurden. 4.4 "Antifaschismus" Zum linksextremistischen "Antifaschismus" zählten 2009 auch Kampagnen, die die Verhinderung von Wahlerfolgen tatsächlicher oder vermeintlicher Rechtsextremisten zum Ziel hatten. Die Wahlen wurden in Baden-Württemberg von linksextremistischen Kampagnen wie in Stuttgart unter dem Motto "Haben wir eine Wahl?"435, aber auch von diversen strafbaren Handlungen begleitet. Autonome und andere Anarchisten stellten nicht nur erneut die Sinnhaftigkeit von Wahlen in einer kapitalistischen Gesellschaft in Frage, sondern nutzten dieses Thema auch als Anknüpfungspunkt für "antifaschistische" Agitation sowie Aufklärung und Mobilisierung der Massen gegen das "System". "Antifaschistische Aktionen" sollten beispielsweise in Mannheim den Einzug der von der linksextremistischen Szene als rechtsextremistisch eingestuften "Deutschen Liste" (DL)436 in den Gemeinderat verhindern. Eine "antifaschistische" Gruppe kündigte dabei an, "eine grundsätzliche Kritik an Wahlkämpfen in der kapitalistischen Gesellschaft"437 formulieren zu wollen. Eine Sprecherin führte dazu aus: "Wir wollen eine linke, außerparlamentarische Perspektive aufzeigen, die der nationalstaatlich verfassten, kapitalistischen Ge435 Internetauswertung zuletzt vom 22. Januar 2010. 436 Inzwischen "Aufbruch Freies Deutschland" (AFD). 437 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 17. April 2009, Übernahme wie im Origi273 nal. sellschaft entgegen steht: Solidarität, Klassenkampf und Emanzipation statt Sozialabbau, Krise und Rassismus. Alle paar Jahre ein Kreuzchen machen ist nicht das, was wir unter politischem Engagement verstehen. Unser Wahlkampf bedeutet Aktivismus auf der Straße, unsere Krisenlösung heißt Vergesellschaftung der Produktionsmittel." Entsprechend führten Linksextremisten das schlechte Abschneiden rechtsextremistischer Parteien bei den Wahlen auf "antifaschistische Aktivitäten" zurück. Zu solchen zählten nicht zuletzt Strafund Gewalttaten, die von Farbschmierereien an den Wohnhäusern von Parteiangehörigen über das Abreißen oder Zerstören von Wahlplakaten bis hin zu Störaktionen bei Veranstaltungen oder Attacken auf Informationsstände reichten. Im Zentrum stand die rechtsextremistische "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD). Vor allem ihr galt im Zeichen der anstehenden Kommunalwahlen etwa die Kampagne "Nazis keine Basis bieten".438 Neben der Verbreitung von Informationen über "Nazis" waren im Zusammenhang mit einer "antifaschistischen Bustour" für den 23. Mai 2009 Kundgebungen in Waiblingen, Böblingen und Stuttgart geplant, die aus Sicht der Szene nur mäßig erfolgreich waren, weil sie von einem "zum Teil massiven und äußerst aggressiven Polizeiaufgebot" behindert worden seien und zum Teil hätten abgebrochen werden müssen. In dem Aufruf zur Kampagne der "Antifaschistischen Aktion Ulm/Neu-Ulm" hieß es unter anderem: "Es gilt die Nazis auf allen Ebenen und mit verschiedensten Mitteln zurückzudrängen, über ihre Hetze aufzuklären und ihnen egal wo sie auftauchen gemeinsam und entschlossen entgegenzutreten. Nur wenn wir uns zusammentun 438 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 3. Dezember 2009, Übernahme wie im Ori274 ginal. LIN K S E X T R E M IS M U S und organisieren, wenn wir Eigeninitiative ergreifen und aktiv werden, haben wir die Möglichkeit den Nazis ihren Raum zu nehmen. Dazu gibt es tausende Möglichkeiten. Faschistische Wahlpropaganda hat auf den Straßen nichts verloren, genauso wenig gibt es einen Grund, ihre Aufmärsche und Kundgebungen zuzulassen!" Verhinderung von "Nazi-Aufmärschen", "Anti-Nazi-Demonstrationen" und Aufklärung über "Nazi-Strukturen" waren Schwerpunkte linksextremistischer "Antifaschismusarbeit". Dazu gehörte der Versuch von "Antifaschisten" in Ulm, den Aufzug der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) am 1. Mai 2009 zu verhindern. Das linksextremistische "Antifaschistische Aktionsbündnis Baden-Württemberg" und die "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm" riefen zur Teilnahme an einem "Antifa-Block" bei der Gegendemonstration auf. Darin hieß es beispielsweise: "Wenn wir den Nazis kräftig in die Suppe spucken, dann tun wir dies aus der Ablehnung heraus, die wir der kapitalistischen Gesellschaft, der Nation und dem Patriarchat entgegenbringen. (...) Wenn wir den Aufmarsch der Nazis und ihrer BeschützerInnen am 1. Mai in Ulm zum Fiasko machen, dann sicher weder durch mackerhafte Sprüche noch durch PACE-Fahnen-Wedeln fernab der Nazi-Route. Entschlossenes, solidarisches Handeln und antifaschistischer Selbstschutz sind unsere Mittel gegen rechte Gewalt und Aufmärsche. Unsere Aktionsformen waren immer dann erfolgreich, wenn sie sich durch Konsequenz, Verantwortlichkeit und Vermittelbarkeit ausgezeichnet haben (...)."439 Bei den schweren Ausschreitungen im Zusammenhang mit der Gegendemonstration wurden mehrere Polizeibeamte verletzt und mehrere Autos beschädigt. 52 Demonstranten wurden festgenommen. Unter dem Motto "Es gibt kein ruhiges Hinterland! Kein Fußbreit den Faschisten - in Sinsheim und anderswo!"440 fand am 19. September 2009 in Sinsheim die "erste Demo gegen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Neonazis" statt. In einem Aufruf wurde die dortige Gründung eines "antifaschistischen" Bündnisses als wichtiger Schritt auf dem Weg zum Auf439 Aufruf der "Antifaschistischen Aktion Ulm/Neu-Ulm": "Wir hätten was zu erledigen ... in Ulm, um Ulm und um Ulm herum!", Übernahme wie im Original. 440 Internetauswertung zuletzt vom 22. Januar 2009. 275 bau kontinuierlicher "antifaschistischer" Strukturen und zur Durchführung vielfältiger kultureller und politischer Veranstaltungen bezeichnet, um "Nazis" gezielt entgegenzutreten. Auch der seit Jahren virulente Kampf um "autonome Zentren" erhielt 2009 einen deutlichen "antifaschistischen" Akzent. Für den 14. November 2009 wurde zu einer "unangemeldeten antifaschistischen Demonstration"441 in Freiburg im Breisgau unter dem Motto "Mit Autonomen Zentren antifaschistisch in die Zukunft!" mobilisiert. In dem Aufruf zur Demonstration hieß es: "Die Schwäche der Nazis resultiert aus einer starken linken Szene und der konsequenten Antifa-Arbeit, die sich in Freiräumen wie der KTS442 organisiert. Damit stellen Autonome Zentren ein Bollwerk gegen den Faschismus dar." Unter den circa 800 Teilnehmern befanden sich etwa 200 Personen aus dem gewaltbereiten Spektrum. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, indem unter anderem aus einem "Schwarzen Block" heraus Flaschen und pyrotechnische Gegenstände auf die Einsatzkräfte geworfen wurden. Die Störergruppe des "Schwarzen Blocks" wurde von der Polizei eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt. Es wurden 250 Platzverweise ausgesprochen und 40 Personen vorläufig festgenommen. 441 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 27. Oktober 2009. 276 442 "Kulturtreff in Selbstverwaltung" (KTS), ein "autonomes Zentrum". LIN K S E X T R E M IS M U S Eine angebliche Brandstiftung durch Rechtsextremisten an einem Objekt in unmittelbarer Nähe zum Freiburger "autonomen Zentrum" KTS am 9. September 2009 diente als Ausgangspunkt für den Hinweis auf die "reelle Gefahr", die für "Linke" und andere "freiheitsliebenden Menschen" von den "Nazis" ausgehe.443 Die Protestveranstaltung am 14. November 2009 in Freiburg im Breisgau, die von zahlreichen "Aktionen gegen Nationalismus, Repression und Nazis" begleitet sein sollte, sollte daher, so die Sichtweise der linksextremistischen "Anarchistischen Gruppe [:ag] Freiburg", "unsere grenzüberschreitende Solidarität, die Ablehnung faschistischer Systeme und unseren Kampf gegen jegliche Art von Herrschaft demonstrieren, die uns von Staat und Kapital alltäglich aufgezwungen wird". Auslösender Faktor war anscheinend ein Hinweis von Freiburger Autonomen, die nach einer mutmaßlich illegalen "Antifa-Recherche" den Kauf von Chemikalien, die auch zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden können, durch einen Rechtsextremisten publik gemacht hatten.444 443 "Die Revolution wird schlieszlich auch nicht angemeldet ..." - Aufruf der "Anarchistischen Gruppe [:ag] Freiburg" zur Demonstration am 14. November 2009. Internetauswertung vom 2. November 2009, Übernahme wie im Original. 444 Siehe dazu Kap. D, 4.1.1. 277 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION Gründung: 1954 in den USA 1970 erste Niederlassung in Deutschland 1972 erste Niederlassung in Baden-Württemberg Gründer: Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) Nachfolger: David MISCAVIGE (Vorstandsvorsitzender "Religious Technology Center", RTC) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: Baden-Württemberg: ca. 1.000 (2008: ca. 1.000 - 1.100) Deutschland: ca. 4.500 - 5.500 (2008: ca. 5.000 - 6.000) weltweit: ca. 100.000 - 120.000 (2008: ca. 100.000 - 150.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Free Mind", "Impact", "Auditor" u.a. Die Scientology-Organisation (SO) ist eine verfassungsfeindliche und finanzstarke Organisation, die unter dem Begriff "neue Zivilisation" eine totalitäre Gesellschaftsordnung anstrebt. Danach würden elementare Grundrechte wie die Menschenwürde und die Meinungs-, Informationsund Pressefreiheit oder auch das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip massiv eingeschränkt oder tatsächlich außer Kraft gesetzt. Das Programm der SO ist mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar. Die SO verschleiert nach außen ihre antidemokratischen Ziele und tritt teilweise durch Hilfsorganisationen verdeckt auf. Scientology beteiligt sich nicht am politischen Wettbewerb, sondern will durch langfristige Expansion ihr antidemokratisches System auf die Gesellschaft übertragen. Es handelt sich um ein engmaschiges, rigides Kontrollsystem mit Belohnungen und Strafen sowie umfassenden Befragungen ("Auditing") am "E-Meter", einer Art einfacher Lügendetektor. Die so erlangten personenbezogenen Daten werden gespeichert. Auf diese Weise kann die SO "gläserne" Menschen schaffen und sie gefügig machen. Die Basis wird weitgehend zu Befehlsempfängern degradiert und soll fortwährend finanzielle Opfer bringen. Zur Umsetzung kann sich die Führung auf paramilitärisch organisierte Kader stützen. Kennzeichnend sind ferner ein rigoroser Durchsetzungswille, das Schaffen von Feindbildern und eine Weltsicht, die Züge einer Verschwörungstheorie trägt. Kritiker gelten als zu bekämpfende Kriminelle. Ein eigener Nachrichtendienst soll Gegner ausforschen und Widerstand gegen die angestrebte Expansion aus dem Weg räumen. Scientology hat in Baden-Württemberg einen ihrer Schwerpunkte in Deutsch278 land und bundesweit das dichteste Netz an Niederlassungen. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Führungskrise bei der SO Im Juni 2009 wandten sich in den USA hochrangige Aussteiger an die Öffentlichkeit und erhoben schwere Vorwürfe gegen die SO-Führung. Durch den ranghöchsten Manager David MISCAVIGE, der Untergebene drangsaliert und misshandelt habe, sei im oberen Management ein Klima der Gewalt und Einschüchterung entstanden. Sie bestätigten Medienberichte, nach denen Scientology ihre bis heute umstrittene Steuerbefreiung in den USA durchgesetzt habe, indem sie durch zahlreiche Gerichtsprozesse und durch massive Kampagnen hohen Druck gegen die US-Steuerbehörde aufgebaut habe. Im Gegenzug für die Steuerbefreiung seien alle anhängigen Klagen zurückgezogen worden. Zudem äußerten sich die früheren Führungskader zum Tod einer erkrankten Scientologin im Jahr 1995, die sich in scientologischer "Obhut" befunden hatte. Nach ihrem Ableben seien Falschaussagen und Meineide geleistet und die Öffentlichkeit belogen worden. Ein Aussteiger bekannte, er selbst habe belastendes Beweismaterial vernichten lassen. Diese Aussagen sind nach Art und Umfang beispiellos, zumal sie aus dem engsten Führungskreis stammen. Zwar wiesen Scientology-Sprecher die Vorwürfe vehement zurück, jedoch geriet die SO durch die Medienberichte in die Defensive. Die Dementis wirkten auch deshalb wenig glaubwürdig, weil hochrangige Funktionäre, die die Organisation viele Jahre repräsentiert haben, nunmehr als notorische Lügner dargestellt wurden. 445 In der Folge wandten sich weitere Aussteiger an die Öffentlichkeit und bestätigten die Gewaltvorwürfe. 445 "St. Petersburg Times", "The Truth Rundown", URL: http://www.tampabay.com/specials/2009/ reports/project/index.shtml vom 28. Juli 2009. 279 Der öffentliche Ausstieg früherer Spitzenfunktionäre weist auf eine Führungskrise hin, bei der noch nicht abzusehen ist, wie tief greifend sie ist und wie die Organisation letztlich daraus hervorgehen wird. 1.2 Rückläufige Mitgliederentwicklung und Einnahmen Es verdichten sich die Hinweise auf tendenziell sinkende Mitgliederzahlen und rückläufige Einnahmen. Erhebungen über verschiedene weltanschauliche Gruppen in den Vereinigten Staaten, dem "Stammland" von Scientology, stellten für das Jahr 2008 gar einen Einbruch bei den Mitgliederzahlen der SO fest.446 Zudem besteht ein Mangel an hauptamtlichen Mitarbeitern, die offenbar teilweise zwischen verschiedenen SO-Zentren hin und her verschoben werden. Offenkundig vor allem dorthin, wo Regierungen beeinflusst werden sollen. Die Gründe für die zunehmenden Probleme sind vielfältig. In der Vergangenheit entstanden Splittergruppen, die von unzufriedenen HUBBARD-Anhängern als Alternative zur SO betrachtet werden. Sie vertreten die Auffassung, das heutige Management repräsentiere nicht mehr HUBBARDs Willen. Die SO versuchte ohne nachhaltigen Erfolg, diese Gruppen mit Mitteln des Urheberrechts zu bekämpfen. Zudem bietet Scientology seit Jahrzehnten unverändert immer dieselben Programme an, beispielsweise für die Wirtschaft HUBBARDs administratives Regelwerk, das im Wesentlichen aus den 1950erbis 1970er-Jahren stammt. Dagegen ist etwa das Politikfeld der Ökologie in der SO trotz ihres Anspruchs, für alle Lebensbereiche eine Lösung zu haben, bis heute allenfalls ein Randthema. Intern findet auch darüber kein Diskurs statt, weil HUBBARDs Schriften als verbindliche Antwort auf alle Fragen gelten. Dies mündet letztlich in dem utopischen Anspruch, nur Scientologen seien aufgrund der "Technologie" HUBBARDs in der Lage, alle Probleme zu meistern. Diese ideologische Starre ist von außen nicht ohne weiteres zu erkennen, weil sich die Organisation professioneller PRKampagnen zur "Verpackung" altbekannter Konzepte bedient. Ein wichtiger Grund für die Probleme bei der Mitgliederrekrutierung ist die kontinuierlich gewachsene Bedeutung des Internets als globale Informationsquelle. Die SO kann dieses Medium nicht kontrollieren. Das Mittel, kritische Informationen möglichst durch Urheberrechtsklagen aus dem Internet zu entfernen, greift offenbar immer weniger. Den Spagat, nach außen wohl446 "High-profile defections, court fights pose more challenges for Church of Scientology", URL: 280 http://www.wpix.com vom 3. November 2009. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N klingende "Sozialprogramme" zu propagieren, in Wirklichkeit aber ganz andere Ziele zu verfolgen, kann die SO in einer international vernetzten Informationsgesellschaft auf Dauer nicht durchhalten. Die Basis in Baden-Württemberg zeigte sich von diesen Entwicklungen noch weitgehend unberührt, da schlechte Nachrichten ("Entheta") in der SO konsequent unterdrückt und Ressentiments gegen Journalisten und Medien geschürt werden. Viele Mitglieder lehnen es daher ab, sich mit kritischen Berichten zu befassen. Die SO streut an sie zumeist nur manipulierte Informationen und verbreitet die stereotype Propaganda von der "am schnellsten wachsenden religiösen Bewegung auf der Erde"447, die mit der Realität nicht in Einklang steht. Obwohl auch Scientology im Jahr 2009 von der internationalen Finanzkrise betroffen war, eröffnete sie in Europa und in den USA mehrere neue repräsentative Zentren ("Ideale Orgs"), die mit eingetriebenen Spenden und Finanzreserven realisiert wurden. Allerdings räumte ein Sprecher der SO indirekt ein, dass sich die Krise auf ihre Aktivitäten in den USA und Kanada negativ ausgewirkt habe.448 Dies lässt auf einen Rückgang des Spendenaufkommens schließen. 1.3 Strafurteil in Frankreich Ein Strafgericht in Paris verurteilte im Oktober 2009 die SO und mehrere führende Funktionäre wegen bandenmäßigen Betrugs und verhängte Bewährungsund hohe Geldstrafen. Das "Celebrity Centre" der SO in Paris und ihr Verlagsbereich wurden mit insgesamt 600.000 Euro Geldstrafe belegt. Ein Führungsmitglied erhielt zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung und 30.000 Euro Geldstrafe, drei weitere Funktionäre wurden zu Bewährungsstrafen von bis zu 18 Monaten und Geldstrafen bis zu 20.000 Euro verurteilt. Auslöser des langjährigen Verfahrens waren Anzeigen mehrerer ehemaliger Scientologen. Wegen einer Gesetzesänderung vor Beginn des Verfahrens entfiel die gesetzliche Möglichkeit eines Verbots der angeklagten SO-Institutionen. Das Strafgericht äußerte, ein Verbot hätte zur Folge haben können, dass die SO ihre Tätigkeit im Verborgenen fortsetze.449 Das Urteil rief große Beachtung im Inund Ausland hervor und war ein weiterer schwerer Schlag für das ohnehin beschädigte Image der SO. 447 Zum Beispiel in einer Presseerklärung der "Scientology Kirche Bayern" vom 1. Juli 2009. 448 URL: http://www.montrealmirror.com/2009/022609/news2.html vom 13. März 2009. 449 "Scientology in Paris verurteilt", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Oktober 2009. 281 2. Strukturen und Mitgliederbestand 2.1 Zentrale Führung Scientology wird straff vom obersten Management in Los Angeles/Kalifornien geführt. An der Spitze steht das "Religious Technology Center" (RTC). Es besitzt die Urheberrechte an den Schriften HUBBARDs und übt dadurch auch eine ideologische Kontrolle aus. Die Vorgaben der Kommandoebene werden an das jeweilige "Kontinentale Verbindungsbüro" weitergeleitet, das sich für Europa in Kopenhagen befindet. Führungspositionen werden meist durch die "Sea Organization" ("Sea Org") besetzt. Ihre paramilitärischen Kader bilden den harten Kern der SO. "Sea Org"-Kommandos ("Missioners") haben sich auch wiederholt zur Kontrolle oder Mitgliederrekrutierung in Baden-Württemberg aufgehalten. Das Selbstverständnis dieser uniformierten Truppe beruht auf dem Prinzip von Befehl und bedingungslosem Gehorsam. Gegenüber der Öffentlichkeit wird die "Sea Org" immer wieder als "religiöser Orden" dargestellt. Im Juni 2009 gab ein Sprecher jedoch folgende Charakterisierung ab: "Eine Mannschaft von harten Hundesöhnen. (...) Die Sea Org ist keine Demokratie. Ihre Mitglieder stimmen mit einem Mann namens L. Ron Hubbard überein. Sie befolgen seine Richtlinien (...) und wir befolgen sie bis auf den Buchstaben, bis auf Punkt und Komma. Und wenn du anderer Meinung bist (...), gehörst du da nicht hin."450 2.2 Organisatorisches Netz in Baden-Württemberg und personelle Situation In Baden-Württemberg kann von ständiger Expansion, wie sie die SO immer wieder suggeriert, keine Rede sein. Seit vielen Jahren wurde hier keine "Mission" mehr zur "Org" - also zu einer Niederlassung mit breiterem Dienstleistungsangebot - aufgewertet. Ein solcher Schritt kann unter anderem erst nach einem erheblichen Mitgliederzuwachs erfolgen. Stattdessen wurden seit den 1990er-Jahren mehrere "Missionen" geschlossen. Zwar gab es im450 "St. Petersburg Times", "The Truth Rundown", URL: http://www.tampabay.com/news/scien282 tology/ article1012575.ece vom 28. Juli 2009; hier: Arbeitsübersetzung. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N mer wieder Neugründungen, jedoch konnten sie bisher keinen nennenswerten Mitgliederstamm aufbauen und bestehen teilweise nur noch formal. Manche dieser neuen "Missionen" haben nie beachtenswerte Aktivitäten entwickelt. Zudem herrscht in den Einrichtungen ein chronischer Mangel an hauptamtlichen Mitarbeitern, da viele Scientologen offenbar nicht das in der Regel von geringem Lohn und hoher Arbeitsbelastung gekennzeichnete Dasein eines "Staffs" (Mitarbeiters) führen wollen. Dennoch besitzt Scientology in Baden-Württemberg noch immer einen ihrer bundesweiten Schwerpunkte und das dichteste organisatorische Netz in Deutschland. Es umfasst eine "Klasse V Org" ("Kirche") in Stuttgart und drei "Missionen" in Ulm, Karlsruhe und Göppingen. In Kirchheim unter Teck ist eine in der SO besonders bedeutende "Feldauditorengruppe" aktiv. "Feldauditoren" sind Scientologen, die "Auditing", die zentrale Psychotechnik der SO zur Persönlichkeitsveränderung, außerhalb der "Org" anwenden. Diese "Feldgruppe" ähnelt in der Funktion einer "Mission", tritt aber auch als Unternehmensberatung auf. Im August 2009 wurde in Kirchheim unter Teck zusätzlich eine "Teck Mission" gegründet. Dabei handelt es sich um dieselben Personen, die auch als "Feldauditoren" tätig sind. Daneben wurde in Stuttgart eine "Dianetik-Gruppe" gegründet. In Sinsheim und Freiburg im Breisgau ("Zentrum für Lebensfragen") bestehen noch weitere, aber unbedeutende "Missionen". Die "Missionen" in Erlenbach/Krs. Heilbronn, Welzheim und Leinfelden-Echterdingen sind mittlerweile inaktiv. Im Bereich der Hilfsorganisationen existieren in Stuttgart und Karlsruhe zwei Anlaufstellen der "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM). Eine "Applied Scholastics" (ApS)-Einrichtung bietet als "Professionelles Lerncenter" in Stuttgart Schülernachhilfe an. In Kirchheim unter Teck ist eine Gruppe mit dem Namen "Jugend für Menschenrechte Stuttgart" aktiv. Dem SO-Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) gehören in Baden-Württemberg rund 50 Mitglieder an. Es handelt sich um Einzelpersonen und um kleinere Firmen, die oft in der Immobilienoder Finanzdienstleistungsbranche oder in der Managementberatung tätig sind. In Stuttgart besteht ein "WISE Charter Committee" (WCC) als "Justiz"-Stelle für WISE-Mitglieder. Scientology will mit oftmals unglaubwürdigen Erfolgsmeldungen eine ständige Expansion und dynamische Mitgliederentwicklung vortäuschen. Sie behauptet, über zehn Millionen Anhänger zu verfügen und gab an, die Mitgliederzahl habe sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt.451 Dies ist nicht 451 Presseerklärung der "Scientology Kirche Bayern" vom 2. April 2009. 283 nachvollziehbar und widerspricht teilweise früheren Behauptungen. Im Gegensatz zu den behaupteten Erfolgen standen auch Verlautbarungen von SO-Sprechern im November 2009, die verklausuliert Schwierigkeiten bei der Mitgliederwerbung in Deutschland einräumten.452 In Wirklichkeit gibt es weltweit schätzungsweise etwa 100.000 bis 120.000 SO-Anhänger, davon in Deutschland etwa 4.500 bis 5.500. International und bundesweit zeichnen sich damit leicht gesunkene Mitgliederzahlen ab. Auch in Baden-Württemberg zeigt sich bei einer längerfristigen Betrachtung eine leicht rückläufige Tendenz. Zu Beginn dieses Jahrzehnts verfügte die SO hierzulande noch über etwa 1.200 Anhänger, 2009 waren es noch rund 1.000. Der Kern der Anhängerschaft im Land besteht überwiegend aus langjährigen Scientologen. Neue Mitglieder konnte die SO trotz intensiver Werbung nur in geringem Umfang längerfristig an sich binden. Auch Projekte zur Reaktivierung inaktiver Scientologen hatten kaum Erfolg. Stattdessen wurde der Mitgliederbestand durch junge Scientologen stabilisiert, die über ihre Eltern zur SO gekommen sind. Dennoch droht die Anhängerschaft auf Dauer zu überaltern. 3. Verfassungsfeindliches Programm 3.1 Antidemokratische Ziele Bei hochtrainierten Scientologen wird nicht selten eine elitäre Haltung deutlich, welche die Gesellschaft und die demokratische Ordnung als "aberriert" (geistig gestört) betrachtet. Nur scientologisch "Geklärte" ("Clears") seien in der Lage, das Funktionieren eines Staates zu gewährleisten. Im Standardwerk "Dianetik" vertritt die SO das Ziel, dass nur "Nichtaberrierte" Bürgerrechte haben sollten.453 Das demokratische Mehrheitsprinzip wird zugunsten der Führung durch eine vermeintlich scientologische Elite negiert: "Eine fähige, erfolgreiche Führungsperson ist eine Million eindrucksvolle Bauerntölpel wert. Demokratien hassen Verstand und Können. (...) Demokratie ist nur in einer Nation von Clears möglich - und selbst sie können Fehler machen. Wenn die Mehrheit herrscht, leidet die Minderheit. Die Besten sind immer eine Minderheit."454 452 "Schleichender Niedergang", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. November 2009. 453 L. Ron HUBBARD, "Dianetik. Der Leitfaden für den menschlichen Verstand", Kopenhagen 2007, S. 483. 284 454 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Die Theorie von Scientology Organisationen", in: "Die Management-Serien Band 2", Kopenhagen 2001, S. 187ff. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N Die formalen Bekundungen zur angeblichen Staatstreue können die zahlreichen Anhaltspunkte für Verfassungsfeindlichkeit nicht entkräften. Ein vertraulicher Richtlinienbrief, der unter MISCAVIGE neu herausgegeben wurde, formuliert folgende langfristige Ziele: n Ausschaltung des Gegners, n Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der führenden Vertreter oder Eigentümer aller Nachrichtenmedien, n Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der Personen, welche die internationalen Finanzströme steuern und n Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der Personen in politischen Schlüsselfunktionen.455 Scientology verfolgte dieses verfassungsfeindliche Programm auch im Jahr 2009. Zwar hat ein Teil der deutschen SO-Vereine, darunter der in Stuttgart, seit 2008 eine "Grundsatzerklärung über Menschenrechte und Demokratie" in ihre Satzungen aufgenommen und in die Vereinsregister eintragen lassen, jedoch handelt es sich offenkundig nur um eine vorgeschobene Verlautbarung. Immer wieder wird die Unvereinbarkeit zwischen den nach außen behaupteten Zielen und der Wirklichkeit deutlich. Gegenüber der Öffentlichkeit äußert die SO ihren angeblichen Respekt vor den Menschenrechten, tatsächlich aber offenbart sie immer wieder einen menschenverachtenden Umgang mit unbotmäßigen Mitgliedern und Kritikern. In oft zynisch und martialisch formulierten Richtlinien - wie zum Beispiel im Kurs "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt" - gelten Kritiker als Kriminelle, mit denen sie sich im Krieg wähnt. Bereits öffentliches Lossagen von Scientology gilt als "Schwerverbrechen". Kritik an Scientology und ihrem Programm zur Gesellschaftsveränderung sei "Unterdrückung", die "zerschlagen" werden soll. David MISCAVIGE verglich in einer in der Zeitschrift "IMPACT" (Nr. 112/2006, S. 19) abgedruckten Rede die "Feinde" mit "Bakterien", die man besser "vernichtet". 3.2 Umfassende Kontrolle Um gleichförmig nach der Ideologie HUBBARDs zu funktionieren, sollen die Mitglieder einer umfassenden Kontrolle unterworfen werden. Durch "Auditing" und "Sicherheitsüberprüfungen" am "E-Meter" sollen die Menschen "gläsern" werden. Scientologen sollen ihr Umfeld beobachten und über von der SO-Norm abweichendes Verhalten "Wissensberichte" fertigen, die online 455 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Targets, Defense" vom 16. Februar 1969, wieder herausgegeben am 24. September 1987. 285 an die Zentrale "RTC" gesandt werden können.456 Im Hinblick auf die Umsetzung berichtete ein Journalist seine Beobachtungen bei einem Rundgang anlässlich der Eröffnung des SO-Zentrums in Berlin: "In einem Flur weit oben zeigt eine riesige Tafel das Organigramm des Berliner Büros. (...) Stutzig macht der Posten ,Verantwortlicher für das Finden oder Behandeln unterdrückerischer Personen' .(...) Auf dem Weg nach unten kommt man an einer Art Fahndungsplakat vorbei. 1000 Dollar Belohnung winken demjenigen, der einen Abweichler anschwärzt, dieser werde dann ,verhaftet'. Wer die ,Verhaftungen' vornimmt, liest man nicht, dafür die Worte: ,Schwerverbrechen' und vielfach die Formel ,unterdrückerisch'. Auf mehreren Seiten sucht das ,Religious Technology Center' (RTC), Angelegenheiten, die für RTC von Interesse sind."457 3.3 Interne Datensammlungen Im Jahr 2009 berichtete eine holländische Zeitung über umfangreiche Datensammlungen der niederländischen SO, die möglicherweise unvereinbar mit den dortigen Datenschutzgesetzen seien. Insgesamt seien 60.000 Akten über Personen aus den Niederlanden angelegt worden. Der Bericht führte zu einer parlamentarischen Anfrage bei der dortigen Regierung.458 Ende der 1990er-Jahre war in Belgien nach Durchsuchungen Ähnliches bekannt geworden. Dort erstreckten sich die Dossiers der SO seinerzeit auch auf Berichte über Beamte der Ordnungskräfte sowie politische Persönlichkeiten und Journalisten, die nach dem Grad ihrer Gefährlichkeit für Scientology klassifiziert worden waren. Die Bereitschaft der SO, ihre Dossiers notfalls auch einzusetzen, wurde deutlich, als sich im Juni 2009 in den USA hochrangige Aussteiger öffentlich gegen die Organisation wandten. Um sie zu diskreditieren, legte Scientology Aufzeichnungen aus ihren "Ethik-Akten" offen, darunter "Sicherheitsüberprüfungen" und Selbstbezichtigungen. Auf dieser Grundlage warf die SO einer Aussteigerin sexuelle Verfehlung vor. Das macht deutlich, dass Scientologen durch ihre intimen Lebensbeichten leicht erpressbar werden können. Die Dokumente beleuchteten ein internes System scientologischer "Justiz", in das Außenstehende nur sehr selten Einblick erhalten. 456 Website des "Religious Technology Center" (RTC) vom 8. Mai 2009. 457 Tagesspiegel Berlin, "Eine Regel der Kirche: Bespitzeln erwünscht". URL: http:// www.tagesspiegel.de/berlin/art270;2070578 vom 6. Oktober 2009. 458 "Iedereen in dossier' bij Scientology Nederland", URL: http://www.revu.nl vom 14. August 286 2009. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N Dieses System fordert von Scientologen, stets "produktiv" zu sein und beruht auf der Maxime, dass alle Aktivitäten eines Menschen oder einer Gruppe auf eine Statistik reduziert werden können. Angebliches oder tatsächliches Versagen führt dazu, dass das Individuum eigene Verfehlungen schriftlich zugeben soll. Die SO scheut dabei nicht davor zurück, kompromittierende Schriftstücke gegen "Abtrünnige" einzusetzen.459 Die von der Scientology angestrebte Gesellschaftsordnung würde elementare Grundrechte wie die Menschenwürde oder die Meinungs-, Informationsund Pressefreiheit massiv einschränken oder faktisch außer Kraft setzen. Die Publikationen HUBBARDs, zum Beispiel das Standardwerk "Einführung in die Ethik der Scientology", die auch 2009 verbreitet wurden, sind hierfür verbindliche Referenzen. 4. Propaganda und Werbung 4.1 Täuschung der Öffentlichkeit Nicht nur im Hinblick auf Mitgliederzahlen betreibt Scientology eine systematische Täuschung der Öffentlichkeit. Die SO versucht, nach außen die Fassade einer staatstreuen und unpolitischen Religionsgemeinschaft zu errichten. Sie wirbt mit angeblichen "Sozialprogrammen" gegen Drogenmissbrauch sowie für Bildung und Menschenrechte und bezieht damit Positionen, bei denen sie auf Konsens hoffen kann. Die aufwändigen Kampagnen sind ein geschicktes taktisches Manöver, das durch den Einsatz einiger bekannter scientologischer Schauspieler und Künstler ("Celebrities") flankiert wird. Ihr Auftreten soll den fragwürdigen Werbefeldzügen mehr Glaubwürdigkeit verschaffen und die SO verharmlosen. So handelt es sich beispielsweise bei dem vermeintlichen Drogenentzugsprogramm namens "Narconon" um eine Täuschung. Träfe die behauptete Erfolgsquote von bis zu 80 Prozent zu, müssten die positiven Resultate dieses Drogenentzugs hierzulande belegbar sein. Solche Ergebnisse sind aber in Deutschland faktisch nicht greifbar. Seit geraumer Zeit existiert im Bundesgebiet nur noch ein allenfalls geringfügiges "Therapie"-Angebot und "Narconon" lediglich als Postfachadresse. Bereits 1993 konnte "Narconon" bei einer Klage gegen das Land Baden-Württemberg keinen einzigen Fall eines erfolgreichen Drogenentzugs nachweisen.460 Ein Vertreter des inter459 "St. Petersburg Times", "The Truth Rundown", URL: http://www.tampabay.com/news/scientology/article1012148.ece vom 28. Juli 2009. 460 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Mai 1993, Az. 1 S 3021/92. 287 nationalen Zentrums für Toxikologie und Medizin in Rockville/Maryland bezeichnete das HUBBARD-Verfahren als nutzlos und in Bezug auf die aufgestellten Behauptungen als wissenschaftlich irreführend und betrügerisch.461 "Narconon" ist vor allem Propaganda. Dabei bedient sich die SO scheinbar prominenter Fürsprecher. In Bezug auf deren Reputation und politischen Hintergrund ist sie offenkundig nicht wählerisch. Im Jahr 2009 wurde bekannt, dass ein SO-Werbefilm zu "Narconon" den Auftritt eines Funktionärs der rechtsextremistischen belgischen Partei "Vlaams Belang" enthielt.462 Um ihre Werbung an die bevorzugten Zielgruppen Jugendliche und Lehrkräfte heranzutragen, bedient sich Scientology auch der Hilfsorganisationen "Foundation for a Drug-Free World" und "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben". Deren scientologischer Hintergrund wird dabei aus taktischen Gründen nicht immer offen gelegt. Ebenfalls bloße Propaganda sind angebliche Hilfseinsätze der "Ehrenamtlichen Geistlichen" der SO. Sie treten hierzulande mitunter nach Katastrophen, hauptsächlich aber bei der Straßenwerbung auf. Den Erfahrungen in Deutschland zufolge bieten die vermeintlichen Helfer in der Regel nur HUBBARD-Broschüren und eine Art Handauflegen ("Touch Assist") an. Dennoch suggeriert Scientology immer wieder eine effektive Katastrophenhilfe. Sie verfügt in Deutschland aber über keinen professionell ausgebildeten Stamm von Sanitätern, Psychotherapeuten beziehungsweise Katastrophenhelfern nebst Logistik, also über keinen ausgebildeten Personenkreis, der mit adäquater Ausrüstung lebensrettende Maßnahmen - etwa nach einer Naturkatastrophe - durchführen könnte. Auch in anderen Staaten sind die scientologischen "Hilfseinsätze" umstritten. Sie sollen wohl vor allem dem Image und der Mitgliedergewinnung dienen. Fragwürdig ist ebenso das Programm für bessere Bildung von "Applied Scholastics" (ApS). Die angebotenen Lerntechniken sind simpel und bereits lange vor HUBBARD bekannt gewesen. Sie werden propagandistisch als "Lerntechnologie" überhöht. ApS soll der SO lediglich Zugänge im Bildungsbereich eröffnen. Bei genauer Betrachtung wird auch der anmaßende Charakter der scientologischen "Menschenrechts"-Kampagne deutlich. Denn die SO vermittelt subtil den Eindruck, dass die demokratische Gesellschaft gar nicht 461 "St.Petersburg Times", "Store selling Scientology vitamin regimen raises concerns", URL: http://www.sptimes.com/News/32899/Pasco/Store_selling_Sciento.html vom 6. Oktober 2009. 462 "Johan Demol (VB) duikt op in Scientology-filmpje", URL: http://www.youtube.com/watch? 288 v=4RUP2kWWxWw/http://www.demorgen.be vom 13. Oktober 2009. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N informiert sei - ihr müssten die Menschenrechte erst von Scientology vermittelt werden. Ein internes Rundschreiben des SO-nahen "New Era"-Verlags von August 2009 entlarvte, dass die Werbung für Menschenrechte und die Kampagne "Fakten über Drogen" "wichtige Verbreitungs-Werkzeuge" für Scientology seien. Das überaus aufwändig und professionell gestaltete Werbematerial - so die DVD "United" - zielt vor allem auf Kinder, Jugendliche und den schulischen Bereich. Dabei bedient sich die SO verschiedener Hilfsorganisationen, deren scientologischer Hintergrund teilweise nur noch schwer erkennbar wird. Sie treten unter den Bezeichnungen "United for Human Rights", "International Foundation for Human Rights & Tolerance" oder "Youth for Human Rights" auf und sind zumeist in Los Angeles/Kalifornien ansässig. Deutsche Ableger tragen Namen wie "Jugend für Menschenrechte". 4.2 Werbekampagnen Scientology führte auch im Jahr 2009 aufwändige Werbefeldzüge durch, bei denen es sich laut der SO um "die größte Verbreitungskampagne in der Geschichte von Scientology" gehandelt haben soll. SO-Niederlassungen und -Unterorganisationen aus dem Inund Ausland versandten Werbeund Propagandamaterial an Mandatsträger, Führungskräfte in Politik und Wirtschaft sowie an Stellen der Landesund Kommunalverwaltung in Baden-Württemberg. Es gab auch Gesprächsangebote von SO-Funktionären. Scientology versuchte nochmals, ihre "Bibliothekenkampagne" zu intensivieren, um Büchereien flächendeckend mit HUBBARD-Literatur auszustatten und so neue Interessenten zu gewinnen. Im Land wurden einzelnen Bibliotheken unaufgefordert Scientology-Buchpakete zugesandt. Hilfsorganisationen wie "Jugend für Menschenrechte" traten hierzulande in der Regel scheinbar unabhängig auf. Selbst offizielle SO-Niederlassungen wie die "Mission" Karlsruhe vermieden mitunter den Begriff Scientology und firmierten als "Dianetik-Informationszentrum". Für uninformierte Betrachter war nicht ohne weiteres erkennbar, dass es sich um scientologische Aktionen handelte. So war "Jugend für Menschenrechte" im Jahr 2009 einige Zeit unerkannt im Internetportal "schülerVZ" präsent. Im Einzelfall versuchten SO-Aktivisten, Kontakte zu Jugendhäusern zu knüpfen. "Jugend für Men289 schenrechte Stuttgart" führte mehrfach Straßenaktionen durch, unter anderem in Leinfelden-Echterdingen und Göppingen. Darüber hinaus betrieb Scientology wie in den Vorjahren in zahlreichen Kommunen von Baden-Württemberg Straßenwerbung ("body routing") mit gelben Zelten oder Ständen, an denen Passanten ein "Persönlichkeits-" oder "Stresstest" angeboten wurde. Die Scientologen suggerierten individuelle Lebenshilfe und ließen über die politisch-extremistischen Ziele der Organisation nichts verlauten. Vereinzelt wurden Beschwerden über aufdringliches Verhalten von Werbern laut. Seit einer für die SO in Stuttgart negativen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg463 zur Straßenwerbung wichen die Scientologen zunehmend auf andere Regionen im Land aus, etwa Tübingen, Pforzheim, Bruchsal und Mosbach. Nach den Vorgaben der Organisation soll jedes Mitglied HUBBARDs Ideologie in der Gesellschaft verbreiten. Zum Beispiel riet ein SO-Mitglied einer Familie, ihre Kinder zur Nachhilfe in das "Lerncenter" nach Stuttgart zu schicken. Der Hintergrund der Einrichtung wurde zunächst verschwiegen. Scientologen nutzten auch Internetportale, um für das HUBBARD-Programm zu werben. Über eine im Eigenverlag in Kirchheim unter Teck herausgegebene Broschürenreihe unter dem Titel "mehr wissen besser leben" wurden Scientology-Bücher beworben. Unverfängliche Themen wie Ernährungstipps dienten mitunter als Einstieg, um anschließend auf Werbung für HUBBARDKonzepte umzuschwenken. Hinweisen zufolge wollte die SO auch verstärkt durch "Auditing"-Angebote im häuslichen Bereich Mitglieder werben. 4.3 Reaktion auf den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen Als am 11. März 2009 beim Amoklauf in Winnenden und Wendlingen sechzehn Menschen getötet wurden, reagierte die SO umgehend, um die Bluttat für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. In den Tagen nach der Tat verteilten SO-Angehörige vor Ort Werbebroschüren wie "Der Weg zum Glücklichsein". Scientologen postierten sich zum Beispiel vor der betroffenen Schule und sprachen gezielt Jugendliche an. Die Bundesleitung der SO-Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) gab in einer Presserklärung an, Strafanzeige wegen fahrlässiger 463 Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Januar 2008, Az.: 5 S 393/06. Der VGH erklärte die Erhebung von hohen Straßennutzungsgebühren der Stadt 290 Stuttgart bei SO-Werbeveranstaltungen für rechtmäßig. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N Tötung gegen die Psychiater gestellt zu haben, die den jugendlichen Täter behandelt hätten. Kurz zuvor hatten Medien berichtet, dass der Täter im Jahr 2008 mehrfach in der Kinderund Jugendpsychiatrie in Behandlung gewesen sei. Ohne dass der KVPM offenkundig der genaue Sachverhalt bekannt war, sollte die Presseerklärung eine Verantwortung der Ärzte für den Gewaltausbruch nahelegen. Die KVPM Stuttgart führte zudem "Mahnwachen" durch, die allerdings kaum Beachtung in der Öffentlichkeit fanden. Die SO-Hilfsorganisation KVPM deckt einen weiteren Bereich scientologischer Propaganda ab. Sie hetzt seit vielen Jahren gegen Psychiater und Psychologen und versucht, durch Kampagnen und persönliche Anschreiben an Politiker Stimmung gegen dieses Feld der Medizin zu machen. Die SO sieht diese Berufszweige offenkundig als Konkurrenz und weltanschauliche Gegner. Sie will durch ihre Hetze langfristig die Grundlage für die Verbreitung von HUBBARD-Konzepten in der Justiz, der Jugendhilfe und im gesamten Gesundheitswesen bereiten. 4.4. Mitgliederorientierte Propaganda Neben Spendenaufrufen für die "Ideale Org" Stuttgart und penetranten Versuchen, kostenträchtige Kurse an Mitglieder zu verkaufen, rückten SOFunktionäre erneut die Expansion und den "Kreuzzug zur Rettung des Planeten" 464 sowie die Gewinnung von Mitgliedern für die "International Association of Scientologists" (IAS) in den Mittelpunkt. Die Rekrutierung verlief jedoch nur schleppend. Ein Rundschreiben der Europazentrale hatte bereits Ende 2008 Unzufriedenheit mit den deutschlandweiten Ergebnissen angedeutet: "...der Verlauf der Geschichte wird von mächtigen Personen und Gruppen bestimmt. Die IAS ist solch eine Gruppe und sie wird von den besten Scientologen angeführt. Dies ist also nicht einfach nur ,ein weiterer unwichtiger Brief'. (...) Wir wissen, dass Scientology keinen Fortschritt in der Gesellschaft erzielen kann, wenn dies nicht durch eine Gruppenanstrengung geschieht. (...) Der Grund, warum wir eine weitverbreitete Mitgliedschaft etablieren wollen, liegt darin, dass die Macht einer Organisation an der Anzahl der Mitglieder gemessen wird, die sie hat." Die an die eigenen Anhänger gerichtete Propaganda unterscheidet sich gravierend von dem Bild einer friedliebenden Religion, das die SO nach au464 IAS-Flugblatt "Was geschieht vom 16. bis 18. Oktober 2009?". 291 ßen vermitteln möchte. Intern entsteht das Bild einer auf Expansion getrimmten Organisation, die Macht erringen und die Gesellschaft dominieren will. Als im April 2009 im südschwedischen Malmö eine "Ideale Org" eröffnet wurde, zog die SO folgenden historischen Vergleich: "Doch so war es auch im 8. Jahrhundert: Wer hatte je von den Wikingern gehört, bevor sie das mittelalterliche Europa überrollten? Dies ist die Saga der neuen Idealen Org, die vom Walhall in unseren Schoß fiel (...) In der Chronik [sc. der SO in Malmö] steht auch ein Vorstoß der ehrenamtlichen Geistlichen [sc. der SO], welcher der Landung der Wikingerschiffe ähnelte."465 Scientology erhebt einen gesellschaftspolitischen Alleinvertretungsanspruch. Sie betrachtet sich als einzige Kraft, die den Niedergang der angeblich geisteskranken Gesellschaft aufhalten könne. Intern gilt jede Niederlassung als "Insel der geistigen Gesundheit in ihrer Umgebung."466 Sie maßt sich an, aus einer "geistlosen Wissenschaft" emporgestiegen zu sein und "die endgültige Wahrheit"467 zu besitzen. Nur die SO könne der angeblich versklavten Bevölkerung Freiheit bringen. Derartige Vorstellungen gehen auf Verschwörungstheorien von HUBBARD zurück. Danach werde die Welt von wenigen Personen aus der Hochfinanz beherrscht, welche die Psychiatrie benutzen, um die Bevölkerung durch "Drogen" unter Kontrolle zu halten. Demokratisch legitimierte Regierungen seien nur Marionetten. Aus dieser Weltsicht heraus ist man in der SO überzeugt, die vermeintliche politische Manipulation durchbrechen und die Welt "klären" zu müssen. Die SO-Propaganda schafft Feindbilder, in denen sie Kritik oder rechtsstaatliche Maßnahmen gegenüber Scientology pauschal als "Unterdrückung" brandmarkt. Auch Deutschland gilt als Unrechtsstaat. In einer Rede zählte die internationale Präsidentin der KVPM die Bundeshauptstadt Berlin zu dem "Bereich, wo Unterdrückung Freiheit bedroht und wo Menschenrechte ignoriert (...) werden." Zugleich feierte sie die "Siege" der SO auf den "Schlachtfeldern" gegen die vermeintlichen Gegner und hob besonders das "Zähmen" kritischer Medien und die "Kapitulation" von Interpol und der US-Steuerbehörde hervor.468 Dieses Weltbild wird auch von deutschen Mitgliedern vertreten. Ein SO-Anhänger unterstützte eine offenbar von der Organisation beeinflusste OnlinePetition gegen die angebliche Diskriminierung von Scientologen in Deutschland: 465 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 42/2009, S. 48. 466 Rundschreiben "Die Kraft, welche die Zukunft von Scientology garantiert", 2009. 467 Zeitschrift "The Auditor AOSH EU" Nr. 323/2009, S. 1. 292 468 Zeitschrift "The Auditor AOSH UK" Nr. 341/2009, S. 6. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N "In Deutschland gibt es schon seit dem frühen Mittelalter massive Unterdrückung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Geändert haben sich die Gesetze aber nicht die Einstellung der Politiker. Das muss ein Ende haben. Ich will das die Menschenrechte in Deutschland endlich etabliert und gelebt werden."469 Den Scientology-Schriften liegt ein polarisierendes Freund-Feind-Denken zugrunde, das Intoleranz und eine aggressive Einstellung fördert. Für überzeugte Scientologen kann nur HUBBARDs Ideologie die Gesellschaft retten. Daher gelten Kritiker als Verbrecher und Saboteure des angeblich rettenden Konzepts. 5. Expansionsstrategien 5.1 Globales Projekt "Ideale Org" Ein wichtiger Teil der vielschichtigen Expansionsstrategie der SO ist ihr globales Projekt "Ideale Org", das sie mit hohem logistischen Aufwand betreibt. Sie versteht darunter die Etablierung prestigeträchtiger Repräsentanzen in politisch und wirtschaftlich bedeutenden Zentren, die nachhaltig politische Einflussnahmen schaffen sollen. Die SO betonte dabei die herausragende Bedeutung von Washington als Sitz der US-Regierung und von Brüssel als "Hauptstadt Europas": "In der Stadt befinden sich das Europäische Parlament, der Europarat und die Europäische Kommission, der politische Sitz der NATO (Nordatlantikpakt) sowie 150 Botschaften, 2500 Diplomaten und Tausende multinationale Gesellschaften. Darum hat Brüssel eine unvergleichliche Bedeutung (...) und aus diesem Grund wurde entschieden, dass diese Ideale Org [sc. in Brüssel] von der IAS [sc. Mitgliederorganisation der SO] gesponsert wird".470 469 Internetauswertung vom 12. März 2009. Übernahme wie im Original. 470 Zeitschrift "Impact" Nr. 120/2009, S. 16ff. 293 MISCAVIGE behauptete im Hinblick auf die "Idealen Orgs", es gäbe inzwischen "Partnerschaften" mit Behörden in verschiedenen Kommunen der USA - darunter Polizeibehörden - und fügte hinzu, die SO betreibe "Aktivitäten, um auch jeden anderen auf unsere Organisierungstafel zu bringen." Demnach geht es langfristig nicht um "Partnerschaften", sondern um eine schleichende Vereinnahmung. Die angeblichen Sozialprogramme sollen Zugänge zu gesellschaftlichen Institutionen schaffen und der Expansion dienen. Daher "gibt es hier auch Dinge wie eine stadtumspannende ,Weg zum Glücklichsein'-Kampagne bis hin zu einem Anti-Drogenoder Menschenrechtsprogramm. All dies bringt noch mehr Leute auf unser Org Board" [sc. in die Organisation].471 Als Ziel gilt: "Das Endprodukt ist nicht nur eine Ideale Org, sondern eine neue Zivilisation, die bereits am Entstehen ist."472 Im Jahr 2009 warben SO-Funktionäre unter Scientologen in Baden-Württemberg für die Teilnahme an einer "Clear Deutschland Tagung". Dort sollte es darum gehen, "wie Deutschland das erste Land werden kann", in dem als "Zwischenschritt" bis zum vollständigen "Klären" das "Ideale Org"-Programm komplett verwirklicht wird.473 SO-Funktionäre sammelten weiterhin Geld für das Stuttgarter "Ideale Org"-Projekt. An nichtöffentlichen Veranstaltungen nahmen etwa 250 Scientologen teil. Derartige Treffen waren bislang von Verlautbarungen des Managements, Durchhalteparolen, angeblichen Erfolgsmeldungen und persönlichen Belobigungen von Spendern geprägt. Allerdings deuten sich mittlerweile Mobilisierungsprobleme und Ermüdungserscheinungen an der Basis an. Einzelne Veranstaltungen sollen mangels ausreichender Anmeldungen bereits abgesagt worden sein. Das Projekt für den Kauf eines neuen Gebäudes in Stuttgart kam im Jahr 2009 kaum noch voran. Das Spendenaufkommen soll erheblich zurückgegangen sein. Viele Mitglieder dürften finanziell ausgeblutet sein. Die bis Ende 2009 eingetriebenen Finanzmittel dürften sich auf etwa fünf Millionen Euro belaufen. Die Kosten für die neue Stuttgarter SO-Repräsentanz sollen auf rund acht Millionen Euro veranschlagt worden sein. Als Zeitpunkt für die Verwirklichung stellten Funktionäre nunmehr das Jahr 2010 in den Raum. Falls die SO in der Landeshauptstadt bis dahin tatsächlich ein Gebäude erwerben will, müsste wohl ein erheblicher Zuschuss aus den internationalen Finanzreserven der Organisation erfolgen. Nach den bisherigen Erfahrungen treten bei Immobilienkäufen für die SO häufig Investoren aus dem Ausland auf, ohne dabei die künftige Nutzung des Gebäudes für Scientology darzulegen. 471 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 42/2009, S. 4 und S. 29. 472 "Internationales Rundschreiben" Nr. 1/2009. 294 473 Rundschreiben "Clear Deutschland Tagung", 2009. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N 5.2 Expansionsversuche in der Wirtschaft Strategisches Ziel des SO-Wirtschaftsverbandes WISE ist, die autoritäre Verwaltungslehre ("administrative Technologie") HUBBARDs flächendeckend in Wirtschaft und Politik zu verbreiten und vor allem Entscheidungsträger für Scientology zu gewinnen. WISE verfügt in Deutschland derzeit jedoch nicht über ausreichende Mitgliederzahlen, um diese Ziele in der Breite verfolgen zu können. Unternehmensberater und Managementtrainer von WISE traten im Jahr 2009 in Baden-Württemberg insbesondere an Führungskräfte kleiner und mittlerer Unternehmen heran, ohne zunächst ihren Hintergrund zu offenbaren. Häufig erfolgte der erste Kontakt durch Vorträge, bei denen vordergründig Kommunikationskurse, vermeintliche Erfolgsrezepte, Effizienz am Arbeitsplatz oder erfolgreiches Verkaufen beworben wurden. Ein internes Schreiben offenbarte beispielhaft, dass es vor allem darum ging, Interessenten für Scientology zu werben: "Die Vorträge sind speziell für neue Leute in einer leicht verständlichen Sprache gehalten. Es ist die Gelegenheit, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen mitzubringen, die etwas über uns als Gruppe oder über unsere lebensbereichernde Philosophie erfahren wollen. (...) Diese Vorträge sind ein geniales Werkzeug für diejenigen, die mithelfen wollen, (...) eine bessere Gesellschaft zu kreieren."474 Betroffene, die einen ersten Kurs buchen oder sich für eine Vortragsveranstaltung anmelden, können zunächst kaum erkennen, dass sie in das Umfeld der SO geraten sind. Die angebotenen Seminare sind häufig nahezu identisch mit einführenden Scientology-Kursen. Allenfalls Copyright-Vermerke wie "L. Ron Hubbard Library", "Hubbard College of Administration" (HCA) oder "Hubbard Management System" lassen für unbefangene Betrachter Rückschlüsse auf WISE zu. Die Kursteilnehmer sollen durch subjektive Erfolgserlebnisse schrittweise an die Ideologie der SO herangeführt werden. HUBBARDs "Technologie" wird zunächst als bloßes "Managementwerkzeug" mit durchaus praktikablen Elementen vermittelt. Die umfassende Umsetzung dieser Konzepte mündet aber schließlich immer mehr in eine Ideologisierung des Betriebs und in ein autoritäres Kontrollund Disziplinierungsinstrument, das Modell für die gesamte Gesellschaft sein soll. 474 Übernahme wie im Original. 295 6. Reaktionen auf die Finanzund Wirtschaftskrise Der Propaganda zufolge versagt ein linientreuer Scientologe nicht. Die SO entwirft die Verheißung, bei Anwendung der "Technologie" sei der individuelle oder kollektive Erfolg zwingend: "In einer idealen Welt könnte all das Know-How, das die Erfahrung bringt, sofort gelernt und für die Ewigkeit benutzt werden - ohne all die Mühsal und Härten. L. Ron Hubbards Management Technologie bringt Sie in diese ideale Welt. Es ist alles, was eine Führungskraft oder ein Beschäftigter über Verwaltung, Management, Effizienz und Organisation wissen muss. (...) Wo sie gelernt und angewandt worden ist, liefert sie exakte, vorhersagbare Ergebnisse, zu jeder Zeit. (...) Ein einziges Kriterium leitete jede Entwicklung und jeden Fortschritt des Systems von Herrn Hubbard: Wird sie gleichförmig in jeder Organisation funktionieren? Sie hat den Test seit Langem bestanden. Sie tut es."475 Diese "ideale Welt" musste sich seit dem Herbst 2008 einer tief greifenden, weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise stellen. Das Management reagierte gegenüber der Basis mit Durchhalteparolen und erweckte mit unglaubwürdigen Behauptungen den Eindruck, WISE-Mitglieder würden dank HUBBARDs "Technologie" selbst in der Krise auf scheinbar magische Weise bahnbrechende Wachstumsraten und Erfolge verbuchen. Insgesamt wirkten die Reaktionen zwiespältig. Einerseits wurde die Krise insofern thematisiert, als sie durch Scientology-"Technologie" gemeistert werden könne. Andererseits deutete sich eine Negierung der Wirklichkeit an. So wurden im Scientology-Milieu in Baden-Württemberg Vorträge unter dem Titel "Wirtschaftkrise? Wir wollen nicht so recht daran glauben" beworben. Der tiefere Grund dürfte sein, dass durch das Eingeständnis, auch Scientologen könnten sich dieser Krise nicht entziehen, letztlich das Versagen von HUBBARDs Wirtschafts-"Technologie" eingeräumt würde. Fehlleistungen und persönliches Unvermögen begründen sich nach scientologischer Doktrin aber in fehlender oder fehlerhafter Anwendung von HUBBARDs Verfahren und sind somit angeblich eigenes Verschulden. Durch massive Propaganda, gruppendynamische Prozesse, Gruppendruck und Sanktionen wird in der SO die Fiktion einer unfehlbaren "Technologie" aufrechterhalten. Diskussionen oder Kritik werden unterbunden. Das Eingeständnis, dass Scientologen wie Nichtscientologen gleichermaßen von der Krise betroffen 296 475 Website von "WISE International" vom 16. Oktober 2009; hier: Arbeitsübersetzung. S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N sind, könnte eine Art ideologische Kettenreaktion auslösen, wenn die Anhänger an der Basis begännen, die Propaganda offen zu hinterfragen. 7. Bekämpfung von Kritikern Die Bekämpfung von Kritikern ist Aufgabe des "Office of Special Affairs" (OSA), einem auch nachrichtendienstliche Zwecke erfüllenden Netzwerk in der SO, das relativ abgeschottet von anderen Bereichen tätig ist. Allerdings ist auch das OSA von chronischem Personalmangel betroffen. Es unterhält ein Büro in der "Org" Stuttgart. Die Deutschlandzentrale befindet sich in München. Scientology reagiert auf Kritik zumeist damit, ihren Gegnern niedere Beweggründe zu unterstellen. Indem sie Kritik mit dem Etikett "Diskriminierung" und der angeblichen Religionsfeindlichkeit versieht, will sie sich einer kritischen Analyse der eigenen Praktiken und Programmatik entziehen. Die SO hetzt systematisch gegen ihre Gegner und betreibt seit Jahren eine planmäßige Herabsetzung des Ansehens Deutschlands und seiner Repräsentanten. Im Internet, darunter in der Online-Fassung des "Freedom Magazine" ("Freiheit"), verglich die SO auch im Jahr 2009 die Situation in Deutschland unterschwellig mit der Verfolgung der Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Das verwendete Bildmaterial sollte Emotionen schüren und dem Betrachter auf subtile Weise eine vergleichbare Lage von Scientologen und Juden suggerieren, die während des Nationalsozialismus in Vernichtungslager deportiert worden waren. Darüber hinaus wurden kritische Presseberichte über Scientology aus den 1990erJahren mit der antisemitischen Hetze des NS-Blattes "Der Stürmer" gleichgesetzt.476 Im Jahr 2008 war unter dem Begriff "Anonymous" eine weltweite, lose über das Internet verbundene Protestbewegung gegen Scientology ent476 Websites des "Freedom Magazine", "Hatewatch Germany" und "Human Rights Office" der SO vom 15. Juni 2009. 297 standen. 2009 setzten sich die Demonstrationen gegen die Aktivitäten der SO auch in Baden-Württemberg fort. "Anonyme" führten in Stuttgart, Leinfelden-Echterdingen, Kirchheim unter Teck und Freiburg im Breisgau friedliche Kundgebungen durch. Das "Menschenrechtsbüro" der SO in München verunglimpfte die Demonstranten im Gegenzug als "Terrorgruppe" und als "extremistische Kampftruppen".477 Scientologen wandten auch weiterhin die Taktik an, Demonstranten zu fotografieren beziehungsweise zu filmen. Zwar ist die Hetze der SO oft herabsetzend, sie bewegt sich aber in aller Regel noch im Rahmen der Meinungsfreiheit. Es kommt mitunter jedoch vor, dass einzelne Scientologen derart überziehen, dass dies rechtliche Konsequenzen hat. Im März 2009 gab das Landgericht Stuttgart der Unterlassungsklage eines Scientology-Kritikers statt. Es wertete gegen die Person des Klägers gerichtete Behauptungen der Betreiberin des Stuttgarter "Lerncenters" als ehrverletzende Schmähkritik und untersagte ihr unter Androhung eines Ordnungsgeldes von 250.000 Euro oder ersatzweise Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten die weitere Verbreitung.478 Die SO legt besonderes Augenmerk auf die "Handhabung" kritischer Presse. Zu den Aufgaben des OSA gehört daher der Versuch, die Berichterstattung über Scientology zu beeinflussen. Ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Rundbrief ("Diese News sind für Scientologen bestimmt und gehören entsprechend nicht in öffentliche Foren")479 von OSA Deutschland offenbarte Details der Vorgehensweise. So seien wöchentlich "auf bis zu 50 nationalen Websites positive Pressemitteilungen platziert" worden. Durch diese massenhafte Propaganda sollte die Wahrnehmung der SO im Internet manipuliert werden: Ein Artikel habe "13 mal in den vordersten Reihen diverser Suchmaschinen wie Google u.a. gefunden werden" können. OSAFunktionäre seien zudem offensiv an Medienvertreter herangetreten, um eine günstigere Berichterstattung über die SO zu erwirken: "Fast täglich finden in Deutschland mehrere Mediengespräche statt". Angeblich hätten die teils großen Zeitungsverlage überwiegend im Sinne des OSA reagiert, jedoch seien "noch viele Kontakte nötig". Ob die Behauptungen über die Gesprächsergebnisse tatsächlich zutreffen, ist allerdings zweifelhaft. Darüber hinaus sollte die Anhängerschaft an der Basis durch zahlreiche Leserbriefe zu den Aktionen des OSA beitragen, wobei der SO-Nachrichtendienst "Formulierungsvorschläge" vorgab: 477 Website des SO-"Menschenrechtsbüros" vom 25. Februar 2009. 478 Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 31. März 2009, Az.: 17 O 727/08. 479 "Scientology Kirche Deutschland", "Good News aus dem deutschsprachigen Raum", Mai 298 2009. . S C IE N TO LO G Y- O RG A NI S AT IO N "Was ihr tun könnt Ab und zu - leider noch zu oft - berichten Medien sehr einseitig über Scientology. Ihr könnt dazu z.B. ein kurzes Protestschreiben an die Chefredaktion oder Leitung dieses Mediums senden (...) Es reicht oft ein kurzes Mail: ,Ich las den Artikel... Ich finde es nicht akzeptabel dass Sie dieses Thema derart einseitig aufgreifen und bitte darum auch mal die andere Seite zu Wort kommen zu lassen...' oder ähnlich."480 8. Weitere Beobachtung erforderlich Trotz der Anzeichen für eine krisenhafte Entwicklung darf die SO nicht unterschätzt werden. Es wäre verfrüht, auf einen schnellen Niedergang oder einen Zusammenbruch ihrer Strukturen zu spekulieren, die bislang nach wie vor einen relativ gefestigten Eindruck machen. Zudem zeigt sich unter den Mitgliedern ein hohes Maß an Gefügigkeit und Gehorsam. Scientology versucht, hartnäckig zu expandieren, beharrt auf ihren verfassungsfeindlichen Zielen und verfügt zweifellos immer noch über eine enorme finanzielle Schlagkraft. Managementtrainer des SO-Wirtschaftsverbandes können durch die Vereinnahmung von Führungskräften ganze Betriebe beeinflussen. Die SO will auch unverändert Einfluss auf nationale und übernationale Parlamente und Regierungen nehmen. Seit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz handelt die SO deutlich vorsichtiger. So ist ein hemmungsloses Vorgehen gegen Kritiker in BadenWürttemberg wie in den frühen 1990er-Jahren seit geraumer Zeit nicht mehr festzustellen. Die öffentliche Aufklärung und rechtsstaatliche Maßnahmen haben die Expansionsbestrebungen der SO erfolgreich eingedämmt. Scientology dürfte in Zukunft insbesondere mit massiven "Menschenrechts"-Kampagnen versuchen, ihr schwer beschädigtes Image wieder zu verbessern. Eine Änderung des verfassungsfeindlichen Kurses ist jedoch nicht zu erwarten. Die Beobachtung ist daher weiterhin erforderlich. 480 Ebd., Übernahme wie im Original. 299 G. SPIONAGEABWEHR Politische Planungen, Details militärischer Strategien oder Informationen über Forschungsund Entwicklungsprojekte werden zu einem großen Teil geheim gehalten. Eine Reihe fremder Staaten setzt deshalb ihre Nachrichtendienste ein, um über aktuelle Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland möglichst frühzeitig informiert zu sein. Aufgabe der Spionageabwehr ist es, die Aktivitäten fremder Nachrichtendienste zu beobachten, deren Strukturen, Methoden sowie Angriffsziele zu erkennen und Schutzmaßnahmen für gefährdete Bereiche zu entwickeln. n In Baden-Württemberg steht die Wirtschaftsspionage im Mittelpunkt der Abwehrarbeit. Besonders aktiv sind hier chinesische und russische Nachrichtendienste. Am stärksten betroffen sind mittelständische Unternehmen. n Die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dazu erforderlichen Knowhows sowie entsprechender Trägersysteme (Proliferation) ist ein globales sicherheitspolitisches Problem. Von besonderer Relevanz sind derzeit die Aktivitäten des Iran, Nordkoreas, Syriens und Pakistans. n Bei der Beschaffung nachrichtendienstlich interessanter Informationen spielen technische Mittel eine immer wichtigere Rolle. Speziell die Informationsund Kommunikationstechnik weist eine Reihe gefährlicher Schwachstellen auf, die gezielt ausgenutzt werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz steht den in Baden-Württemberg ansässigen Unternehmen professionell zur Seite und bietet eine breite Palette von Dienstleistungen an. Seit 1999 arbeitet es im Sicherheitsforum Baden-Württemberg mit, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die betriebliche Sicherheit vor allem bei kleineren und mittleren Unternehmen zu verbessern. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die Gefahren der Spionage sind ständig präsent und werden dennoch häu300 fig ignoriert. Die im Jahr 2009 erarbeitete und Anfang 2010 vom Sicher- S P IO N A G E A B W E HR heitsforum Baden-Württemberg vorgelegte "SiFo-Studie 2009/10 - Knowhow-Schutz in Baden-Württemberg" zeigt auf, dass mehr als jedes vierte forschungsintensive Unternehmen mindestens einmal von Verrat oder der Ausspähung von Geschäftsund Betriebsgeheimnissen betroffen war. Geistiges Eigentum genießt immer noch zu wenig Schutz, dadurch entstehen erhebliche Schäden. Viele Unternehmen könnten sich jedoch aus eigener Kraft besser absichern. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg sieht sich durch die Ergebnisse der Studie in seinen bisher vertretenen Positionen zu den Gefahren der Spionage und zum Stand der Sicherheit in den Unternehmen bestätigt. Zugleich wird es seine Anstrengungen zum Schutz baden-württembergischer Firmen weiter steigern. Gerade angesichts der globalen Finanzund Wirtschaftskrise dürfte für einige Staaten die Versuchung besonders groß sein, sich durch den Einsatz von Nachrichtendiensten massive politische, wirtschaftliche und militärische Vorteile zu verschaffen. Noch lässt sich eine signifikante Zunahme der Spionageaktivitäten nicht eindeutig nachweisen, aber es ist zu erwarten, dass die Fallzahlen künftig wieder deutlich steigen werden. Die Wirtschaft selbst rechnet in der derzeitigen Krise mit einem Anstieg der Wirtschaftskriminalität und einer Zunahme von Wettbewerbsdelikten. Zugleich führt der bestehende Kostendruck und der damit verbundene Personalabbau zu Abstrichen bei den Sicherheitsvorkehrungen in den Unternehmen. Hier gilt es, frühzeitig wirksame Gegenstrategien zu entwickeln. Prävention muss in der Zukunft einen höheren Stellenwert haben. "Wir haben Indikationen, dass die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen in Unternehmen seit dem Ausbruch der Krise im September 2008 stark gestiegen ist." THORSTEN MEHLES, VORSTANDSVORSITZENDER DER PREVENT AG, STUTTGARTER ZEITUNG VOM 8. SEPTEMBER 2009 Auch wenn die Zahl strafrechtlicher Verurteilungen im Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges deutlich abgenommen hat, ist das Thema Spionage noch immer aktuell. Angesichts eines harten internationalen Konkurrenzkampfes gibt es eine Reihe von Staaten, die nachweislich oder mutmaßlich ihre Volkswirtschaft auch unter Einsatz ihrer Nachrichtendienste optimieren. Wegen der herausragenden technologischen Leistungsfähigkeit badenwürttembergischer Unternehmen und Forschungseinrichtungen steht die Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage im Mittelpunkt der Abwehr301 arbeit des Landesamts. Am stärksten betroffen sind innovative Kleinund Mittelbetriebe. Vor allem chinesische und russische Nachrichtendienste sind hierzulande sehr aktiv. In Bezug auf westliche Staaten liegen keine nachrichtendienstlich gesicherten Erkenntnisse über eine systematische Ausspähung vor. "In den nächsten 50 Jahren wird Wirtschaftsspionage Marketing ersetzen, um Unternehmen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu sichern" ALAIN JUILLET, EHEMALIGER DIREKTOR DES FRANZÖSISCHEN GEHEIMDIENSTES DGSE, FOCUS 1/2009, S. 105 Die mit der Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage eng verbundene Proliferation ist noch immer ein globales sicherheitspolitisches Problem. 1.1 Einsatz technischer Mittel zu Spionagezwecken Bei der Beschaffung nachrichtendienstlich bedeutsamer Informationen spielen technische Mittel eine immer wichtigere Rolle. Speziell die Informationsund Kommunikationstechnik weist eine Reihe von Schwachstellen auf, die gezielt ausgenutzt werden. Dabei profitieren mögliche Angreifer davon, dass diese Technik bei geringem Entdeckungsrisiko ein immenses Informationsaufkommen bietet, nur einen niedrigen technischen und finanziellen Aufwand erfordert, und keine zeitlichen, geografischen und sprachlichen Barrieren aufweist. Im Internet lauern Gefahren, die sowohl den wirtschaftlichen Erfolg als auch das Image eines Unternehmens ruinieren können. Von Nachrichtendiensten wird das Netz neben der offenen Informationsgewinnung für eigene Zwecke vor allem auch als Spionageinstrument eingesetzt. Betroffen sind praktisch alle Internet-Dienste, die mit ganz unterschiedlichen Methoden angegriffen und überwacht werden und eine Fülle relevanter Informationen liefern können. Die zunehmend zu beobachtende Offenlegung auch sensibler Daten aus Gründen der Kundenfreundlichkeit durch die Firmen selbst sowie die sorglose Preisgabe einer Vielzahl persönlicher und beruflicher Daten durch die Mitarbeiter der Unternehmen - beispielsweise in sozialen Netzwerken - machen dieses Medium für Nachrichtendienste zu einer Informationsquelle enormen Ausmaßes. Die im Februar 2007 erstmals durch Sicherheitsbehörden öffentlich angesprochenen elektronischen Angriffe auf Datennetze von staatlichen 302 Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen haben in Deutschland für S P IO N A G E A B W E HR einige Unruhe gesorgt. Im Fokus standen fast alle Branchen und Hochtechnologiebereiche. Die breit angelegten Angriffe wurden mit anhaltender Intensität und deutlich erkennbarer Absicht der Verschleierung des Auftraggebers durchgeführt. Die bekannt gewordenen Details sprechen dafür, dass die Attacken von China ausgegangen sind. Zumindest für die nähere Zukunft ist mit weiteren derartigen Angriffen zu rechnen. Im Jahr 2009 war das Landesamt für Verfassungsschutz in Zusammenarbeit mit betroffenen Wirtschaftsunternehmen intensiv mit der Aufarbeitung dieser Attacken befasst. 1.2 Dienstleistungen des Landesamts für Verfassungsschutz für Unternehmen Der Schutz der Wirtschaft hat für das Landesamt für Verfassungsschutz einen besonderen Stellenwert. Es steht den in Baden-Württemberg ansässigen Unternehmen mit einer breiten Palette unterschiedlichster Dienstleistungen zur Seite: von Broschüren mit praxisgerechten Handlungsempfehlungen über allgemeine Beratungsgespräche bis hin zur Erörterung konkreter firmenspezifischer Problemstellungen. Bei Auffälligkeiten, die den Verdacht der Spionage nahelegen, sollte der Verfassungsschutz eingeschaltet werden, um fallbezogen ein professionelles Vorgehen zu gewährleisten. Die intensive Zusammenarbeit mit dem 1999 unter Beteiligung des Landesamts für Verfassungsschutz gegründeten Sicherheitsforum Baden-Württemberg ist ein wichtiger Bestandteil der vernetzten Spionageabwehr auf dem Gebiet des Wirtschaftsschutzes. 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Volksrepublik China 2.1.1 Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage Die Anstrengungen der Volksrepublik China, ihre nationale Wirtschaftsleistung erneut zu steigern und im Bereich der Hochtechnologie möglichst rasch zu den westlichen Industrieländern aufzuschließen oder gar noch an ihnen vorbeizuziehen, sind ungebrochen. Mit geschickten strategischen Investitionen sichert sich das Land weltweit Rohstoffvorkommen und Agrarflächen, um seine Ausgangsposition nachhaltig zu verbessern. Neben einer bereits wieder erstarkenden Binnenwirtschaft sind es aber nicht zuletzt die vielfältigen Aufklärungsaktivitäten der chinesischen Nachrichtendienste auf dem Industriesektor, die die nationale Wirtschaftsentwicklung weiter beflü303 geln. Auf dem Feld der Spionage stützt sich China gleichermaßen auf offene wie auf konspirative Beschaffungsmethoden. Auch wenn die bereits seit einigen Jahren zu beobachtenden elektronischen Angriffe auf IT-Netzwerke westlicher Firmen und Behörden als ein neues Risiko hinzugekommen sind, ist die "menschliche Quelle" bei der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung nach wie vor unverzichtbar. Kontakte zu im Ausland arbeitenden oder studierenden Chinesen mit Zugang zu herausragendem Know-how oder zu Wissenschaftlern, die an der Entwicklung von Hightech-Produkten beteiligt sind, bilden vielfach den Ausgangspunkt für weitergehende Spionageaktivitäten. Auch aus scheinbar harmlosen Besuchsaufenthalten chinesischer Delegationen können sich erhebliche Gefahren für Betriebsgeheimnisse ergeben. So wurde Anfang September 2009 im bayerischen Kolbermoor ein Angehöriger einer chinesischen Besuchsdelegation auf frischer Tat dabei gestellt, wie er mit einer am Gürtelclip befestigten Minikamera die anlässlich einer Werksbesichtigung vorgestellten Produktionsabläufe einer deutsch-österreichischen Hightech-Firma durch Bildund Tonaufzeichnung festhielt. Im Hauptverfahren vor dem Landgericht München II legte der Angeklagte ein vollständiges Geständnis ab. Er habe das bei ihm beschlagnahmte Videomaterial gezielt hergestellt, um die Technik in China zu verwenden. Das Gericht verurteilte481 ihn am 4. Dezember 2009 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten auf Bewährung. Außerdem zahlte er 80.000 Euro Entschädigung. Chinesische Studenten und Austauschwissenschaftler werden häufig schon bei ihren Vorbereitungen auf das Auslandsstudium mit den Begehrlichkeiten staatlicher Stellen ihres Heimatlandes konfrontiert, indem man ihnen deutlich macht, dass für die Unterstützung während des Aufenthalts im Westen eine "Gegenleistung" erwartet wird. n Ein chinesischer Student wurde im Frühjahr 2009 dabei ertappt, als er vertrauliche Forschungsergebnisse und Entwicklungsdaten vom Rechner einer baden-württembergischen Hochschule auf seine mitgebrachte externe Festplatte kopierte. Von Interesse waren für ihn neben fremden Diplomarbeiten auch eine Vielzahl anderer Datenquellen, deren Inhalte nach Art und Umfang willkürlich und ohne vorherige Prüfung auf die mobile Festplatte überspielt wurden. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Prüfung und Selektion dieser Informationen bewusst erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen sollte, um die Gefahr der Entdeckung auszu304 481 Aktenzeichen W 5 KLs 68 Js 28842/09. S P IO N A G E A B W E HR schließen. Nachträgliche Recherchen ergaben, dass hiermit nicht nur Lücken in der eigenen Diplomarbeit geschlossen werden sollten, sondern in erster Linie an eine Weiterleitung über das Internet an eine nicht näher bekannte Stelle in China gedacht war. Das an den Tag gelegte Verhalten war aufgefallen, weil er sich an Rechnern zu schaffen machte, deren Benutzung ihm ausdrücklich untersagt worden war. 2.1.2 Überwachung regimekritischer Bestrebungen Die chinesische Staatsführung ist bestrebt, Gefährdungen ihrer universellen Machtposition mit aller Konsequenz und Härte zu begegnen. Als Folge der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Volksgruppen der Uiguren und Han-Chinesen in der autonomen Region Xinjiang Mitte 2009 ist die weltweite Bekämpfung der "Fünf Gifte"482 zu einer Schwerpunktaufgabe der chinesischen Auslandsnachrichtendienste geworden. So wurden insbesondere auch die Aufklärungsmaßnahmen gegen den in München ansässigen "World Uyghur Congress" (WUC), der von chinesischer Seite für die Unruhen in Xinjiang verantwortlich gemacht wird, deutlich intensiviert. Am 24. November 2009 hat die Bundesanwaltschaft in Bayern Wohnungen mutmaßlicher chinesischer Agenten durchsucht. Sie sollen die uigurische Gemeinde in München ausgespäht haben. Aktivitäten chinesischer Nachrichtendienste gegen in Deutschland lebende Uiguren waren nicht nur auf den Sitz des WUC in München beschränkt. Auch in BadenWürttemberg wurden Hinweise auf ein bundesweit agierendes Netz chinesischer Agenten zur Aufklärung uigurischer Strukturen gefunden. Die von China ausgehende nachrichtendienstliche Aufklärung von Gruppierungen der sogenannten "Fünf Gifte" richtet sich auch gegen die spirituelle Bewegung "Falun Gong". Die chinesische Staatsführung sieht durch dieses Massenphänomen die Stabilität des Landes bedroht. Durch das Verbot der Organisation in China und die danach als Gegenreaktion einsetzende weltweite Verbreitung von Publikationsmitteln, in denen die chinesische Unterdrückungspolitik angeprangert sowie auf erhebliche Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht wird, stieg das nachrichtendienstliche Interesse an der Falun-Gong-Bewegung - vor allem im Ausland - erheblich an. In den besonderen Blickpunkt der nachrichtendienstlichen Aufklärung sind Funktionäre überregionaler Gruppierungen geraten, über deren Kontakte und Insiderkenntnisse man sich Hinweise auf einzelne Falun-GongMitglieder und die regionalen Mitgliederstrukturen erhofft. 482 Die Bezeichnung "Fünf Gifte" wird in China für die Tibetbewegung, Demokratiebestrebungen, uigurische Separatisten, Falun-Gong-Strukturen und die Sezession Taiwans verwendet. 305 2.2 Russische Föderation In der international wieder zunehmend selbstbewusst auftretenden Russischen Föderation verfügen die zahlenmäßig sehr starken Nachrichtenund Sicherheitsdienste über einen erheblichen politischen Rückhalt. Für Russland ist es in Zeiten weltweiter ökonomischer und politischer Krisen noch wichtiger als in den Vorjahren, vertrauliche Informationen aus Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch aus Politik und Militärwesen zu erlangen. Dabei halten die immer besser werdenden Beziehungen zu den EUund NATO-Staaten die russische Seite keineswegs davon ab, ihre Nachrichtendienste konsequent zur illegalen Beschaffung vertraulicher Informationen einzusetzen. n Im Frühjahr 2009 wurde Herman Simm, ein ehemals hochrangiger Mitarbeiter des estnischen Verteidigungsministeriums, vom Landgericht Harju/Estland zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten sowie zu einer Geldstrafe in Höhe von 1,3 Millionen Euro verurteilt. Simm hatte schon zu Zeiten des Kalten Krieges jahrzehntelang für einen sowjetischen Nachrichtendienst gearbeitet und war nach einer vorübergehenden Ruhephase 1996 - unter anderem mit der Drohung, seine frühere Agententätigkeit zu offenbaren - vom russischen SWR483 reaktiviert worden. Bis zu seiner Verhaftung im September 2008 wurde er nach klassischem Muster - zum Teil aus der russischen Legalresidentur484 in Estland heraus, partiell auch von der Zentrale in Moskau - durch Agententreffs in Drittländern sowie über Agentenfunk-Verbindungen und "Tote Briefkästen" geführt. Während seiner Agententätigkeit soll er seine Auftraggeber mit rund 3.000 geheimen Unterlagen aus dem estnischen Verteidigungsministerium und vertraulichen Informationen aus der NATO versorgt haben. 2.2.1 Personelle und materielle Aufwertung der Geheimdienste Die russische Regierung rüstete ihre Geheimdienste in den letzten Jahren personell und materiell auf, damit diese in der Lage sind, ihren gesetzlichen Auftrag zur Beschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Daten optimal zu erfüllen. Insbesondere die Auslandsaufklärungsdienste SWR und GRU485 sollen dem steigenden Informationsbedürfnis der russischen Admi483 "Slushba Wneschnej Raswedkij" ("Dienst für Ermittlungen im Ausland"). 484 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet. 306 485 "Glawnoje Raswesywatelnoje Uprawlenije" ("Hauptverwaltung für Aufklärung" beim Generalstab der Streitkräfte). S P IO N A G E A B W E HR nistration Rechnung tragen. Aber auch der primär für die Innere Sicherheit zuständige Inlandsnachrichtendienst FSB486 betreibt mitunter externe Aufklärung, indem er fremde Staatsbürger bei Aufenthalten in Russland anwirbt, um von ihnen sensible Informationen zu erlangen. In den letzten Jahren waren Geschäftsreisende aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Ländern wiederholt solchen Anwerbeversuchen ausgesetzt. Dabei schreckt der FSB selbst gegenüber ausländischen Diplomaten nicht vor erpresserischen Methoden wie etwa der sogenannten "Liebesfalle" zurück. So mussten im Sommer 2009 Amerikaner und Briten ähnliche Erfahrungen machen wie schon einige Jahre zuvor Mitarbeiter deutscher konsularischer beziehungsweise diplomatischer Vertretungen, als man sie mit "verfänglichem" Fotomaterial zur nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit zu zwingen versuchte. Sie widerstanden jedoch dem auf sie ausgeübten Druck des russischen Geheimdienstes. 2.2.2 Legalresidenturen als Operationsbasis Auch die eigenen diplomatischen Vertretungen spielen bei den Aktivitäten von GRU und SWR in Deutschland eine wichtige Rolle. Die Legalresidenturen in den Botschaften und Konsulaten oder in anderen staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen der Russischen Föderation bieten eine ideale Operationsbasis für die Beschaffungsaktivitäten im Ausland. Neben dem allgemeinen Interesse an hochwertigen Produkten der deutschen Industrie spielt derzeit die Informationsgewinnung auf dem Energiesektor eine herausragende Rolle. Im Fokus stehen die Technologien zur Energieerzeugung aus regenerativen Quellen. Für die Russische Föderation als einen der weltweit größten Erdgaslieferanten sind die strategischen Planungen der deutschen Politik und Wirtschaft auf dem Energiesektor von besonderer Bedeutung. 2.2.3 Offene Gesprächsabschöpfung als Spionagemethode Einen methodischen Schwerpunkt der russischen Auslandsspionage bildet die sogenannte offene Gesprächsabschöpfung. Im Rahmen vielfältiger Verbindungen zu deutschen Hochschulen und Unternehmen, etwa durch Beteiligungen und Kooperationen, bei Messebesuchen, Kongressen und ähnlichen Anlässen, werden zielgerichtet Beziehungen geknüpft. Insbesondere bei längerfristigen Kontakten kommt es dabei häufig zu einem unbewussten Know-how-Abfluss. Bei als interessant und entwicklungsfähig eingeschätzten Personen wird versucht, die zunächst noch unverfängliche Beziehung 486 "Federalnaja Slushba Besopasnosti" ("Föderaler Dienst für Sicherheit"). 307 nach und nach zu einer vertraulichen Verbindung auszubauen, die dann schließlich konspirative Verhaltensmuster annimmt. Ziel dieser Maßnahme ist die Abschottung gegenüber Dritten. Mit der Ausdehnung der Beschaffungsaufträge auf sensible Materialien sowie durch großzügige finanzielle Zuwendungen oder andere Aufmerksamkeiten für erledigte Aufträge verstrickt sich die Kontaktperson immer mehr in eine geheimdienstliche Tätigkeit. 2.3 Proliferation Staaten wie Iran, Nordkorea, Pakistan und Syrien rufen durch ihre militärischen Aufrüstungsbemühungen und speziell durch ihre Atomprogramme bei der internationalen Staatengemeinschaft großes Misstrauen hervor. Den entsprechenden Anstrengungen der genannten Länder kann nur im Wege eines engen Zusammenwirkens sämtlicher an der Proliferationsbekämpfung beteiligten Behörden und Stellen wirksam begegnet werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz pflegt deshalb gerade in diesem Aufgabenbereich eine intensive Kooperation mit den anderen deutschen Nachrichtendiensten, der Polizei sowie mit der Zollfahndung und dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. 2.3.1 Umgehung der Ausfuhrbestimmungen Um an das erforderliche Material und Know-how zur Optimierung ihrer ABCWaffenfähigkeit zu gelangen, müssen die genannten Risikostaaten 487 die hiesigen Ausfuhrbestimmungen umgehen. Dabei setzen sie zur Verschleierung von Empfänger und Verwendungszweck regelmäßig konspirative beziehungsweise geheimdienstliche Methoden ein. So werden unter anderem unauffällige Tarnfirmen geschaffen, welche vorspiegeln, die Waren lediglich für zivile Projekte importieren zu wollen. Geschäftsleute werden mit falschen Identitäten ausgestattet und Umgehungslieferungen über mehrere Länder organisiert. Wissenschaftler werden zu "Forschungsaufenthalten" an deutsche Hochschulen, Institute, wissenschaftliche Einrichtungen oder Entwicklungsund Schulungsabteilungen von Unternehmen entsandt. Für diesen Wissenstransfer ist Baden-Württemberg ein begehrtes Zielland. In der letzten Zeit waren unter anderem folgende Forschungsthemen von besonderem Interesse: experimentelle Atomphysik, Nachrichtentechnik, Molekularbiologie, Lasertechnik, Materialwissenschaften, Verbrennungstechnik, Nanotechnologie, Steuerungstechnik und Mikroelektronik. 487 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen in einem bewaffneten 308 Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. S P IO N A G E A B W E HR In Staaten mit einer starken Exportkontrolle versuchen die mit Handelsbeschränkungen belegten Länder meist, Dual-Use-Güter488 zu beschaffen. So können beispielsweise spezielle Hochgeschwindigkeitskameras auch zur detaillierten Auswertung komplizierter Explosionsverläufe verwendet werden, um die Zerstörungskraft von Bomben zu optimieren. Weitere Beispiele sind Sensortechnik, spezielle Ventile und Öle, Metalllegierungen und Vakuumtechnik aus der zivilen Industrie, die auch in der Kernwaffenentwicklung eingesetzt werden können. 2.3.2 Islamische Republik Iran Die Islamische Republik Iran ist auf dem Gebiet der Proliferation der nach wie vor aktivste Staat. Das Land beunruhigte die Weltöffentlichkeit auch im Jahr 2009 mit der Durchführung weiterer Raketentests. Mit der aktuellen Entwicklungsstufe der Mittelstreckenrakete "Shahab 3" verfügt der Iran über ein Trägersystem, das Reichweiten von 2.000 Kilometer ermöglicht und damit auch NATO-Territorium bedroht. Den Ausbau seiner Atomanlagen treibt der Iran ebenfalls mit großem Aufwand voran. Neben den bisherigen Atomanlagen in Natanz, Busher und Arak wurde die Existenz einer zweiten Urananreicherungsanlage nahe der Stadt Ghom bekannt. Allerdings ist der Iran bei seiner ABC-Waffen-Entwicklung noch immer auf den Erwerb wichtiger Komponenten aus dem Ausland angewiesen. 2.3.3 Arabische Republik Syrien Ähnlich ist die Situation in der Arabischen Republik Syrien. Anfang des Jahres 2009 legte die Internationale Atomenergiebehörde IAEA489 einen Bericht vor, nach dem auf dem Gelände einer 2007 von der israelischen Luftwaffe zerstörten Forschungsanlage nahe der Stadt Al Kibar Spuren von angereichertem Uran und Grafit gefunden wurden. Damit verdichteten sich die Anhaltspunkte für die Existenz eines Atomprogramms, auch wenn die syrische Führung jegliche Stellungnahme hierzu vermeidet. Schon seit Jahren gibt es Hinweise auf ein militärisches Raketenprogramm Syriens, das intensiv weiterentwickelt wird. n Ein Großhändler aus Nordwürttemberg belieferte seinen spanischen Kunden mit mehreren Tonnen spezieller Metallbauteile. Die Tatsache, dass diese nicht in Spanien verbleiben, sondern nach Syrien weiterex488 Als "Güter mit doppeltem Verwendungszweck" werden Güter einschließlich Datenverarbeitungsprogrammen und Technologien bezeichnet, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke verwendet werden können. 489 "International Atomic Energy Agency" ("Internationale Atomenergiebehörde") mit Sitz in Wien. 309 portiert werden sollten, war gegenüber dem deutschen Lieferanten verheimlicht worden. Die Metallteile, die aufgrund ihrer Beschaffenheit für eine Verwendung im syrischen Raketenprogramm geeignet gewesen wären, waren unmittelbar nach ihrer Ankunft in Spanien für den Weitertransport an eine Firma in Syrien vorbereitet worden. Die versandfertige Ware konnte jedoch rechtzeitig in einem spanischen Hafen beschlagnahmt werden, die Verantwortlichen des spanischen Zwischenhändlers wurden festgenommen. 2.3.4 Demokratische Volksrepublik Korea Besorgniserregend ist weiterhin die gegenwärtige Entwicklung in der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea). Sie hat im Jahr 2009 mit einem erneuten unterirdischen Atomwaffenversuch und Testflügen ihrer Langstreckenrakete "Taepodong 2" mit einer Reichweite von 6.000 Kilometer international für Schlagzeilen gesorgt. Die Situation ist insofern besonders beunruhigend, als Nordkorea angesichts der Nachfolgediskussion um den schwer kranken Staatsführer Kim Jong-il auch innenpolitisch nicht stabil erscheint. 3. Elektronische Spionageangriffe Attacken auf Informationsund Kommunikationssysteme sind eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für Wirtschaftsunternehmen, Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Behörden und militärische Einrichtungen. Die Chance, in der EDV etwa von Firmen und Behörden auf eine Vielzahl von Betriebsgeheimnissen oder andere sensible Informationen zu stoßen, die aufbereitet und teilweise ohne ausreichenden Schutz gespeichert sind, ist für Datenmissbrauch betreibende Personen verlockend. Musste sich ein Spion früher mühsam Zugang zu den interessanten Informationen beschaffen, so "surft" er heute mitten in das gewünschte Zielobjekt hinein. Fatalerweise bemerkt der Ausgespähte bei fast allen Formen der elektronischen Spionage in der Regel nicht, dass ihm Informationen entwendet worden sind. 3.1 Trojanerangriffe auf baden-württembergische Unternehmen Als Paradebeispiel können die Trojanerangriffe490 auf Ziele in Deutschland und anderen westlichen Staaten mit mutmaßlichem Ursprung in China ge490 Als Trojaner bezeichnet man in der Computersprache Programme, die sich als nützlich tar310 nen, aber in Wirklichkeit Malware (Schadsoftware) einschleusen und im Verborgenen unerwünschte Aktionen ausführen. S P IO N A G E A B W E HR nannt werden. Auch baden-württembergische Unternehmen und deren Niederlassungen im Ausland waren im Berichtsjahr betroffen. Mit gefälschten Mail-Absenderadressen, die tatsächlich existente, vertrauenswürdige Urheber vortäuschten, wurden gezielt ausgewählte Firmenangehörige per E- Mails mit trojanisierten Anhängen angeschrieben. Durch interessant erscheinende Mail-Betreffs, die teilweise auf die jeweiligen Zielpersonen regelrecht zugeschnitten zu sein schienen, sollte der Empfänger zum Öffnen des Anhangs verleitet werden. Dabei wird der Trojaner in einem lokalen Verzeichnis des Zielrechners abgelegt. Nach erfolgreicher Installation nimmt der infizierte Rechner mit einem vordefinierten Zielserver Kontakt auf, um dann gegebenenfalls weitere Schadsoftware nachladen oder zusätzliche Befehle empfangen zu können. Diesem Angriffsszenario gehen zum Teil umfangreiche Aufklärungsmaßnahmen voraus, um die Angriffs-E-Mail so zu gestalten, dass sie für potenzielle Zielpersonen interessant und wichtig genug erscheint, sie bedenkenlos anzunehmen und zu öffnen. Möglicherweise spielen dabei auch arglos preisgegebene persönliche Daten (beispielsweise Tätigkeitsbereich, Name, Zuständigkeiten, Erreichbarkeit) auf Visitenkarten und Internetseiten eine Rolle. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schadsoftware nicht nur für Spionage-, sondern auch für Sabotagezwecke geeignet sein dürfte, kann eine grundsätzliche Gefahr für sogenannte kritische Infrastrukturen nicht ausgeschlossen werden. Geschickt platzierte Schadprogramme und Hackerangriffe könnten beispielsweise Stromausfälle herbeiführen, den Flugverkehr nachteilig beeinflussen, das Gesundheitssystem gefährden sowie den Finanzhandel und Warenverkehr behindern. Von den dargestellten Trojanerattacken zu unterscheiden sind die im Frühjahr 2009 in den Medien bekannt gewordenen Angriffe auf Computer des Dalai Lama. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter hatte Hinweise auf umfassende Abhöraktionen gegen seine Person erhalten und beauftragte kanadische Sicherheitsexperten mit der "Wanzensuche". Diese stellten an den Rechnern des Dalai Lama auf Trojaner zurückzuführende Manipulationen fest, die es ermöglichten, angeschlossene Kameras und Mikrofone fremdgesteuert zur vollständigen Raumüberwachung missbräuchlich einzuschalten. Bei ihren Untersuchungen stießen sie auf ein weltumspannendes digitales Netzwerk "gehackter" Computer, das sie als "GhostNet" bezeichneten und in das fast 1.300 Rechner in über 100 Staaten eingebunden waren. Darunter befanden sich unter anderem Außenministerien, Hilfsorganisationen, Botschaften und internationale Institutionen, zum Beispiel die 311 NATO. In der Bundesrepublik Deutschland waren Botschaften befreundeter Staaten betroffen. Als Ausgangspunkt der Angriffe wurden überwiegend in der Volksrepublik China betriebene Computer ermittelt. Eine Verwicklung der chinesischen Regierung konnte nicht nachgewiesen werden. 3.2 Mögliche Schutzmaßnahmen Es ist von einer hohen Dunkelziffer weiterer elektronischer Attacken auszugehen, die - im Sinne des Angreifers - erfolgreich verlaufen sind. Dies zuletzt auch deshalb, weil kein absolut verlässliches Patentrezept zum Schutz gegen derartige Aktivitäten existiert. Es gibt jedoch einige elementare Möglichkeiten zur Verbesserung des IT-Schutzes. So sollten E-Mails unklarer Herkunft zunächst auf die Plausibilität des Kontakts geprüft und im Zweifelsfall nicht geöffnet werden. Auf technischem Gebiet kommen neben der Absicherung an zentraler Stelle (zum Beispiel E-Mail-Gateway) auch dezentrale Schutzmaßnahmen (auf den Clients) in Betracht, so beispielsweise der Verzicht auf die standardmäßige Etablierung von Administrationsrechten (verhindert unter Umständen die Installation von Schadprogrammen), die Einrichtung von Whitelists491 für startbare Programme sowie die Installation einer Desktop-Zweiwege-Firewall. Die umfassendste IT-Sicherheitsmaßnahme wäre eine Trennung von Netzen in einen internen und einen öffentlich zugänglichen Bereich durch Segmentierung oder besser noch im Wege der physikalischen Separation. Als Faustformel gilt: "Je kleiner ein Netzsegment, desto besser der Schutz!" 4. Prävention Im Jahr 2009 leistete das Landesamt für Verfassungsschutz erneut vielfältige Aufklärungsarbeit, um zu verhindern, dass baden-württembergische Firmen sowie Forschungsund Wissenschaftseinrichtungen in den Strudel der Spionage geraten und das dort vorhandene Wissen ungewollt abfließt. Bei dieser Sensibilisierungsarbeit konnte deutlich gemacht werden, dass Gefahren für Unternehmen oder Forschungseinrichtungen nicht nur durch extremistische und terroristische Bestrebungen drohen. Baden-Württemberg steht als wichtiger Standort für Spitzentechnologie und Forschung nach wie vor im Fokus ausländischer Ausspähung. 312 491 Weiße Liste beziehungsweise Positivliste zur Erfassung vertrauenswürdiger Elemente. S P IO N A G E A B W E HR Auch auf Bundesebene genießt die vorbeugende Bekämpfung der Wirtschaftsspionage besondere Bedeutung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich bereits im Jahr 2008 im Bereich Wirtschaftsschutz maßgeblich verstärkt und dadurch der Prävention auf diesem Sektor einen deutlichen Schub verliehen. Von den Aktivitäten der Bundesbehörde, etwa dem regelmäßigen Erfahrungsund Informationsaustausch im Ressortkreis Wirtschaftsschutz mit Bundesministerien, Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt unter Einbeziehung der Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit der Wirtschaft e.V., gehen auch für die Verfassungsschutzbehörden der Länder wichtige Impulse aus. Im Jahr 2009 wurden im Bereich der Wirtschaft circa 160 Beratungsgespräche geführt und zusätzlich rund 40 Vorträge durch das Landesamt für Verfassungsschutz gehalten. Allein durch die Vortragsveranstaltungen konnten über 1.000 Personen - vom einfachen Mitarbeiter bis zum Vorstandsmitglied - erreicht und sensibilisiert werden. Die Spionageabwehr präsentierte sich 2009 mit ihren Präventionskonzepten auf drei hochkarätigen Messen. Im März nutzten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Bereichs Wirtschaftsschutz die eltefa (Fachmesse für Elektrotechnik und Elektronik) in Stuttgart, im September die SAFEKON (Fachmesse für Zutrittskontrolle, Gebäudesicherung und Informationsschutz) in Karlsruhe und im Oktober - wieder in Stuttgart auf der Neuen Messe - die IT & Business (Fachmesse für Software, Infrastruktur & IT-SerMessestand des LfV BW auf der SAFEKON 313 vice) als Plattform, um das weit gefächerte Aufgabenund Kompetenzspektrum des Landesamts für Verfassungsschutz einem breiten und interessierten Publikum nahezubringen. Bei der IT & Business war aufgrund länderübergreifender Zusammenarbeit auch eine Vertreterin des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz beteiligt. Für die Komplexe Wirtschaftsspionage und Know-how-Schutz sowie die aufgezeigten Methoden, wie Nachrichtendienste Gespräche in Büros und Konferenzräumen unerlaubt mithören können, zeigten die Messebesucher großes Interesse. Es ergaben sich vielfältige Kontakte zu Unternehmen, mit denen weitere Termine für intensivere Beratungen vereinbart werden konnten. Die Messeauftritte des Landesamts für Verfassungsschutz haben sich als ideale Gelegenheiten erwiesen, die Bedrohung durch fremde Nachrichtendienste aufzuzeigen. Bei der Präventionsarbeit wurde immer wieder offenkundig, dass in den Unternehmen dem sogenannten Innentäter wenig Beachtung geschenkt wird (vergleiche zur Problematik der Innentäter die im nächsten Abschnitt aufgeführte "SiFo-Studie 2009/2010"). Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Rezession und angesichts drohender Entlassungen könnte es bei Mitarbeitern zu Loyalitätseinbußen kommen, die die Gefahr des Verrats von Know-how des Arbeitgebers befördern. Auch mit Zugriffsberechtigungen auf Netzwerke und der Nutzung mobiler Datenendgeräte wird teilweise viel zu leichtfertig umgegangen. Daher empfiehlt das Landesamt für Verfassungsschutz, sich nicht nur gegen Angriffe von außen, sondern auch von innen zu rüsten und eine umfassende Sicherheitsstrategie zu entwickeln, die firmenweit implementiert wird und alle erdenklichen Gefahren berücksichtigt. 5. Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen 5.1 Präventionsangebot Für das Sicherheitsforum Baden-Württemberg, das sich die Verbesserung des Know-how-Schutzes bei kleineren und mittleren Unternehmen zur Aufgabe gemacht hat, ist das Landesamt für Verfassungsschutz auf dem Gebiet der Prävention ein wichtiger Kooperationspartner. Sichtbarer Ausdruck der engen Zusammenarbeit waren im Jahr 2009 beispielsweise gemeinsame Messeauftritte, bei denen kompetente Ansprechpartner beider Institutionen interessierten Firmenvertretern und einem breiten Fachpublikum Rede und Antwort standen. 314 S P IO N A G E A B W E HR Verleihung des Sicherheitspreises 2009 Im Jahr 2009 veranstaltete das Forum innerhalb des Kongressprogramms der Messe eltefa einen Sicherheitstag, bei dem sich die Besucher rund um das Thema "Sicherheit als Beitrag für die Wertschöpfung" informieren konnten. Im Mittelpunkt standen Vorträge zu den Themen Wirtschaftskriminalität, Know-how-Schutz und Krisenmanagement. Außerdem wurde zum zweiten Mal der Sicherheitspreis Baden-Württemberg verliehen. Mit ihm werden herausragende Projekte zur praxisgerechten Konzeption, Realisierung und Kontrolle unternehmensinterner Schutzmaßnahmen ausgezeichnet. Dabei ist erneut deutlich geworden, dass gerade auf dem Sektor Sicherheit das Innovationspotenzial in Baden-Württemberg sehr hoch ist. Neuartige Produkte und überzeugende Konzepte entstehen nicht nur in den großen, sondern auch in mittelständischen Unternehmen. 5.2 SiFo-Studie 2009/2010 - Know-how-Schutz in Baden-Württemberg Bei Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung besteht nach wie vor eine sehr hohe Dunkelziffer. Der entstandene Schaden lässt sich nur außerordentlich schwer beziffern. Um den aktuellen Stand festzustellen, hat das Sicherheitsforum deshalb 2009 eine Studie zum Thema Wirtschaftsund Industriespionage in Auftrag gegeben. Die "SiFo-Studie 2009/10 - 315 Know-how-Schutz in Baden-Württemberg" wurde vom Ferdinand-SteinbeisInstitut in Stuttgart gemeinsam mit Experten der School of Governance, Risk & Compliance an der SteinbeisHochschule in Berlin erarbeitet. Mehr als 4.000 baden-württembergische Unternehmen aus den Branchen Verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe, Handel, Verkehr und Lagerei, Information und Kommunikation sowie freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleister wurden eingeladen, sich an der Online-Befragung zu beteiligen. 239 Unternehmen haben Angaben zum derzeitigen Know-how-Schutz sowie Einschätzungen zum Sicherheitsbewusstsein und zu erlittenen und potenziellen eigenen Schädigungen gemacht. Damit handelt es sich um eine der größten themenspezifischen empirischen Untersuchungen zum Sicherheitsrisiko in Unternehmen. Die Studie enthält neben der statistischen Auflistung einschlägiger Vorfälle auch eine deutlichere Definition der realistischen Gefährdungslage sowie praxisbezogene Handlungsempfehlungen. Sie macht deutlich, dass geistiges Eigentum immer noch zu wenig Schutz genießt und dadurch erhebliche Schäden entstehen. Bezogen auf Spionagehandlungen und das Ausspähen von Geschäftsund Betriebsgeheimnissen ist fast jedes dritte Unternehmen schon Opfer geworden. Der besonders wichtige Forschungsund Entwicklungsbereich ist vielfach unzureichend abgesichert. Über 70 Prozent der Täter kommen aus den Reihen des geschädigten Unternehmens selbst. Die vollständige Studie und die aus den Ergebnissen abgeleiteten Handlungsempfehlungen sind im Internet unter http://www.sicherheitsforumbw.de/sicherh_studie/studie_2009.htm abrufbar. 316 S P IO N A G E A B W E HR 6. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr Die Spionageabwehr ist zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ganz entscheidend auf Hinweise aus der Öffentlichkeit angewiesen. Häufig ermöglichen erst Informationen von unmittelbar betroffenen Personen, Unternehmen oder anderen Stellen Ermittlungen zur Klärung eines Spionageverdachts. Viele Betroffene unterschätzen die Tragweite des Falles oder fürchten Imageverluste und verzichten deshalb auf eine Kontaktierung der für die Spionageabwehr zuständigen Abteilung des Landesamts für Verfassungsschutz. Damit verhindern sie aber auch, dass ihre Erfahrungen Dritten zugute kommen können. Eine Kontaktaufnahme zur Spionageabwehr ist jederzeit - auch vertraulich - möglich. Die Kontaktdaten entnehmen Sie bitte Kap. A Ziffer 7 dieses Berichts. 317 Gesetz über den (1) Das Landesamt für VerfassungsVerfassungsschutz schutz hat die Aufgabe, Gefahren für die in Baden-Württemberg freiheitliche demokratische Grundordnung, (Landesverfassungsschutzden Bestand und die Sicherheit der gesetz - LVSG) Bundesrepublik Deutschland und ihrer vom 5. Dezember 2005 Länder frühzeitig zu erkennen und den zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese Gefahren abzuwehren. SS 1 Zweck des Verfassungsschutzes (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt das Landesamt für Verfassungsschutz Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der Informationen, insbesondere sachund freiheitlichen demokratischen Grundordnung, personenbezogene Auskünfte, Nachrichdes Bestandes und der Sicherheit der ten und Unterlagen von Organisationen Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. und Personen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliSS 2 che demokratische Grundordnung, den BeOrganisation, Zuständigkeit stand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine (1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben des ungesetzliche Beeinträchtigung der AmtsVerfassungsschutzes unterhält das Land führung der Verfassungsorgane des Bunein Landesamt für Verfassungsschutz. Das des oder eines Landes oder ihrer MitglieAmt hat seinen Sitz in Stuttgart und unterder zum Ziele haben, steht dem Innenministerium. 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich (2) Verfassungsschutzbehörden anderer des Grundgesetzes für eine fremde Macht, Länder dürfen im Geltungsbereich dieses 3. Bestrebungen im Geltungsbereich Gesetzes nur im Einvernehmen mit dem des Grundgesetzes, die durch die AnwenLandesamt für Verfassungsschutz tätig dung von Gewalt oder darauf gerichtete werden. Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland (3) Das Landesamt für Verfassungsgefährden, schutz darf einer Polizeidienststelle nicht 4. Bestrebungen im Geltungsbereich angegliedert werden. dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 SS 3 des Grundgesetzes), insbesondere gegen Aufgaben des Landesamtes für Verfasdas friedliche Zusammenleben der Völker sungsschutz, Voraussetzungen für die (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), Mitwirkung an Überprüfungsverfahren gerichtet sind, 318 ANHANG und wertet sie aus. Sammlung und Aus6. bei der sicherheitsmäßigen Überprüwertung von Informationen nach Satz 1 fung von Ausländern im Rahmen der setzen im Einzelfall voraus, dass für BeBestimmungen des Ausländerrechts, strebungen oder Tätigkeiten nach Satz 1 7. bei der Überprüfung der Zuverlässigtatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. keit von Personen nach dem Waffen-, Sprengstoffund Jagdrecht, (3) Das Landesamt für Verfassungs8. bei der Überprüfung der Zuverlässigschutz wirkt mit keit von Personen nach SS 12 b des Atom1. bei der Sicherheitsüberprüfung von gesetzes, Personen, denen im öffentlichen Interesse 9. bei der sicherheitsmäßigen Überprügeheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gefung von Personen, die zu sicherheitsempgenstände oder Erkenntnisse anvertraut findlichen Bereichen von Flughäfen Zutritt werden, die Zugang dazu erhalten sollen haben, nach SS 29 c des Luftverkehrsgesetoder ihn sich verschaffen können, zes, 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von 10. bei sonstigen Überprüfungen, soweit Personen, die an sicherheitsempfindlichen dies im Einzelfall zum Schutz der freiheitStellen von lebensoder verteidigungslichen demokratischen Grundordnung oder wichtigen Einrichtungen beschäftigt sind für Zwecke der öffentlichen Sicherheit oder werden sollen, erforderlich ist. Näheres wird durch Verwal3. bei technischen oder organisatoritungsvorschrift des Innenministeriums schen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutbestimmt. ze von im öffentlichen Interesse geheimDie Mitwirkung des Landesamtes für Verhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenfassungsschutz nach Satz 1 erfolgt in der ständen oder Erkenntnissen gegen die Weise, dass es eigenes Wissen oder beKenntnisnahme durch Unbefugte sowie bei reits vorhandenes Wissen der für die ÜberMaßnahmen des vorbeugenden Sabotageprüfung zuständigen Behörde oder sonstischutzes, ger öffentlicher Stellen auswertet. In den 4. auf Anforderungen der EinstellungsFällen des Satzes 1 Nummern 1 und 2 führt behörde bei der Überprüfung von Persodas Landesamt für Verfassungsschutz nen, die sich um Einstellung in den öffentweitergehende Ermittlungen durch, wenn lichen Dienst bewerben, sowie auf Anfordie für die Überprüfung zuständige Behörderung der Beschäftigungsbehörde bei der de dies beantragt. Überprüfung von Beschäftigten im öffentlichen Dienst, bei denen der auf Tatsachen (4) Die Mitwirkung des Landesamtes für beruhende Verdacht besteht, dass sie Verfassungsschutz nach Absatz 3 setzt im gegen die Pflicht zur Verfassungstreue verEinzelfall voraus, dass der Betroffene und stoßen, andere in die Überprüfung einbezogene 5. bei der sicherheitsmäßigen ÜberprüPersonen über Zweck und Verfahren der fung von Einbürgerungsbewerbern, Überprüfung einschließlich der Verarbei319 tung der erhobenen Daten durch die beteinannten Verfassungsgrundsätze zu beseiligten Dienststellen unterrichtet werden. tigen oder außer Geltung zu setzen. Darüber hinaus ist im Falle der EinbezieFür einen Personenzusammenschluss Hanhung anderer Personen in die Überprüfung delt, wer ihn in seinen Bestrebungen aktiv deren Einwilligung und im Falle weitergesowie zielund zweckgerichtet unterstützt. hender Ermittlungen nach Absatz 3 Satz 3 Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die die Einwilligung des Betroffenen erfordernicht in einem oder für einen Personenzulich. Die Sätze 1 und 2 gelten nur, soweit sammenschluss handeln, sind Bestrebungesetzlich nichts anderes bestimmt ist. gen im Sinne dieses Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind SS 4 oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeigBegriffsbestimmungen net sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen. (1) Im Sinne des Gesetzes sind (2) Zur freiheitlichen demokratischen 1. Bestrebungen gegen den Bestand Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes des Bundes oder eines Landes solche polizählen: tisch bestimmten, zielund zweckgerichte1. das Recht des Volkes, die Staatsgeten Verhaltensweisen in einem oder für walt in Wahlen und Abstimmungen und einen Personenzusammenschluss, der dadurch besondere Organe der Gesetzgerauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundes bung, der vollziehenden Gewalt und der oder eines Landes von fremder Herrschaft Rechtsprechung auszuüben und die Volksaufzuheben, ihre staatliche Einheit zu bevertretung in allgemeiner unmittelbarer, seitigen oder ein zu ihm gehörendes Gefreier, gleicher und geheimer Wahl zu wähbiet abzutrennen; len, 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit 2. die Bindung der Gesetzgebung an die des Bundes oder eines Landes solche poverfassungsmäßige Ordnung und die Binlitisch bestimmten, zielund zweckgerichdung der vollziehenden Gewalt und der teten Verhaltensweisen in einem oder für Rechtsprechung an Gesetz und Recht, einen Personenzusammenschluss, der da3. das Recht auf Bildung und Ausübung rauf gerichtet ist, den Bund, Ländern oder einer parlamentarischen Opposition, deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfä4. die Ablösbarkeit der Regierung und higkeit erheblich zu beeinträchtigen; ihre Verantwortlichkeit gegenüber der 3. Bestrebungen gegen die freiheitliche Volksvertretung, demokratische Grundordnung solche poli5. die Unabhängigkeit der Gerichte, tisch bestimmten, zielund zweckgerichte6. der Ausschluss jeder Gewaltund ten Verhaltensweisen in einem oder für Willkürherrschaft und einen Personenzusammenschluss, der da7. die im Grundgesetz konkretisierten rauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 geMenschenrechte. 320 ANHANG SS 5 schutz diejenige zu wählen, die den BeBefugnisse des troffenen voraussichtlich am wenigsten Landesamtes für Verfassungsschutz beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar (1) Das Landesamt für Verfassungsaußer Verhältnis zu dem beabsichtigten schutz kann die zur Erfüllung seiner AufgaErfolg steht. ben nach SS 3 erforderlichen Informationen verarbeiten. Soweit dieses Gesetz keine SS 5a Regelungen trifft, richtet sich die VerarbeiEinholen von Auskünften tung personenbezogener Daten nach den bei nicht-öffentlichen Stellen Vorschriften des Landesdatenschutzgesetzes mit Ausnahme der SSSS 8 und 13 Abs. 2 (1) Wenn es zur Erfüllung seiner Aufgabis 4 sowie SSSS 14 bis 24 des Landesdatenben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 erforschutzgesetzes. derlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für schwerwiegende Gefahren für die dort (2) Werden personenbezogene Daten genannten Schutzgüter vorliegen, darf das beim Betroffenen mit seiner Kenntnis erLandesamt für Verfassungsschutz im Einhoben, so ist der Erhebungszweck anzugezelfall unentgeltlich Auskünfte zu ben. Der Betroffene ist auf die Freiwilligkeit 1. Konten, Konteninhabern und sonsseiner Angaben und bei einer Sicherheitstigen Berechtigten sowie weiteren am Zahüberprüfung nach SS 3 Abs. 3 auf eine lungsverkehr Beteiligten und zu Geldbewedienst-, arbeitsrechtliche oder sonstige vergungen und Geldanlagen bei Kreditinstitutragliche Mitwirkungspflicht hinzuweisen. ten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, (3) Polizeiliche Befugnisse oder Wei2. Namen, Anschriften und zur Inansungsbefugnisse stehen dem Landesamt spruchnahme von Transportleistungen und für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die sonstigen Umständen des Luftverkehrs bei Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe Luftfahrtunternehmen einholen. um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist. Abweichend hiervon (2) Das Landesamt für Verfassungsist es jedoch berechtigt, die Polizei in eilbeschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seidürftigen Fällen außerhalb der regulären ner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Dienstzeiten des Kraftfahrtbundesamtes bis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 um eine Abfrage aus dem FahrzeugregisAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes vom ter beim Kraftfahrtbundesamt im automati26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, ber. sierten Verfahren zu ersuchen. S. 2298) bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen (4) Von mehreren geeigneten Maßnaherbringen, sowie bei denjenigen, die an der men hat das Landesamt für VerfassungsErbringung dieser Dienstleistungen mitwir321 ken, unentgeltlich Auskünfte zu Namen, begründen. Über den Antrag entscheidet Anschriften, Postfächern und sonstigen das Innenministerium. Umständen des Postverkehrs einholen. 5) Das Innenministerium unterrichtet die (3) Das Landesamt für VerfassungsKommission nach SS 2 Abs. 2 des Ausfühschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seirungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über ner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 die beschiedenen Anträge vor deren Vollzug. bis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 Bei Gefahr in Verzug kann das InnenminisAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei denjeniterium den Vollzug der Entscheidung auch gen, die geschäftsmäßig Telekommunikabereits vor der Unterrichtung der Kommistionsdienste und Teledienste erbringen sion anordnen; in diesem Fall ist die Kooder daran mitwirken, unentgeltlich Ausmmission unverzüglich zu unterrichten. Die künfte über TelekommunikationsverbinKommission prüft von Amts wegen oder aufdungsdaten und Teledienstenutzungsdaten grund von Beschwerden die Zulässigkeit einholen. Die Auskunft kann auch in Bezug und Notwendigkeit der Einholung von Ausauf zukünftige Telekommunikation und künften nach den Absätzen 1 bis 3. SS 15 Abs. zukünftige Nutzung von Telediensten ver- 5 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgalangt werden. Telekommunikationsverbinbe entsprechend anzuwenden, dass die dungsdaten und Teledienstenutzungsdaten Kontrollbefugnis der Kommission sich auf sind: die gesamte Erhebung, Verarbeitung und 1. Berechtigungskennungen, KartenNutzung der nach den Absätzen 1 bis 3 ernummern, Standortkennungen sowie Ruflangten Informationen und personenbezogenummer oder Kennung des anrufenden nen Daten erstreckt. Entscheidungen über und angerufenen Anschlusses oder der Auskünfte, die die Kommission für unzuläsEndeinrichtung, sig oder nicht notwendig erklärt, hat das 2. Beginn und Ende der Verbindung Innenministerium unverzüglich aufzuheben. nach Datum und Uhrzeit, 3. Angaben über die Art der vom Kunden (6) Für die Verarbeitung der nach den Abin Anspruch genommenen Telekommunikasätzen 1 bis 3 erhobenen Daten ist SS 4 des tionsund Teledienst-Dienstleistungen, Artikel 10-Gesetzes entsprechend anzu4. Endpunkte festgeschalteter Verbinwenden. dungen, ihr Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. (7) Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten dürfen dem Betroffenen (4) Auskünfte nach den Absätzen 1 bis 3 oder Dritten vom Auskunftsgeber nicht mitdürfen nur auf Antrag eingeholt werden. geteilt werden. Der Antrag ist durch den Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz oder sei(8) Für die Mitteilung an den Betroffenen nen Vertreter schriftlich zu stellen und zu findet SS 12 Abs. 1 und 3 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. 322 ANHANG (9) Das Innenministerium unterrichtet im sonstige Informationen mit nachrichtenAbstand von höchstens sechs Monaten dienstlichen Mitteln erheben, wenn tatdas Gremium nach SS 2 Abs. 1 des Ausfühsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanden rungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über sind, dass die Durchführung von Maßnahmen nach 1. auf diese Weise Erkenntnisse über den Absätzen 1 bis 3. Dabei ist insbesonBestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 dere ein Überblick über Anlass, Umfang, Abs. 2 oder die zur Erforschung solcher Dauer, Ergebnis und Kosten der im BeErkenntnisse erforderlichen Quellen gerichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen wonnen werden können oder zu geben. 2. dies zur Abschirmung der Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Quellen (10) Das Innenministerium unterrichtet das des Landesamtes für Verfassungsschutz Parlamentarische Kontrollgremium des gegen sicherheitsgefährdende oder geBundes jährlich über die nach den Absätheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist. zen 1 bis 3 durchgeführten Maßnahmen. Absatz 9 Satz 2 gilt entsprechend. (3) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen SS 6 Mitteln nur dann heimlich mitgehört oder Erhebung personenbezogener Daten aufgezeichnet werden, wenn es im Einzelmit nachrichtendienstlichen Mitteln fall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen (1) Das Landesamt für VerfassungsLebensgefahr für einzelne Personen unerschutz kann Methoden, Gegenstände und lässlich ist und geeignete polizeiliche Hilfe Instrumente zur heimlichen Informationsfür das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeibeschaffung, wie den Einsatz von Vertrautig erlangt werden kann. Satz 1 gilt entensleuten und Gewährspersonen, Obsersprechend für den verdeckten Einsatz vationen, Bildund Tonaufzeichnungen, technischer Mittel zur Anfertigung von BildTarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenaufnahmen und Bildaufzeichnungen in den (nachrichtendienstliche Mittel). Diese Wohnungen. Maßnahmen nach Satz 1 und sind in einer Dienstvorschrift zu benennen, 2 bedürfen der Anordnung durch das Amtsdie auch die Zuständigkeit für die Anordgericht, in dessen Bezirk sie durchgeführt nung solcher Informationsbeschaffung werden sollen. regelt. Die Dienstvorschrift bedarf der ZuSS 31 Abs. 5 Satz 2 bis 4 des Polizeigesetstimmung des Innenministeriums, das den zes sind entsprechend anzuwenden. Bei Ständigen Ausschuss des Landtags unterGefahr im Verzug können die Maßnahmen richtet. nach Satz 1 und 2 vom Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz angeordnet (2) Das Landesamt für Verfassungswerden; diese Anordnung bedarf der Beschutz kann personenbezogene Daten und stätigung durch das Amtsgericht. Sie ist 323 unverzüglich herbeizuführen. Einer Anordungsmaßnahme aussichtslos oder wesentnung durch das Amtsgericht bedarf es lich erschwert wäre. Für die Verarbeitung nicht, wenn technische Mittel ausschließder Daten gilt SS 4 des Artikel 10-Gesetzes lich zum Schutz der bei einem Einsatz in entsprechend. Personenbezogene Daten Wohnungen tätigen Personen vorgesehen eines Dritten dürfen anlässlich solcher sind; die Maßnahme ist in diesem Fall Maßnahmen nur erhoben werden, wenn durch den Leiter des Landesamtes für Verdies aus technischen Gründen zur Erreifassungsschutz anzuordnen. Eine anderchung des Zwecks nach Satz 1 unvermeidweitige Verwertung der hierbei erlangten bar ist. Sie unterliegen einem absoluten Erkenntnisse zum Zweck der GefahrenabVerwertungsverbot und sind nach Beendiwehr ist nur zulässig, wenn zuvor die gung der Maßnahme unverzüglich zu Rechtmäßigkeit der Maßnahme durch das löschen. SS 5a Abs. 4 bis 9 gilt entspreAmtsgericht festgestellt worden ist; bei chend. Gefahr im Verzug ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Die (5) Die Erhebung nach den Vorschriften Landesregierung unterrichtet den Landtag der Absätze 2 bis 4 ist unzulässig, wenn jährlich über den nach diesem Absatz die Erforschung des Sachverhalts auf erfolgten Einsatz technischer Mittel. Die andere, den Betroffenen weniger beeinparlamentarische Kontrolle wird auf der trächtigende Weise möglich ist; eine gerinGrundlage dieses Berichtes durch das gere Beeinträchtigung ist in der Regel Gremium nach Artikel 10 des Grundgesetanzunehmen, wenn die Informationen zes ausgeübt. durch Auskunft nach SS 9 Abs. 3 gewonnen werden können. Die Anwendung des nach(4) Das Landesamt für Verfassungsrichtendienstlichen Mittels darf nicht schutz darf zur Erfüllung seiner Aufgaben erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, sofern die des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. dort genannten Bestrebungen durch AnDie Maßnahme ist unverzüglich zu beenwendung von Gewalt oder darauf ausgeden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder sich richtete Vorbereitungshandlungen verfolgt Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht werden, sowie zur Erfüllung seiner Aufgaoder nicht auf diese Weise erreicht werden ben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 unter kann. den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes auch technische Mittel (6) Bei Erhebungen nach den Absätzen 3 zur Ermittlung des Standortes eines aktiv und 4 und solchen nach Absatz 2, die in geschalteten Mobilfunkgerätes und zur ihrer Art und Schwere einer Beschränkung Ermittlung der Geräteund Kartennumdes Brief-, Postund Fernmeldegeheimnismern einsetzen. Die Maßnahme ist nur ses (Artikel 10 des Grundgesetzes) gleichzulässig, wenn ohne die Ermittlung die kommen, ist der Eingriff nach seiner BeenErreichung des Zwecks der Überwachdigung der betroffenen Person mitzuteilen, 324 ANHANG sobald eine Gefährdung des Zweckes der matisierten Dateien nur Daten solcher PerMaßnahme ausgeschlossen werden kann. sonen erfasst werden, über die bereits SS 12 des Artikel 10-Gesetzes gilt entspreErkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 vorliegen. Bei chend. Die durch solche Maßgabe erhobeder Speicherung in Dateien muss erkennnen Informationen dürfen nur nach Maßgabar sein, welcher der in SS 3 Abs. 2 und 3 be von SS 4 des Artikel 10-Gesetzes vergenannten Personengruppen der Betroffewendet werden. SS 2 Abs. 1 des Ausfühne zuzuordnen ist. rungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz findet entsprechende Anwendung. (3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und Absatz 2 gespeicherten personenbezoge(7) Die Befugnisse des Landesamtes für nen Daten dürfen nur für die dort genannVerfassungsschutz nach dem Artikel 10 ten Zwecke sowie für Zwecke verwendet Gesetz bleiben unberührt. werden, die für die Wahrnehmung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 erforderlich sind. SS 7 Speicherung, Veränderung und (4) Das Landesamt für VerfassungsNutzung personenbezogener Daten schutz hat die Speicherungsdauer auf das für seine Aufgabenerfüllung erforderliche (1) Das Landesamt für VerfassungsMaß zu beschränken. schutz kann zur Erfüllung seiner Aufgaben personenbezogene Daten speichern, ver(5) Personenbezogene Daten, die ausändern und nutzen, wenn schließlich zu Zwecken der Datenschutz1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bekontrolle, der Datensicherung oder zur strebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 Abs. Sicherstellung eines ordnungsgemäßen 2 vorliegen, Betriebs einer Datenverarbeitungsanlage 2. dies für die Erforschung und Bewergespeichert werden, dürfen nur für diese tung von Bestrebungen oder Tätigkeiten Zwecke und hiermit in Zusammenhang stenach SS 3 Abs. 2 erforderlich ist oder hende Maßnahmen gegenüber Bedienste3. das Landesamt für Verfassungsten genutzt werden. schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. SS 8 (2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 3 Abs. 3 Speicherung, Veränderung und dürfen vorbehaltlich des Satzes 2 in autoNutzung personenbezogener matisierten Dateien nur Daten über die Daten von Minderjährigen Personen gespeichert werden, die der Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder in (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz die Sicherheitsüberprüfung einbezogen darf unter den Voraussetzungen des SS 7 perwerden. Zur Erledigung von Aufgaben sonenbezogene Daten über Minderjährige, nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 dürfen in autodie das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet 325 haben, in zu ihrer Person geführten Akten mung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 erfornur speichern, verändern und nutzen, wenn derlich sind. tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Minderjährige eine der in SS 3 Abs. (2) Soweit nicht schon bundesrechtlich 1 des Artikel 10-Gesetzes genannten Strafgeregelt, können die zuständigen Stellen in taten plant, begeht oder begangen hat. In den Fällen des SS 3 Abs. 3 das Landesamt Dateien ist eine Speicherung von Daten Minfür Verfassungsschutz um Auskunft ersuderjähriger, die das 14. Lebensjahr noch chen, ob Erkenntnisse über den Betroffenicht vollendet haben, nicht zulässig. nen oder über eine Person, die in die Überprüfung mit einbezogen werden darf, vor(2) Sind Daten über Minderjährige in liegen. Dabei dürfen die erforderlichen perDateien oder in Akten, die zu ihrer Person sonenbezogenen Daten und sonstigen Ingeführt werden, gespeichert, ist nach zwei formationen an das Landesamt für VerfasJahren die Erforderlichkeit der Speichesungsschutz übermittelt werden. Im Falle rung zu überprüfen und spätestens nach einer Überprüfung nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 fünf Jahren die Löschung vorzunehmen, es Nr. 4 ist das Ersuchen über das Innenmisei denn, dass nach Eintritt der Volljährignisterium zu leiten. keit weitere Erkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, wenn das (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Landesamt für Verfassungsschutz nach SS 3 kann vorbehaltlich der in SS 11 getroffenen Abs. 3 tätig wird. Regelung von jeder öffentlichen Stelle nach Absatz 1 verlangen, dass sie ihm die SS 9 zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderÜbermittlung personenbezogener lichen personenbezogenen Daten und sonDaten an das Landesamt für Verfasstigen Informationen übermittelt, wenn die sungsschutz Daten und Informationen nicht aus allgemein zugänglichen Quellen oder nur mit (1) Die Behörden des Landes und die lanunverhältnismäßigem Aufwand oder nur desunmittelbaren juristischen Personen durch eine den Betroffenen stärker belasdes öffentlichen Rechts sowie die Gerichte tende Maßnahme erhoben werden können. des Landes, die Staatsanwaltschaften und, Das Landesamt für Verfassungsschutz vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen braucht Ersuchen nicht zu begründen, soSachleitungsbefugnis, die Polizeidienstweit dies dem Schutz des Betroffenen dient stellen übermitteln von sich aus dem Landoder eine Begründung den Zweck der esamt für Verfassungsschutz die ihnen Maßnahme gefährden würde. Die Ersubekannt gewordenen personenbezogenen chen sind aktenkundig zu machen. Daten und sonstigen Informationen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, (4) Das Landesamt für Verfassungsschutz dass diese Informationen zur Wahrnehdarf Akten anderer öffentlicher Stellen und 326 ANHANG amtliche Register unter den Voraussetzunche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass gen des Absatzes 3 und vorbehaltlich der jemand eine der in SS 3 Abs. 1 des Artikel in SS 11 getroffenen Regelung einsehen, 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, soweit dies begeht oder begangen hat. Auf die dem 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 3 Landesamt für Verfassungsschutz nach Abs. 2 oder 3 oder Satz 1 übermittelten Unterlagen findet SS 4 2. zum Schutz der Mitarbeiter und Queldes Artikel 10 Gesetzes entsprechende len des Landesamtes für VerfassungsAnwendung. schutz gegen Gefahren für Leib und Leben erforderlich ist und die sonstige Übermitt(6) Das Landesamt für Verfassungsschutz lung von Informationen aus den Akten oder prüft unverzüglich, ob die ihm übermittelten den Registern den Zweck der Maßnahmen personenbezogenen Daten für die Erfülgefährden oder das Persönlichkeitsrecht lung seiner Aufgaben erforderlich sind. des Betroffenen unverhältnismäßig beeinErgibt die Prüfung, dass sie nicht erforderträchtigen würde. Dazu gehören auch perlich sind, hat es die Unterlagen zu vernichsonenbezogene Daten und sonstige Inforten oder, sofern diese elektronisch gespeimationen aus Strafverfahren wegen einer chert sind, zu löschen. Die Vernichtung Steuerstraftat. Das Landesamt für Verfasoder Löschung kann unterbleiben, wenn sungsschutz braucht Ersuchen nicht zu die Trennung von anderen Informationen, begründen, soweit dies dem Schutz des die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich Betroffenen dient oder eine Begründung sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufden Zweck der Maßnahme gefährden wand möglich ist; in diesem Fall sind die würde. Über die Einsichtnahme nach Satz Daten zu sperren. 1 hat das Landesamt für Verfassungsschutz einen Nachweis zu führen, aus dem SS 10 der Zweck und die Veranlassung, die Übermittlung personenbezogener ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle Daten durch das hervorgehen. Die Nachweise sind geLandesamt für Verfassungsschutz sondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz Kalenderjahres, das dem Jahr ihrer Erstelkann personenbezogene Daten an Behörlung folgt, zu vernichten. den und juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie an die Gerichte des (5) Die Übermittlung personenbezogener Landes übermitteln, wenn dies zur ErfülDaten und sonstiger Informationen, die lung seiner Aufgaben erforderlich ist oder aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Empfänger die Daten zum Schutz der der Strafprozessordnung bekanntgeworfreiheitlichen demokratischen Grundordden sind, ist nach den Vorschriften der Abnung oder sonst für Zwecke der öffentsätze 1 und 3 nur zulässig, wenn tatsächlilichen Sicherheit einschließlich der Straf327 verfolgung benötigt. Der Empfänger darf dem Zweck verwendet werden dürfen, zu die übermittelten Daten, soweit gesetzlich dem sie ihm übermittelt wurden und das nichts anderes be-stimmt ist, nur zu dem Landesamt für Verfassungsschutz sich vorZweck verwenden, zu dem sie ihm überbehält, um Auskunft über die vor-genommemittelt wurden. ne Verwendung der Daten zu bitten. (2) Das Landesamt für Verfassungsschutz (4) Die Übermittlung personenbezogener übermittelt den Staatsanwaltschaften und, Daten an andere als öffentliche Stellen ist vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen nur zulässig, soweit dies zum Zwecke einer Sachleitungsbefugnis, den Polizeidiensterforderlichen und zulässigen Datenerhestellen des Landes von sich aus die ihm bung durch das Landesamt für Verfasbekannt gewordenen personenbezogenen sungsschutz unabdingbar ist und dadurch Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte keine überwiegenden schutzwürdigen dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Interessen der Person, deren Daten überVerhinderung oder Verfolgung von Straftamittelt werden, beeinträchtigt werden. Perten erforderlich ist, die in SS 3 Abs. 1 des sonenbezogene Daten dürfen darüber hinArtikel 10-Gesetzes oder in den SSSS 74a aus an andere als öffentliche Stellen nur oder 120 des Gerichtsverfassungsgesetübermittelt werden, wenn dies zur Abwehr zes genannt sind oder bei denen aufgrund von Gefahren für die in SS 3 Abs. 2 Satz 1 ihrer Zielsetzung, des Motivs des Täters Nr. 1 bis 4 genannten Schutzgüter oder zur oder dessen Verbindung zu einer OrganiGewährleistung der Sicherheit von lebenssation tatsächliche Anhaltspunkte dafür oder verteidigungswichtigen oder bevorliegen, dass sie gegen die in Artikel 73 sonders gefahrenträchtigen Einrichtungen Nr. 10 Buchst. b oder c des Grundgesetim Sinne des SS 1 Abs. 3 des Landessicherzes genannten Schutzgüter gerichtet sind. heitsüberprüfungsgesetzes erforderlich ist. Die Übermittlung personenbezogener Da(3) Das Landesamt für Verfassungsschutz ten an eine sonstige Einrichtung oder Unkann personenbezogene Daten an Dienstternehmung, insbesondere der Wissenstellen der Stationierungsstreitkräfte im schaft und Forschung, des SicherheitsgeRahmen von Artikel 3 des Zusatzabkomwerbes oder der Kreditund Finanzwirtmens zu dem Abkommen zwischen den schaft, ist nur zulässig, wenn dies zur AbParteien des Nordatlantik-Vertrages über wehr schwerwiegender Gefahren für die die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich Einrichtung oder Unternehmung erforderder in der Bundesrepublik Deutschland stalich ist. Die Übermittlung nach den Sätzen tionierten ausländischen Streitkräfte vom 3. 2 und 3 bedarf der vorherigen Zustimmung August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) überdurch den Innenminister oder im Verhindemitteln. Die Übermittlung ist aktenkundig zu rungsfall durch seinen Vertreter. Das Landmachen. Der Empfänger ist darauf hinzuesamt für Verfassungsschutz hat die Überweisen, dass die übermittelten Daten nur zu mittlung aktenkundig zu machen. Für Über328 ANHANG mittlungen nach Satz 2 gilt SS 9 Abs. 4 Sätze zu dem sie ihm übermittelt wurden und das 4 und 5 entsprechend. Der Empfänger darf Landesamt für Verfassungsschutz sich vordie übermittelten Daten nur zu dem Zweck behält, um Auskunft über die vorgenommeverwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurne Verwendung der Daten zu bitten. den. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuwei(6) Erweisen sich personenbezogene sen, dass das Landesamt für VerfassungsDaten, nachdem sie durch das Landesamt schutz sich vorbehält, um Auskunft über die für Verfassungsschutz übermittelt worden vorgenommene Verwendung der Daten zu sind, als unvollständig oder unrichtig, sind bitten. Die Übermittlung der personenbezosie unverzüglich gegenüber dem Empfängenen Daten ist dem Betroffenen durch das ger zu berichtigen oder zu ergänzen, es sei Landesamt für Verfassungsschutz mitzuteidenn, dass dies für die Beurteilung eines len, sobald eine Gefährdung seiner AufgaSachverhaltes ohne Bedeutung ist. benerfüllung durch die Mitteilung nicht mehr zu besorgen ist. Einer Mitteilung bedarf es SS 11 nicht, wenn das Innenministerium feststellt, Übermittlungsverbote dass diese Voraussetzung auch fünf Jahre nach der erfolgten Übermittlung noch nicht (1) Die Übermittlung von Informationen eingetreten ist und mit an Sicherheit grennach den SSSS 5, 9 und 10 unterbleibt, wenn zender Wahrscheinlichkeit auch in abseh1. für die übermittelnde Stelle erkennbar barer Zukunft nicht eintreten wird. ist, dass unter Berücksichtigung der Art der Informationen und ihrer Erhebung die (5) Das Landesamt für Verfassungsschutz schutzwürdigen Interessen des Betroffekann personenbezogene Daten an öffentlinen das Allgemeininteresse an der Überche Stellen außerhalb des Geltungsbemittlung überwiegen, reichs des Grundgesetzes sowie an über2. überwiegende Sicherheitsinteressen und zwischenstaatliche Stellen übermitteln, oder überwiegende Belange der Strafverwenn die Übermittlung zur Erfüllung seiner folgung dies erfordern oder Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher 3. besondere gesetzliche ÜbermittlungsSicherheitsinteressen des Empfängers regelungen entgegenstehen; die Verpflicherforderlich ist. Die Übermittlung untertung zur Wahrung gesetzlicher Geheimhalbleibt, wenn auswärtige Belange der tungspflichten oder von Berufsoder Bundesrepublik Deutschland, Belange der besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht Länder oder überwiegende schutzwürdige auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, Interessen des Be-troffenen entgegenstebleibt unberührt. hen. Die Übermittlung ist aktenkundig zu machen. Der Empfänger ist darauf hinzu(2) Informationen über Minderjährige vor weisen, dass die übermittelten Daten nur Vollendung des 14. Lebensjahres dürfen zu dem Zweck verwendet werden dürfen, nach den Vorschriften dieses Gesetzes 329 nicht an ausländische oder überoder zwi2. durch die Auskunftserteilung Quellen schenstaatliche Stellen übermittelt werden. gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der SS 12 Arbeitsweise des Landesamtes für VerfasUnterrichtung der Öffentlichkeit sungsschutz zu befürchten ist, 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit Das Innenministerium und das Landesamt gefährden oder sonst dem Wohl des Bunfür Verfassungsschutz unterrichten die des oder eines Landes Nachteile bereiten Öffentlichkeit periodisch oder aus gegebewürde oder nem Anlass im Einzelfall über Bestrebun4. die Daten oder die Tatsache der Speigen und Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 2. Dabei cherung nach einer Rechtsvorschrift oder dürfen auch personenbezogene Daten beihrem Wesen nach, insbesondere wegen kanntgegeben werden, wenn die Bekanntder überwiegenden berechtigten Interesgabe für das Verständnis des Zusammensen eines Dritten, geheimgehalten werden hangs oder der Darstellung von Organisamüssen. tionen oder unorganisierten Gruppierungen Die Entscheidung trifft der Behördenleiter erforderlich ist und die Informationsinteresoder ein von ihm besonders beauftragter sen der Allgemeinheit das schutzwürdige Mitarbeiter. Interesse des Betroffenen überwiegen. (3) Die Ablehnung der Auskunftserteilung SS 13 bedarf keiner Begründung, soweit dadurch Auskunft an den Betroffenen der Zweck der Auskunftsverweigerung gefährdet würde. Die Gründe der Auskunfts(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz verweigerung sind aktenkundig zu erteilt dem Betroffenen über zu seiner Permachen. Wird die Auskunftserteilung abgeson gespeicherte Daten auf Antrag unentlehnt, ist der Betroffene auf die Rechtsgeltlich Auskunft, soweit er hierzu auf einen grundlage für das Fehlen der Begründung konkreten Sachverhalt hinweist und ein beund darauf hinzuweisen, dass er sich an sonderes Interesse an einer Auskunft darden Landesbeauftragten für den Datenlegt. Es ist nicht verpflichtet, über die Herschutz wenden kann. kunft der Daten, die Empfänger von Übermittlungen und den Zweck der SpeicheSS 14 rung Auskunft zu erteilen. Berichtigung, Löschung und Sperrung personenbezogener Daten (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfülhat die in Akten oder Dateien gespeicherlung durch die Auskunftserteilung zu besorten personenbezogenen Daten zu berichtigen ist, gen, wenn sie unrichtig sind; in Akten ist 330 ANHANG dies zu vermerken. Wird die Richtigkeit der oder 2 beginnt mit der letzten gespeicherDaten von dem Betroffenen bestritten, so ten relevanten Information. ist dies in der Akte zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (4) Das Landesamt für Verfassungsschutz hat die in Akten gespeicherten personen(2) Das Landesamt für Verfassungsschutz bezogenen Daten zu sperren, wenn es im hat die in Dateien gespeicherten personenEinzelfall feststellt, dass die Speicherung bezogenen Daten zu löschen, wenn ihre unzulässig war. Dasselbe gilt, wenn es im Speicherung unzulässig war oder ihre Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht schutzwürdige Interessen des Betroffenen mehr erforderlich ist. Die Löschung unterbeeinträchtigt würden und die Daten für bleibt, wenn Grund zu der Annahme seine künftige Aufgabenerfüllung vorausbesteht, dass durch sie schutzwürdige sichtlich nicht mehr erforderlich sind. Be-lange des Betroffenen beeinträchtigt Gesperrte Daten sind mit einem entsprewürden. In diesem Fall sind die Daten chenden Vermerk zu versehen; sie dürfen zu sperren. Sie dürfen nur noch mit Einnicht mehr genutzt oder übermittelt werwilligung des Betroffenen übermittelt werden. Die Sperrung kann wieder aufgehoden. ben werden, wenn ihre Voraussetzungen nachträglich entfallen sind. Akten, in denen (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz personenbezogene Daten gespeichert prüft bei der Einzelfallbearbeitung und sind, sind zu vernichten, wenn die gesamnach festgesetzten Fristen, spätestens te Akte zur Aufgabenerfüllung nicht mehr nach fünf Jahren, ob in Dateien gespeibenötigt wird. cherte personenbezogene Daten zu berichtigen oder zu löschen sind. GespeiSS 15 cherte personenbezogene Daten über Parlamentarische Kontrolle Bestrebungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, die ihre Ziele durch Gewalt oder darauf (1) Das Innenministerium unterrichtet den gerichtete Vorbereitungshandlungen verStändigen Ausschuss des Landtags über folgen, sowie über Bestrebungen nach SS 3 die Tätigkeit des Verfassungsschutzes Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 oder 4 sind spätestens halbjährlich sowie auf Verlangen des Ausnach fünfzehn Jahren, im Übrigen spätesschusses und aus besonderem Anlass. tens nach zehn Jahren zu löschen, es sei denn, der Behördenleiter oder sein Vertre(2) Art und Umfang der Unterrichtung des ter stellt im Einzelfall fest, dass die weitere Ständigen Ausschusses werden unter Speicherung zur Aufgabenerfüllung oder Beachtung des notwendigen Schutzes des aus den in Absatz 2 Satz 2 genannten Nachrichtenzuganges durch die politische Gründen erforderlich ist. SS 8 Abs. 2 bleibt Verantwortung der Landesregierung beunberührt. Der Lauf der Frist nach Satz 1 stimmt. 331 (3) Die Mitglieder des Ständigen Ausschusdegeheimnisses (Artikel 10 des Grundgeses sind zur Geheimhaltung der Angelesetzes) und das Grundrecht auf Unverletzgenheiten verpflichtet, die ihnen im Zulichkeit der Wohnung (Artikel 13 des sammenhang mit der Berichterstattung Grundgesetzes) eingeschränkt werden. über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes im Ständigen Ausschuss bekanntgeSS 17 worden sind. Dies gilt auch für die Zeit Erlass von Verwaltungsvorschriften nach ihrem Ausscheiden aus dem Ständigen Ausschuss oder aus dem Landtag. Das Innenministerium kann zur Ausführung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvor(4) Die Unterrichtung umfasst nicht Angeleschriften erlassen. genheiten, über die das Innenministerium das Gremium nach dem Artikel 10-Gesetz SS 18 zu unterrichten hat. Inkrafttreten SS 16 Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner VerEinschränkung von Grundrechten kündung in Kraft. Aufgrund dieses Gesetzes können das Grundrecht des Brief-, Postund Fernmel332 Register A Abu-Jamal, Mumia 257, 263 Act of Violence 167, 200 Adil Düzen 90 Ahmedoglu, Sefer 103 Akif, Muhammad Mahdi 59f., 62 Aktionsbüro Rhein-Neckar 177 Aktionsgruppe Lörrach 170 Aktionsgruppe Rhein-Neckar (AG Rhein-Neckar) 185, 187 Aktionsgruppe Sankt Leon (AG Sankt Leon) 185, 187 Aktionsgruppe Schwaben 186 Aktionsgruppe Voralb (AG Voralb) 185 Al-Aqsa TV 71 Al-Astal, Yunis 71 Al-Awlaki, Anwar 23, 42, 52 Albanische Nationalarmee (AKSH) 145f. Al-Banna, Hassan 58f.,60, 74, 101 Al-Futtuh, Abd al-Munim 62 Al-Ghannoushi, Rashid 73 Al-Intiqad 77, 83 Al-Islam 64 Al-Jama'a al-Islamiya (Islamische Gemeinschaft) 59 Al-Jibrin 39 Al-Jihad al-Islami (Islamischer Jihad) 59 Al-Khalifa, Ahmad 70 Al-Manar TV 77, 79 Almani, Ayup 48 Al-Maududi, Sayyid Abul Ala 69, 74 Al-Qaida 25f., 44f., 46, 49f., 52, 60 Al-Qaradawi, Yusuf, Dr. 63 333 Al-Qassam-Brigaden 72 Al-Utaibi, Juhaiman 40 Al-Uthaimin 28f., 65 Anarchistische Gruppe [:ag] Freiburg 239, 276f. An-Nabhani, Taqi ad-Din 75 An-Nahda (Bewegung der Erneuerung) 73ff. An-Nur 77 Antifa Gruppe 76 AntiFa Nachrichten 259 antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur 255 Antifaschismus 235, 239, 273ff. Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm 272, 275 Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) 258, 269 Antifaschistische Linke Freiburg 238 Antifaschistisches Aktionsbündnis Baden-Württemberg 275 Antikapitalistische Linke (AKL) 244 Antimilitarismus 241f., 250, 269f. Antimodernismus 161 Antirepression 270ff. Antisemitismus 154 Apoistische Fedai-Jugend 120 Applied Scholastics (ApS) 283, 288 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 108, 110ff., 141 Ar-Risala 72 Arslantürk, Osman 101 Asgard-Versand 167 As-Sahab-Media 45 Atik, Ali 103 Atilim 142 Auditing 278, 285 Auditor 278 Aufbruch 167 334 Autonome Antifa Freiburg 240 autonome antimilitaristen 242 Autonome Nationalisten 161, 163, 165f., 174, 177, 184ff., 225 Autonome 177, 186, 234, 240, 276f. Autoritarismus 161 Aydar, Zübeyir 122 Az-Zahar, Mahmud 70 Azzam, Abdallah 38 B Babbar Khalsa Germany (B.K.G.) 148 Babbar Khalsa International (BK) 147 Badi, Muhammad, Dr. 61 Bahceli, Devlet 128, 130, 132 Befreiungsarmee von Kosovo (UCK) 142 Befreiungseinheiten Kurdistans (HRK) 112, 117 Bewaffnete Einheiten der Armen und Unterdrückten (F.E.S.K.) 142 Bewegung des Islamischen Widerstands siehe HAMAS Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien (LRSSHJ) siehe Volksbewegung von Kosovo Bin Ladin, Usama 53 Black Tigers 150 Blue Max 167, 200 Blutrausch 167 Borgfeldt, Wolfgang (alias Siddiq, Muhammad) 59 Botschaft des Islam 36 Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) 197 C Carpe Diem 167, 194 Celebrity Centre 281 Celik, Ahmet 121 335 Church of Scientology International (CSI) 278 Cimsit, Yasar 95, 104 Ciwanen Azad 117 Clara 244 Clears 284 Collegium Humanum - Akademie für Umwelt und Lebensschutz e.V. 231 Conveying Islamic Message Society (CIMS) 67 D Dawa-Arbeit 25 Demokratische Front der nationalen Einheit (FDBK) 146 Denffer, Ahmad 70 Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 87, 106f. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 234, 236, 248, 250, 251ff., 256, 258 Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 200 Deutsche Liste (DL) 273 Deutsche Stimme (DS) 191, 204, 206f. Deutsche Stimme Verlags GmbH 191 Deutsche Volksunion (DVU) 155f., 191, 193, 201f., 211ff., 217 Deutschland in Geschichte und Gegenwart - Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik (DGG) 216 Deutschland-Pakt 155, 202 Devil's Project 167, 173 Devrimci Sol 132, 134, 136 Dianetik 284 Dianetik-Gruppe 283 Dianetik-Informationszentrum 289 Dianetik-Post 278 Die Linke. Sozialistisch-Demokratischer-Studierendenverband ("DIE LINKE.SDS") 248, 250f., DIE LINKE. 234, 236, 238, 244ff., 258, 260, 265, 268 Die Muslimbruderschaft (MB) 57ff., 89, 102 336 Die Rote Hilfe 262 Disput 244 Dissent! 266 Dissent! Frankreich 266 Dogan, Mazlum 117f. Dogruyol, Sentürk 127, 129 Dual-Use-Güter 309 E Ehrenamtliche Geistliche 288 El-Zayat, Ibrahim 64, 70, 89 El-Zayat, Sabiha 70 E-Meter 285 Engel, Stefan 261 Erbakan, Necmettin, Prof. Dr. 88, 90f., 92f., 102 Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten 216, 218f. Europäische Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft (EMUG) 65, 88f. European Council for Fatwa and Research (ECFR) 66, 102 F Falastin 72 Fatah 72 Fatwa 39 Faust, Matthias 212 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit) 307 Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) 64 Feldauditorengruppen 283 Fiqh für Frauen 65 Flashmobs 180f. Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) 140f. Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V. (AGIF) 141f. 337 Föderation der Demokratischen türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. (ADÜTDF) 126ff. Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. 127 Föderation für demokratische Rechte in Deutschland (ADHF) 140 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) 117, 120f. Forum demokratischer Sozialismus (FDS) 244 Forum of European Muslim Youth and Student Organisations (FEMYSO) 69, 89 Foundation for a Drug-free-World 288 Frauen im Schutz des Islam 24, 35 Free Mind 278 Freedom Magazine 297 Freiheit 278 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Frey, Gerhard, Dr. 212ff. Front für die Albanische NationaleVereinigung (FBKSH) 145f. Fünf Gifte 305 Funkenflug 189f. G G 10-Gremium 17f. G 10-Kommission 17f. G 10-Maßnahmen 17f. Gemeinsames Internetzentrum (GJZ) 17 Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan (KKK) siehe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog (GD/SD) Geschichtsrevisionismus 161 Gesellschaft für Freie Publizistik (GfP) 197, 217 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) 306f. Grabert, Herbert, Dr. 215 338 Grabert, Wigbert 215, 219 GRABERT-Verlag 215f., 218 Graue Wölfe siehe Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V. (ADÜTDF) Grimm, Fatima 67 Gurdwara 148 Gysi, Gregor 247 H Hakimiyya-Konzept 69 Halk Icin Devrimci Demokrasi 139 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 61, 70ff. Haniya, Isma'il 70 Harakat Al-Muqawama Al-Islamiya siehe HAMAS Harb Raghib 83 Harrach, Bekkay 26, 46 Haverbeck-Wetzel, Ursula 231 Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg 258 Heimattreue Deutsche Jugend e.V. (HDJ) 189f., 224 Heise, Thorsten 194 Hennig, Rigolf, Dr. 222 Heß, Rudolf 178, 180ff., 184 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 174, 183f. Hizb Allah (Partei Gottes) 77ff. Hizb ut-Tahrir (HuT) 75ff. Hohenrain-Verlag 215 Hrungnir Records 167 Hubbard, Lafaytte Ronald 278f., 208, 287f., 292 I Ideale Org 281, 291f., 293f., 280 339 IGMG Perspektive 88 Iliyas, Maulana Muhammad 53 Impact 278, 285, 293 Institut Europeen des Sciences Humaines (I.E.S.H.) 102 Interim 270 International Association of Scientologists (IAS) 291 International Foundation for Human Rights & Tolerance 289 International Scientology News 292, 294 International Sikh Youth Federation (ISYF) 147 Internationales Institut für Islamisches Gedankengut (IIIT) 68 Internetkompetenzzentrum (IKZ) 17 Intifada 70 Isik, Yusuf, Dr. 93 Islamic Foundation 69 Islamic Relief Deutschland 70 Islamic Relief Worldwide (IRW) 70 Islamische Bewaffnete Gruppe siehe Groupe Islamique Arme (GIA) Islamische Bewegung in Palästina 73 Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) 46f. Islamische Dschihad Union (IJU) 26, 46 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 52, 64ff., 70 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) 65, 87, 88ff. Islamische Union Europa e.V. 106 Islamisches Zentrum München 67 Islamisches Zentrum Stuttgart (IZS) 64f. Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 89 J Jihad 23, 25, 38, 61f. Jihadisierung 43 Jihadismus 22, 40ff. Jihadistische Gruppen 44ff. 340 Jihad-Salafismus 41 JN-Stützpunkte 210f. Jugend für Menschenrechte 289 Jugend für Menschenrechte Stuttgart 283, 289f. Junge Nationaldemokraten (JN) 157f., 165, 182, 191, 207, 209, 210f., 224ff., 242, 275 Junge Rechte 215 junge Welt 265 K Kalifatsstaat siehe Der Kalifatsstaat Kamagata Maru Dal International (KMDI) 147 Kameradschaft Rastatt 176 Kaplan, Cemaleddin 106 Kaplan, Metin 106 Karahan, Abdulgani Engin 104 Karahan, Yavuz Celik 96 Karasu, Mustafa 123 Karatas, Dursun 132, 134, 138 Karayilan, Murat 118, 121, 123 Kartal, Remzi 123 Kaya, Adem 90, 98 Kaypakkaya, Ibrahim 139ff. Kemna, Erwin 198 Khalistan 147f. Kizilkaya, Ali 89 Kiziltas, Ekrem 94 Klasse V Org 283 Koma Civaken Kurdistan (KCK) Koma Komalen Kurdistan (KKK) Komalen Ciwan siehe Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans Kommando 88, 167 Kommando Skin 167, 172 341 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) 283, 290f. Kommunal-Info Mannheim 245 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) 251 Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 139ff. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 251, 253, 256 Kommunistische Plattform (KPF) 236, 244 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) 140 Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa (AvEG-KON) 142 Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) 140 Kontinentales Verbindungsbüro 282 Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa (CDK) 113, 117 Koordinierungsrat der Muslime (KRM) 89 Koraktor 240 Kurtulmus, Numan, Prof. Dr. 92f. Kurzschluss 167 L Landesinfo Baden-Württemberg 244, 248ff. Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) 14ff. Lemu, Aisha B. 67 Lerncenter 290, 298 Lernen und Kämpfen (LuK) 259 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 108, 149ff. Linksjugend ['solid] 247f., 265 Linkspartei.PDS siehe DIE LINKE. Linksruck 265 M Maoistische Kommunistische Partei (MKP) 138, 139 Märtyrerstiftung 81 Marx, Peter 209 marx21 - Netzwerk für internationalen Sozialismus (ehemals "Linksruck") 265 342 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 138, 141, 142ff. Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 121, 141, 234, 236, 238, 250, 258, 259ff. Mashal, Khaled 70 Maulawi, Feisal 65f. Menschenrechtsbüro 298 militante Gruppe (mg) 264, 271 Milli Gazete 88, 93ff. Milli Görüs 88, 90, 94f. Miscavige, David 278, 285 Mission Karlsruhe 289 Missionen 282f. Missverständnisse über Menschenrechte im Islam 33, 37 Molau, Andreas 217 Mouvement de la Tendence Islamique (Bewegung der islamischen Ausrichtung) 73 Mughnia, Imad 83 Mujamma al-Islami (Islamisches Zentrum) 70 Mullaoglu, Mustafa 94 Müller, Ursula 183f. Muslimbrüder 74 Muslimbruderschaft (MB) 57ff., 89 Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) 64, 69f. Muslimische Jugend und Kindererziehung in Europa 100 Muslimische Studentenvereinigung (MSV) 64, 67f. Mussawi, Abbas 83 N Nachrichten der HNG 183 Narconon 287f. Nasrallah, Hassan 80f., 84 Nation & Europa - Deutsche Monatshefte (N&E) 197 343 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 154ff., 168, 170, 177f., 182, 185, 191ff., 221ff., 242, 254, 274 Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 112 Nationalsozialistische Einheit 163 National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 212 NATO-Gipfel 235ff., 250, 263, 266ff. Neonazis 161, 174ff., 182, 184ff., 194ff., 221 Neun-Lichter-Doktrin 128 New-Era-Verlag 289 Noie Werte 167, 200 O Öcalan, Abdullah 110, 112, 114, 116f., 118, 121ff. Office of Special Affairs (OSA) 297f. Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) siehe Maoistische Kommunistische Partei (MKP) P Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) 124 Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 126, 128 Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 91 Partei für Soziale Gleichheit (PSG) 266 Partinin Sesi 142 Pastörs, Udo 198 Pop-Jihad 23 Prabhakaran, Vellupillai 150f., 153 Proliferation 308 Propaganda 167 Q Qasir, Ahmad 83 Qutb, Sayyid 58, 69, 74 344 R RACords 167 Ramadan, Said, Dr. 58 Ramadan, Tariq, Dr. 101 Rashta, Ata Abu 75f. Rassenantisemitismus 160 Rebell 258f., Religious Technology Center (RTC) 278, 282, 286 Renees 164 Revisionismus 161 Revolutionäre Volksbefreiungspartei (DHKP) 135 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 132ff., 265 Revolutionär-Sozialistischer Bund (RSB) 266 Richter, Karl 197 Rieger, Jürgen 178f., 194, 223 Ring Nationaler Frauen (RNF) 208 Roadmap 123 Roj-TV 123 Rote Fahne (RF) 121, 259, 262 Rote Fahne News 261 Rote Hilfe e.V. (RH) 257, 262ff. Rupp, Rainer 258 S Saadet-Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 90f. Sag NEIN zu Drogen, Sag JA zum Leben 288 Salafismus 26ff. Sander, Ulrich 256 Sauerlandgruppe 25 Schäfer, Michael 182, 209, 225 Scharia 68f. 345 Schaub, Bernhard 219 Schmidt, Edda 208 Schülerzeitschriften 160 Schulhof-CDs 160, 168, 200, 225f. Schützinger, Jürgen 197, 200, 207, 217 Schwarzer Block 189 Scientology-Organisation (SO) 278ff. Sea Organization (Sea Org) 282 Sea-Tigers 150 Serxwebun 110 Sezgin, Necati 105 Sicherheitsforum Baden-Württemberg 314ff. SiFo-Studie 2009/2010 - Know-how-Schutz in Baden-Württemberg 301, 314 Sigurimi Kombetar Shqiptare (SKSH) 146 Sikh Federation Germany (SFG) 147, 149 Skinheadbands 167f., 194 Skinheadkonzerte 166f., 194 Skinheadmusik 162, 173f., 225 Skinheads 161f. Skinheadszene 168ff., 193f., 225 Slushba Wneschnej Raswedkij (SWR) 306f. Sozialistische Alternative (SAV) 246, 250, 265 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 244 Sozialistische Linke (SL) 244 Sozialistische Partei Kosovos (PSK) 300ff. Spionage/Spionageabwehr 300ff. Staff 283 Stehr, Heinz 252 Sterka Ciwan 116 T Tabligh-i Jama'at (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) 53ff. 346 Taifatul Mansura 46 Takfiri-Rhetorik 42 Taleban 46 Tamil Coordinating Committee 153 Tamil Eelam Air Force 150 Tamil Eelam 150 Taraji, Houaida, Dr. 70 Teck Mission 283 Thierry, Andreas 194, 221f. Töngüc, Ilyas 94 Toptas, Mahmut 94, 96f. Trojaner 310ff. Trotzkisten 246f. Türkes, Alparslan 128, 130, 132 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) 139 Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung (TKIH) 142 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML-Hareketi) Türkische Konföderation in Europa (ATK) 129 Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke (THKP-C) TV 5 93 U Ücüncü, Oguz 101 Union der Jugendlichen Kurdistans (YCK) 115 United for Human Rights 289 Unsere Zeit (UZ) 251f. UZ-Pressefest 252 V Verband der anatolischen Jugend (AGD) 94 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) 106 Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V. 64 347 Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten 231 Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans (KCK) siehe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans (Komalen Ciwan) 113, 115, 120 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V. (AMGT) 88 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. (VVN-BdA) 253ff. Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG 175, 195, 219 vfve-Versand 167 Vier-Säulen-Konzept 199 V-Leute 17 Vogel, Pierre 87 Voigt, Udo 192, 198, 203f., 207 Volk in Bewegung & Der Reichsbote - Das nationale Magazin (ViB) 175, 195, 219f., 221ff. Völkischer Kollektivismus 161 Volksbefreiungsarmee (HKO) 139 Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) 112 Volksbewegung von Kosovo (LPK) 144f., 146 Volksfront Strategie 194 Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) siehe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Volksverteidigungskräfte (HPG) 111, 113, 119, 124 W Wahhabismus 35 Wetzel, Bruno 212 White Voice 167 Wirtschaftsschutz 303, 313 Wirtschaftsspionage 300 WISE Charter Committee (WCC) 283 WISE International 296 Wissler, Janine 247 Wolfsgruß 127 World Assembly of Muslim Youth (WAMY) 65 348 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 283, 295 Wortergreifungsstrategie 209 Wulff, Thomas 194, 196 Wuttke, Roland 222f. Y Yagan, Bedri 134 Yahya, Harun 65 Yassin, Ahmad 70 Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü 139 Yildiz 100 Youth for Human Rights 289 Yumakogullari, Osman 93 Yürüyüs 132, 136 Z Zaidan, Amir 67 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 64 Zentrum für Lebensfragen 283 Zentrum für Wirtschaftsund Sozialstudien (ESAM) 91 349 NOTIZEN V E R T E I L E Diese Informationsschrift wird von der Lande ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur ben. Sie darf weder von Parteien noch von de Wahlkampfs zum Zwecke der Wahlwerbung ve Missbräuchlich sind insbesondere die Verteilu tionsständen der Parteien sowie das Einlegen Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zu Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl da wendet werden, dass dies als Parteinahme d scher Gruppen verstanden werden könnte. Die Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf w Informationsschrift dem Empfänger zugegange Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Informatio verwenden. R H I N W E I S sregierung Baden-Württemberg im Rahmen Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeeren Kandidaten oder Helfern während eines erwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. ng auf Wahlveranstaltungen und an Informa- , Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer m Zwecke der Wahlwerbung. arf die vorliegende Druckschrift nicht so verer Herausgeberin zugunsten einzelner politiese Beschränkungen gelten unabhängig vom elchem Wege und in welcher Anzahl diese en ist. nsschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu