8 INNENMINISTERIUM VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT BADEN-WÜRTTEMBERG 2008 Herausgeber: Innenministerium Baden-Württemberg Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart Gestaltung und Satz: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85A, 70372 Stuttgart Umschlag: Orel & Unger GmbH, Stuttgart Druck: VVA/KONKORDIA GmbH Dr.-Rudolf-Eberle-Str. 15, 76534 Baden-Baden Auflage: 11.000 Zitate: Alle Zitate sind in Kursivschrift gesetzt. Zitate aus Texten in alter Rechtschreibung wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Redaktionsschluss: März 2009 Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers - ISSN 0720-3381 VORWORT Der jährliche Verfassungsschutzbericht gibt einen umfassenden Überblick über verfassungsfeindliche Bestrebungen sowie über Organisationen und Gruppierungen, die Aktivitäten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland entfalten. Der Bericht soll Regierung, Parlament, Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, die wahren Absichten extremistischer Gruppierungen zu erkennen und zu bewerten. Dies ist die Voraussetzung für die notwendige geistig-politische Auseinandersetzung mit den Gegnern unserer Demokratie auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Denn der Schutz des demokratischen Rechtsstaats ist nicht allein Aufgabe der staatlichen Behörden. Wir alle stehen in der Pflicht, für unser freiheitliches Gemeinwesen einzutreten und es zu schützen. Einen Schwerpunkt des Berichts bilden der islamistische Extremismus und die Netzwerke gewaltbereiter Islamisten. Der islamistische Terrorismus ist nach wie vor die größte Bedrohung für die Innere Sicherheit und Stabilität in Deutschland und in Baden-Württemberg. Vor besondere Herausforderungen werden die Sicherheitsbehörden vor allem durch sogenannte Homegrown-Strukturen gestellt, die sich aus radikalisierten Personen der zweiten und dritten Einwanderergeneration und aus radikalisierten Konvertiten zusammensetzen. Terroristische Anschläge können somit auch aus der Mitte unserer Gesellschaft heraus geplant und vorbereitet werden. Im zurückliegenden Jahr sind keine konkreten Anschlagsplanungen bekannt geworden, eine Garantie, dass Deutschland auch in Zukunft von Terroranschlägen verschont bleiben wird, kann aber niemand geben. Gerade auch die vielen deutschsprachigen Videobotschaften, die in den letzten Monaten im Internet veröffentlicht wurden, belegen, wie sehr Deutschland als mögliches Angriffsziel in das Blickfeld gewaltbereiter Islamisten gerückt ist. Die Sicherheitsbehörden haben sich auf diese Bedrohungslage eingestellt. Das im Jahr 2008 im Landesamt für Verfassungsschutz eingerichtete Internetkompetenzzentrum ermöglicht eine professionelle Beobachtung und Aus- wertung der Aktivitäten vor allem islamistischer Strukturen im Internet. Besondere Aufmerksamkeit müssen wir aber auch den sogenannten Bildungsund Betreuungsangeboten islamistischer Organisationen widmen, die auf diese Weise versuchen, Einfluss auf Jugendliche zu gewinnen und damit auch den Nährboden für mögliche terroristische Aktionen schaffen. Gefahren für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gehen aber auch von Rechtsund Linksextremisten, extremistischen Ausländern oder der "Scientology-Organisation" aus. Das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial ist im Jahr 2008 in Baden-Württemberg und im gesamten Bundesgebiet erfreulicherweise weiter zurückgegangen. Ebenso hat die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten wie schon im Vorjahr abgenommen. Anlass zur Entwarnung ist dies aber nicht. So konnte die NPD weiterhin Mitgliederzuwächse verzeichnen und als stärkste rechtsextremistische Partei ihren Einfluss in der rechtsextremistischen Szene ausbauen. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus bleibt eine zentrale Aufgabe unserer Sicherheitsbehörden. Die Partei "DIE LINKE." verfolgt unverändert verfassungsfeindliche Ziele. Der Zusammenschluss mit der nicht extremistischen Partei WASG im Jahr 2007 hat daran nichts geändert. Sie wird daher weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamtes für Verfassungsschutz gilt mein besonderer Dank. Sie leisten mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger und zum Schutz unserer Demokratie. Ihre engagierte und fundierte Arbeit verdient unsere Anerkennung. Heribert Rech MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg INHALTSVERZEICHNIS A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG ........12 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes ........................................................13 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei ..................................13 3. Methoden des Verfassungsschutzes .......................................................14 4. Internetkompetenzzentrum ......................................................................15 5. Kontrolle .........................................................................................................15 6. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ................................... 16 B. ISLAMISTISCHER TERRORISMUS UND EXTREMISMUS ....18 1. Aktuelle Situation, Tendenzen ................................................................18 2. Strukturen und Ideologie des Salafismus ............................................19 3. Jihadistische Tendenzen ............................................................................ 32 3.1 "Al-Jama'a al-Islamiya" und "al-Jihad al-Islami" .................................32 3.2 Die Chronologie der Gewalt....................................................................34 3.3 Propaganda und Kommunikation im Internet ..................................36 4. Islamistischer Extremismus .......................................................................40 4.1 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündigung und Mission") ............................40 4.2 "Die Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger ...42 4.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)..................47 4.2.2 HAMAS ("Harakat al-Muquwama al-Islamiya", "Islamische Widerstandsbewegung").....................................................54 4.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") .......................................57 4.2.4 "Hizb ut-Tahrir" (HuT)...............................................................................57 4.3 Schiitische Gruppierung: "Hizb Allah" ("Partei Gottes")...............60 4.4 Türkische Organisationen .........................................................................67 4.4.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG)......................67 4.4.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti")..................................................84 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN ............................................................................................86 1. Allgemeiner Überblick ............................................................................... 86 2. "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL), vormals "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ...................................... 88 3. Türkische Vereinigungen .......................................................................... 99 3.1 Extrem nationalistische Organisation: "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) ...........................................................99 3.2 Linksextremisten.........................................................................................102 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front -Revolutionäre Linke" (THKP-C - Devrimci Sol) ......................................................................102 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML)......................................................................................................107 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP).....110 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner ......................................................................................113 5. Sikh-Organisationen .................................................................................. 116 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) .....................................118 7. Iranische Gruppe: Die "Volksmodjahedin" ......................................121 D. RECHTSEXTREMISMUS ...................................................................... 124 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen .............................................. 124 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale ..............126 1.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................127 1.3 Ideologie........................................................................................................128 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus ..................................................... 129 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt.....................................................................................129 2.2 Die Skinhead(musik)szene in der Krise.............................................131 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit............................138 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? .138 2.3.2 Rechtsextremistische Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt..............................................140 3. Neonazismus ................................................................................................ 143 3.1 Allgemeines ..................................................................................................143 3.2 Bundesweite Aktivitäten..........................................................................145 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene .......................................................................................145 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG).............................................................150 3.3 Demonstrationstätigkeit der Neonaziszene.......................................151 3.4 "Autonome Nationalisten" - Militanter Neonazismus mit ungewohntem Erscheinungsbild ...........................................................153 4. Rechtsextremistische Parteien ............................................................... 159 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) .................159 4.1.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus ...........159 4.1.2 Wahlen ...........................................................................................................165 4.1.3 Ideologische Ausrichtung ........................................................................167 4.1.4 Aktivitäten ....................................................................................................170 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) .............................................................172 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten ........................................ 176 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag"...176 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP) ...................................179 5.3 Geschichtsrevisionismus: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus........................179 6. Aktionsfelder: Rechtsextremistische Jugendarbeit und Immobiliengeschäfte deutscher Rechtsextremisten ...................... 182 6.1 "Junge Nationaldemokraten" und "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." - zwei rechtsextremistische Jugendorganisationen im Vergleich .....................................................182 6.1.1 "Junge Nationaldemokraten" (JN).......................................................182 6.1.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ)....................................188 6.2 Sein oder Schein? Immobiliengeschäfte deutscher Rechtsextremisten.......................193 6.2.1 Wozu brauchen Rechtsextremisten Immobilien? ...........................193 6.2.2 Warum tätigen Rechtsextremisten Scheingeschäfte mit Immobilien?..........................................................................................194 6.2.3 Woran erkennt man tatsächliches Immobilienkaufinteresse von Rechtsextremisten?............................................................................195 6.2.4 Woran erkennt man Immobilienscheingeschäfte von Rechtsextremisten?............................................................................196 6.2.5 Beispiele für (versuchte) rechtsextremistische Immobiliengeschäfte in Baden-Württemberg 2008........................196 E. LINKSEXTREMISMUS ...........................................................................198 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................198 2. Übersicht in Zahlen ..................................................................................200 2.1 Personenpotenzial......................................................................................200 2.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................202 3. Gewaltbereiter Linksextremismus ........................................................203 4. Parteien und Organisationen .................................................................206 4.1 "DIE LINKE." .............................................................................................206 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP)......................................214 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V." (VVN-BdA)..............216 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD)...........221 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH)..............................................................................224 4.6 Sonstige Vereinigungen............................................................................226 5. Aktionsfelder ...............................................................................................227 5.1 NATO-Gipfel 2009/Antimilitarismus ..................................................227 5.2 "Antirepression"..........................................................................................231 5.3 "Antifaschismus".........................................................................................234 5.4 Kampf um "Freiräume" beziehungsweise "Autonome Zentren"................................................................................237 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) ......................................240 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen ......................................... 240 2. Organisation, Finanzen und Mitgliederbestand .............................. 241 3. Expansionsbestrebungen durch "Ideale Orgs" ................................244 4. Expansionsbestrebungen in der Wirtschaft ......................................245 5. Propaganda und Werbemethoden .......................................................246 6. Mitgliederorientierte Propaganda ......................................................... 250 7. Reaktionen auf Kritik an Scientology ................................................252 8. Gerichtsurteile gegen die SO .................................................................256 G. SPIONAGEABWEHR .............................................................................260 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen ......................................... 260 2. Daten, Fakten, Hintergründe .................................................................262 2.1 Volksrepublik China..................................................................................262 2.1.1 Ausspähung der Wirtschaft ....................................................................262 2.1.2 Überwachung von regimekritischen Bestrebungen .......................263 2.2 Russische Föderation ................................................................................264 2.2.1 Geheimdienste mit Auslandsbezug .....................................................264 2.2.2 Erkannte Vorgehensweisen der Nachrichtendienste.....................265 2.3 Proliferation..................................................................................................266 3. Spionage mit technischen Mitteln ....................................................... 270 4. Prävention .....................................................................................................276 5. Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen ...................................................... 277 6. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr .....................................................278 ANHANG ..........................................................................................................................280 Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 5. Dezember 2005 ...........................................................................280 Gruppen-, Organisationsund Sachregister......................................294 Personenverzeichnis .................................................................................302 A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. truktur Der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich derzeit in fünf Abteilungen. aushalt Die Personalstellen sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2008 insgesamt 332 Personalstellen (2007: 336), davon 247 für Beamte und 85 Stellen für Angestellte zugewiesen. Für Personalausgaben standen etwa 12,6 Millionen Euro (2007: 12,6 Millionen Euro), für Sachausgaben rund 2,5 Millionen Euro zur Verfügung (2007: 3 Millionen Euro einschließlich zusätzlicher Investitionsmittel insbesondere zur Sachausstattung eines Dritten Observationstrupps, zur Einrichtung eines Internetkompetenzzentrums und zur Verbesserung der technischen Ausstattung der G 10-Stelle). 12 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz sammelt unter anderem Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, sobald ihm tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Als derartige Bestrebungen sind Verhaltensweisen von Personen oder Organisationen zu verstehen, deren Ziel es ist, die obersten Werte und Prinzipien des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksoder rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland beziehungsweise dessen Regierung von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch Deutschland in außenpolitische Konflikte bringen könnten oder wenn sich die Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zu den weiteren Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt die Spionageabwehr. Sie ist darauf gerichtet, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und zu analysieren. Schließlich hat das Landesamt für Verfassungsschutz umfangreiche Aufgaben beim personellen und materiellen Geheimschutz. Beispielsweise wirkt der Verfassungsschutz bei der Sicherheitsüberprüfung von Einbürgerungsbewerbern mit, überprüft Geheimnisträger und andere Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig werden wollen, und unterstützt beratend Behörden sowie Unternehmen bei der Einrichtung technischer Vorkehrungen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Die Arbeit einer Verfassungsschutzbehörde unterscheidet sich wesentlich von der einer Polizeibehörde. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeikeine polizeilichen lichen Eingriffsbefugnisse zu. Mitarbeiter des Landesamts für VerfassungsBefugnisse schutz dürfen also keine Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbständig und nach eigenem Ermessen, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Im Gegensatz zur Polizei ist der Verfassungsschutz nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen und muss daher keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn er Kenntnis von einer Straftat erlangt. 13 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen erlangt das Landesamt für Verfassungsschutz auf offenem Weg. Allerdings dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im baden-württembergischen Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) genannten nachrichtendienstlichen Hilfsmittel angewendet werden, zum Beispiel der Einsatz von Vertrauensleuten, Observationen oder Bildund Tonaufzeichnungen. Gerade die auf letztgenanntem Wege erlangten Erkenntnisse ermöglichen häufig erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen. Methoden der Erkenntnisgewinnung OFFENE BESCHAFFUNG VERDECKTE BESCHAFFUNG ndsatz der Alle diese Möglichkeiten stehen jedoch laut LVSG unter dem Vorbehalt des rhältnisGrundsatzes der Verhältnismäßigkeit, das heißt, von mehreren geeigneten äßigkeit Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten in seinen Grundrechten beeinträchtigt. Aufgabe der mit der Auswertung befassten Mitarbeiter ist es dann, den Aussagewert und die Bedeutung der beschafften Informationen zu analysieren und Lagebilder sowie Trendaussagen zu erstellen. 14 4. Internetkompetenzzentrum Extremisten und Terroristen nutzen in immer stärkerem Maße die weltumspannende permanente Verfügbarkeit des Internets zur Verbreitung ihrer Ideologien, zur Kommunikation und auch zur Vorbereitung terroristischer Gewaltakte. Es ist Aufgabe des im Jahr 2008 neu eingerichteten Internetkompetenzzentrums (IKZ), die entsprechenden Bestrebungen und Strukturen zu erkennen, zu beobachten und auszuwerten. Das IKZ ist mit der dort gebündelten technischen Ausstattung und Fachkompetenz zentraler Ansprechpartner für alle Belange des Landesamts für Verfassungsschutz rund um die nachrichtendienstliche Nutzung des Internets. Es sichert auch die virtuelle Anbindung an das gemeinsame Internetzentrum (GIZ) des Bundes zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus in Berlin. 5. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Im Zentrum stehen innerbehördliche Maßnahvielschichtige men wie zum Beispiel Kontrollen durch den internen DatenschutzbeaufKontrolle tragten. Daneben stellen die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenmi15 nisterium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 15 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Postund Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen nach dem Artikel 10-Gesetz unterliegen der Kontrolle der G 10-Kommission und des G 10-Gremiums. Die grundgesetzliche Rechtsweggarantie gewährleistet die Überprüfung von Einzelmaßnahmen des Verfassungsschutzes durch die unabhängige Justiz. Schließlich unterliegt die Arbeit des Verfassungsschutzes der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. 6. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes rmationsZum dauerhaften Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordngebot nung ist es unabdingbar erforderlich, auf allen gesellschaftlichen Ebenen die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus zu führen. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dazu einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Zahlreiche Informationsmöglichkeiten stehen dabei zur Auswahl. So können Broschüren zu verschiedenen Themen des Verfassungsschutzes angefordert oder im Internet abgerufen werden. Referenten des Landesamts für Verfassungsschutz stehen für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung. Anfragen von Medienvertretern werden so umfassend wie möglich beantwortet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahre 2008 168 Vorträge gehalten. Daneben gab es zahlreiche Anfragen von Medienvertretern. Über 10.000 Exemplare des Verfassungsschutzberichts 2007 und 6.300 Broschüren wurden im Berichtszeitraum auf Anforderung verteilt. Derzeit ist neben den in den Fachkapiteln genannten Informationsschriften die Kurzbroschüre "Verfassungsschutz Baden-Württemberg" verfügbar. Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg unter www.verfassungsschutz-bw.de mit einer eigenen Homepage. Dort können die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abgerufen werden. 16 Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 500 700 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/9544-181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/9544-444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.verfassungsschutz-bw.de E-Mail: info@verfassungsschutz-bw.de Vertrauliche Telefone zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 "Islamistische Extremisten": 0711/95 61 984 (deutsch/englisch) 0711/95 44 320 (türkisch) 0711/95 44 399 (arabisch) 17 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS 1. Aktuelle Situationen, Tendenzen Der islamistische Extremismus und seine terroristische Form, der Jihadismus, waren im Jahr 2008 eine unverändert hohe Bedrohung in zahlreichen Konfliktregionen von Teilen Afrikas, im Nahen und Mittleren Osten erändert und in Zentralund Südostasien. Die Konfrontation mit einem islamistisch Bedrohung motivierten Personenkreis ist ein Phänomen, das auch in Deutschland und Europa eine Vielzahl von unterschiedlichen Ausprägungen angenommen hat. Das Spektrum umfasst insbesondere Bestrebungen, in denen Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele legitimiert wird. Dabei teilen alle islamistischen Bewegungen mit den Organisationen oder Vereinigungen ähnliche Ziele: Die Abwehr von vermeintlich islamfeindlichen Tendenzen, die Verteidigung muslimischer Werte und Lebensentwürfe, die Identitätsbildung einer "authentisch islamischen" Persönlichkeit und die Etablierung einer als "authentisch islamisch" verstanden Gesellschaft. Im Jahr 2008 setzte sich die bekannte Entwicklung des "homegrown-Terrorismus" auf lokaler Ebene fort. Örtliche, salafitisch radikalisierte Personengruppen stehen in Kontakt oder versuchen in Berührung mit Akteuren zu kommen, die in transnationale jihadistische Strukturen eingebunden sind. Dieser Personenkreis könnte gegebenenfalls bei logistischen Problemen in der konkreten Planung und Durchführung von Anschlägen Unterstützung bieten. Die Kontakte setzen dabei die Radikalisierung nicht erst in Gang. Auch ohne die entsprechenden Kontakte kann es zur Verübung von Gewaltakten kommen, wie etwa das Beispiel der "Kofferbomber" zeigte. Es gibt Hinweise, dass in Deutschland salafitische Strömungen im Vergleich zu anderen Richtungen deutlich an Bedeutung gewinnen. Erkennbar wird dies etwa an der öffentlichen Präsenz von Islamseminaren, Informationsund Vortragsveranstaltungen, wenn auch die Zahl der gewonnenen aktiven Anhänger schwer zu fassen ist. Neben einem möglicherweise weniger politischen Phänomen des "Pop-Jihadismus"1 gab es im Jahr 2008 vermehrt klare Indizien dafür, dass sich ein im salafitischen Milieu radikalisierter Per- 1 Hierbei handelt es sich um ein Phänomen im Bereich jugendlicher Subkultur. Dort ist in den letzten Jahren eine gefährliche gewaltverherrlichende und -bereite Szene entstanden. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass in einer Art "Lifestyle" beispielsweise Klingeltöne mit Jihadgesängen verwendet werden oder der persönliche Kleidungsstil nach dem Vorbild von Kämpfern in Afghanistan/Tschetschenien gestaltet wird. 18 sonenkreis mit großer Ernsthaftigkeit und enormem Zeitaufwand mit umfassenden jihadistischen Schriften auseinandersetzte und diese Lehren verinnerlichte. Die Definition des Begriffes "Jihad"2 in diesen teilweise komplexen Abhandlungen fokussiert dabei auf den bewaffneten Kampf mit allen Mitteln und lehnt jedwede Trennung von "kleinem" und "großem Jihad" ab. In den letzten Monaten des Jahres 2008 kam es zu einer regen Herausgabe und Übersetzung von entsprechendem ideologischem Textmaterial. Dabei tauchten als Verfasser auch jüngere Gelehrte oder Prediger auf, die der zweiweitere ten oder dritten "al-Qaida"-Generation zugerechnet werden. Diese jüngeren "al-Qaida"Jihadideologen reklamieren für sich ein wesentlich besseres Verständnis der Generation aktuellen Lage der islamischen Umma (Gemeinschaft) und werfen älteren Gelehrten etwa in Saudi-Arabien ihre Loyalität zum saudischen Herrscherhaus, ihr mangelndes Urteilsvermögen und Untätigkeit vor. Diese Vorhaltungen werden von der Szene in Deutschland dann übernommen. Dies führt dazu, dass dem einen oder anderen salafitischen Prediger seine Loyalität etwa zu Saudi-Arabien, saudischen Gelehrten oder die vermeintliche Anerkennung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorgeworfen wird. Dass jihadistisches Gedankengut nicht bloß in der Theorie eine Rolle spielt, zeigen die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren etwa gegen die so genannte Sauerland-Gruppe oder gegen Propagandisten, die im Internet zur Gewalt aufrufen. In verschiedenen Strafprozessen wie etwa dem am 14. Juli 2008 zu Ende gegangenen Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen drei vermeintliche Attentäter der "Ansar al-Islam" wurde das Ausmaß jihadistischer Ideologisierung deutlich. 2. Strukturen und Ideologie des Salafismus Beim Salafismus handelt es sich um eine vielschichtige islamistische StröErstarken mung, die in ihrer modernen Erscheinungsform überwiegend vom Wahhasalafitischer bismus geprägt wird, der im 18. Jahrhundert als religiöse ErneuerungsbeStrukturen 2 Jihad bedeutet wörtlich "Anstrengung". Es gibt Auslegungen, die den "inneren" Jihad, der darauf abzielt, ein guter Muslim zu sein, als den "großen Jihad" bezeichnen und den "äußeren" Jihad als den "kleinen Jihad", der mit militärischen Mitteln geführt wird. 19 wegung auf der arabischen Halbinsel entstanden war. In ihrem Islamverständnis orientieren sich Salafiten am Vorbild des Propheten Muhammad und der frühen Muslime, von denen sie annehmen, dass in deren Epoche der Islam wahrhaftig und richtig praktiziert worden sei. Als zeitlicher Bezug umfasst diese "Ära der edlen Vorfahren" (As-salaf as-salih) die ersten drei Generationen der Muslime, die als die beste Informationsquelle für die Lebenspraxis Muhammads angesehen werden, da ihnen aufgrund der zeitlichen Nähe zum Religionsstifter ein authentisches Islamverständnis zugeschrieben wird. Man geht von der Prämisse aus, dass noch zu Lebzeiten Muhammads und seiner unmittelbaren Gefolgsleute der Islam in seiner vollkommensten Form gelebt wurde, und dass er in seinen religiösen, sozialen und politischen Elementen ein vollständiges und zusammenhängendes Lebenssystem darstellte. Im Verlauf der weiteren Geschichte, so die salafitische Lehre, seien jedoch zunehmend unerlaubte Erneuerungen (bida') in die islamische Glaubenspraxis eingedrungen, die den ursprünglich "wahren Islam" verfälscht hätten. Diese "fehlerhafte" Entwicklung müsse nun durch eine strikte Hinwendung an die Vorbilder der ersten Muslime rückgängig gemacht werden. Hierbei geben Salafiten vor, eine bestimmte Methode (manhaj) zu befolgen, die es ihnen erlauben würde, unmissverständliche islamische Regelungen herzuleiten. Als religiöse Quellen dienen ihnen außer dem Koran die Sunna (Glaubenspraxis) Muhammads und seiner Gefolgsleute, die in den Hadithen (Aussprüche des Propheten) ihren Niederschlag finden. Das Befolgen persönlicher Meinungen einzelner Gelehrter wird von Salafiten ebenso abgelehnt wie die Einhaltung traditioneller Auslegungen der verschiedenen Rechtsschulen (taqlid). Von ihrem strikten Verständnis vom Monotheismus (tawhid) ausgehend, der die praktische Einhaltung und Umsetzung der als islamisch betrachteten Gesetze und Bestimmungen (scharia) impliziert, diffamieren Salafiten andere Islamrichtungen als "Häresie" und "Ketzerei" und sprechen ihnen ihren islamischen Charakter ab. Dies betrifft neben schiitischen Glaubensgemeinschaften insbesondere Muslime, die sich der islamischen Mystik verpflichtet fühlen. Abgesehen von den unterschiedlichsten Personengruppen mit islamischem Hintergrund, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dem Islam nur nominell anzugehören, gelten Salafiten alle Nichtmuslime prinzipiell als "Feinde". Dies gilt htmuslime vor allem für Juden und Christen, denen mit Verweis auf mittelalterliche "Feinde" Bestimmungen mit Gewalt gedroht wird, wenn sie sich dem Islam nicht herrschaftlich unterordnen: 20 "Islam gibt Juden und Christen die Erlaubnis weiterhin nach ihrer Religion zu leben, jedoch nur dann, wenn sie dem Islam untergeordnet bleiben, den Muslimen die Dschizya 3 zahlen und den Frieden wahren." 4 In weltweit verbreiteten Propagandaschriften, die Andersgläubigen "den Islam" näher bringen sollen, wird immer wieder deutlich, dass Auffassungen, die von salafitischen Islamauslegungen abweichen, keine gleichberechtigte Koexistenz eingeräumt werden darf: "Was die Feinde von Allah betrifft, so haben die Gläubigen die Pflicht, sie zu hassen, da sie von Allah gehasst werden. Jedoch ist der Gläubige dazu autorisiert, sie zum Islam zu rufen und ihnen seine edle Bedeutung zu erklären. Sie könnten durch einen solchen Aufruf rechtgeleitet werden und den Islam annehmen. Wenn sie ihn aber ablehnen und es verweigern, sich den Gesetzen Allahs zu unterwerfen, dann ist es einem Muslim gestattet, sie zu bekämpfen, bis die Götzenanbetung vernichtet ist und die Religion Allahs den Sieg über den Polytheismus erlangt." 5 Kernelement der salafitischen Glaubenslehre ist die strikte Einhaltung eines absolut gesetzten Monotheismus, der sich in der akribischen Umsetzung des islamischen Gesetzes in seiner Gesamtheit äußern muss. Gott wird nach diesem Verständnis zum Gesetzgeber erhoben, wobei den Menschen Gott als alleiniger nur noch die Aufgabe zugewiesen wird, göttliche Bestimmungen praktisch Gesetzgeber umzusetzen. Dieser ideologische Anspruch einer "transzendenten Rechtsordnung" stößt nicht nur in der islamischen Welt im säkularen Rechtsschöpfungsprozess auf Widerstand, sondern muss zwangsläufig auch dort zu unüberbrückbaren Gegensätzen führen, wo von Menschen initiierte Gesetzgebungsverfahren untrennbar mit freiheitlichen demokratischen Lebensordnungen verbunden sind: "Die Souveränität und legislative Gewalt sind exklusive Rechte Allahs. Dies ist eine direkte Schlussfol- 3 Kopfsteuer für Nichtmuslime als Zeichen der Unterwerfung. 4 Ali Abdur-Rahman al-Hdhaifi, Eine ergreifende Botschaft an die muslimische Umma, S. 5; Internetauswertung vom 6. Oktober 2008; Übernahme wie im Original. 5 Hier und im Folgenden: Abdul Rahman ben hammad al-Omar, The Religion of Truth, S. 44f.; hier: Arbeitsübersetzung aus dem Englischen. 21 gerung aus dem Monotheismus. Niemand hat das Recht, ein Gesetz zu erlassen, das dem Gesetz Allahs entgegensteht. Ein Muslim sollte weder regieren noch Recht sprechen mit anderen Gesetzen außer den Gesetzen Allahs. Ebenso sollte er jeglicher Rechtsprechung oder Regierung seine Zustimmung verweigern, deren Grundlagen den Gesetzen Allahs zuwiderlaufen. Gemäß dem islamischen Glauben hat niemand das Recht zu verbieten, was Allah legalisiert. Auch darf niemand das legalisieren, was Allah verboten hat. Wer auch immer absichtlich solch eine Tat begeht oder sie billigt, ist ein Ungläubiger." Aus diesem Konzept von der "Souveränität Gottes" ergibt sich zwangsläufig ein Bruch mit der kulturellen Moderne, die sich in der westlichen Welt entwickelt hat, da Salafiten eine Homogenisierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse anstreben, so wie sie ihrer Ansicht nach der Islam verbindlich für die gesamte Menschheit festschreibt. Pluralistische Lebensformen, die dem Individuum weit reichende Entfaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung einzelner Lebensentwürfe einräumen, werden ebenso abgelehnt wie die Vorstellung vom selbstbestimmten Menschen als Schöpfer seiner sozialen und politischen Lebensverhältnisse. Dieser Sachverhalt kommt insbesondere in der Ablehnung demokratischer Normen und Einrichtungen des Westens zum Ausdruck. Salafiten sprechen Institutionen wie Parlamenten und Verfassungen ihre Rechtmäßigkeit ab. Diese erhöben den Menschen selbst zum Gott, in dem sie ohne Rücksicht auf das göttliche Gesetz eigenständig Gesetze erlassen, was jedoch das ausschließliche Vorrecht Allahs sei. Darüber hinaus würden Verfassungen demokratischer Staaten die Gleichbehandlung aller Menschen ungeachtet ihrer Religion oder persönlicher Präferenzen festschreiben, was in ihren Augen einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung darstellt, da Religionszugehörigkeit und Frömmigkeit als alleinige Maßstäbe für Gut und Böse zu gelten hätten. Der Gleichbehandlungsgrundsatz und die damit in Zusammenhang stehende Gleichberechtigung aller, am politischen Willensbildungsprozess zu partizipieren, stellt aus salafitischer Sicht eine Hybris dar. In Baden-Württemberg wurde dazu folgende Stellungnahme veröffentlicht: "Wer sich zu der 'freiheitlich demokratischen Grundordnung' des Grundgesetzes (was ihr Taghut6 ist) bekennt, erklärt damit, dass er das Grundgesetz 6 Götze. 22 der Demokratie als für sich legitim und rechtmäßig ansieht, was klarer kufr [Unglaube] ist. Denn sich zu einem anderen Gesetz als das Allahs zu bekennen, ist Shirk bi-Allah7 (...)' das Recht des Volkes, die Staatsgewalt der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben'8 in diesem Punkt zeigt sich wieder glasklar, wem sie das Recht der Staatsgewalt, der Souveränität, des Urteils und Rechtssprechung (welches in Wahrheit Allah allein zusteht) zuerkennen - sich selbst, dem Volk. Das heißt sie machen sich hier selbst zum Gott." 9 Bei der Vermittlung und Umsetzung der oben skizzierten Glaubensinhalte bedienen sich Salafiten des strategischen Mittels der Mission (Da'wa), bei der zunächst im innerislamischen Kontext Einzelpersonen im Fokus stehen, die auf individueller Basis zu einer Rückkehr zum "wahren Islam" aufgerufen werden. Daneben wendet man sich auch systematisch im Rahmen einer "äußeren Mission" auch an Angehörige anderer Glaubensrichtungen, die als mögliche Konvertiten betrachtet werden. Salafiten streben von ihrem Anspruch her eine Islamisierung der Gesellschaft an, die sich, langfristig Islamisierung der betrachtet, weltweit durchsetzen soll. Daher lehnen sie auch nationalstaatGesellschaft liche Strukturen ab, da diese die anvisierte Einheit der Muslime beeindurch Da'wa trächtigen würden. Die Ergreifung der politischen Macht steht bei der überwiegenden Mehrheit der Salafiten nicht primär im Vordergrund, auch wenn sie in einschlägigen Rechtsgutachten immer wieder auf Fragen Bezug nehmen, die einzelne Politikfelder tangieren. Vorrang habe zunächst die "Reinigung" und "Erziehung" des Individuums, so formulieren es einschlägige Gelehrte, um auf gesellschaftlicher Ebene die Basis für politische Veränderungen zu einem späteren Zeitpunkt zu schaffen. Dieser "missionarische Salafismus" unterscheidet sich nur geringfügig vom "politischen Salafismus", dessen Vertreter sich durch ein verstärktes Politikinteresse auszeichnen. Hierbei ist zu beobachten, dass das tagespolitische Geschehen auf religiöse Normen bezogen wird. Derartige Kontextualisierungen offenbaren auch immer wieder eine feindselige Haltung gegenüber der "westlichen Welt", der eine Unterdrückung der Muslime und doppelte Standards in der Außenpolitik zugunsten des Staates Israel zur Last gelegt werden: "Die bösen Absichten und die Ziele der Weltmächte sind: 7 Allah noch weitere Götter beigesellen. 8 Zitat aus dem Grundgesetz, Art. 20 Abs. 2. 9 "Der Kufr der Loyalitätserklärung", Internetauswertung vom 15. Oktober 2008; Übernahme wie im Original. 23 ltmächten - die Stärkung und Festigung des zionistisch jüdiden böse schen Staates bsichten - die Zerstörung der al-Aqsa Moschee und anstelle terstellt dieser die Errichtung einer Synagoge, um die alten Wünsche der Juden zufrieden zu stellen - die Aufrechterhaltung der militärischen Souveränität der Juden über die muslimischen arabischen Länder - die Aneignung eines großen Teiles des Ölvorkommens in den Golfstaaten (...) - bei der leichtesten Provokation dem Islam den Todesstoß verpassen - alle Mittel fördern, die gegen den Islam sind und die Moralwerte und Tugenden zerstören, so dass als Folge sich die islamischen Staaten ständig untereinander bekriegen." 10 Richtet sich hier die feindselige Haltung noch ausschließlich gegen den Westen und seine Institutionen und wird der Konsens der klassischen Zeit, den Herrscher nicht zu kritisieren, befolgt, so propagiert hingegen der tfertigung "Jihad Salafismus" eine Gewaltausübung gegen Machthaber in islamischen n Gewalt Ländern, denen zum Vorwurf gemacht wird, vom Islam abgefallen zu sein. Gemäß ihrer Argumentation sind diese Personen delegitimiert, da sie das islamische Gesetz nicht vollständig umsetzen und darüber hinaus mit der westlichen Welt gegen die "wahren Muslime" paktierten. Neben diesem Kampf, der gegen vermeintliche säkulare Tendenzen in islamischen Ländern geführt wird (interner Jihadismus), gilt auch "der Westen" als ein Feind, der unter Einsatz maximaler Gewalt nicht nur in so genannten Krisengebieten, sondern auch auf eigenem Territorium bezwungen werden müsse (globaler Jihadismus). Die aggressive Einstellung gegenüber Nichtmuslimen wird zwar auch vom missionarischen und politischen Salafismus geteilt. Diese Richtungen versuchen im Gegensatz zum Jihadismus jedoch die bewaffnete Konfrontation aus taktischen Gründen und mit dem Argument der unzureichenden Vorbereitung und mangelnder militärischer Mittel vorläufig zu vermeiden. Diese ideologische Unschärfe macht auch oftmals einen nahtlosen Übergang hin zu einer jihadistischen Haltung möglich. Der jihadistische Salafismus verfolgt wie auch die anderen salafitischen Teilströmungen das Ziel, dem Islam als sozio-politische Ordnung weltweit Gel10 Ali Abdur-Rahman al-Hdhaifi, Eine ergreifende Botschaft an die muslimische Umma, S. 11; Internetauswertung vom 13. Oktober 2008; Übernahme wie im Original. 24 tung zu verschaffen. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens werden der Westen und seine Verbündeten als Haupthindernis betrachtet, denen zugleich auch einseitig die Verantwortung für den kulturellen und politischen Niedergang der islamischen Welt angelastet wird. Zudem erhebt man gegenüber dem Hauptfeind "Westen" den Vorwurf, einen Vernichtungsfeldzug gegen den Islam zu führen, der nach dem Vorbild der mittelalterlichen Kreuzzüge, wie Salafiten behaupten, zu einer christlich-jüdischen Dominanz in der Region des Nahen Ostens führen soll. Als Reaktion auf diese Bestandsaufnahme werden jedoch im salafitischen Kontext unterschiedliche Maßnahmen befürwortet. Während gemäßigte Salafiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt primär auf das Mittel der Mission setzen, sehen Jihadisten die einzige Lösung im sofortigen bewaffneten Kampf, dem ohne Ansehen der Person auch Zivilisten zum Opfer fallen dürfen. Das deutsche Engagement im Verbund der Antiterror-Allianz hat Deutschland im dazu geführt, dass inzwischen auch Deutschland als militärischer Gegner Visier von wahrgenommen wird und dadurch selbst im Inland ins Visier potenzieller Attentätern Attentäter gerückt ist. Schon seit einigen Jahren werden immer mehr Menschen in den Bann salafitischer Zirkel gezogen. Eine gewisse Rolle spielt dabei die professionell organisierte "Missionstätigkeit" dieser Strömung, die sich unter anderem durch zielgruppenorientierte Erstellung von Propagandamaterial auszeichnet. Beispielweise werden Übersetzungen einschlägiger Werke in verschiedenen Sprachen angeboten, wobei zunehmend auch Publikationen in deutscher und türkischer Sprache einem hiesigen Publikum, das der arabischen Sprache nicht mächtig ist, zugänglich gemacht werden. Die ideologische Anziehungskraft salafitischer Glaubensinhalte ist eine wesentliche, aber keine ausreichende Erklärung der Hinwendung Einzelner zum Salafismus. Soziale Bindungen scheinen eine weitere entscheidende Rolle zu spielen und gehen einem ideologischen Engagement in der Regel voraus. Dies zeigt sich insbesondere an den "Spontankonversionen", die bei entsprechenden Vortragsveranstaltungen stattfinden und zum Zwecke der weiteren Propaganda im Film aufgezeichnet werden. Die "Konvertiten" sind in der Regel nicht einmal in der Lage, das islamische Glaubensbekenntnis korrekt und ohne Hilfestellung auszusprechen. Personen, die sich dem Salafismus zuwenden, durchlaufen häufig persönliche Lebenskrisen, die mit schwierigen Lebensumständen wie dem Gefühl tatsächlicher oder empfundener Deprivation oder Sterbeund Krankheitsfällen in der Familie in Verbindung gebracht werden können. Eine damit oft einhergehende Offenheit für neue Lebensinhalte bietet geschickten Demagogen einen Ansatzpunkt, 25 um missionarisch aktiv zu werden, wenn prinzipiell eine Bereitschaft vorhanden ist, die Krise in einem religiösen Kontext zu lösen. Salafitische Kreise bieten ihren Anhängern das Gefühl von Geborgenheit und Bedeutung und verschaffen ihnen starken sozialen und emotionalen Halt, wenn sie sich für die gemeinsame Sache der neuen Überzeugung einbringen. Der hieraus entstehende Glaube und die damit verbundenen Lebenseinstellungen sind somit primär auf soziale Interaktion gegründet. Diese geht mit der graduellen Einbindung der neuen Anhänger in das salafitische Wertesystem einher. Die Integration in salafitische Gemeinschaften wird regelmäßig von einem Radikalisierungsprozess begleitet, der in mehreren Stufen verläuft und auch dazu führen kann, dass sich Einzelne zur Begehung von Gewaltrgang vom taten entschließen (Jihadisierung). Dieser mögliche fließende Übergang ismus zum vom gewaltlosen Salafismus zum Jiahdismus wird durch den gemeinsamen adismus Wertekanon begünstigt, den "gemäßigte" Salafisten mit Jihadisten teilen, wie die antiwestliche Haltung, die Befürwortung eines islamisch strukturierten Gemeinwesens am Vorbild des frühislamischen Kalifats und die prinzipielle Zulässigkeit von Gewalt im Namen der Religion. Insbesondere Anhänger des "missionarischen Salafismus" negieren die Rechtmäßigkeit von Gewalt nach religiösen Maßstäben nicht, sondern machen sie von bestimmten Voraussetzungen wie militärischer Stärke, Kosten-Nutzen-Verhältnis und einheitlicher Führung aller Muslime abhängig. Somit bestehen ideologisch betrachtet lediglich Differenzen hinsichtlich des Zeitpunktes und der praktischen Durchführung von Gewaltaktionen, was jedoch weniger mit religiösen Dogmen in Zusammenhang steht als vielmehr mit der unterschiedlichen Beurteilung des sozialen und politischen Kontextes, auf den einzelne religiöse Bestimmungen bezogen werden. Dieser Sachverhalt wird von Muhammad Nasiruddin al-ALBANI, einem prominenten Vertreter des "missionarischen Salafismus", der von einschlägigen Kreisen immer wieder als Hauptreferenz herangezogen wird, in einer Abhandlung folgendermaßen verdeutlicht: "Die Beschäftigung mit der Politik zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Ablenkung, obgleich wir die [sc. Notwendigkeit] dazu nicht bestreiten (...) Der Tag muss kommen, an dem wir in die politische Phase gemäß der Scharia eintreten, denn Politik bedeutet die Leitung der Angelegenheiten der Umma. Und wer leitet die Angelegenheiten der Umma? (...) Diese Aufgabe obliegt speziell dem Herrscher, dem seitens der Muslime gehuldigt wird. (...) Wir haben keine Autorität für die Leitung der Umma. Dies allein wäre gänzlich nutzlos. Um als Beispiel die 26 Kriege zu nennen, die gegen die Muslime in vielen islamischen Ländern geführt werden: Hätte es einen Nutzen, die Begeisterung der Muslime anzuheizen, wo wir doch zu keinem Jihad imstande sind, der von einem verantwortlichen Herrscher geführt werden muss, dem gehuldigt wurde? Dies würde nichts bringen, wobei wir die Verpflichtung [sc. zum Jihad] nicht leugnen. Jedoch sagen wir: Es wäre [sc. zum jetzigen Zeitpunkt] zu früh. Daher müssen wir uns selbst und andere, die wir zu unserer Da'wa aufrufen, damit beschäftigen, ihnen den wahren Islam verständlich zu machen und sie richtig zu erziehen (tarbiya)." 11 Diese Priorisierung und Umsetzung islamischer Bestimmungen, die zunächst eine Islamisierung "von unten" durch Erziehung vorsieht, ist in salafitischen Zirkeln jedoch nicht unangefochten. Zunehmend machen salafitische Gelehrte mit jihadistischer Ausrichtung ihren Widerspruch geltend, indem sie den Pflichtcharakter des Jihad betonen, der letztendlich einer Islamisierung "von oben" entJihad als Pflicht spricht, um so strukturell und machtpolitisch den Weg für weit reichende Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene zu bereiten: "Tarbiya wird als Entschuldigung benutzt, um nicht in den Jihad zu ziehen. (...) O Prophet, mühe dich gegen die Ungläubigen und Heuchler ab und sei hart gegen sie! Ihr Zufluchtsort wird die Hölle seinein schlimmer Ausgang (Koran 9:73). Die Ibaadah [gottesdienstliche Handlung], welche die Kuffar [Ungläubige] versuchen zu bedecken und Terrorismus und verbrecherisches Handeln nennen. Sie brandmarken die Anhänger dieses Pfades als Terroristen, Extremisten und Revolutionäre um uns mit diesen Namen zu betrügen. Wenn immer du das Wort Terrorismus siehst, ersetzte es mit Jihad. Der Grund, warum sie nicht Jihad sagen, ist weil dies die Worte des Qur'aan sind." 12 11 Al-Albani, al-tawhid awwalan ya du'at al-islam, S.16f.; hier: Arbeitsübersetzung aus dem Arabischen. 12 Yusuf al-' u yayree, Konstanten auf dem Weg des Jihad, S. 7; Internetauswertung vom 4. November 2008; Übernahme wie im Original. 27 Diese Ansichten des im Mai 2003 von saudischen Sicherheitskräften getöteten Jihadaktivisten Yusuf al-AYIRI stehen stellvertretend für eine Vielzahl solcher "Gelehrter", die mittlerweile auch verstärkt in Baden-Württemberg Zulauf erhalten. Al-AYIRI, dessen Schriften ins Deutsche übertragen und von mehreren Aktivisten im Internet verbreitet wurden, war Anführer der "al-Qaida" auf der arabischen Halbinsel und als Terrorist eng mit Usama BIN LADIN verbunden. Durch seinen Tod gilt er in jihadistischen Kreisen als "Märtyrer", was nach Meinung Vieler seinen theoretischen Schriften noch mehr Ansehen und Authentizität verleiht. In einer weiteren seiner in Baden-Württemberg zirkulierenden Schriften mit dem Titel "Die Rolle der Frauen bei der Bekämpfung der Feinde" wird versucht, Frauen für den bewaffneten Kampf zu rekrutieren. Generell scheint man sich mit Vorliebe solchen Jihadaktivisten zuzuwenden, die entweder in einschlägigen Krisengebieten wie Afghanistan, Somalia, Bosnien und Tschetschenien gekämpft und gegebenenfalls den Tod gefunden haben oder aber für ihre Ansichten längere Zeit inhaftiert gewesen sind. Neben den bekannten Theoretikern des modernen JihaAbdallah AZZAM (2. v. r.) dismus wie Abdallah AZZAM, dessen Rechteoretiker gutachten "Die Verteidigung der muslimischen es Jihad Länder ist die wichtigste individuelle Glaubenspflicht für einen Muslim" mehrfach neu auch in deutscher Sprache aufgelegt wurde, und Sayyid QUTB, dem Begründer der modernen Jihad-Bewegung, ist ein weiterer Demagoge in hiesigen Kreisen zu Prominenz gelangt. Ein amerikanischer Staatsbürger jemenitischer Abstammung namens Anwar al-AWLAKI, der während seiner Tätigkeit als Imam in den USA enge Kontakte zu Beteiligten an den AnschläAnwar al-AWLAKI gen vom 11. September 2001 unterhalten haben soll, ist durch Schriften und Vorträge im Jahr 2008 mehrfach in Erscheinung getreten. Durch seine Agitationen war er bereits im Jemen aufgefallen, wo er eigenen Angaben zufolge länger als ein Jahr inhaftiert gewesen ist. In seinen im Internet abrufbaren Vorträgen und Predigten, die sich durch ihre simplen Argumentationsmuster in englischer Sprache auszeichnen, befürwortet er die Schaffung eines islamischen Kalifats und interpretiert den Jihad im Sinne von Gewaltanwendung als persönliche individuelle Glaubenspflicht von Muslimen. Anhand von Aussprüchen des Propheten 28 Muhammad legt al-AWLAKI dar, dass das versprochene weltumspannende Kalifat und der damit verbundene endzeitliche Sieg gegen die Feinde des Islam unmittelbar bevorstünde. Dieser, so argumentiert er, würde jedoch von den Muslimen verlangen, sich von den "Ungläubigen" abzutrennen und sich der Jihad-Bewegung aktiv anzuschließen. Nur durch diesen Kampf könnten die Muslime ihre gegenwärtigen Probleme beseitigen und zu ihrer einstigen Stärke zurückfinden: "Was ist denn jetzt die Lösung zu unserem ProJihad als blem? Die Lösung ist in einem Hadith13 gegeben, Lebensgrundlage dem Rasoolullah14 sagt: 'Wenn ihr ein Geschäft eingeht, den Schwänzen der Kühe folgt, euch mit Landwirtschaft zufrieden gebt und Jihad fi Sabeelillah15 durchzuführen aufgibt, wird Allah eine Schande über euch verbreiten und wird es nicht wegnehmen, bis ihr zu eurem ursprünglichen Deen16 zurückkehrt (Wahrer Islam).' (...) Einige Muslime sagen, der Weg nach Vorn für diese Ummah17 ist es, sich vom Terrorismus zu distanzieren und ihre Zeit damit zu verbringen, in Geschäftlichem gut zu werden, gut in Technologie, Landwirtschaft, und im Rest; und so können wir mit dem Rest der Welt konkurrieren. Rasoolullah sagt, dass dies falsch ist und Allah 'Azza wa jall18 wird uns schänden, wenn wir dies tun. (...) Rasoolullah sagt, den Jihad zu verlassen, bedeutet den Deen zu verlassen. Daher ist der einzige Weg um zum Deen zurückzukehren, zum Jihad fi Sabeelillah zurückzukehren; daher entspricht der Jihad gleich Religion. Das ist also die Lösung; die Lösung für die Ummah ist zum Jihad fi Sabeelillah zurückzukehren. (...) Überlasst den Ackerbau den Leuten der Schrift, ihr geht und verbreitet die Religion Allahs 'Azza wa jall; sie werden Ackerbau betreiben und euch ernähren; sie werden euch Jizya19 bezahlen, sie werden euch Kharaaj bezahlen, den Rasoolullah hat gesagt: 'Mein Rizq 13 Ausspruch beziehungsweise Überlieferung des Propheten. 14 Arabisch: Gesandter Allahs, der "Prophet" Muhammad. 15 Arabisch: Jihad auf dem Pfade Allahs, bewaffneter Kampf. 16 Arabisch: Religion. 17 Arabisch: Gemeinschaft der Gläubigen, d.h. die Muslime als Kollektiv. 18 Arabisch: mächtig und erhaben. 19 Kopfsteuer beziehungsweise Zwangsabgabe für Nichtmuslime unter islamischer Herrschaft. 29 (Unterhalt) liegt unter dem Schatten meines Speeres.' Wenn Rizq von Rasoolullah durch Ghaneema20 gegeben war, muss es der beste Rizq sein und besser sein als Ackerbau, Geschäftliches, Schafe zu hirten und besser, als alles andere (...)." 21 In Baden-Württemberg gibt es mittlerweile nicht nur Einzelpersonen, die istenkreise sich diese Ideologie zu eigen machen, sondern Netzwerke, die auch InterBadennetportale betreiben, auf denen zahllose jihadistische Audio-, Textund rttemberg Filmdokumente einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In der Regel kann zwar eine Anlehnung an Ideologen im Ausland festgestellt werden, jedoch wird entsprechendes Gedankengut in einen lokalen Kontext adaptiert und für einen hiesigen Rezipientenkreis didaktisch und sprachlich aufbereitet, was sich vor allem an den immer zahlreicher auftretenden Übersetzungen ins Deutsche zeigt. Die gängigen Feindbilder, die als eigenständige Topoi in Jihadistenkreisen weltweit kursieren, werden auf den deutschen Kontext übertragen und sollen offensichtlich auch in Deutschland umgesetzt werden. Als ein repräsentatives Beispiel für diese Entwicklung kann eine im Internet agierende Gruppe genannt werden, die sich in einer Art von "politischem Manifest" in von "al-Qaida"-Kreisen bekannter Manier zum bewaffneten Kampf gegen den Westen und seine Verbündeten bekannt hat: "Und wir rufen zur Verwirklichung und zur Ausführung dieses Tawhid und zur Verwirklichung ('amal) dessen aus dem theoretischen Wissen ('ilm) heraus durch die Ausführung des Jihad (Anstrengung, Kampf) gegen den Taghut (alles, das neben Allah angebetet wird und damit zufrieden ist und dazu aufruft, wie übertretende Tyrannen, Staaten, Regierungen als auch Götzen, Gräber, und andere falsche Götter(ilah))ller Tawaghit - durch Zunge und Lanze (...) Und wir rufen zum ernsthaften I'dad (Ausbildung und Vorbereitung) auf allen Ebenen und Arten (Rüstung, physisch, finanziell, mental und in Taqwa22) für den Jihad auf dem Wege Allahs und zur größtmöglichen Anstrengung in der fortwährenden Konfrontation gegen die Tawaghit und 20 Kriegsbeute. 21 Al-Awlaki, Allahs Vorbereitung auf den Sieg, S. 32-34, Internetauswertung vom 28. Oktober 2008; Übernahme wie im Original. 22 Arabisch: Gottesfurcht. 30 Zusammenfassend lässt sich für den Jihadismus in Baden-Württemberg feststellen, dass sich vom islamistischen Terrorismus inspiriertes Gedankengut in steigendem Maß der Verbreitung erfreut. Auch verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen gemäßigtem und militantem Salafismus, was zum einen auf die gemeinsame Akzeptanz religiös legitimierter Gewaltanwendung zurückgeführt werden kann. Zum anderen wirkt sich in diesem Kontext die lose und hierarchiearme Struktur salafitischer Netzwerke negativ aus, da einzelne Personen oder kleinere Gruppen ideologisch mit einem Grundstock salafitischer Wertevorstellungen gerüstet stets zu der Überzeugung gelangen können, dass Gewalt anzuwenden ist, sollten aus ihrer Sicht die Bedingungen hierfür durch eine Neubewertung des äußeren Rahmens und ihrer konkreten Lebensumstände erfüllt sein. Salafitische "Rechtsgutachten", die eine religiöse Rechtfertigung für solche strategische Neuorientierungen bereithalten, sind mittlerweile unschwer zu beschaffen. Solche in der Öffentlichkeit als "Selbstradikalisierung" wahrgenommenen Prozesse haben jedoch in der Regel immer einen längeren Vorlauf, wobei sie nach derzeitigem Erkenntnisstand den Gipfel eines Radikalisierungsprozesses darstellen, der sich zuvor in einem salafitischen Milieu vollzogen hat. Als Nährboden solcher Prozesse können sowohl einzelne Vereine als auch private Zirkel eine Rolle spielen. Die sich als weiterer Schwerpunkt abzeichnende Tendenz, einschlägige Primärquellen in kommentierten Fassungen ins Deutsche zu übertragen, begünstigt diese Entwicklung noch weiter. 3. Jihadistische Tendenzen 3.1 "Al-Jama'a al-Islamiya" und "al-Jihad al-Islami" Der "al-Jihad al-Islami" ("Der islamische Jihad") und die "al-Jama'a al-Islamiya" ("Die islamische Gemeinschaft") sind militante Abspaltungen der "Muslimbruderschaft" (MB) in Ägypten. Viele Mitglieder sagten sich in den 70er-Jahren von der MB los, da ihnen diese nicht militant genug war. Beide Gruppierungen begannen als Dachorganisationen für militante Studentengruppen, später rekrutierten sie auch Angehörige der unteren Einkommensschichten und weniger Gebildete. Sowohl die "al-Jama'a al-Islamiya" als auch der "al-Jihad al-Islami" bestehen aus einem losen Verbund von Zellen und Gruppen (Jama'at). Beide Gruppierungen sind daher keine hierarchischen Organisationen im klassischen Sinne. Die personellen Verflechtungen der beiden Gruppierungen sind vielfältig. Sie teilen dieselbe jihadistische Ideologie. Bei einer Vielzahl von Gewalttaten in den 90er-Jahren kooperierten die "al-Jama'a al-Islamiya" und der "al-Jihad al-Islami". 32 Zusammenfassend lässt sich für den Jihadismus in Baden-Württemberg feststellen, dass sich vom islamistischen Terrorismus inspiriertes Gedankengut in steigendem Maß der Verbreitung erfreut. Auch verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen gemäßigtem und militantem Salafismus, was zum einen auf die gemeinsame Akzeptanz religiös legitimierter Gewaltanwendung zurückgeführt werden kann. Zum anderen wirkt sich in diesem Kontext die lose und hierarchiearme Struktur salafitischer Netzwerke negativ aus, da einzelne Personen oder kleinere Gruppen ideologisch mit einem Grundstock salafitischer Wertevorstellungen gerüstet stets zu der Überzeugung gelangen können, dass Gewalt anzuwenden ist, sollten aus ihrer Sicht die Bedingungen hierfür durch eine Neubewertung des äußeren Rahmens und ihrer konkreten Lebensumstände erfüllt sein. Salafitische "Rechtsgutachten", die eine religiöse Rechtfertigung für solche strategische Neuorientierungen bereithalten, sind mittlerweile unschwer zu beschaffen. Solche in der Öffentlichkeit als "Selbstradikalisierung" wahrgenommenen Prozesse haben jedoch in der Regel immer einen längeren Vorlauf, wobei sie nach derzeitigem Erkenntnisstand den Gipfel eines Radikalisierungsprozesses darstellen, der sich zuvor in einem salafitischen Milieu vollzogen hat. Als Nährboden solcher Prozesse können sowohl einzelne Vereine als auch private Zirkel eine Rolle spielen. Die sich als weiterer Schwerpunkt abzeichnende Tendenz, einschlägige Primärquellen in kommentierten Fassungen ins Deutsche zu übertragen, begünstigt diese Entwicklung noch weiter. 3. Jihadistische Tendenzen 3.1 "Al-Jama'a al-Islamiya" und "al-Jihad al-Islami" Der "al-Jihad al-Islami" ("Der islamische Jihad") und die "al-Jama'a al-Islamiya" ("Die islamische Gemeinschaft") sind militante Abspaltungen der "Muslimbruderschaft" (MB) in Ägypten. Viele Mitglieder sagten sich in den 70er-Jahren von der MB los, da ihnen diese nicht militant genug war. Beide Gruppierungen begannen als Dachorganisationen für militante Studentengruppen, später rekrutierten sie auch Angehörige der unteren Einkommensschichten und weniger Gebildete. Sowohl die "al-Jama'a al-Islamiya" als auch der "al-Jihad al-Islami" bestehen aus einem losen Verbund von Zellen und Gruppen (Jama'at). Beide Gruppierungen sind daher keine hierarchischen Organisationen im klassischen Sinne. Die personellen Verflechtungen der beiden Gruppierungen sind vielfältig. Sie teilen dieselbe jihadistische Ideologie. Bei einer Vielzahl von Gewalttaten in den 90er-Jahren kooperierten die "al-Jama'a al-Islamiya" und der "al-Jihad al-Islami". 32 Der "al-Jihad al-Islami" stand nie unter der Leitung eines einzelnen Führers, sondern wird von einem Führungskollektiv geleitet. Bekannte Führungspersönlichkeiten waren Aiman az-ZAWAHIRI und Abd al-Salam FARRAG. Az-ZAWAHIRI wurde, nachdem er eine leitende Funktion beim "al-Jihad al-Islami" innehatte, Stellvertreter von Usama BIN LADIN in der Terrororganisation "al-Qaida". Dies verdeutlicht die internationalen Verflechtungen der ehemals regional begrenzten jihadistischen Gruppierungen wie "alJihad al-Islami" und "al-Jama'a al-Islamiya". Abd al-Salam FARRAG schrieb in den 70er-Jahren "Die vernachlässigte Pflicht", womit der Jihad im Sinne "Die vernacheines klar gewaltorientierten Einsatzes gemeint ist. FARRAG verfasste damit lässigte Pflicht" eine Art Manifest der jihadistischen Bewegungen, in dem er die Überzeugung vertrat, dass der gewaltsame Jihad eine der Grundpflichten eines jeden Muslims sei. FARRAG vertrat auch die These, dass es einen "nahen Feind" und einen "fernen Feind" gebe. Beim "nahen Feind" handle es sich um die Regierenden in den islamischen Ländern, deren Bekämpfung Priorität habe, da diese Regierenden als Abtrünnige anzusehen seien, weil sie nicht mittels der Scharia herrschten.26 FARRAG rief zu einem gewaltsamen Umsturz der Herrschaftsverhältnisse auf. Er gilt somit als treibende Kraft für die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar As-Sadat im Oktober 1981 durch Khalid ISLAMBULI, der in Vernehmungen bestätigte, dass die Motivation für seine Tat unter anderem von der Lektüre des erwähnten Werks von FARRAG herrührte. FARRAG und ISLALMBULI wurden 1982 hingerichtet. Khalid ISLAMBULI Der spirituelle Führer der "al-Jama'a al-Islamiya", Umar ABD AR-RAHMAN, wurde als Drahtzieher des ersten Anschlags auf das New Yorker World Trade Center 1993 in den USA zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Von dem "al-Jihad al-Islami" und der "al-Jama'a al-Islamiya" ging in den 90er-Jahren eine blutige Terrorwelle beider Gruppen aus, bei der hunderte von Zivilisten, dutzende Touristen und über 100 Polizisten umkamen. Auch ägyptische Intellektuelle und prominente Autoren wurden zur Zielscheibe der beiden Gruppierungen. Erstmals im Jahr 1997 haben die in Ägypten inhaftierten Mitglieder der "alJama'a al-Islamiya" einen Gewaltverzicht ausgesprochen. Er wird jedoch von den sich im Exil befindenden Mitgliedern nicht mitgetragen. Die Mitglieder 26 Die als "ungläubig" angesehenen westlichen Staaten entsprechen danach dem "fernen Feind". 33 des "al-Jihad al-Islami" diskutierten zwar ebenfalls einen Gewaltverzicht, ein derartiges Vorhaben wird aber, solange Personen wie az-ZAWAHIRI noch Einfluss auf die Gruppierung haben, keine Aussicht auf Realisierung haben. Ein Teil der "al-Jama'a al-Islamiya" hatte sich im August 2006 mit der "alQaida" zusammengeschlossen. Andere Mitglieder der "al-Jama'a al-Islamiya" haben sich gegen diesen Zusammenschluss ausgesprochen. Auch daran wird die Heterogenität dieser beiden Gruppierungen deutlich. In Baden-Württemberg sind der "al-Jihad al-Islami" und die "al-Jama'a alIslamiya" durch Einzelpersonen vertreten. 3.2 Die Chronologie der Gewalt Islamistisch motivierte Anschläge und Gewalttaten sorgten im Jahr 2008 nschläge häufig für Schlagzeilen. So fielen in Algerien, im Irak, in Afghanistan, in eltweit Pakistan, in Indien, in Somalia und in anderen Krisengebieten Hunderte von Menschen terroristischen Gewalttaten zum Opfer. Während im Jahr 2008 die Zahl der Anschläge und Gewaltakte im Irak allmählich zurückging, kam es in Afghanistan, Pakistan und Indien zu den bis dato schwersten Terrorakten, die sich auch durch ihre Häufigkeit von den Ereignissen der vergangen Jahre abhoben. Das Wiedererstarken der Talibankräfte hielt an, was sich in Anschlägen und in sich über mehrere Wochen und Monate hinziehenden Kämpfen abzeichnete, die nicht mehr nur auf die südlichen und südöstlichen Landesteile Afghanistans beschränkt blieben. Im Norden und in der Hauptstadt Kabul gerieten deutsche Soldaten und zivile Aufbauhelfer ins Visier terroristischer Gruppen. Dabei wurden fünf deutsche Bundeswehrsoldaten getötet und mehrere verletzt. Das Ausmaß islamistisch motivierter Gewalt wurde im Jahr 2008 beispielsweise in folgenden, besonders schweren Anschlägen deutlich: Aus der schrecklichen Reihe von Anschlägen, die im Irak viele Opfer forderten, fielen jene Attentate besonders auf, die sich gegen belebte Märkte richteten. Hierbei wurden offenbar zwei geistig behinderte Frauen mit Sprengstoff ausgestattet. Auf zwei belebten Marktplätzen in Bagdad wurden diese Sprengsätze am 1. Februar ferngezündet. Es gab mindestens 98 Tote und circa 200 Verletzte. 34 In mehreren algerischen Städten kam es im Juni zu schweren Anschlägen innerhalb weniger Tage. Bei einem Anschlag auf eine Bushaltestelle in Bouira starben 20 Menschen. Am 19. August starben in Issers mindestens 43 Menschen und dutzende wurden verletzt. Bei einem Attentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug auf die indische Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul starben mehr als 40 Personen; die Zahl der Verletzten war mit über 140 Personen besonders hoch. In Pakistan wurden Ende August und im September mehrere schwere terroristische Anschläge durchgeführt. Bei einem Selbstmordattentat auf eine Munitionsfabrik in Wah starben mindestens 78 Menschen. Der Anschlag forderte weit über 100 Verletzte. Zu diesem Anschlag bekannte sich der pakistanische Ableger der Taliban ("Tehrik-i-Taliban"). Am 20. September stürmten Selbstmordattentäter vor das Mariott-Hotel in Islamabad. 60 Menschen starben, mehr als 250 wurden verletzt. In Sanaa, der Hauptstadt des Jemen, wurden 16 Menschen getötet, als sich ein Selbstmordattentäter mit seinem Fahrzeug vor der Botschaft der USA in die Luft sprengte. Ein schwerer Anschlag forderte am 27. September 17 Menschenleben, als eine Autobombe in einem belebten Viertel von Damaskus/SSyrien explodierte. In einer Reihe koordinierter Angriffe von Gruppen Schwerbewaffneter stürmten in Mumbai/IIndien am 26. November mutmaßlich islamistisch motivierte Täter zeitgleich mehrere Luxushotels, Krankenhäuser, Restaurants und ein jüdisches Kulturzentrum. Die Täter schossen wild um sich und lieferten sich über 60 Stunden Feuergefechte mit den Sicherheitskräften. Sie nahmen Geiseln und töteten wahllos Zivilisten. Bei diesen Angriffen starben über 170 Menschen, mehrere hundert wurden verletzt. Das Jahr 2008 hat erneut gezeigt, zu welch brutalen Gewalttaten jihadistisch motivierte Attentäter fähig sind. Die Planungen und die Unterstützung und Durchführung von Terroranschlägen fanden in bekannten Kriegsund Krisengebieten statt. Mit Indien geriet ein weiteres Land in das Zielspektrum islamistischer Attentäter. Aber auch in Europa bleibt die Gefahr, die von einem jihadistisch motivierten Personenkreis ausgeht, unvermindert hoch. 35 3.3 Propaganda und Kommunikation im Internet Die Nutzung des Internets wandelt sich. Die Bandbreite und technischen Voraussetzungen werden regelmäßig verbessert, die Inhalte immer umfangreicher. essionelle Global, aber auch spezifisch regional agierende islamistische Extremisten aganda in haben über die letzten Jahre die Vorteile des Internets in vollem Umfang stlichen erkannt und sich angeeignet. Die entsprechende Infrastruktur für diese prachen Informationstechnologie ist inzwischen selbst in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens ausreichend funktionsfähig. Dabei ist natürlich nicht der Besitz eines eigenen häuslichen Internetanschlusses wesentlich, sondern die Zugangsmöglichkeit über die boomende regionale Struktur von Internetcafes in den jeweiligen Ländern. Ein weiterer fördernder Gesichtspunkt besteht in der Tatsache, dass inzwischen eigene Sprachen und Schriften, insbesondere Arabisch, in größerem Umfang zur Kommunikation im Internet eingesetzt werden können. Die Kommunikation islamistischer Akteure im Internet wird inzwischen in weiten Teilen äußerst professionell über komplexe technische und operative Verfahren betrieben, die nur Insidern bekannt sind. Dabei wird offenkundig Verschlüsselungsverfahren nicht unbedingt vertraut, da sie aus dem Westen stammen. Passwortgeschützte Foren und Chaträume wie beispielsweise Paltalk stehen eher im Vordergrund. Verschlüsselt wird über sprachliche Besonderheiten und bestimmte, nur einem kleinen Kreis bekannte Codewörter. Der bereits vor dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003 begonnene Trend der Ausbreitung islamistischer Angebote in allen Bereichen des Internets hat sich stark fortgesetzt. Neben der gestiegenen Anzahl und der medialen Qualität islamistischer Seiten hat sich auch der deutschund türkischstämmige Anteil an Internetdokumenten wie Propagandaschriften, Flash-Animationen und Videos aus allen Bereichen des islamistischen Extremismus sowie aus dem Umfeld der "al-Qaida" deutlich erhöht. Angesichts der großen, in Deutschland lebenden türkisch sprechenden Bevölkerungsgruppe ist diese Entwicklung mittlerweile ein ernst zu nehmender Faktor der Verbreitung islamistischer Inhalte besonders bei türkischen Jugendlichen. Das Propagandamaterial von transnational agierenden Jihadisten wie das der "al-Qaida" macht dabei seit Jahren den Hauptanteil aus und prägt in weiten Teilen den islamistischen Diskurs im Internet. Auf einschlägigen 36 Internetseiten dieser Szene finden sich vor allem Videound Audiodokumente, antiwestliche und antisemitische Hetzschriften sowie umfangreiche dogmatische und religiöse Texte, die sich in erster Linie auf die bekannten Konfliktherde der islamischen Welt und damit auf den Irak, auf Tschetschenien, Saudi-Arabien und den Nahen Osten beziehen. So hat sich insgesamt der Anteil der nicht audiovisuellen Beiträge von islamistischen Autoren und Gelehrten, die zum Download bereitstehen, im Vergleich zu den Vorjahren stark erhöht. Der Großteil des aktuellen Videomaterials stammt neben Tschetschenien weiterhin aus dem Irak und mittlerweile in zunehmendem Maße aus Afghanistan, das sich aufgrund der weiterhin instabilen Sicherheitslage zu einem zentralen Drehund Angelpunkt für Jihadisten entwickelt hat. Vor allem die durch blutige Details stark visualisierten Ereignisse machen es Jihadpropagandisten leicht, Muslime als Opfer darzustellen, die man nur durch Gewalt verteidigen und rächen könne. Mehrere irakische Widerstandsgruppen publizieren mehr oder weniger regelmäßig eigene Anschlagsvideos, die mit dem jeweiligen Logo der Organisation hinterlegt sind. Die mediale Wirkung wird inzwischen durch den Einsatz moderner Digitalkameras und Fotohandys mit hoch auflösenden Bildern bei der visuellen Dokumentation von Anschlägen und Tötungen weiter verbessert. Besonders so genannte sniper (das heißt Scharfschützen)Videos, bei denen amerikanische Soldaten und regionale Sicherheitskräfte vor laufender Kamera erschossen werden, sind eine perfide Methode zur Verbreitung von Angst und Schrecken bei westlichen Betrachtern und besonders bei den amerikanischen Truppen im Irak. Derartige Videos, die teilweise in Formaten zum Betrachten und Verbreiten über Handys aufbereitet sind, finden höchste Aufmerksamkeit auch bei Islamisten in Deutschland und werden als zunehmend effektiv im Kampf gegen westliche Besatzungsmächte im Irak und in Afghanistan angesehen. Neben der quantitativen Zunahme des Propagandamaterials ist auch eine immer professionellere Erstellung des Materials selbst festzustellen. Die jihadistischen Gruppierungen vor allem im Irak und in der Grenzregion Afghanistan/Pakistan haben jeweils eigene "Medienabteilungen" wie "aleigene Fajir" und "al-Furqan", die sie als alternative Informationskanäle und somit Medienals Gegengewicht zu der als lückenhaft und einseitig wahrgenommenen abteilungen Berichterstattung westlicher und insbesondere amerikanischer Nachrichtenagenturen betrachten. Dabei sind die graphische Gestaltung, Schnitttechnik und das erkennbare Vorgehen nach einem zuvor entwickelten "Drehbuch" Zeichen einer Professionalität, die westlichen Fernsehbeiträgen 37 aus der Region mittlerweile in Nichts nachstehen. Durch die Nutzung einer Vielzahl von kostenlosen filesharing-Angeboten27 werden entsprechende Dokumente vielfach redundant im Internet zum Download platziert und über eine Vielzahl von Schnittstellen und Kontaktpersonen in anderen Sektionen des Internets gestreut, um sie einem größtmöglichen Zuschauerkreis zugänglich zu machen. Über bekannte Videoportale wie YouTube wird inzwischen ebenfalls islamistische Propaganda in großen Mengen verbreitet. Mittlerweile gelang es dem Führungskader der "al-Qaida", dessen eigenes "Medienlabel" "AsSahab-Media" dauerhaft in den jihadistischen Informationskanälen zu etablieren. Diese Medienagentur produzierte im Jahr 2008 eine große Anzahl Propagandavideos mit bekannten "alQaida"-Führern wie Ayman al-ZAWAHIRI sowie über die Kämpfe gegen die internationalen Einsatztruppen in Afghanistan und den angrenzenden pakistanischen Provinzen. "As-Sahab-Media" ist somit weiterhin das Sprachrohr der führenden Funktionäre der in Waziristan28 agierenden Kern"al-Qaida", die sich in bestimmten Abständen oder bei bestimmten Ereignissen über das Internet zu Wort melden, um ihre Sichtweise zu bestimmten politischen Entwicklungen in der Region oder zu geopolitischen Sachverhalten zu verbreiten. Tendenziell schien "As-Sahab-Media" und damit auch "al-Qaida" zunehmend darauf bedacht zu sein, ein internationales nichtmuslimisches Publikum anzusprechen, da ein Großteil des neuen Videomaterials und zum Teil auch ältere Filme mit englischsprachigen und zuletzt sogar verstärkt mit deutschen Untertiteln in Umlauf gebracht wurden. Inzwischen sind eine Vielzahl von extremistischen, islamistisch unterwansswortderten und teilweise passwortgeschützten Foren entstanden, über die Symützte Foren pathisanten weltweit miteinander kommunizieren. Die einschlägigen islamistischen Internetforen sind dabei der Hauptumschlagsplatz für Gewaltfilme und Tondokumente. Zusätzlich wird täglich eine große Anzahl von Verlautbarungen jihadistischer Gruppierungen aus allen regionalen JihadKampfgebieten wie des "Islamischen Emirats Afghanistan" der Taliban auch in europäischen Sprachen veröffentlicht. Neu hinzugekommen sind in den vergangenen Jahren so genannte Web-Blogs, bei denen tagebuchartig Verlautbarungen aus allen Bereichen des Islamismus aktuell verbreitet werden. 27 Hierbei werden anonym größere Audio-, Videooder Text-Dokumente kostenlos zum Download bereitgestellt. 28 Bergregion im nordwestlichen Pakistan an der Grenze zu Afghanistan. 38 Seit Mai 2006 publizierte eine deutsche Sektion der "Global Islamic Media Front" (GIMF) über einen derartigen Web-Blog deutsche Übersetzungen von Texten aus dem Umfeld der islamistischen Terrorszene. Neben der Erstellung von ideologischen Abhandlungen und Indoktrinationsschriften hatten es sich die Autoren dieser Blogs zur Aufgabe gemacht, bereits vorhandenes Video-, Bildund Audiomaterial in aufwändig gestalteten FlashAnimationen zu verarbeiten. Sehr häufig wurde auch digitales Material, das aus anderen Quellen stammt, aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang herausgerissen und für propagandistische Zwecke der Jihadisten verwendet. Nach der Verurteilung des in Wien identifizierten Hauptakteurs der deutschsprachigen GIMF am 12. März 200829 hat sich mittlerweile eine große Anzahl von weiteren Anbietern darauf spezialisiert, relevante Beiträge ins Deutsche beziehungsweise Türkische zu übersetzen. Darüber hinaus gibt es eine mittlerweile unüberschaubare Anzahl von so genannten Unterstützerseiten für die Sache der Mujahedin. Auf ihnen wird im Internet kursierendes Material systematisch gesammelt und geordnet. Auf diese Weise kann sich beispielsweise jeder Interessierte über die Geschichten der im Jihad gefallenen "Märtyrer" und deren Motivation für Selbstmordattentate informieren. Auch bieten einige dieser Seiten den Anhängern des globalen Jihadismus die Möglichkeit, Geldspenden für die Kämpfer und die Hinterbliebenen der Märtyrerfamilien zu sammeln. Die Rekrutierung von potenziellen Mujahedin erfolgt in der Regel über bestimmte Internetseiten, die für den weltweiten Jihad Werbung betreiben. Die Verehrung und Pflege des Märtyrerwesens spielt eine herausragende Rolle. Hunderte von Märtyrerlebensläufen finden in der islamistischen Szene Verbreitung und sollen dazu dienen, die Schrecken des Todes herunterzuspielen und andere dazu zu animieren, es ihren Vorgängern gleich zu tun. Noch nicht rechtskräftig ist die am 19. Juni 2008 durch das Oberlandesgericht Celle ausgesprochene Verurteilung30 eines in Niedersachsen lebenden Irakers zu drei Jahren Haft ohne Bewährung wegen des Verdachts der WerInternetaktivisten bung um Mitglieder und Unterstützer für die "al-Qaida" im Internet. Dieser vor Gericht hatte in einem islamistischen Chatroom Verlautbarungen der "al-Qaida" in Echtzeit eingespielt und zum Download bereitgestellt. Das Verfahren gilt als Pilotverfahren in der Bundesrepublik für die Strafbarkeit von Internetaktivitäten im Zusammenhang mit der Verbreitung terroristischer Botschaften. 29 Landgericht für Strafsachen Wien, GZ 443 Hv 1/08h-288; am 27. August 2008 durch den Obersten Gerichtshof aufgehoben und an das Landgericht für Strafsachen Wien zurückverwiesen, GZ 13 Os 83/08t. 30 Az.: 2 StE 5/07. 39 4. Islamistischer Extremismus Neben den unterschiedlichen salafitischen Strömungen, deren Vorstellungen auch die Grundlage jihadistischer Zirkel bilden, bestehen weitere Organisationen und Bewegungen, in denen islamistische Vorstellungen akzeptiert und propagiert werden. Die Szene splittert sich in unterschiedliche Strömungen und Denkschulen auf, die teilweise ihre Konkurrenz offen austragen, etwa in interaktiven Internetportalen wie YouTube. Das Spektrum reicht von Bewegungen bis hin zu konkreten Vereinen oder Parteien, die spezifische Ziele regional oder auch weltweit verfolgen. Bei genauerer Analyse sind diese Ziele antidemokratisch. Problematisch ist bei einigen Organisationen, dass sie zum Teil über bewaffnete Milizen verfügen und Gewaltanwendung in der politischen Auseinandersetzung nicht grundsätzlich auszuschließen bereit sind. Islamistischer Extremismus artikuliert sich auch in deutscher Sprache und wird auch gestützt von deutschen Staatsbürgern. Dies macht die immer noch steigende Zahl und Verbreitung von deutschsprachigem Propagandamaterial deutlich. 4.1 "Tabligh-i Jamaa' t" ("Gemeinschaft für Verkündigung und Mission") Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ist in Indien die Tabligh-Bewegung entstanden, die sich ursprünglich den dortigen Muslimen zuwandte, die unter den Bedingungen der Kolonialherrschaft als Minderheit in einem nichtislamischen Umfeld lebten. Ziel des Gründers dieser Bewegung, Muhammad ILIYAS (1885-1994), war es, die muslimische Präsenz in einem überwiegend hinduistisch geprägten Umfeld durch organisierte religiöse Unterweisung zu stärken. Im Laufe der Zeit konnte sich die Bewegung nicht nur in Asien, sondern auch in Europa fest etablieren. Konflikte mit den politischen Kräften der jeweiligen Umgebung, in der sie agiert, werden strikt vermieden. Man schätzt, dass die Bewegung zwischenzeitlich weltweit mehrere Millionen Anhänger hat. Ideologisch handelt es sich bei der "Tabligh-i Jamaat" um eine Strömung, die ein rückwärts gewandtes Islamverständnis propagiert, das vorgibt, sich am Vorbild des Propheten Muhammad und der ersten Muslime zu orientieren. Im Zentrum ihrer Tätigkeit steht die Missionierung (Da'wa) von islamisch geprägten Personenkreisen, denen man eine authentische islamische Identität vermitteln möchte. Aktivisten wird daher zumindest zeitweise eine Loslösung aus ihrem alltäglichen Leben nahegelegt, was sich dann in der strikten Einhaltung islamischer Bestimmungen wie Kleidungsund Essensvorschriften äußert. In diesem Zusammenhang unternehmen 40 einzelne Gruppen (Jamaat) von Mitgliedern Missionsreisen in andere Städte, um speziell in Moscheen für weitere Anhänger zu werben. Durch solche Missionierungsgruppen sollen möglichst viele Personen erreicht werden. Andersgläubige werden bisher nicht systematisch als eigenständige Zielgruppe einer Mission angegangen. Was die Organisationsstruktur der "Tabligh-i Jamaat" betrifft, so ist ein gewisser Hierarchisierungsgrad vorhanden, an dessen Spitze ein Schurarat steht, der die jeweils untergeordneten Räte mit ihren beigeordneten Gruppen koordiniert und deren Tätigkeit überwacht. Durch die Schwerpunktsetzung der Tablighis im Bereich der inneren MisMissionssion tritt die Bewegung in Konkurrenz zum Salafismus, zu dem sie ein bewegung durchaus ambivalentes Verhältnis entwickelt hat. Einerseits greifen beide Strömungen auf das vermeintliche Vorbild des Frühislams zurück, was sich in vielerlei Hinsicht in übereinstimmenden Verhaltensund Sichtweisen äußert. Andererseits kritisieren einschlägige salafitische Kapazitäten die "Tabligh-i Jamaat" immer wieder aufgrund angeblicher Mängel bei der Einhaltung einzelner Vorschriften im Bereich der Glaubensdoktrin. Dies betrifft insbesondere die Durchführung der Mission, was den Tablighis den Vorwurf einhandelte, ungeschulte und dilettantisch agierende Personen einzusetzen, die den Islam in einer verfälschten Form an andere weiter vermitteln würden. Dieser Vorwurf hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sich die "Tabligh- i Jamaat" als Organisation gegenüber allen Muslimen öffnet, von denen sie sich erhofft, sie als potenzielle Aktivisten gewinnen zu können. Darüber hinaus verfügen die Tablighis über keine öffentlich agierenden religiösen Repräsentationsfiguren beziehungsweise Medien, durch die sie mit ihren Anhängern in Verbindung treten oder verbindliche Lehrmeinungen kommunizieren könnten. Die Bewegung wird im Gegensatz zum Salafismus ganz bewusst von religiösen Laien getragen, wobei innerislamische Konflikte vermieden werden, auch wenn dies gelegentlich mit ideologischen Unschärfen einhergeht. Beide Strömungen verfolgen jedoch bei ihren Islamisierungskampagnen primär das Ziel, die Verhaltensweisen der Muslime auf der individuellen Ebene nach islamischen Maßstäben auszurichten, die ihrem Weltbild entsprechen. Daher engagieren sich trotz einiger Vorbehalte zahlreiche am Salafismus orientierte Personen bei den Tablighis. Dies geschieht häufig mit der Intention, durch die etablierten 41 Strukturen der "Tabligh-i Jamaat" ihrer Missionstätigkeit nachzukommen, was von Vielen als verbindliche religiöse Verpflichtung angesehen wird. Dass derartige personelle Verflechtungen in Einzelfällen auch mit einem konkreten Ideologietransfer einhergehen, der sich bisweilen auch extremistisch äußern kann, ist angesichts der engen Interaktion der Gruppenmitglieder nicht verwunderlich. Durch dieses sachlich bedingte enge und zugleich zwiespältige Verhältnis der beiden Strömungen wird verständlich, weshalb in der Vergangenheit immer wieder Personen mit einer jihadistischen Ausrichtung auch bei den "Tabligh-i Jamaat" aktiv waren. Die Tablighis geben sich jedoch im Gegensatz zu Salafisten generell dezidiert apolitisch, was sich vor allem am Mangel von Schrifterzeugnissen widerspiegelt, die explizit der Organisation zugeordnet werden können. In Großstädten Baden-Württembergs unterhalten Anhänger der "Tabligh-i Jamaat" Stützpunkte. Missionare auf der Durchreise wurden unterstützt. Sie konnten für die Ziele der Bewegung werben und Anhänger gewinnen. 4.2 "Die Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger Die ägyptische "Muslimbruderschaft" (MB) wurde 1928 von dem Grundschullehrer Hassan al-BANNA gegründet. Im Umfeld säkularer Tendenzen und hegemonialer Ansprüche der Briten setzte sich al-BANNA unter anderem zum Ziel, islamische Moralvorstellungen zu verbreiten und gewann so rasch zahlreiche Anhänger. Die MB entwickelte sich bis Ende der 30er-Jahre zu einer streng hierarchisch aufgebauten politischen Organisation. Ihr Motto lautet: "Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch." 31 Al-BANNA, ein charismatischer Redner, predigte einen revolutionären Islam und entwarf die Zukunftsvision eines "wahren" islamischen Staates. Ende der 40er-Jahre schätzte man die Mitgliederzahl der MB auf eine halbe Million. In dieser Zeit nahmen die Spannungen zwischen der MB und der ägyptischen Regierung ständig zu. Aufgrund des dadurch entstehenden Verfolgungsdrucks waren zahlreiche Mitglieder gezwungen, ins Exil zu gehen. Dadurch wurde die Ideologie der "Muslimbruderschaft" auch außerhalb Ägyptens verbreitet. Die von al-BANNA zugrunde gelegte Ideologie wurde in den letzten 31 Internetauswertung vom 28. November 2008. 42 Jahrzehnten unter anderem von Said RAMADAN und Sayyid QUTB weiterentwickelt. Al-BANNA, der als Vordenker des Islamismus gilt, schrieb in seinem "SendVordenker des schreiben über den Jihad" Folgendes: Islamismus "Der Jihad ist eine notwendige Pflicht, die Gott jedem Muslim auferlegt hat, der man nicht entkommen kann und aus der es keinen Ausweg gibt. Gott hat dem Jihad eine große Bedeutung beigemessen und machte den Lohn für die Mujahidin und die Märtyrer reichlich." 32 Bemerkenswert ist, dass al-BANNA den Jihad zur Pflicht jedes einzelnen Muslims erklärte und damit nach islamischem Recht zum fard 'ain33 machte. Eine Differenzierung zwischen einem "inneren" und "äußeren Jihad" gibt es bei al-BANNA nicht. Für ihn bedeutet Jihad ausschließlich militärische Auseinandersetzung: "(...) Die Verse des Korans und die Hadithe des großartigen Gesandten (Gott segne ihn und schenke ihm Heil!) sind voll von diesen noblen Idealen und sie rufen die Leute klar und deutlich zum Jihad, zum Kampf, zum Militärdienst und zur Stärkung der Verteidigungsmittel auf. Der Kampf soll auf alle Arten stattfinden, auf dem Land, auf dem Meer und anderswo, in allen Fällen und unter allen Umständen." 34 Al-BANNA beruft sich auf die schriftlichen Rechtsquellen - Koran und Hadith - und auf die Meinungen von Islamgelehrten, die sich mit dem Jihad beschäftigt haben35, und führte unter anderem aus: "Schlage sie [sc. die Verse] im heiligen Koran nach, damit du siehst, wie Gott die Muslime zu Vor32 Hassan al-BANNA, Majmu'at ar-rasa'il al-imam ash-shahid, Alexandria 2002, S. 263. 33 Es wird zwischen "fard 'ain" und "fard kifaya" unterschieden. "Fard 'ain" bedeutet eine Pflicht, die von jedem einzelnen Muslim ausgeübt werden muss und von der man nur in Ausnahmefällen befreit werden kann. "Fard kifaya" ist eine Pflicht, von der man befreit werden kann, wenn genügend andere Muslime diese Pflicht erfüllen, so dass die islamische Umma nicht darauf angewiesen ist, dass jeder Einzelne an der Pflichterfüllung teilnimmt. Es ist umstritten, ob der Jihad generell "fard 'ain" oder "fard kifaya" ist und unter welchen Bedingungen er "fard 'ain" oder "fard kifaya" ist. 34 Hassan al-BANNA, Majmu'at ar-rasa'il al-imam ash-shahid, Alexandria 2002, S. 263. 35 Ebd., S. 263-280. 43 sichtsmaßnahmen36 anspornt und zur Praktizierung des Kampfes in Armeen, Truppen oder als Einzelpersonen - wie es die Umstände erfordern. (...) und wie er [sc. Gott] den Kampf mit dem Gebet und dem Fasten verknüpft, und es ist deutlich, dass er [sc. der Jihad] wie die beiden [sc. anderen Pflichten] zu den Säulen des Islam gehört (...)" 37 Gegen die im Februar 2007 vor ein ägyptisches Militärtribunal gestellten 40 mutmaßlichen Financiers38 der MB erging am 15. April 2008 das Urteil. 25 der Angeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt und 15 Angeklagte freigesprochen. Fünf Angeklagte, darunter der deutsche Staatsangehörige Ibrahim Faruk el ZAYAT, gegen den in Abwesenheit verhandelt wurde, verurteilte das Militärgericht zu je zehn Jahren Haft. Fünf Angeklagte wurden zu fünf Jahren Haft und die restlichen 15 Angeklagten zu drei Jahren Haft verurteilt. Ursprünglich wurde wegen finanzieller Unterstützung einer in Ägypten verbotenen Organisation, Terrorismus und Geldwäsche Anklage erhoben. Bei der Urteilsverkündung blieb nur der Vorwurf der finanziellen Unterstützung bestehen. Die 2007 heftig umstrittenen Programmpunkte der ägyptischen MB39 bekräftigte der Oberste Führer der MB, Muhammad Mahdi AKIF, am 22. Mai 2008 in einem Interview. Er wurde auf die Position der MB angesprochen, keine Christen und auch keine Frauen für das Präsidentenamt zuzulassen, und erklärte dazu: "Die Frage, ob ein Kopte [sc. ägyptischer Christ] Präsident werden kann, ist ein Streitpunkt unter den Islamgelehrten. Manche sagen, es sei möglich, manche sagen, es sei nicht möglich. Wir tendieren dazu, die Sache abschlägig zu beantworten. (...)" 40 Obwohl circa 10 Prozent der ägyptischen Bevölkerung Christen sind, iminierung begründete er diese Ansicht damit, dass es sich in Ägypten um die Kultur Christen eines islamischen Landes handle und islamische Werte und Prinzipien respektiert werden müssten. Zur Präsidentschaft einer Frau äußerte sich AKIF wie folgt: 36 Oder auch: Umsicht. 37 Hassan al-BANNA, Majmu'at ar-rasa'il al-imam ash-shahid, Alexandria 2002, S. 264f. 38 Siehe Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 46. 39 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 46. 40 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 13. November 2008. 44 "Sogar die Islamgelehrten sind im Hinblick auf die Diskriminierung Frage, ob eine Frau oberste Führerin sein kann, von Frauen uneins. Wir haben das Recht, zwischen den beiden Positionen zu wählen, und wir haben uns dafür entschieden, dass es unmöglich ist." Auf die Frage, wie denn die Wertschätzung für die Frau sei, wenn die MB es ihr verwehre, in höhere Positionen aufzusteigen und wenn ihr selbst der Zugang in Führungspositionen innerhalb der MB verwehrt werde, antwortete AKIF: "Wäre es richtig von uns, sie in eine Lage zu bringen, wo sie in Gefahr wäre, ins Gefängnis zu kommen? Die schwierigste Aufgabe, die eine Frau in der Muslimbruderschaft Gott nahebringt, ist die Erziehung ihrer Söhne." Im Jahr 2008 gab es verstärkte Bemühungen von Frauen in der "Muslimbruderschaft", ihre Position zu verbessern, da sie sich von den Männern der Organisation in den Hintergrund gedrängt fühlten. Für großes Aufsehen sorgte AKIFs Antwort auf die Frage, ob BIN LADIN ein Jihad-Kämpfer oder Terrorist sei: "Ohne jeden Zweifel - er ist ein Jihad-Kämpfer. Ich bezweifle weder, dass er sich der Besatzung widersetzt, noch, dass er dies tut, um Gott näher zu kommen, möge er gepriesen und gerühmt sein". Die Bezeichnung "al-Qaida" hält AKIF ohnehin für eine Erfindung der USA: "Der Name [sc. der Organisation] ist in der Tat ein Rechtfertigung Produkt der USA, aber al-Qa'ida als Konzept und von "al-Qaida" als Organisation entstand aus [sc. der Notwendigkeit heraus, einen Ausweg zu finden aus] Unterdrückung und Korruption." Die Frage, ob dies bedeute, dass AKIF die Aktivitäten "al-Qaidas" unterstütze, bejahte er, schränkte aber ein, er befürworte lediglich die Aktivitäten der "al-Qaida" gegen die Besatzer, aber nicht gegen Zivilisten. Auch im 45 Jahr 200841 bekräftigte AKIF zum wiederholten Male die Aussage, dass die MB bereit sei, Kämpfer zu entsenden, um besetzte Gebiete zu befreien. Er sagte bereits in einem Interview am 30. November 2007: "Dies [sc. die Entsendung von Kämpfern] gilt für jedes Land unter Besatzung. Eines der Prinzipien der Muslimbruderschaft ist, die arabische und die islamische Nation von jeglicher ausländischen Herrschaft zu befreien. Die Muslimbruderschaft muss alle Widerstandskräfte in der arabischen und islamischen Welt unterstützen." 42 Was die besetzten Länder anbelangt, wurde AKIF am 25. Juli 2008 in einem Interview konkreter: "(...) Wenn man es uns jetzt erlaubt, werden wir Kämpfer gegen die Besatzung entsenden - ob in den Irak oder nach Palästina." 43 Die ägyptische Polizei nahm im Jahr 2008 erneut mehrere hundert Mitglieder der MB fest, darunter sollen einige Bewerber für die anstehende Kommunalwahl gewesen sein. Sie sollen versucht haben, Chaos und Gerüchte zu verbreiten. Andere Mitglieder wurden aufgrund der Proteste gegen die Abriegelung des Gazastreifens und ihrer Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation verhaftet. Weltweit sind in den 80er-Jahren regionale Ableger der ägyptischen "Muslimbruderschaft" (MB) entstanden. Als Reaktion auf lokale Gegebenheiten entwickelten sie dabei regionale Eigenheiten. So entstand beispielsweise beim palästinensischen Zweig ein eigener militanter Arm, der für zahlreiche Anschläge auf israelische Ziele verantwortlich ist. In Baden-Württemberg engagieren sich Einzelpersonen mit entsprechendem regionalem Hintergrund für die Ziele der Organisationen. 41 Muslim Brotherhood Supreme Guide: Bin Laden is a Jihad Fighter, July 25, 2008, memri, Special Dispatch, Internetauswertung vom 13. November 2008. 42 "Muslim Brotherhood Leader Sheikh Mahdi Akef: We are ready to send 10.000 men to Palestine, but Egyptian Government should arm them; There's no such thing as al-Qaeda - The Americans made it up"; December 18, 2007; MEMRI Special Dispatch Series - No. 1786; Internetauswertung vom 13. November 2008. 43 MEMRI: Special Dispatch Series - No. 2001 vom 25. Juli 2008. 46 4.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Gründung: 1982 Hauptsitz: München Mitglieder: ca. 170 Baden-Württemberg (2007: ca. 180) ca. 1.300 Bund (2007: ca. 1.300) Publikation: "Al-Islam", bis 2003 in gedruckter Version, seither Veröffentlichungen in unregelmäßigen Abständen auf eigener Homepage. Seit März/April 2006 erscheint "al-Islam" viermal im Jahr online für Abonnenten. Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) ist eine einflussreiche sunnitische Organisation arabischer Islamisten in Deutschland. Sie besteht seit dem Jahr 1960, ihr Hauptsitz ist München. Ein in Stuttgart bestehendes "Islamisches Zentrum" (IZ) wurde auf der IGD-eigenen Homepage zunächst unter "Islamische Zentren der IGD" aufgeführt.44 Seit Mitte 2006 wird das IZ Stuttgart unter derselben Rubrik als "Kooperationspartner der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." bezeichnet.45 Eigenen Angaben der IGD zufolge steht in Baden-Württemberg noch der "Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V." in Karlsruhe in Koordination mit der IGD. Seit dem Jahr 2002 wurden juristische und organisatorische Umstrukturierungen getätigt. Der sich als "unabhängig" bezeichnende Dachverband "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) vertritt auch die Interessen der IGD, die Mitglied im ZMD ist. Auf europäischer Ebene ist die IGD in der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) vertreten. Die IGD ist Gründungsmitglied der FIOE. Die FIOE pflegt als internationaler Dachverband die Auslandsbeziehungen und vertritt offiziell die Position, zentrale Anlaufstelle im sunnitisch-islamischen Bereich zu sein. Ihre politische Linie ist darauf ausgerichtet, sich eine zunehmend stärkere Position zu sichern, um andere islamische Organisationen und Vereine kontrollieren zu können. Ideologisch sieht sich die FIOE dem Erbe des Gründers der "Muslimbruderschaft" (MB) Hassan al-BANNA (1906-1949) verpflichtet. Der seit 2002 amtierende Präsident der IGD, Ibrahim el-ZAYAT, der Ibrahim el-ZAYAT im Jahr 2006 für weitere vier Jahre in seinem Amt bestätigt wurde, hat gleichzeitig die Stellung eines Vorstandsmitgliedes und Vertreters der FIOE 44 IGD-Website vom 10. Januar 2006. 45 IGD-Website vom 13. November 2006. 47 in Deutschland inne. El-ZAYAT wird im Verwaltungsrat der saudisch-wahhabitischen Jugendorganisation "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY)46 aufgeführt. Im Jahr 2000 wurde el-ZAYAT als Treuhänder der den "Muslimbrüdern" nahe stehenden Bildungseinrichtung "Institut Europeen des Sciences Humaines" (I.E.S.H.) in Chateau-Chinon in Frankreich bezeichnet.47 Infolge seiner Funktion als Generalbevollmächtigter der "Europäischen Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft" (EMUG) ist el-ZAYAT zudem Verwalter von Moscheen der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG). Im April 2008 verurteilte ein ägyptisches Militärgericht el-ZAYAT in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft wegen Unterstützung einer verbotenen Organisation.48 El-ZAYAT wird in Ägypten als Funktionär des internationalen Flügels der "Muslimbruderschaft" angesehen. Bei ihrem 30. Jahrestreffen beging die IGD 2008 unter dem Motto "Teilhaben - Teil sein!" ihr 50jähriges Jubiläum. Die Festivitäten wurden am 4. Oktober im Tempodrom Berlin und am 5. Oktober im Sportpark Leverkusen abgehalten. Referenten aus dem Inund Ausland wirkten bei der Veranstaltung mit. Neben el-ZAYAT und der IGD-Vizepräsidentin Dr. Houaida TARAJI nahmen Oguz ÜCÜNCÜ, der Generalsekretär der türkisch-islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG), Aiman MAZYEK, der Generalsekretär des Zentralrates der Muslime in Deutschland sowie Dr. Tariq RAMADAN und Dr. Issam al-BASHIR aus dem Sudan teil. Der sudanesische Politiker und Religionsgelehrte Dr. al-BASHIR ist Mitglied im "European Council for Fatwa and Research" (ECFR - "Europäischer Rat für Rechtsgutachten und wissenschaftliche Studien") in Dublin, welcher 1997 von der FIOE ins Leben gerufen wurde. In einer Debatte von Rechtsgelehrten, ob Selbstmordattentate im Irak und Palästina legal seien, hatte Dr. al-BASHIR im Jahr 2005 Selbstmordattentate im Kampf gegen die Besatzer als "Pflicht und legitimes Recht" erachtet, und hinzugefügt: "Die Mujahidin sind nicht geschwächt, ihr Antlitz strahlt." 49 Bei Dr. RAMADAN handelt es sich um einen der umstrittensten muslimischen Vordenker in der 46 Internetauswertung der arabischen WAMY-Website vom 13. November 2008. 47 Muslims of Europe in the New Millenium, Conference Programme, S. 16. 48 Internetauswertung vom 10. November 2008. 49 "Iqra TV" vom 22. August 2005. 48 westlichen Welt. Überdies ist seine Familie eng mit dem politischen Islam verbunden. In seiner im Jahr 2004 veröffentlichten Doktorarbeit stellte Dr. RAMADAN seinen Großvater Hassan al-BANNA, den Gründer der MB, als einen der zeitgenössischen Reformer innerhalb des Islam dar. Die an der Universität Genf angefertigte erste Fassung der Dissertation war wegen ihrer apologetischen Tendenz abgelehnt worden. Dr. RAMADAN werden Kontakte zur internationalen islamistischen Extremismusszene vorgeworfen, daher wurde ihm 2004 die Einreise in die USA verweigert. Er wollte dort einer Lehrtätigkeit an einer Universität nachgehen. In der Frage der Steinigung von Ehebrecherinnen plädiert Dr. RAMADAN für ein Moratorium, also für eine Aussetzung der Todesstrafe, jedoch nicht für deren konsequente Abschaffung.50 Dabei stellt er die grundsätzliche Legalität schariatsrechtlicher Vorgaben in Bezug auf dieses Hadd-Delikt51 nicht in Frage. Einen Höhepunkt des Treffens in Berlin bildete die Verleihung des "Dr. Said RAMADAN Friedenspreises für Dialog und Völkerverständigung", der von Dr. Tariq RAMADAN, dem Sohn von Dr. Said RAMADAN, verliehen wurde. Dabei wurde deutlich, wie nahe die IGD ideologisch nach wie vor der "Muslimbruderschaft" steht. Bei Dr. Said RAMADAN handelt es sich um den Schwiegersohn des Gründers der MB Hassan al-BANNA und den ersten Präsidenten der IGD von 1958 bis 1968. Er wird als Gründer diverser islamischer Zentren in Europa angesehen, zum Beispiel in Genf und München. Öffentlich negieren Funktionäre der IGD eine Verbindung zur MB. Es liegen aber Aussagen von Personen vor, die sich zu ihrer Zugehörigkeit zur Bewegung der MB bekennen. Wichtigstes Werk von Dr. Said RAMADAN ist "Das islamische Recht", das von der "Muslimischen Studentenvereinigung" (MSV)52 in den 90er-Jahren neu aufgelegt wurde. Amena elZAYAT, die Schwester des IGD-Vorsitzenden, rezensierte diese Publikation. Bereits die Einleitung enthält Aussagen, die dem säkularen Rechtsstaat und der Gewaltenteilung grundsätzlich entgegen gerichtet sind. Der Verfasser erklärte, dass "nur die 50 Internetauswertung vom 6. November 2008, Dr. RAMADAN betonte seine Aussage in der französischen Fernsehsendung "100 Minutes pour convaincre" (100 Minuten um zu überzeugen). 51 Arabisch: Hadd = Grenze. Dabei handelt es sich um im sakralen Recht vorgegebene Straftatbestände, die gegen die Rechte Gottes (Huquq Allah) verstoßen. Die im Koran vorgeschriebene Bestrafung der Delikte (Unzucht, Weinkonsum, Diebstahl) hat offiziellen Charakter und wird in der Öffentlichkeit vollzogen. Exemplarisch sei hier die Amputation der rechten Hand bei Diebstahl sowie des linken Fußes im Wiederholungsfalle genannt. 52 Siehe S. 53. 49 charia Scharia (also Koran und Sunna) den wahren Sinn des Gesetzes im Islam zur s Gesetz Entfaltung" bringe und "seinen rechtlichen Geltungsbereich" abdecke. Weiter führte er aus: "Durch den Ausschluss jeder anderen gesetzgebenden Gewalt außer der Scharia wird sowohl das Konzept wie auch die Anwendbarkeit des islamischen Rechts vom Erbe verschiedener Einflüsse befreit, das sich dort angesammelt hat. Wir haben es einzig und allein mit dem zu tun, was alle Muslime für das Wort Gottes halten, nämlich dem Koran, und mit dessen menschlicher Deutung durch den Propheten, die uns in Form der Sunna überliefert worden ist. In anderen Worten, wir haben es mit Offenbarung und Prophetentum zu tun." Demzufolge ist Gott der alleinige Gesetzgeber. Die "säkularistische Kultur, eine Kultur, die ihrerseits ihre Ursprünge in dem angeblichen Ausspruch Christi habe 'Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist'", wird als Widerspruch zur Unterwerfung unter den Göttlichen Willen, "wie er sich im Göttlichen Gesetz widerspiegelt", dargestellt: "(...) Man kann keine Teilhaber daherbringen, die Gottes Autorität mit Ihm teilen. Das ist für einen Muslim die unverzeihlichste aller Arten von Versäumnis religiöser Pflichten. So muss jede Form von Gesetz durch den Göttlichen Willen sanktioniert sein, einschließlich des Gesetzes, das durch menschliches Tätigwerden entstanden ist, vorausgesetzt es befindet sich innerhalb der göttlich vorgeschriebenen Grenzen." 53 Der"Dhimma-Vertrag" ("Aqd adh-Dhimma") wird von Dr. Said RAMADAN zur staatsrechtlich korrekten Vorgehensweise erklärt. Monotheisten (wie Christen und Juden) lebten gemäß dem islamischen Recht als nichtmuslimische Schutzbefohlene ("Dhimmi")54 als Untertanen eines islamischen Staates mit eingeschränktem Rechtsstatus: 53 "Das islamische Recht", a.a.O. S. 16; Übernahme wie im Original. 54 Der arabische Begriff "Dhimma" hat die Bedeutung von "Schutzvertrag", "Sicherheit", "Garantie". 50 "Wir haben weiterhin gesagt, dass ihre Rechte und Pflichten durch die grundlegenden Texte von Koran und Sunna sowie durch Übereinkünfte festgelegt sind (...) Dabei unterliegt diese Flexibilität allerdings den Richtlinien, die sich aus den grundlegenden Texten und dem Vorgehen des Propheten entnehmen lassen. Mit anderen Worten, Merkmal des Dhimmi-Status ist stets die actio directa des islamischen Rechts." 55 Nach Auffassung von Dr. Said RAMADAN können auf zivilrechtlicher Ebene wie dem Familien-, Erbund Personenstandsrecht die nichtmuslimischen Untertanen ihre privatrechtlichen Bestimmungen gemäß der Thora oder der Bibel befolgen, der Bereich des öffentlichen Rechts unterliegt der Scharia. Angehörige anderer Religionen und alle übrigen sind weitgehend rechtlos.56 Die "Muslimische Jugend in Deutschland e.V." (MJD) wurde 1994 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. MJD-Gründer Muhammad SIDDIQ alias Wolfgang BORGFELDT war jahrelang Vorstandsmitglied im "Islamischen Zentrum Aachen - Bilal Moschee e.V.", das aus dem syrischen Zweig der MB hervorgegangen war und bekleidet unter anderem auch eine Position im "European Council for Fatwa and Research" (ECFR) in Dublin. Dem ECFR steht der Kleriker Dr. Yusuf al-QARADAWI vor, der Selbstmordattentate in Israel für rechtens erklärt hat. Auf ihrer Website verteidigt die MJD das Werk "Ratschläge an meine jungen Geschwister"57 des türkischen Autors Mustafa ISLAMOGLU, welches die MJD in ihrem Buchverlag Green Palace verlegt hat.58 "Der Autor", so die MJD, formuliere, "was für ihn islamisch" sei, "nämlich gerade der gute Charakter", und gebe "dem Leser den Rat, seine Umgebung nach diesen Grundsätzen zu beeinflussen". Entgegen der Darstellung bezieht der Autor jedoch durchaus politisch Stellung, indem er betont: 55 "Das islamische Recht", a.a.O. S. 177; Übernahme wie im Original. 56 "Das islamische Recht", a.a.O. S. 178. 57 Mustafa ISLAMOGLU: "Ratschläge an meine jungen Geschwister", Berlin 2005, S. 54. Er trat in der Vergangenheit bei der IGMG auf. Sein Buch wird von der "Muslimischen Jugend Deutschland" herausgegeben. Mustafa ISLAMOGLU hat die Führung über die 1990 gegründete AKEV, "Akabe Egitim ve Kültür Vakfy, (Akabe Bildungsund Kulturstiftung) inne. Auf der Homepage der AKABE-Stiftung heißt es: "Unsere Gemeinde beachtet das islamische Recht aufs äußerste. Sie achtet darauf, dass dieses Recht nicht nur unter ihren eigenen Angehörigen, sondern unter allen Muslimen Anwendung findet (...)"; Internetauswertung vom 24. November 2008. 58 Website der MJD vom 26. November 2008. 51 "Wenn ihr Beamte in einem nicht-islamischen System werden wollt, dann werdet nicht Beamte dieses Systems, sondern dort 'Beamte des Islam." 59 ISLAMOGLU trat mit verschiedenen antijüdischen Stereotypen hervor. Unter dem Titel "Yahudilesme Temayülü" ("Die Tendenz, im Charakter jüdisch zu werden") publizierte er eine stark von Rassismus eingefärbte Schrift.60 Darin erklärte ISLAMOGLU: pf gegen das "Die Tendenz, im Charakter jüdisch zu werden, ist chwerden" gefährlicher als die Juden selbst. Denn wenn diese Umma vor dem Jüdischwerden geschützt werden kann, kann sie mit den Juden fertig werden. Was noch furchtbarer ist als die Juden, die mit 6 Mio. Menschen die USA mit 250 Mio. Einwohnern, also die gesamte Welt, regieren, ist das Jüdischwerden dieser Umma. Diese Umma muss nicht zuerst gegen die Juden, sondern gegen das Jüdischwerden kämpfen." 61 Am 3. Oktober 2008 wurde im "Islamischen Zentrum Stuttgart" (IZS) in Stuttgart Bad-Cannstatt der Tag der Offenen Moschee begangen. Als Referent wurde Amir ZAIDAN geladen. ZAIDAN hatte 1998 mit der "Kamel-Fatwa", gemäß der eine Frau ohne einen nahen männlichen Verwandten (Mahram)62 nicht mehr als 81 Kilometer zurücklegen dürfe, muslimischen Frauen das fundamentale Recht auf uneingeschränkte Bewegungsfreiheit abgesprochen. In Österreich erklärte er, dass er noch immer zu dieser Fatwa stehe. ZAIDAN referierte über eine Stunde zu dem Thema "Erkenntnis - Missverstandene Quranverse". Im Programm zum Tag der Offenen Moschee hieß es, dass ZAIDAN "ein Experte für Islamologie" sei, der "heute über die am häufigsten missverstandenen Quranverse aufkläre". Infolge seiner Darlegung des Tafsir (Koranauslegung) von Sure 2 (al-Baqarah=die Kuh), Vers 223: "Eure Frauen sind ein Saatfeld für euch, darum bestellt euer Saatfeld wie ihr wollt." sorgte ZAIDAN bei einigen nichtmuslimischen Besucherinnen für Unmut. In sehr bildhafter und ausschmückender Form schilderte er den Sexualakt. Seine Ausführungen konnten den Eindruck vermitteln, dass es sich bei der Frau um ein reines Sexualobjekt, ein Werkzeug, handle. 59 "Ratschläge an meine jungen Geschwister", a.a.O. S. 86. 60 Zur Buchbesprechung siehe auch S. 78. 61 Mustafa ISLAMOGLU, "Yahudilesme Temayülü", Vorwort, S. 12. 62 Mahram: "verbotene, unantastbare Sache". Als Mahram kann entweder der Ehemann fungieren oder ein Mann, dessen Verwandschaftsgrad eine Ehe ausschließt. 52 In der sich dem Vortrag anschließenden Diskussion griff ZAIDAN abermals das Thema der Sexualität auf. In seinem Bemühen, die Strafe der Steinigung bei Ehebruch im schariatsrechtlichen Kontext zu verharmlosen, schilderte er kurz, aber mit Begeisterung und akribisch, was genau beim Geschlechtsakt von vier männlichen Zeugen gesehen werden müsse, um den Straftatbestand des Ehebruchs zu erfüllen. ZAIDANs Schlussfolgerung: Sofern es keine vier männlichen Zeugen gebe, dürfe die Körperstrafe der Steinigung nicht vollzogen werden. Beim geringsten Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen erfolge eine Anklage wegen Verleumdung. Von der Steinigung als Strafmaß Rechtfertigung für Ehebruch an sich distanzierte sich der Referent zu keinem Zeitpunkt. der Steinigung Körperliche Züchtigung als Strafe nach schariatsrechtlichen Grundsätzen für Ehebruch verstößt gegen die Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Bei der Veranstaltung wurde auf einem Büchertisch zahlreiche Literatur angeboten, die dem islamistischen Spektrum zuzuordnen ist, darunter Werke des Holocaust-Leugners und für seine anti-darwinistischen, gegen Aufklärung und Säkularismus gerichteten Positionen bekannten Autors Harun YAHYA sowie die im Zusammenhang mit der IGD-Konferenz beschriebene Publikation "Das Islamische Recht" des IGD-Gründers Dr. Said RAMADAN. ZAIDAN wurde auch von der "Muslimischen Studentenvereinigung" (MSV) zur 14. Islamwoche an der Universität in Stuttgart-Vaihingen geladen, die vom 26. bis zum 30. Mai 2008 veranstaltet wurde. Die MSV wurde im Jahr 1964 in München gegründet, ihr heutiger Sitz ist in Köln. Sie verfügt über enge Beziehungen zur IGD und ist Mitglied im ZMD. Die eigens zur Islamwoche angefertigte CD enthielt Texte der wahhabitisch-salafitischen Jugendorganisation "World Assembly of Muslim Youth". Im Foyer wurde die Publikation "Menschenrecht und Gottesrecht"63 angeboten. Die darin aufgeführten Punkte der Abweichungen zwischen den "islamischen Idealvorstellungen des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat" und dem "westlichen Menschenrechtskodex" widersprechen den im Grundgesetz verbrieften Rechten auf Gleichstellung der Geschlechter. Ferner gilt nur eine eingeschränkte Religionsfreiheit: "Nach islamischem Recht existiert das Recht, seine Religion ohne Nachteile zu wechseln, für den Muslim nicht." 64 63 "Menschenrecht und Gottesrecht", Hrsg.: Informationszentrale Dar-us-Salam, Garching, ohne Jahresangabe. 64 "Menschenrecht und Gottesrecht", S. 8f. Mohamed Aman Hobohm zitiert aus: "Der Islam als Alternative" von Murad Hofmann. 53 In der Publikation wird Menschen die Fähigkeit abgesprochen, Gesetze zu erlassen: "Das Menschenrechtsgebäude (...) ist (nur) solange stabil, wie man Grundrechte in Übereinstimmung mit der islamischen Auffassung als Rechte begreift, die man nicht setzen, sondern lediglich als bereits existierend (-als von Gott gesetzt, möchte ich erklärend hinzufügen --) erkennen oder auffinden kann." 65 Damit werden dem Gesetzgeber die legislativen Befugnisse in der Rechtsetzung entzogen, was einer Ablehnung des Demokratieprinzips gleich kommt. Wie Finanzermittlungen ergaben, haben sowohl die IGD als auch Funktionäre aus dem Raum Stuttgart vor dem Verbot des "al-Aqsa e.V." durch das Bundesministerium des Innern namhafte Beträge für diesen Verein überwiesen.66 Er widmete sich in Deutschland vor allem dem Sammeln von Spendengeldern, die auch über Hilfseinrichtungen der HAMAS an Hinterbliebene von Selbstmordattentätern weitergeleitet worden waren. 4.2.2 HAMAS ("Harakat al-Muqawama al-Islamiya", "Islamische Widerstandsbewegung") Im nordafrikanischen Maghreb-Raum (Tunesien, Algerien) sowie in den Staaten des Vorderen Orients haben sich Ende der 70erund während der 80er-Jahre neue Gruppierungen gebildet, die aus der MB hervorgegangen sind. Im Jahr 1978 gründete Scheich Ahmad YASSIN die Organisation "Mujamma' al-Islami" ("Islamisches Zentrum"), die sich in ihrer Anfangsphase in erster Linie auf Sozialarbeit konzentrierte und sich bald großer Popularität bei der Bevölkerung des Gaza-Streifens erfreute. Infolge einer gezielten Propaganda konnten die islamistischen Ziele der "Mujamma' alIslami" schnell verbreitet werden. Nach der ersten Intifada ("Aufstand") 1987 bildete sich der militante Ableger "Harakat al-Muqawama al-islamiya" (HAMAS) heraus. Die HAMAS spricht Israel das Existenzrecht ab. Sie erachtet das Staatsgebiet Israels als ursprünglich islamisches Waqf-Land67 im Sinne eines Stiftungsguts, das nicht veräußert werden darf und für das zu 65 "Menschenrecht und Gottesrecht", S. 18. Hobohm zitiert aus: "Der Islam als Alternative" von Murad Hofmann. Übernahme des Textes (einschließlich Klammern und Sonderzeichen) wie im Original. 66 Bundesverwaltungsgericht vom 3. Dezember 2004, Az.: 6 A 10.02. 67 Der arabische Begriff "Waqf" bedeutet "fromme Stiftung". Territorien, die in der islamischen Frühzeit seitens der Muslime gewaltsam erobert wurden, galten von nun an als "Stiftungsgut" im Sinne des Islam. 54 HAMAS-Politbürochef Khalid MASHAL hatte im Frühjahr 2008 von seinem Exil in Damaskus verlauten lassen, dass die HAMAS einen Waffenstillstand für den Fall angeboten habe, dass Israel sich auf die Grenzen von 1966 zurückziehe. Eine Anerkennung des Existenzrechts Israels sei jedoch nicht möglich. Die HAMAS kontrolliert im Gaza-Streifen die Bildungseinrichtungen und gerichtlichen Institutionen. In ihrer Medienpropaganda setzt die Organisation zunehmend Kinder und für Kinder geeignete Programminhalte ein. So agieren Kinder in den Sendungen des Fernsehsenders und Satellitenkanals "al-Aqsa TV", den die HAMAS am 7. Januar 2006 startete, als Moderatoren und Propagandisten. Kindgerechte Stofftiere und Comicfiguren stehen häufig im Mittelpunkt der Beiträge, mit Hilfe derer die jungen Zuschauer manipuliert werden. Wie nachhaltig Kinder von den Auseinandersetzungen etwa im Gaza-Streifen beeinflusst werden, wurde in einer Studie deutlich, die die Auswirkungen der AlAqsa Intifada (Oktober 2000 bis Februar 2005) auf Kinder untersuchte. Der Studie der "Gaza Community Mental Health Programme" zufolge wollten 67,8 Prozent der männlichen und 32,2 Prozent der weiblichen Kinder oder Jugendlichen von den 944 im Alter zwischen 10 und 19 Jahren in Interviews Befragten "Märtyrer" werden.68 Diese Einstellung kann durch entsprechende Propaganda weiter verfestigt werden. In der HAMASKindersendung "Pioniere von morgen" tritt der Hase Assud an die Stelle "seines Bruders", der Biene Nahul, die als "Märtyrer" in den Tod ging. Assud gelobt: "Ich kam aus der Diaspora und trug den Schlüssel der Rückkehr. Dies ist der Schlüssel der Rückkehr. Siehst du ihn? So es Allah's Wille ist, werden wir diesen Schlüssel verwenden, um unsere Al-AqsaMoschee zu befreien. (...) So es Allah's Wille ist, sind wir die Soldaten der Pioniere von morgen. (...) Ich, Assud, werde die Juden loswerden und sie auffressen, so es Allah's Wille ist, richtig?" 69 Die zwölfjährige Moderatorin selbst besingt das Märtyrertum: 68 Samir Qouta, PhD, Eyad el Sarraj: Prevalence of PTSD among Palestinian Children in Gaza Strip, arabpsynet journal Nr. 2, 2004, S. 10. 69 "Al-Aqsa TV" vom 9. Februar 2008. 55 izierung des "(...) Mögen all die Märtyrer wieder auferstehen, und tyrertums diesen Tag werden wir feiern. Sprecht denjenigen den Sieg zu, die sich selbst opfern. Dies ist deine Hochzeit, oh Märtyrer. (...) Wir sehen die Freude in den Augen der Kinder. Oh Gaza, lass diese Freude größer werden (...) Wir befreiten Gaza mit Gewalt, nicht durch Oslo oder Taba - aber mit meinem unerschütterlichen Volk und seinem lodernden Feuer." 70 Das jihadistische Prinzip wird auch im Programm für Erwachsene von dem Hamas-Abgeordneten und Geistlichen Yunis al-ASTAL vertreten: "Sehr bald, so es Allah's Wille ist, wird Rom erobert werden, so wie es mit Konstantinopel geschah, wie es unser Prophet Muhammad prophezeit hat. Rom ist heute die Hauptstadt der Katholiken oder die Hauptstadt der Kreuzfahrer, die dem Islam die Feindschaft erklärt haben und die Brüder der Affen und Schweine nach Palästina verpflanzt haben (...). Ich glaube, dass unsere Kinder und unsere Enkel unseren Jihad und unsere Opfer erben werden, und so Allah will, werden die Befehlshaber der Eroberung aus ihren Reihen kommen (...)." 71 Neben dem politischen Flügel der HAMAS existiert mit den "Brigaden des Märtyrers Izz ad-Din al-Qassam"72, Kurzform "al-Qassam-Brigaden", ein militärischer Flügel. Er lehnt das Existenzrecht Israels kompromisslos ab. Im Jahr 2008 hat die HAMAS erstmals eingeräumt, Menschen aus politischen Gründen gefangen zu halten. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas machte der HAMAS-Führung zum Vorwurf, seit der gewaltsamen Machtübernahme des Gaza-Streifens im Juni 2007 zahlreiche Mitglieder der Fatah festgenommen zu haben. Anhänger der HAMAS wurden im Gegenzug von der Fatah in der Westbank inhaftiert.73 70 "Al-Aqsa TV" vom 20. September 2007. 71 "Al-Aqsa TV" vom 11. April 2008. 72 Izz ad-Din al-Qassam (1882 bis 1935) war ein islamistischer Prediger und Untergrundkämpfer. 73 Focus Online vom 3. November 2008. 56 Am 19. Dezember 2008 erklärte die HAMAS den Waffenstillstand mit Israel offiziell für beendet. Ab dem 27. Dezember 2008 wurden zahlreiche Stellungen der HAMAS im Gazastreifen von israelischen Kampfflugzeugen bombardiert. Am 28. Dezember 2008 drohte Israel mit einer Bodenoffensive und traf Vorbereitungen für eine längere Militäroperation. Im Dezember 2008 sowie im Januar 2009 kam es anlässlich der israelischen Militäroffensive zu zahlreichen Demonstrationen in Deutschland, so am 2. Januar in Stuttgart, am 3. Januar in Berlin unter dem Motto "Palästina in Berlin" und am 10. Januar in Duisburg unter der Überschrift "Stoppt den Krieg im Gaza", letztere wurde von der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) veranstaltet. Am 8. Januar fanden pro-israelische Bekundungen in Stuttgart, am 11. Januar in Berlin, Frankfurt am Main sowie München und am 24. Januar in Bochum statt. 4.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") Der tunesische Zweig der "Muslimbruderschaft" (MB), die islamistische Partei "an-Nahda", ist im Jahr 1989 aus der 1981 gegründeten Vorgängerorganisation "Mouvement de la Tendence Islamique" ("Bewegung der islamischen Ausrichtung") hervorgegangen. Die Partei ist seit 1991 in Tunesien verboten. Ihr Führer Raschid al-GHANNOUSHI wurde in Tunesien in Abwesenheit mehrmals zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und leitet die Partei aus dem Londoner Exil. Aufgrund des Drucks der tunesischen Sicherheitskräfte befinden sich zahlreiche Mitglieder der "an-Nahda" im Ausland. Al-GHANNOUSHI stützt sich in seinen Schriften auf Sayyid QUTB, Hassan al-BANNA und Sayyid Abul Ala al-MAUDUDI. Durch die ägyptische MB beeinflusst, vertritt die "an-Nahda" die Überzeugung, dass die Souveränität im Staat allein Gott zukomme. Daher sei die tunesische Gesellschaft unter den jetzigen Umständen eine atheistische Gesellschaft, die aufgehört habe, islamisch zu sein und nicht nach den islamischen Gesetzen lebe. Die Tatsache, dass al-GHANNOUSHI eine "islamische Demokratie" befürwortet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die "an-Nahda" die westliche liberale Demokratie ablehnt und eine islamische Verfassung anstrebt. Die "an-Nahda" ist in Baden-Württemberg mit Einzelmitgliedern vertreten. 4.2.4 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ging 1953 aus der jordanischen "Muslimbruderschaft" hervor. Gründer war der palästinensische Schariatsrichter und Rechtsgelehrte Taqi ad-Din an-NABHANI. Als Grundlage der Organisation 57 dient sein Werk "Die Lebensordnung des Islam" ("Nizam al-Islam"). Zentraler Drehund Angelpunkt der Lehre bildet die Kalifatsideologie: Die Gemeinschaft aller Muslime (Umma) soll unter der Führung eines Kalifen vereint werden. Die HuT wurde aufgrund ihrer extremistisch kompromisslosen Haltung in z Verbots zahlreichen Staaten im Westen und auch in islamisch geprägten Staaten veraktiv boten. Trotz des seit dem 15. Januar 2003 auch durch das Bundesministerium des Innern erlassenen Betätigungsverbots ist die Organisation weiterhin vor allem im deutschsprachigen Internet aktiv. Das Verbot der HuT wurde 2006 rechtskräftig.74 deutschsprachige Internetseite der "Hizb ut-Tahrir" Die HuT lehnt Regierungssysteme in islamisch geprägten Staaten von Nordafrika bis Zentralasien und säkular-demokratische Staatsmodelle in westlichen Ländern gleichermaßen ab. Beide sind nach der Vorstellung der HuT unvereinbar mit der "Islamischen Ordnung". Stattdessen wird ein transnational übergreifendes Staatswesen angestrebt, das seine ideale Ausformung in einem Kalifat nach dem Vorbild der frühen islamischen Imperien findet. Auf der HuT-eigenen Website heißt es hierzu: "Das Kalifat ist ein einzigartiges politisches System, dessen Ideologie der Islam ist und das mit keiner der heutigen muslimischen Regierungen irgendeine Ähnlichkeit aufweist." 75 Für das künftig zu schaffende Staatswesen hat die HuT bereits einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet und veröffentlicht, in dem die Kompetenzen des künftigen "Kalifen" bestimmt werden. Im Artikel 24 heißt es: 74 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2006 Az.: 6 A 6.05. 75 Hier und im Folgenden: Website der HuT vom 17. März 2008. 58 "Der Kalif ist derjenige, der die Umma in der Ausübung der Herrschaftsmacht und der Durchführung des islamischen Rechts vertritt." Dieses Kalifat bedeutet nichts anderes als ein totalitär strukturiertes Gemeinwesen, da dem Einzelnen keinerlei Partizipationsoder Kontrollrechte eingeräumt werden. In diesem Zusammenhang ist lediglich von einer beratenden Versammlung die Rede, die ausschließlich konsultative Kompetenzen innehat. Die Unvereinbarkeit zwischen der islamischen Ratsversammlung und dem demokratischen Rechtsstaat wird aus folgender Beschreibung der HuT ersichtlich: "Die Ratsversammlung im Islam Majlis ash-Shura oder Majlis al-Umma -- wird von vielen Muslimen oft mit der Tätigkeit westlicher Parlamente gleichgesetzt. Dass dem nicht so ist, geht bereits aus der Tatsache hervor, dass Parlamente die gesetzgebende Institution im säkularen Staat verkörpern. Sie sind die praktische Umsetzung des Prinzips, dass die Gesetzgebung vom Menschen ausgeht und nicht von Gott. (...) Im Islam geht die Gesetzgebung aber bekanntlich von Gott aus. Das heißt, Er bestimmt nach welchen Gesetzen die Menschen ihr irdisches Leben richten sollen. Al-Shura -- die Beratung im Islam -- hat deswegen keine gesetzgebende, sondern lediglich eine beratende Funktion, und zwar in Dingen, die von Gott grundsätzlich für erlaubt erklärt worden sind." -- 76 Als methodischen Ansatz verfolgt die HuT überwiegend den direkten Kontakt mit potenziellen Sympathisanten durch Vorträge und Diskussionsforen, wobei ein Schwerpunkt im universitären Umfeld festzustellen ist. Wo dies aufgrund von Betätigungsbeschränkungen nicht möglich ist, erfolgt die Ideologievermittlung primär über das Internet. Durch gezielte Themenauswahl und durch einseitige Darstellungen des politischen Zeitgeschehens sollen besonders bei der jüngeren Generationen antiwestliche Ressentiments geschürt werden. So bezog die HuT etwa Stellung zum Ausgang der US-Wahl und bekräftig76 Hier und im Folgenden: Website der HuT vom 3. November 2008; Übernahme wie im Original. 59 alle Lebenssysteme" müssten sich "auf das gründen, was Allah geoffenbart" habe. "Kein amerikanischer Präsident könne die Ummah77 bei ihrem Ziel, Allah vermittelst der umfassenden Erfüllung des Islam zu dienen, unterstützen." 4.3 Schiitische Gruppierung: "Hizb Allah" ("Partei Gottes") Gründung: 1982 (im Libanon) Sitz: Libanon, weltweite Verbreitung von "Hizb Allah"-nahen "Gemeinden" Mitglieder: ca. 100 Baden-Württemberg (2007: ca. 100) ca. 900 Bund (2007: ca. 900) Publikation: täglich aktualisierte Internetpublikationen Fernsehsender: "al-Manar TV" Radio: "an-Nur" Die "Hizb Allah" ist eine schiitisch-islamistische Organisation im Libanon, die seit ihrer Gründung im Jahr 1982 in vielfältiger Weise von politischen Entwicklungen in Iran beeinflusst wurde. Eine politische Beeinflussung durch Syrien findet ebenfalls statt. Aufgrund ihrer mannigfaltigen karitativen Projekte ist sie inzwischen nicht mehr aus der libanesischen Infrastruktur wegzudenken. Seit 1992 ist die "Hizb Allah" durch ihre Parlamentsabpolitische geordneten auch als politische Partei fest etabliert. Zurzeit stellt sie 14 von rtei fest 128 Parlamentsabgeordneten und den Arbeitsminister in der aktuellen libatabliert nesischen Regierung. Mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch den Iran konnte die "Hizb Allah" in ihren Hochburgen Infrastrukturprojekte wie Schulen, Krankenund Waisenhäuser betreiben. Sie erzielte so vor allem bei der schiitischen Bevölkerungsgruppe einen positiven Rückhalt. Die "Hizb Allah" übernahm somit Funktionen, die der libanesische Staat in den letzten Jahren nicht wahrnehmen konnte. Anlass für die Gründung der "Hizb Allah" im Jahr 1982 war der Einmarsch israelischer Truppen zu Beginn der 80er-Jahre in den Libanon. Es wurde mit starkem iranischem Einfluss eine Miliz der "Hizb Allah", die "al-Muqawama al-Islamiya" ("Islamischer Widerstand"), gegründet. Erklärtes Ziel zu dieser Zeit war unter anderem die Vertreibung der Israelis aus dem Libanon. Nach dem Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon im Jahr 2000 kam die "Hizb Allah" in Erklärungsnot, warum sie immer noch einen militäri77 Weltweite islamische Gemeinschaft. 60 schen Flügel unterhielt und trotz der UNO-Resolution Nr. 1559 (2. September 2004) eine Entwaffnung ablehnt. Der Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan NASRALLAH, ein geschickter Rhetoriker, erklärte am 14. August 2008 zum zweiten Jahrestag des von der "Hizb Allah" als "heiliger Sieg" gefeierten Waffenstillstands mit Israel: "Vor wenigen Tagen, besonders nach dem Gefangenenaustausch, äußerte sich [sc. die israelische Außenministerin] Livni dezidiert darüber, dass ,Israel' 78 die klare Strategie fährt, weltweit große Anstrengungen zu unternehmen, um ein Ziel zu erreichen: 'die Entwaffnung der Hizb Allah im Libanon'. Alle Libanesen müssen die Tatsache wachsam zur Kenntnis nehmen, dass die Entwaffnung des Widerstands im Libanon ein erklärtes 'israelisches' Ziel ist." 79 Im Juli 2006 löste ein Angriff der "Hizb Allah"-Miliz auf eine israelische Militärpatrouille im libanesisch-israelischen Grenzgebiet kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Israel und der "Hizb Allah" aus, bei denen mehr als 1.200 Personen umkamen. Der Waffenstillstand wurde am 14. August 2006 geschlossen. Aus Anlass des "Sommerkriegs 2006" kam es in Deutschland in zahlreichen Städten zu Demonstrationen und Kundgebungen von "Hizb Allah"-Anhängern und deren Sympathisanten. Das dabei festgestellte Mobilisierungspotenzial machte deutlich, dass die "Hizb Allah" über weit mehr Sympathisanten verfügt als die manifesten 900 Anhänger in Deutschland. Diese Sympathisanten und Anhänger beteiligten sich auch an verschiedenen Aktionen in baden-württembergischen Städten wie Freiburg im Breisgau, Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim und Stuttgart. Seit der kriegerischen Auseinandersetzung mit Israel im Sommer 2006 hat die "Hizb Allah" sowohl innenals auch außenpolitisch an Prestige gewonnen und ist zu einer wichtigen politischen Größe im Libanon geworden. Als eines ihrer übergeordneten Ziele gibt sie die Befreiung aller von Israel besetzten Gebiete im Libanon und in Palästina an. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die "al-Muqawama al-Islamiya" seit dem "Sommerkrieg 2006" weiter aufgerüstet. 78 Es ist typisch für Texte, die von der "Hizb Allah" veröffentlicht werden, dass Israel in Anführungszeichen steht. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass man die Existenz und Daseinsberechtigung dieses Staates nicht anerkennt. 79 Internetauswertung vom 28. August 2008. 61 t MärtyrerMärtyreroperationen ihrer Milizionäre gelten in Kreisen der "Hizb Allah" rationen als eine legitime Form des Jihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes für r legitim die Sache Gottes und die Religion. Die systematische Verankerung einer "Erinnerungskultur" an die "Märtyrer" in der schiitischen Gesellschaft hat zur Folge, dass den Getöteten ein hohes Maß an sozialem Prestige zuteil wird, das sich auch auf die hinterbliebene Familie des "Märtyrers" überträgt. Im Südlibanon, der "Hizb Allah"-Hochburg, sind ganz selbstverständlich Plätze und Straßen nach Attentätern benannt. Mit diesem Todeskult soll die Pflege des Mythos der "Hizb Allah" betrieben und der Nährboden für die Rekrutierung neuer Selbstmordattentäter geschaffen werden. Der "Hizb Allah" ist es gelungen, durch die Verknüpfung von Religion und Politik einen Märtyrerkult aufbauen und ihn für ihre politische Ideologie und Ziele nutzbar zu machen. Als Teil der Strategie einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit der "Hizb Allah" ist die Ausstellung "Prinzen des Sieges" zu Ehren von "Hizb Allah"Selbstmordattentätern in Tyrus zu sehen. Die Organisation hat sich zu elf Selbstmordanschlägen offiziell bekannt. Eine Besucherin der Ausstellung äußerte sich im Sinne der "Hizb Allah"-Ideologie: "Wir haben Israel mit unserem Glauben geschlagen. Unsere Märtyrer gehen in den Tod, statt darauf zu warten, dass der Tod zu ihnen kommt." 80 Im Libanon wird der Rückzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon am 25. Mai 2000 alljährlich mit Großveranstaltungen gefeiert. Die "Hizb Allah" schreibt sich den Rückzug der Israelis als Sieg und eigenen Erfolg zu. Auch in den "Hizb Allah"-nahen Vereinen in Baden-Württemberg finden zu diesem Gedenktag alljährlich Siegesfeiern statt. Zu den Feierlichkeiten in Deutschland reisten in der Vergangenheit regelmäßig "Hizb Allah"-Funktionäre ein, darunter libanesische Scheichs und Parlamentsabgeordnete der "Hizb Allah". Der von Ayatollah Ruhollah KHOMEINI 1979 ins Leben gerufene "alQuds-Tag" (Jerusalem-Tag) ist in Iran ein gesetzlicher Feiertag. Am letzten Freitag im Monat Ramadan soll zur internationalen Solidarität der Muslime mit dem palästinensischen Volk aufgerufen werden. Der "al-Quds-Tag" wird seit 1979 weltweit begangen, auch in Berlin findet zu diesem Anlass jährlich eine unter anderem von "Hizb Allah"-Anhängern organisierte Demonstration statt. Dabei werden oftmals antiamerikanische und antiisraelische Paro80 "Islamismus - Hisbollah ehrt Selbstmordattentäter mit Ausstellung"; WELT ONLINE vom 19. November 2008. 62 len gerufen und auf Spruchbändern hochgehoben. Der "al-Quds-Tag" fiel im Jahr 2008 auf den 26. September. Ein Tag später, am 27. September 2008, kamen zu diesem Anlass etwa 400 Personen nach Berlin, die auf ihren Plakaten Slogans wie "Zionisten raus aus Jerusalem", "Israel ist eine Bedrohung für den Weltfrieden", "Keine Wiederholung der Holocaust gegen Palästinenser" 81 geschrieben hatten. Am 8. Mai 2008 nahmen die "Hizb Allah"-Milizen mit anderen oppositioeigene Miliz nellen Kräften ein sunnitisches Stadtviertel in Beirut (inklusive Regierungsviertel) ein und besetzten das Gebäude eines Fernsehsenders. Anlass für die bewaffneten Kämpfe soll die geplante Ablösung eines "Hizb Allah"nahen Flughafenfunktionärs durch den libanesischen Premierminister gewesen sein. Weitere Angriffe richteten sich gegen sunnitische Dörfer im Norden des Libanon und gegen drusische Dörfer im Mount Libanon westlich der Hauptstadt Beirut. Das Verhalten der "Hizb Allah" sorgte für Empörung im Libanon, da NASRALLAH wiederholt versichert hatte, die Waffen der "Hizb Allah" würden lediglich gegen den israelischen Feind und nicht gegen das eigene libanesische Volk gerichtet. Trotz der blutigen Ereignisse am 8. Mai wiederholte NASRALLAH am 26. Mai 2008 zum Anlass des 8. Jahrestages des Rückzugs der israelischen Armee aus dem Libanon erneut seine Behauptung: "(...) möchte ich im Namen der Hizb Allah bekräftigen, dass wir einen Artikel [sc. aus dem DohaAbkommen82] akzeptiert haben, dass keine Partei aus einer politischen Motivation heraus Waffen benutzen wird. Wie auch immer, die Waffen des Widerstands sind auf den Feind gerichtet und werden gebraucht, um das Land zu befreien, die Kriegsgefangenen zu befreien und um bei der Verteidigung des Libanons zu helfen und nicht, um irgendwelche politische Ziele zu erreichen." 83 81 Internetauswertung vom 28. Oktober 2008. 82 Unter Schirmherrschaft des Emirs von Katar einigten sich die libanesischen Parteien im Mai 2008 in Doha/Katar unter anderem auf die Wahl Sulaimans zum Präsidenten, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit mit 11 von 30 Ämtern für die Opposition, die damit Regierungsentscheidungen blockieren kann, sowie auf ein neues Wahlgesetz. 83 "Wind of change blows over Lebanon", Hassan NASRALLAH, Rede vom 26. Mai 2008 anlässlich des 8. Jahrestags des Widerstands und der Befreiung; Internetauswertung vom 30. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 63 Stolz bekräftigte NASRALLAH bei der Siegesfeier am 26. Mai 2008 ebenfalls, dass die Herrschaftsform der Wilayat al-Faqih84 seiner Überzeugung nach das ideale Staatsmodell sei, das heißt, die islamische Republik Iran fungiere in dieser Hinsicht als Vorbild: "Viele Medien haben versucht, die Wahrheit zu verdrehen. Sie denken fälschlicherweise, dass die 'Hizb Allah' sich für ihre Bindung an die Wilayat al-Faqih (...) schämt. Niemals! Ich erkläre hier und jetzt, wie ich es schon zu zahlreichen Gelegenheiten vorher getan habe, dass ich stolz darauf bin, zu den Unterstützern der Wilayat al-Faqih zu gehören, welche gerecht, weise, mutig, wahr und ehrlich ist." 85 Am 12. Februar 2008 kam Imad MUGHNIYA bei einem Attentat in Damaskus ums Leben. MUGHNIYA war jahrelang ein führendes Mitglied des Nachrichtendienstes der "Hizb Allah" und stand auf der so genannten Terrorliste des Rates der Europäischen Union. Er war in zahlreiche militärische Operationen gegen vorwiegend US-amerikanische und israelische Ziele verwickelt. So wird ihm zur Last gelegt, für den Bombenanschlag am 18. April 1983 auf die US-Botschaft in Beirut/Libanon verantwortlich zu sein, bei dem 63 Menschen ums Leben kamen. Er wird auch der Mitwirkung an den simultanen Autobombenanschlägen in Beirut vom 23. Oktober 1983 bezichtigt, bei denen 58 französische Soldaten und 241 US-Marinesoldaten getötet wurden. Zudem bringt man ihn mit zahlreichen, in den 80er-Jahren erfolgten Entführungen von Personen aus dem Westen in Beirut in Verbindung. Die "Hizb Allah" macht Israel für die Tötung MUGHNIYAs verantwortlich und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen für seine Ermordung. Die Feierlichkeiten anlässlich seines Todes machten deutlich, dass der bewaffnete Arm der "Hizb Allah" ein in der Anhängerschaft respektierter organischer Teil der Organisation ist. Der "Hizb Allah"-TV-Sender "al-Manar" (Leuchtturm) ist eine effektive Plattform für die Propaganda der "Hizb Allah". Er ist seit 1991 im Libanon lokal auf Sendung und strahlt seit 2000 rund um die Uhr weltweit sein Programm aus. In den vom Sender professionell produzierten Video-Clips wird das "Märtyrertum" glorifiziert, werden die Kämpfer der "Hizb Allah" im besten Licht dargestellt und Spendenaufrufe für "Hizb Allah"-nahe Organi84 Arabisch. Bedeutet "die Herrschaft der Rechtsgelehrten" in einer Theokratie. Auf Iranisch auch: wilayet-e-faqih. 85 "Wind of change blows over Lebanon", Hassan NASRALLAH, Rede vom 26. Mai 2008 anlässlich des 8. Jahrestags des Widerstands und der Befreiung, a.a.O. 64 recht abgesprochen. Die Ausstrahlung über den Satellitenbetreiber Eutelsat wurde am 15. Dezember 2004 durch den Beschluss des obersten französischen Gerichtshofs untersagt. Grund dafür war die antiisraelische und antijüdische Propaganda von "al-Manar". Am 29. Oktober 2008 erließ auch das "al-Manar"Bundesministerium des Innern eine Verbotsverfügung gegen diesen Sender. Verbot in Sie wurde damit begründet, dass "al-Manar" sich gegen den Gedanken der Deutschland Völkerverständigung richte. Zudem gefährde die Tätigkeit des Senders das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. "Al-Manar" unterstütze, befürworte und rufe zur "Gewaltanwendung als Mittel der Durchsetzung politischer und religiöser Belange" auf. Zudem unterstütze die Organisation "Vereinigungen außerhalb des Bundesgebietes, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten und androhen." 86 Der Satellitensender ist jedoch weiterhin über andere Satellitenbetreiber wie Arabsat zu empfangen. Der Programmdirektor von "al-Manar", Abdallah QASIR, stellte das Verbot in den Kontext einer Verschwörungstheorie: "Ich glaube, dass dieser Beschluss [sc. das Ergebnis einer] Irreführung ist oder eines Sich-täuschen-lassen-wollens auf Druck der in Europa existierenden zionistischen Lobbys hin, ähnlich wie es früher in Frankreich passiert ist." 87 Auf "IslamOnline", einem MB-nahen Internetportal, wurde über das "alManar"-Verbot folgendermaßen berichtet: "Dies ist nicht das erste Mal, dass proisraelische amerikanische oder jüdische Organisationen für ein Verbot des Senders al-Manar oder für ein Verbot von der Ausstrahlung von Inhalten, welche Israel kritisieren, intervenieren (...)." Auch al-Jazeera berichtete über das deutsche "al-Manar"-Verbot: "Der Programmdirektor al-Hajj Abdallah Qasir sagte bei einem Telefoninterview, mit al-Jazeera.net, dass 86 Verbotsverfügung zu "al Manar TV", Bundesministerium des Innern vom 29. Oktober 2008. 87 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 28. November 2008. 65 der deutsche Entschluss keinen juristischen Hintergrund, sondern einen politischen Hintergrund habe, und dass er auf Druck der jüdischen Lobbys zustande kam. Er fügte hinzu, dass die Aufrufe Deutschlands zur Verteidigung des Dialogs der Kulturen hohle Phrasen seien, denn es sei das europäische Land, welches den Zionisten, Juden und Israel am nächsten stehe, wegen dem, was er 'HolocaustKomplex' nennt." 88 Am 13. Juli 2006 zerstörte die israelische Armee im Libanon das Hauptgebäude von "al-Manar", konnte dadurch die Ausstrahlung seines Programms jedoch nur für wenige Minuten unterbinden. Während der kriegerischen Auseinandersetzung der "Hizb Allah" mit Israel wurde auf dem Sender in erster Linie Kriegspropaganda ausgestrahlt, die den Durchhaltewillen der libanesischen Bevölkerung stärken und die "Erfolge" der "Hizb Allah"Kämpfer hervorheben sollten. Die Misserfolge wurden hingegen systematisch verschwiegen. Auch nach dem Waffenstillstand setzte "al-Manar" seine mit der Ideologie der "Hizb Allah" durchsetzte Programmgestaltung fort. Der Sender versteht sich als Familiensender und es werden alle Altersgruppen bei der Programmgestaltung berücksichtigt. So werden Quizsendungen, bei denen vorrangig Ereignisse der islamischen Geschichte und andere Fakten, die im Zusammenhang mit dem Islam stehen, abgefragt werden, bis hin zu politischen Diskussionssendungen ausgestrahlt. Bereits während des "Sommerkriegs 2006" kam es auf der Internetseite eines baden-württembergischen Aktivisten zu antijüdischen Äußerungen.89 Die Internetrecherche des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führte zu einem Strafbefehlsverfahren des Amtsgerichts Pforzheim gegen den Betreiber dieser Homepage. Da er die volksverhetzenden Einträge eines anonymen Bloggers eineinhalb Jahre nicht gelöscht hatte, wurde gegen ihn am 29. Oktober 2008 rechtskräftig eine Geldstrafe wegen Volksverhetzung verhängt.90 Die "Hizb Allah" hat sich im europäischen Ausland, speziell auch in ndeckendes Deutschland, in den vergangenen Jahren weiter organisiert und eine fast fläetz von chendeckende Struktur aufgebaut. Die hier lebenden "Hizb Allah"-Anhänhängern ger verschleiern ihre Aktivitäten. Die Beschaffung von Finanzmitteln steht dabei im Vordergrund. Die Verbindung zur "Hizb Allah" im Heimatland 88 Wörtlich: "Komplex des Krematoriums". 89 Vgl. Verfassungsschutzbericht Baden Württemberg 2006, S. 63f. 90 Strafbefehl des Amtsgerichts Pforzheim vom 25. Juli 2008, rechtskräftig seit 28. Oktober 2008, Az.: 7 Cs 92 Js 7848/08. 66 wird unter anderem durch "al-Manar" und diverse Internetauftritte gehalten, aber auch durch zeitweilig anwesende Funktionäre und Prediger. Ein libanesischer schiitischer Scheich und Imam musste aufgrund eines Urteils91 des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 29. Oktober 2007 Deutschland im November 2007 verlassen, nachdem es dem Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg gelungen war, aufgrund von Internetrecherchen seine Zugehörigkeit zur "Hizb Allah" zu beweisen. In der Urteilsbegründung wurde darauf abgehoben, dass er mit seinen Aktivitäten in Deutschland die libanesisch-schiitische Islamisten-Organisation "Hizb Allah" unterstützt habe und dadurch eine Gefahr für die Belange der Bundesrepublik Deutschland sei. In Baden-Württemberg verteilen sich die etwa 100 Anhänger der "Hizb Allah" auf die Regionen Freiburg im Breisgau, Mannheim und Stuttgart. In der Region Stuttgart ist der schiitische Verein "Islamische Kulturgemeinschaft e.V. Stuttgart" der "Hizb Allah" zuzuordnen. Er teilt und verbreitet die Weltanschauung der "Hizb Allah". Im Jahr 2008 unterblieben öffentliche Veranstaltungen und Aktionen der Vereine in Baden-Württemberg. Selbst am "al-Quds-Tag" wurde in BadenWürttemberg nicht öffentlich demonstriert. 4.4 Türkische Organisationen 4.4.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Kerpen Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2007: ca. 3.600) ca. 27.500 Bund (2007: ca. 27.000) Publikation: "IGMG Perspektive" (zweisprachig) als monatlich erscheinende Verbandszeitschrift; als Sprachrohr dient auch die EuropaAusgabe der Tageszeitung "Milli Gazete" 91 Az.: 3 K 2130/07. 67 Unter den legalistischen, im Bereich des politischen Islam agierenden Organisationen in Deutschland nimmt die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) aufgrund ihrer Mitgliederstärke, ihrer weit reichenden Vernetzung und aufgrund des Einflusses, den sie kraft ihrer Mitgliedschaft in übergeordneten Verbänden ausübt, eine herausgehobene Stellung ein. Bei ihren Anhängern handelt es sich zum größten Teil um auf Dauer in Deutschland lebende, teilweise eingebürgerte Zuwanderer aus der Türkei. Die IGMG ist die dominierende Kraft im in Köln ansässigen "Islamrat für die Bundes - republik Deutschland", dessen Vorsitzender Ali KIZILKAYA 2001 und 2002 das Amt des Generalsekretärs der IGMG ausübte. Durch diesen Verband ist die IGMG mittelbar auch im "Koordinierungsrat der Muslime" (KRM)92 vertreten, der sich im Verlauf der Deutschen Islamkonferenz im April 2007 konstituierte. Die Jugendorganisation der IGMG ist Vorstandsmitglied in dem von der "Muslimbruderschaft" dominierten und von saudischen Sponsoren geförderten "Forum of Euro - pean Muslim Youth and Student Organisations" (FEMYSO)93. Mitbegründet wurde diese Institution durch Ibrahim el-ZAYAT, der bis zum Jahr 2002 auch ihr Vorsitzender war; el-ZAYAT ist außerdem Generalbevollmächtigter der "Europäischen Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft" (EMUG), über die der Ankauf von Liegenschaften und Gebäuden für Moscheevereine der IGMG und die Immobilienverwaltung abgewickelt wird. Die regionalen Aktivitäten in Baden-Württemberg erstrecken sich auf die so ntren in genannten Bölge (Regionen) Stuttgart, Freiburg-Donau, Schwaben (einBadenschließlich einiger bayerischer Ortsvereine) sowie Rhein-Neckar-Saar (hierrttemberg zu gehören auch mehrere Ortsvereine in Rheinland-Pfalz). Seit April 2005 ist der Theologe Adem KAYA Vorsitzender des Landesverbands BadenWürttemberg. Eigenen Angaben zufolge betreibt die IGMG auf lokaler Ebene in Deutschland mehr als 320 Moscheevereine. 92 Vertreten sind hier außer dem "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland" die "Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion" (DITIB), der "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) und der "Verband der Islamischen Kulturzentren" (VIKZ). 93 1996 gegründet. Hinter der Gründung standen neben muslimischen Jugendorganisationen verschiedener europäischer Länder die "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) sowie die saudische "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY). 68 "Milli Görüs" ("Nationale Sicht") ist die Bezeichnung für eine von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN ausgearbeitete politische Ideologie, deren Leitlinien in der 1975 veröffentlichten gleichnamigen Schrift sowie in einem von ERBAKAN überarbeiteten, 1991 publizierten Programm "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung") dargelegt sind und die sich in der Türkei selbst wie auch in der türkischen Diaspora in der "Milli Görüs"-Bewegung manifestiert. Kernpunkt dieser politischen Programmatik ist die langfristig geplante Ablösung der "nichtigen Ordnung" ("batil düzen") - im engeren Sinn der laizistischen, auf den Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks basierenden Staatsordnung der Türkei, im weiteren Sinn sämtlicher nicht auf einer islamischen Ordnung basierender politischer Systeme - durch die sich auf den Koran gründende einzig legitime "wahre/göttliche Ordnung" ("hak düzen"). Weitere Leitprinzipien der "Milli Görüs" bestehen in einer Führungsrolle der Türkei in der Region und in der gesamten Welt, wie sie im von ERBAKAN geprägten Slogan "Lebenswerte Türkei - Neue Groß-Türkei - Neue Welt" zum Ausdruck kommt, einer Vorreiterrolle von [islamischer] "Moral und spirituellen Werten", einer dezidierten Anti-Haltung gegenüber dem "rassistischen Imperialismus" 94 und dem "Zionismus" sowie dem Anspruch, "Milli Görüs" als Mittel zur "Glückseligkeit" (saadet) der gesamten Menschheit zu etablieren. Trägerin der politischen Ideologie der Bewegung ist die "Saadet Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") als bislang letzte der von ERBAKAN jeweils in Folge gegründeten "Milli Görüs"-Parteien95. Diese Partei sowie die derzeitige Regierungspartei der Türkei, "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP, "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") sind beide aus den rivalisierenden Flügeln der Vorgängerpartei "Fazilet Partisi" (FP, "Tugendpartei") hervorgegangen. Obgleich aufgrund eines für ERBAKAN verhängten Politikverbots96 die Führung der SP nicht länger in dessen Händen liegt, wird dem "Milli 94 Die wesentlichen Protagonisten dieses "rassistischen Imperialismus" werden nach ERBAKAN durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union wie auch den Internationalen Währungsfonds verkörpert. 95 "Milli Nizam Partisi" (MNP, 1970-1971), "Milli Selamet Partisi" (MSP, 1973-1981), "Refah Partisi" (RP, 1983-1998), "Fazilet Partisi" (FP, 1997-2001). Außer der MSP, die nach dem Putsch von 1981 per Gesetz aufgelöst wurde, wurden die vorgenannten "Milli Görüs"-Parteien jeweils wegen Verstoßes gegen die Prinzipien der laizistischen Republik verboten. 96 Im April 2008 wurde ERBAKAN aufgrund eines Verfahrens im Bereich der Wirtschaftskriminalität zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt, die zunächst in einen 11-monatigen Hausarrest mit gleichzeitigem Politikverbot und Wahlrechtsentzug umgewandelt wurde. Im weiteren Verlauf wurde ERBAKAN durch den türkischen Staatspräsidenten begnadigt. 69 Görüs"-Begründer innerhalb der Anhängerschaft nach wie vor eine herausragende Position zugemessen, wie einer Kolumne eines SP-Politikers im Sprachrohr97 der Bewegung, der "Milli Gazete", zu entnehmen ist: errlichung "Hodscha Erbakan ist der glaubenskämpferische BAKANs (mücahit) Sohn dieser Umma. Durch seine Haltung zeigt er, wessen Sunna er angesichts der auf ihn einstürzenden Plagen folgt. Was könnte man auch anderes von einem Mann der Mission (dava adami) erwarten, der sich die Leiden der Umma des Heiligen Propheten zum Beispiel nimmt (...)?" 98 Neben der "Saadet Partisi" fungieren weitere Institutionen als Träger der "Milli Görüs"-Ideologie, so das "Zentrum für Wirtschaftsund Sozialforschung" (ESAM, "Ekonomik ve Sosyal Arastirmalar Merkezi") in Ankara, welches im Oktober 2006 erstmals ein internationales "Milli Görüs"-Symposium veranstaltete, bei dem der universelle Anspruch der "Milli Görüs" wie auch die Gegnerschaft gegenüber dem "rassistischen Imperialismus" bekräftigt wurde. Der im Jahr 1998 gegründete "Anadolu Genclik Dernegi" (AGD, "Verband der Anatolischen Jugend") 99 erfüllt in der Türkei gleichsam die Funktion einer Jugendorganisation der "Milli Görüs". Im Bereich der Medien wird die Ideologie der Bewegung durch die formal unabhängige, jedoch in vielfältiger Hinsicht personell und strukturell mit der IGMG verbundene Tageszeitung "Milli Gazete"100, mit der manche Websites von IGMG-Vereinen verlinkt sind101, und durch den TV-Sender "TV 5"102 transportiert und verbreitet. Die Aufgabe der "Milli Gazete" charakterisierte ein Kolumnist wie folgt: "Milli Gazete dient nicht nur der Milli GörüsGemeinde, sondern der ganzen Menschheit zum Nutzen (...) In ihrer Gesamtheit handelt Milli Gazete nach der Richtlinie der Milli Görüs-Mission, an die sie glaubt und der sie sich verschrieben hat, und verteidigt diese." 103 97 Wertung des VGH Baden-Württemberg in einem klageabweisenden Urteil vom 22. Juli 2008 in einem Einbürgerungsverfahren (AZ 13 S 2613/03). 98 "Milli Gazete" vom 28. Juni 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 99 Vorläufer war die "Stiftung Nationale Jugend" ("Milli Genclik Vakfi"). Die Website der AGD ist unter anderem mit "TV 5" und "Milli Gazete" verlinkt. 100 Die früheren Vorsitzenden der IGMG Osman YUMAKOGULLARI und Dr. Yusuf ISIK waren auch zeitweilige Geschäftsführer der "Milli Gazete". 101 Zum Beispiel: Websites der IGMG Schorndorf und Germersheim (Jugendabteilung); Internetauswertung vom 24. November 2008. 102 Im April 2008 ging "TV 5" mit einem internationalen Format "TV 5-INT" auf Sendung, das über TürkSat empfangen werden kann. 70 103 "Milli Gazete" vom 20. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. Am 26. Oktober 2008, dem Tag des 3. Großen Ordentlichen Kongresses der SP in Ankara, vollzog sich an der Parteispitze ein Generationenwechsel: Auf den bisher amtierenden Generalvorsitzenden Recai KUTAN, der sein Amt niederlegte, folgte der bereits seit geraumer Zeit als "Kronprinz" ERBAKANs gehandelte Prof. Dr. Numan KURTULMUS104, dem eine IGMG-Delegation unter Führung des Generalvorsitzenden Yavuz Celik Prof. Dr. Numan KURTULMUS KARAHAN kurz nach der Übernahme des Parteivorsitzes einen Besuch in der Parteizentrale in Ankara abstattete105 und der schon mehrfach bei Veranstaltungen der IGMG in Deutschland aufgetreten ist.106 Auf diesem Kongress bekräftigte ERBAKAN vor den Kongressteilnehmern, dass der "rassistische Imperialismus" die Welt ausbeute und die Lösung hierfür ausschließlich in der "Milli Görüs" liege.107 Der neue Vorsitzende KURTULMUS bezeichnete in seiner Rede "Milli Görüs" als "universelles Zivilisationsprojekt". Auf den Zusammenbruch des [politischen] Herrschaftssystems der Welt werde nun die "Zeit der Barmherzigkeit" (rahmet) folgen, womit er auf eine an den Prinzipien des Islam orientierte Weltordnung anspielte. Ein Kolumnist der "Milli Gazete" hatte bereits im Vorfeld des Parteikongresses geschrieben: "Der Brand, den die Imperialisten in der islamischen Welt entfacht haben, verbrennt weiterhin (...) auch die Türkei. Nahezu jeder, der in diesem Land lebt, weiß, woher die Gefahr weht und sucht nach einem schützenden Hafen. Diesen schützenden Hafen bildet die jüngste Vertreterin der Milli Görüs, die Saadet Partisi." 108 Die mannigfaltigen Verflechtungen der IGMG mit den türkischen Reprä"Milli Gazete" sentanten der "Milli Gazete" treten in zahlreichen Interaktionen zutage: Sprachrohr Was die Aktivitäten der "Milli Gazete" als Sprachrohr der IGMG angeht, so der IGMG war Heilbronn im April 2008 Schauplatz eines "Nationalen Pressetags", bei 104 Absolvent der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität Istanbul (1982); KURTULMUS soll laut einem Bericht in Milliyet (Online) vom 26. Mai 2005 über beachtliche Unterstützung auch in Kreisen der regierenden AKP verfügen. 105 "Milli Gazete" vom 25. November 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 106 So war KURTULMUS laut Ausgabe der "Milli Gazete" vom 29. Juli 2008 Teilnehmer beim "Familientag" der IGMG Hannover, wo er Auszeichnungen an die erfolgreichsten IGMG-Vereine in der Region verlieh. Auch beim "Studententag" der IGMG in Hagen am 31. März 2007 befand sich KURTULMUS unter den Gastrednern ("Islamische Zeitung" vom 18. April 2007). 107 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 29. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 108 "Milli Gazete" vom 21. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 71 dem neben ehrenamtlich für die "Milli Gazete" tätigen lokalen Korrespondenten deren bekannter Kolumnist Ekrem KIZILTAS sowie regionale IGMG-Funktionäre anwesend waren und in dessen Verlauf zahlreiche neue Abonnenten gewonnen worden sein sollen.109 Gemeinsame Arbeitstagungen von IGMG und "Milli Gazete" verdeutlichen die enge Verzahnung. So kamen ebenfalls im April 2008 die Pressebeauftragten sowie die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Zeitung zu einem Meinungsaustausch zwecks einer qualitativen Verbesserung der Zeitung in der IGMG-Zentrale in Kerpen zusammen. An dieser Versammlung soll auch der Theologe und Pädagoge Dr. Yusuf ISIK - ein ehemaliger Geschäftsführer der "Milli Gazete" und zeitweiliger IGMG-Chef - teilgenommen und über "Vergangenheit und Gegenwart der türkischen Presse in Europa" referiert haben. Thema sei auch hier die Erörterung der Qualitätssteigerung und der Abonnentenzahlen gewesen.110 Schüler des Bildungszentrums der Mainzer BarbarosMoschee besuchten das Redaktionsgebäude der "Milli Gazete" in Frankfurt, wobei sie die Bedeutung der Unterstützung und der Abonnentenwerbung für die "Milli Gazete" betont haben sollen, stehe diese Publikation doch "stets auf Seiten des Wahren, Guten, Schönen, Nützlichen und Gerechten" und sei "Gegnerin des Falschen, Schlechten, Hässlichen, Schädlichen und Tyrannischen".111 Der Beitrag der "Milli Gazete" zu "positiver Integration" sei "eine Tatsache", und die Kursteilnehmer wünschten sich "eine Fortsetzung ihrer politischen Linie". Die Jugendabteilung des Frauenverbands der IGMG Baden-Württemberg besuchte bei einem Türkeiaufenthalt die "Milli Gazete"-Redaktion in Istanbul. Der Generaldirektor empfing die Gäste mit den Worten, der Mensch müsse sich unbedingt auf die Seite des Richtigen (Wahren - hak) stellen und erläuterte anhand von historischen Beispielen ganz im Sinne der "Milli Görüs"-Ideologie den Kampf zwischen dem Wahren (hak) und dem Nichtigen (batil), wobei er bekräftigte, dass "Milli Gazete auf der Seite des Rechts, der Wahrheit und des Volkes" stehe.112 ERBAKAN selbst bezeichnete laut einer Kolumne von Afet ILGAZ bei einer Gesprächsveranstaltung in der Türkei die "Milli Gazete" als "die einzig [sc. wahre] Zeitung", weswegen es "sehr wichtig und willkommen" sei, für dieses Blatt zu schreiben.113 agonisten Auch die Auftritte türkischer Protagonisten der "Milli-Görüs"-Bewegung illi Görüs"bei Veranstaltungen der IGMG, die einerseits die Bindung der IGMGwegung Klientel an das Mutterland sicherstellen und andererseits der Identitätsvergewisserung dienen, verdeutlichen und verfestigen die Beziehungen zwischen beiden. Prof. Dr. Arif ERSOY, Mitglied des SP-Vorstands, Generalse109 "Milli Gazete" vom 17. April 2008. 110 "Milli Gazete" vom 23. April 2008. 111 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 17. April 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 112 "Milli Gazete" vom 20. März 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 113 "Milli Gazete" vom 6. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 72 kretär des ESAM und einer der namhaften "Milli Görüs"-Ideologen, trat im Frühjahr 2008 bei der IGMG Hessen im Rahmen einer Reihe "Konferenzen der Besinnung" mit einem Vortrag zu dem die Sphäre des Religiösen weit überschreitenden Thema "Der Blick des Islam auf Sozialstaat und Wirtschaft" 114 auf. Im Mai 2008 war der ehemalige Justizminister unter dem 1996/97 amtierenden Ministerpräsidenten ERBAKAN, Sevket KAZAN, Gast bei der Buchmesse der IGMG Stuttgart115 sowie beim Basar der IGMG Waiblingen.116 Ende Juni 2008 trat KAZAN erneut bei einer Saisonabschlussveranstaltung der IGMG-Region Stuttgart unter dem Motto "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" in Esslingen als Gastreferent auf, wobei er die Historie der "Milli Görüs"-Bewegung skizzierte und anschließend verdiente Funktionäre mit Plaketten auszeichnete.117 Nachdem sich im April 2007 im Zuge der Islamkonferenz der Bundesregierung vier große islamische Dachverbände zum "Koordinierungsrat der Muslime" (KRM)118 zusammengeschlossen hatten, zeigte die Annäherung dieser bisher weitgehend separat agierenden Verbände auch im regionalen Bereich ihre Auswirkungen. In Esslingen wurde aus Anlass der Prophetengeburt Anfang April 2008 eine gemeinsame Veranstaltung von IGMG, türkischen Nationalisten (Türk Federasyon)119 sowie zwei der DITIB zugehörigen Moscheen durchgeführt.120 Im Bereich der IGMG Rhein-Neckar-Saar gab es aus demselben Anlass in Saarbrücken und Bischofsheim/Hessen gemeinsame Veranstaltungen von IGMG, DITIB und dem "Verband der Islamischen Kulturzentren" (VIKZ).121 Der Auftritt des Hamburger "Milli Görüs"-Funktionärs und Vorsitzenden der dortigen SCHURA122, Mustafa YOLDAS, bei einer von Anhängern der "Türkischen Hizbullah"123 organisierten Gedenkveranstaltung zur Geburt des Propheten, die auf einer eindeutigen Verlautbarungsplattform dieser Organisation kommuniziert wurde124, weckt Zwei114 Anzeige in "Milli Gazete" vom 10. April 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 115 "Milli Gazete" vom 7. Mai 2008. 116 "Milli Gazete" vom 16. Mai 2008. 117 "Milli Gazete" vom 30. Juni 2008. 118 DITIB, "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", "Zentralrat der Muslime in Deutschland" und "Verband der Islamischen Kulturzentren" (VIKZ). 119 ADÜTDF, "Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu" ("Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa"), auch als "Graue Wölfe" bekannt. 120 "Milli Gazete" vom 3. April 2008. 121 "Milli Gazete" vom 12. April 2008. 122 "Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg", seit 1999 bestehender Zusammenschluss. 123 Anfang der 80er-Jahre in Diyarbakir gegründete kurdische sunnitisch-islamistische Organisation, die die Errichtung eines unabhängigen islamischen kurdischen Staates nach iranischem Vorbild anstrebt. Sowohl innerhalb rivalisierender Flügel der Organisation als auch in Auseinandersetzungen mit der PKK, mit Abweichlern und mit Erpressungsopfern kam es zu massiver Gewaltanwendung. Nach umfangreichen Polizeioperationen in den Jahren 2000 bis 2002 setzten sich zahlreiche Anhänger ins Ausland ab, während es in der Türkei zu Massenprozessen kam. Vgl. "Wachsender Einfluss der Hizbullah in Batman", NZZ vom 29. Dezember 2006. 124 Internetauswertung vom 23. April 2008. 73 fel einer dezidierten Abgrenzung der legalistisch agierenden IGMG von Gruppierungen, die - zumindest was deren Agieren im Heimatland betrifft - dem gewaltbereiten Islamismus zuzurechnen sind. Auch im Jahr 2008 führte die IGMG Großveranstaltungen von überregionaler Bedeutung durch. Am 31. Mai 2008 fand im belgischen Hasselt der traditionelle "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" statt, an dem nach Angaben der IGMG rund 25.000 Anhänger teilgenommen haben sollen. Neben zahlreichen Funktionären der Organisation waren zu dieser Veranstaltung auch ausländische Gäste wie das geistige Oberhaupt der bosnischen Muslime und Gründungsmitglied des "European Council for Fatwa and Research" (ECFR), Prof. Dr. Mustafa CERIC125, Repräsentanten aus Algerien, Pakistan und Indonesien sowie der Vorsitzende des "Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland", Ali KIZILKAYA, geladen. Seitens der Bildungskommission der IGMG sollen bei dieser Veranstaltung Bildungsangebote und Unterrichtsmaterialien in Form einer Ausstellung präsentiert worden sein. IGMGGeneralsekretär Oguz ÜCÜNCÜ äußerte sich zur Zielsetzung seiner Organisation und zur Einschätzung von deren Rechtmäßigkeit wie folgt: "Als religiöse Gemeinschaft von Muslimen ist es das Ziel unserer Gründung, im Lichte von Koran und Sunna unsere Religion richtig zu verstehen, sie auf unser Leben anzuwenden und sie in unserem Umfeld bekannt zu machen. Die Gebote der islamischen Religion unter diesem Aspekt zu befolgen, widerspricht weder den Rechtsordnungen der Länder, in denen wir leben, noch fördert dies die Entstehung von Parallelgesellschaften; ganz im Gegenteil: Die Bemühung, unsere Religion zu leben, ist die deutlichste Ausprägung der im Übrigen durch die Verfassungen geschützten Religionsfreiheit." 126 Dass das Leben der Muslime gänzlich nach islamischen Vorgaben auszurichten sei, verdeutlichte der IGMG-Generalvorsitzende Yavuz Celik KARAHAN in seinem Redebeitrag mit den Worten: 125 1974-1978 Stipendiat der Al-Azhar-Universität in Kairo, wo CERIC Theologie und Philosophie studierte; 1978 Promotion in Chicago; Lehrtätigkeit an der Fakultät für Islamische Wissenschaften in Sarajewo sowie der Islamischen Universität Malaysia in Kuala Lumpur. 126 "Milli Gazete" vom 2. Juni 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 74 "Unser Grundprinzip ist unsere islamische Identität. Eine Bewegung, die ihre islamische Identität nicht in den Vordergrund rückt, kann nicht nur die Muslime nicht repräsentieren, sondern sie gerät bei jedem aufkommenden Wind ins Schwanken (...) Wenn wir uns anderen Menschen präsentieren, müssen wir dies in der Weise tun, dass Allah und sein Gesandter damit zufrieden sind und nicht die Menschen. Unsere irdischen Angelegenheiten müssen wir im Bewusstsein der Umma gestalten. Als Muslime müssen wir das Bewusstsein dafür entwickeln, dass es unsere wichtigste Eigenschaft ist, Andacht übende Menschen zu sein. Als Muslime richten wir ohnehin unser gesamtes Leben nach den Gebetszeiten aus. Aus diesem Grund müssen wir das Bewusstsein, Diener [sc. Allahs] zu sein, in uns verankern." 127 Zu den Merkmalen der "Milli Görüs"-Bewegung gehört das unter den Anhängern verbreitete Bewusstsein, Angehörige einer auserwählten Gemeinschaft zu sein, denen die Aufgabe zukommt, die eigene "Mission" anderen Menschen nahe zu bringen. Dieses Ziel formulierte ein SP-Politiker wie folgt: "Die Milli Görüs-Bewegung ist aufgrund ihres Anspruchs eine sehr große und fundierte Bewegung. Ihr anzugehören heißt, bereit zu sein, sein Leben für ein hohes Ziel zu opfern. Es heißt, die Tugend zu besitzen, das Diesseits und die darin befindlichen Wohltaten mit einer Handbewegung wegfegen zu können (...)." 128 Menschen heranzubilden, die diesem Ideal eines "Milli Görüs"-Muslims entsprechen und die ihr Leben an den Richtlinien der Religion orientieren, ist oberstes Ziel der von der IGMG betriebenen intensiven Bildungsarbeit. Hier werden die konstitutiven Elemente der Ideologie ebenso vermittelt wie spezifische Elemente der islamischen Identität. "Warum Milli 127 Homepage der IGMG vom 4. Juni 2008 sowie "Milli Gazete" vom 2. Juni 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 128 "Milli Gazete" vom 28. Juni 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 75 Görüs?"129, "Missionsbewusstsein", "Grundprinzipien der Milli Görüs"130 lauten exemplarisch die Titel von Seminaren, die im Jahr 2008 für Jugendliche in Enzweihingen und Tuttlingen abgehalten wurden. Themen wie "Verhalten des Propheten zu den Mitmenschen"131, "Die Erziehungsmethode des Propheten"132, "Die Beziehungen des Propheten Muhammad zu den Nichtmuslimen"133 wurden in Schulungen in Freiburg im Breisgau, München und Kerpen abgehandelt. Das "Bewusstsein der Dienerschaft des Muslims gegenüber Allah" war Thema eines Seminars für angehende Funktionäre im Herbst 2008.134 Bei dieser Veranstaltung sei über die "Großartigkeit der Wohltat des Glaubens" gesprochen worden und davon, dass "die Jugendlichen, die Träger dieses Glaubens" seien, "nicht gelenkt werden, sondern selbst Lenkende sein" sollten. Die für den Islamismus charakteristische idealisierte Betrachtung der islamischen Frühzeit ist auch bei Veranstaltungen der IGMG zu beobachten; so bilden Vorträge oder Präsentationen zum Thema "Asr-i Saadet" ("Zeitalter der Glückseligkeit")135 häufig einen Bestandteil des Programms.136 Dies zeigt, dass auch in einer legalistischen islamistischen Organisation salafitische Tendenzen Anklang finden können. Dadurch entstehen auch Anknüpfungspunkte und Überschneidungsbereiche für die eingangs beschriebenen, strengeren rückwärts gewandten Vorstellungen. ologische Der ideologischen Festigung dienen auch von den Jugendverbänden orgastigung nisierte Türkeiaufenthalte. Eine Jugendgruppe aus Freiburg im Breisgau, die im Mai 2008 in die Türkei reiste, besuchte die Generalzentrale der "Saadet Partisi" in Ankara, wo sie vom Bildungskoordinator der SP-Zentrale in einem Vortrag auf die "Grundprinzipien der Glückseligkeit[spartei]" eingeschworen wurde. Thematisiert wurden dabei auch die "Beschaffenheit eines 'Milli Görüs'-Mannes" und die "Wichtigkeit der Einheit von Gedanken, Worten und Taten für den Erfolg der Mission".137 Den Höhepunkt bildete der Empfang der Gruppe durch "Hodscha ERBAKAN", der die Eigenschaft 129 "Milli Gazete" vom 17. Januar 2008; hier: Arbeitsübersetzung 130 "Milli Gazete" vom 19. Februar 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 131 "Milli Gazete" vom 9. Januar 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 132 "Milli Gazete" vom 28. Februar 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 133 "Milli Gazete" vom 10. März 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 134 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 8. November 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 135 Die zum "Goldenen Zeitalter" stilisierte Lebensphase des Propheten sowie seiner Zeitgenossen und seiner unmittelbaren Epigonen. 136 Präsentationen dieser Art gab es unter anderem bei Veranstaltungen zur Prophetengeburt in Aalen ("Milli Gazete" vom 16. April 2008) und Esslingen ("Milli Gazete" vom 3. April 2008), einem Programm zum Fastenbeginn in Aalen ("Milli Gazete" vom 23. September 2008) und einer Iftar-Veranstaltung in Endersbach ("Milli Gazete" vom 24. September 2008). 137 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 19. Mai 2008; hier: Arbeitsübersetzung. Bei dem erwähnten "Scheich Mahmut" handelt es sich mutmaßlich um den ERBAKAN-Vertrauten Mahmut USTAOSMANOGLU, auf dessen Veranlassung hin 1983 die Gründung der "Rafah Partisi" (RP, Wohlfahrtspartei) erfolgte. 76 des "bewussten Muslim" heraushob und die Quelle der Glückseligkeit als im Islam begründet beschrieb. Muslime, so ERBAKAN, seien "Menschen, die sich den Befehlen Allahs und seines Gesandten unterwerfen". Zum Schluss wurde die Gruppe von einem Naqshbandi-Scheich138 in Istanbul empfangen, der ERBAKAN nahe steht. In internen Fortbildungsseminaren der IGMG werden Funktionäre der interne Organisation ideologisch geschult. Die konservative Ausrichtung der hier ideologische vermittelten Inhalte kann anhand eines internen Fortbildungsseminars in Schulungen der Region Köln139 verdeutlicht werden, bei dem nach einem Vortrag zum Thema "Grundprinzipien der Organisation" der Vorsitzende der Region Köln sich unter Einbeziehung des Da'wa140-Aspekts des Islam folgendermaßen äußerte: "In der Religion gibt es keine Reform. Allenfalls kann es darum gehen, Praktiken der Vergangenheit wieder ans Tageslicht zu bringen. Dies kann aber nicht 'Reform' genannt werden, sondern 'Wiederauffrischung' (islah). Wo ein unstrittiger Text vorhanden ist, kann es keine Fatwa 141 geben. Das diesseitige wie das jenseitige Leben von Menschen, die die Religion nicht richtig praktizieren, kann nicht gut sein. Unser Schöpfer, Allah der Erhabene, zeigt uns ohnehin unseren Weg, indem er sagt, dass man diejenigen Menschen, die einen Propheten in den Rang Gottes erheben, durch schöne Worte ermahnen solle." 142 Hodschas, die zu Vortragszwecken bei der IGMG eigens aus der Türkei anreisen, ermutigen die Landsleute, in jeglicher Hinsicht für die Stärkung des Islam in Deutschland einzutreten. In Hameln bezeichnete Hodscha Mahmut TOPTAS143 Moscheen [in Deutschland] als "bleibendes islamisches Siegel".144 Die Religion zu leben und zu schützen, Beispiel zu geben und andere Menschen den Islam zu lehren, verhindere, dass man "assimiliert werde". Den auslösenden Faktor für 138 Der Naqshbandia-Orden ist als spirituelle Quelle der "Milli Görüs"-Bewegung zu verstehen. 139 "Milli Gazete" vom 12. Februar 2008. 140 Einladung/Aufforderung, den Islam anzunehmen, hier in Bezug auf die aus islamischer Sicht einer "verfälschten" Religion anhängenden Christen. 141 Islamisches Rechtsgutachten, das von einem hierzu befugten Gelehrten erstellt wird. 142 "Milli Gazete" vom 12. Februar 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 143 TOPTAS ist sowohl häufiger Referent bei der IGMG (2008 unter anderem in Hamm, Hameln, Hanau, Walldorf, Nürnberg, Backnang) als auch Kolumnist der "Milli Gazete". 144 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 14. Februar 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 77 Straftaten meint TOPTAS in den europäischen Gesellschaften auszumachen. Er unterstellt, die "erste und zweite Generation" sei [noch] "im Sinne der islamischen Moral, die dritte jedoch in der europäischen Moral" erzogen worden, was TOPTAS zu der Schlussfolgerung führt: "Wo es keinen Islam gibt, gibt es keinen Frieden." Der Tatsache, dass antijüdische oder antisemitische Äußerungen, wie sie in ERBAKANs Rhetorik anzutreffen sind, in Europa nur abträglich sein können, ist man sich in IGMG-Führungskreisen bewusst. Entsprechende Vorkommnisse sind dennoch festzustellen, wie im Fall des Vorsitzenden der "Islamischen Föderation Wien"145, der am 26. Januar 2008 in Wien bei einer ijüdische Demonstration unter dem Motto "Gaza muss leben" eine "flammende Rede ßerungen gegen Juden" gehalten und dabei die Bedeutung des "Jihad gegen Israel" betont haben soll.146 Auch der in IGMG-Kreisen geschätzte Autor Mustafa ISLAMOGLU147, dessen Schriften zum Teil in deutscher Sprache vorliegen148, konkretisiert in seiner erstmals 1995 und 2006 bereits in 15. Auflage erschienenen Schrift "Yahudilesme Temayülü" ("Die Tendenz, im Charakter jüdisch zu werden")149 die religiös begründete Abwertung alles "Jüdischen" anhand der These, die größte Katastrophe, die der muslimischen Weltgemeinschaft (Umma) drohe, sei darin zu erblicken, dass diese "tendenziell einen jüdischen Charakter annehme". Der Prozess des "Jüdischwerdens" sei insgesamt ein Prozess der "Verfälschung", die Neigung zu einer "Perversion", mithin ein Synonym für die Abweichung vom rechten Weg. ISLAMOGLU erblickt darin eine "von Ewigkeit her bestehende Krankheit der Menschheit", die sich in ihrer gesamten Dimension in der Persönlichkeit des jüdischen Stammes manifestiere. Das "Jüdischwerden" sei eine "globale, zeitlich unbegrenzte Krankheit des Glaubens", die im Korantext an zahlreichen Stellen im Sinne einer Warnung erwähnt werde. Die von der IGMG angebotenen Ferienkurse, insbesondere die Sommerkurse, verfolgen das Ziel, den Nachwuchs von Anfang an in die Organisa145 Bei der "Avusturya Islam Federasyonu" (AIF, "Islamische Föderation in Österreich") handelt es sich um den österreichischen Zweig der IGMG. 146 Internetauswertung vom 24. Oktober 2008. 147 Absolvent des Yüksek Islam Enstitüsü (Islamische Hochschule), Studium an der Shari'a-Fakultät der AlAzhar-Universität Kairo. ISLAMOGLU trat Anfang 2007 bei einer Gesprächsveranstaltung der IGMGJugend Bayern-Süd in Ingolstadt anlässlich des Hijra-Neujahrs ("Milli Gazete" vom 6. Februar 2007), im Mai 2004 beim "Familientag" der IGMG ("Milli Gazete" vom 21. Mai 2004) auf. 148 Einer dieser in Deutsch vorliegenden Titel ist "Ratschläge an meine jungen Geschwister", verlegt bei Green Palace Berlin, herausgegeben von der MJD; eine Vertonung liegt - in Kooperation mit Münib Engin NOYAN - in Form der CD "Sinn und Sein - Alles beginnt bei Dir selbst" vor. 149 Der vollständige Titel lautet "Israilogullarindan Ümmet-i Muhammed'e Yahudilesme Temayülü" (Die Tendenz, im Charakter jüdisch zu werden - von den Söhnen Israels bis zur Umma Muhammads). Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor. 78 tion einzubinden und die Jugendlichen "nicht vergessen zu lassen, dass sie Muslime sind." 150 Am Ibn-i Sina-Institut im belgischen Mons waren Schülerinnen aus Kanada zum Sommerkurs zu Gast, die in diesem Zusammenhang auch die Generalzentrale der IGMG in Kerpen besuchten. Mit Blick auf den von "Milli Görüs" erhobenen universellen Anspruch wies der Generalvorsitzende KARAHAN die Schülerinnen darauf hin, dass die "Milli Görüs"-OrganiIndoktrinierung sation "weltweit für ein friedvolles und glückliches Leben aller Menschen der Jugend tätig" sei.151 Ihnen käme die Aufgabe zu, nach ihrer Rückkehr ebenfalls für dieses Ziel zu arbeiten: "Wenn ihr nach Kanada zurückgekehrt seid, dürft ihr nicht untätig sein, sondern ihr müsst für den Frieden und das Glück der Menschheit aktiv werden." Rückwärts gerichtete Tendenzen bei gleichzeitiger starker Verhaftung in der Ideologie sind insbesondere im Bereich der Jugend deutlich auszumachen. Die Begeisterung für den "Führer" ERBAKAN ist ungebrochen, in der Verherrlichung der Ideologie lassen sich bisweilen martialische Töne vernehmartialische Töne men. Die Jugend der IGMG-Region Rhein-Neckar-Saar wirbt auf ihrer seitens der Jugend Homepage für "eine neue Ordnung, die das Recht [auch: Gott] hochhält" (Hakki üstün tutan yeni bir düzen) - die in Deutschland bestehende politische Ordnung müsste nach dieser Lesart folglich als "Unrechtsordnung" einzustufen sein.152 Weiter präzisiert wird die Idee dieser idealisierten Weltordnung durch die Beschreibung "Eine neue Welt, in der die Liebe zur Rose und zur Tulpe vorherrschen", wobei hier die "Rose" als Symbol für den Propheten und die "Tulpe" für das Osmanentum zu verstehen ist. Dass dieser Jugendverband klar für die Politik ERBAKANs eintritt, beweist das hier eingefügte Porträt des "Milli Görüs"-Führers, ergänzt durch die Slogans "Wir lieben Dich, Verteidiger (sc. der Sache des Islam)" und "Wir alle sind Erbakan", aus denen eine vollständige Solidarisierung mit der Person ERBAKANs ersichtlich wird. Dieselbe Ausrichtung auf die Person des "Hodscha" findet sich in einem 150 "Milli Gazete" vom 28. Mai 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 151 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 11. August 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 152 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 18. Juni 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 79 offiziell von der IGMG produzierten Videoclip der Jugend Hessen153, bei dem in der Eingangssequenz das Motto "Hak geldi batil zail oldu" ("Gekommen ist die Wahrheit, vergangen ist das Nichtige")154 eingeblendet wird, welches im Übrigen auch als Motto der "Milli Gazete" dient. Darauf folgt der Slogan "Die in Treue zum Bündnis stehende - ihre Mission mit Leidenschaft betreibende - ihrem Führer verbundene Jugend Hessen".155 Die Jugend der IGMG Bruchsal produzierte für den am 19. April 2008 in Wuppertal abgehaltenen "Tag der Führungsfunktionäre der IGMG-Jugendverbände" ein Video zur Selbstdarstellung156, das mit einem Text unterlegt ist, der der Jugend Charaktereigenschaften typisch ERBAKANscher Prägung zuschreibt: "Sie [sc. die Jugend] schert sich nicht um weltlichen Besitz, Sie hat sich dem Weg der Wahrheit verschrieben. Unsere Leidenschaft begleitet jeden unserer Schritte Die Teufel werden in Ketten gelegt. Sie ist die Generation des Marschierens, mutig und beherzt, Ihre Fußtritte lehren die Tyrannen das Fürchten. Sie sind die Soldaten der Wahrheit, die Rosen des Propheten, Sie sind [sc. wie] Hamza, [sc. wie] Ömer157, die anatolischen Jugendlichen. Sie sind so mutig, dass sie gar den Tod besiegen, Sie kämpfen den Kampf einer heiligen Botschaft (...)" 158 Bei ihrer Bildungsarbeit organisiert die IGMG auch Sonderveranstaltungen sgespräche" wie die bereits zum dritten Mal in Folge durchgeführten "Hausgespräche" (ev sohbetleri) der Jugendabteilung. Im Interview führte der Vorsitzende der IGMG-Kommission für Bildung, Hikmet ATAK, hierzu aus: "Unsere 'Hausgespräche' sind Orte, an denen diejenigen, die mit Leidenschaft für ihre Mission eintreten, sich treffen, und sie sind 'Tankstellen', an denen 153 Internetauswertung vom 11. Juli 2008. 154 Sure 17, 81. 155 Hier: Arbeitsübersetzung. 156 Internetauswertung vom 4. Juni 2008. 157 Hamza und Ömer sind Prophetengefährten, die als vorbildhaft gelten. 158 Übernahme wie im Original. 80 kostenlos 'ideeller Kraftstoff' abgegeben wird. Bei unseren 'Hausgesprächen' nehmen wir unsere in Europa lebenden Jugendlichen an die Hand und wollen mit ihnen zusammen dem Wohlgefallen Allahs zustreben (...)." 159 Was die Haltung der IGMG zur Integration anbetrifft, so sieht die Organisation im von ihr vorgebrachten Anspruch der Gültigkeit islamischer Normen für sämtliche Lebensbereiche keinen Widerspruch zur Eigenwahrnehmung als "Motor" der Integration von Muslimen in Deutschland. Funktionäre beklagen häufig die mangelnde Anerkennung der von ihrer Gemeinschaft erbrachten Integrationsleistungen aufgrund angeblich latent islamophober Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft und weisen konkrete Integrationsanforderungen als Versuch der "Assimilation" zurück. So schrieb der seinerzeitige SP-Generalvorsitzende Recai KUTAN bei seinem Besuchs beim IGMG-Verband Holland-Nord der IGMG eine historische Rolle zu, deren Bedeutung erst im Rückblick erkannt werden könne: Dank dieser Organisation, so KUTANs Ausführungen, konnten sich die in Europa lebenden türkischen Landsleute im Rahmen ihrer andersartigen Werte selbst bewahren, worüber niemand beunruhigt sein müsse. Gewisse Kreise seien besorgt, dass sich die türkischen Landsleute nicht in die entsprechenden Gesellschaften integrierten, doch diese Sorgen seien unberechtigt: "Der deutsche Botschafter sagte mir eines Tages, dass man wegen der Milli Görüs-Organisation beunruhigt sei. Ich fragte nach dem Grund. Der Botschafter antwortete: 'Die Menschen, die aus der Türkei kommen, leben wie in der Türkei. Wir wollen, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren, doch die Milli Görüs-Organisation verhindert dies.' Die Situation verhält sich allerdings genau umgekehrt: Milli Görüs ist die Adresse für die Integration und der Schlüssel hierzu." 160 In der internen Diskussion ist die IGMG gar vom Begriff "entegrasyon" "Teilhabe" statt ("Integration") abgerückt und will diesen durch den Begriff "katilim" ("Teil"Integration" habe") ersetzt wissen. Bei einer Veranstaltung der "Interkulturellen Studentenvereinigung" (ISV) Tirol161 bekräftigte IGMG-Generalsekretär ÜCÜNCÜ seine Absicht, künftig von "katilim" sprechen zu wollen und begründete 159 "Milli Gazete" vom 14. November 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 160 "Milli Gazete" vom 25. März 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 161 Studentische Jugendorganisation der "Avusturya Islam Federasyonu" (AIF), des österreichischen Zweigs der IGMG. 81 dies damit, dass die Verantwortlichen unter "Integration" leider verstünden, dass man alles aufgeben, also die eigene Kultur und den Glauben möglichst bei der Einreise abgeben und sich assimilieren solle.162 In gleicher Weise äußerte sich ÜCÜNCÜ hierzu auch in einer Kolumne: "Auch wenn die Gesellschaft uns mit Zweifel betrachtet, so sind wir als Gemeinschaft doch einerseits darum bemüht, eine muslimische Identität zu schaffen und haben andererseits ernsthaften Anteil an der Integration. Allerdings verstehen wir Integration nicht als Assimilation, sondern als Teilhabe mit unserer eigenen Identität." 163 Mit großem Einsatz kämpft die IGMG weiterhin für die Durchsetzung ihrer Positionen auch in Belangen der alltäglichen Lebensführung wie der Teilnahme von Mädchen am koedukativen Schwimmunterricht oder beim Thema Kopftuch. Die vom Verwaltungsgericht Düsseldorf am 7. Mai 2008 abgewiesene Klage164 der Eltern eines zwölfjährigen Mädchens auf Befreiung vom gemischten Schwimmunterricht wurde von IGMG-Generalsekretär ÜCÜNCÜ heftig kritisiert.165 Der Imam der IGMG Stuttgart-Wangen rät in einem Interview ebenfalls von der Teilnahme am Schwimmunterricht ab: "Ich halte mich an den Koran, und der sagt nun einmal, dass sich eine Frau vor fremden Männern nicht zeigen darf." 166 Das Kopftuch ist nach Auffassung dieses Imams ebenso "Pflicht im Islam" wie einer Ehe zwischen einer Muslimin und einem Christen die Zustimmung zu verweigern sei, was jedoch im umgekehrten Fall nicht gelte. Unumwunden räumt der Imam auch ein: "Im Islam hat der Mann viel mehr Rechte und Pflichten als die Frau." Für so genannte "Kopftuchopfer" (basörtüsü magduru)167 hat die IGMG ein Programm für Stipendiatinnen 162 "Milli Gazete" vom 9. April 2008. 163 "Milli Gazete" vom 7. Mai 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 164 AZ 18 K 30108. Das Gericht argumentierte, es bestünden vielfältige Bekleidungsmöglichkeiten, um den schützenswerten religiösen Belangen der Schülerin Rechnung zu tragen. Werde von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, sei ein Eingriff in die Religionsfreiheit, falls überhaupt noch festzustellen, jedenfalls auf ein Minimum reduziert, so dass in Abwägung die Befolgung des staatlichen Bildungsauftrages Vorrang genieße. 165 Homepage der IGMG vom 8. Mai 2008. 166 Hier und im Folgenden: Stuttgarter Zeitung vom 26. April 2008. 167 Kopftuchtragende Studienbewerberinnen werden in der Türkei nicht zum Hochschulstudium zugelassen. Ein Großteil dieser Personengruppe weicht daher zum Studium an europäische Hochschulen aus. 82 eingerichtet, von dem innerhalb der vergangenen zehn Jahre nach Eigenangaben der IGMG rund 1.100 Studentinnen profitiert haben sollen. Diese erfahren von der IGMG finanzielle Unterstützung und werden organisationsintern im Unterricht für Kinder und Jugendliche als Lehrkräfte eingesetzt.168 Für eine Abschirmung der durch den "Sumpf der westlichen Gesellschaft" bedrohten muslimischen Jugendlichen tritt auch der nach eigenen Angaben in der "Milli Görüs" Hamburg aufgewachsene Koranrezitator und Musiker Mustafa Özcan GÜNESDOGDU ein, der häufig bei Veranstaltungen der IGMG präsent ist.169 Im Interview zu Lösungsmöglichkeiten befragt, empfahl GÜNESDOGDU die Einrichtung von "Jugendhäusern" durch Moscheen, die Einstellung von "Jugendimamen" und die feste Verankerung der Jugendlichen in ihrem Ursprung und ihren eigenen Werten. Am Ende des Interviews gab der Befragte zu bedenken: "Wie die entsprechende Sure besagt: 'Was gibt es außer der vom Koran offenbarten Wahrheit denn sonst? Nur Abirrung!' Ich möchte daran erinnern, dass der einzige Weg zum Glück im Diesseits und im Jenseits der Islam ist, und dass sämtliche sonstigen Wege - wie auch immer sie heißen und von wem auch immer sie erdacht worden sein mögen - Fehler und Abirrung bedeuten." 170 Ungeachtet der dargestellten, erkennbar im Sinne der ERBAKAN'schen Ideologie ausgerichteten Prägung der IGMG, die im Widerspruch zur Außendarstellung der Organisation steht, ist darauf hinzuweisen, dass in der wissenschaftlichen Publizistik zur IGMG auch die These der "Reformbewemangelnde Ergung" - insbesondere von Schiffauer171 - vertreten wird, der sich in seiner kennbarkeit von Einschätzung auf eine angeblich von der Kerpener Zentrale beabsichtigte Reformansätzen "Reform von oben" beruft. Dafür, dass ein solches Bestreben an die Basis kommuniziert würde, liegen jedoch bislang keine verifizierbaren Belege vor. 168 "Milli Gazete" vom 14. November 2008. 169 GÜNESDOGDU war unter anderem bei einer durch den "Koordinierungsrat der Muslime" organisierten Großveranstaltung zum Gedenken an die Geburt des Propheten im April 2008 in Köln zugegen (Homepage der IGMG vom 7. November 2008). Im April 2006 trat er bei einer Veranstaltung der IGMG Freiburg auf ("Milli Gazete" vom 18. Mai 2006). 170 Interview in "Yeni Genclik" Nr. 14 vom April - Juni 2008. 171 Professor für Vergleichende Kulturund Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Veröffentlichungen zur IGMG: "Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs - ein Lehrstück zum verwickelten Zusammenhang von Migration, Religion und sozialer Integration"; in: Bade, Klaus J./Bommes, Michael/Münz, Rainer (Hrsg.), "Migrationsreport 2004. Fakten - Analysen - Perspektiven. Frankfurt/New York. Im Februar 2009 soll Schiffauers neueste Untersuchung "Nach dem Islamismus: Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" erscheinen. 83 Demgegenüber behauptet eine andere Veröffentlichung einen unabhängig von der "belasteten" Zentrale gepflegten offenen Umgang selbst mit dem Verfassungsschutz und verortet damit die eher um Öffnung bemühten Kräfte in den Ortsvereinen.172 Angesichts der mangelnden Erkennbarkeit von Reformansätzen, die für die Organisation insgesamt prägend sein könnten, ist die künftige Entwicklung innerhalb der IGMG - auch unter dem Aspekt des an der SP-Spitze vollzogenen Führungsund Generationenwechsels und dessen möglicher Auswirkungen auf die "Milli Görüs"-Bewegung außerhalb der Türkei - aufmerksam weiter zu verfolgen. 4.4.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) Gründung: 1984 (ICCB), 1994 Umbenennung in "Kalifatsstaat" Sitz: Köln Anhänger: ca. 230 Baden-Württemberg (2007: ca. 250) ca. 750 Bund (2007: ca. 750) Verbot: Nach dem Wegfall des Religionsprivilegs durch Änderung des Vereinsgesetzes hatte der Bundesminister des Innern am 8. Dezember 2001 19 Ortsvereine als Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" verboten; am 19. September 2002 wurde das Verbot auf 16 weitere Teilorganisationen ausgedehnt.173 Die Gründung des "Verbands der Islamischen Vereine und Gemeinden" ("Islami Cemiyet ve Cemaatler Birligi", ICCB) im November 1984 durch Cemaleddin KAPLAN, ehemals Beamter des türkischen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi), geht auf interne Auseinandersetzungen zwischen KAPLAN und der von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN geführten "Milli Görüs" zurück, in deren Namen KAPLAN Anfang der 80er-Jahre nach Deutschland entsandt worden war. Das von KAPLAN verfolgte primäre Ziel bestand in der Beseitigung der laizistischen Ordnung und der Wiedererrichtung des 1924 durch Atatürk in der Türkei schaft eines abgeschafften Kalifats, langfristig in der globalen Herrschaft des Islam unter fen als Ziel Führung eines Kalifen. Demokratie und Rechtsstaat wurden, da als "unislamisch" qualifiziert, kategorisch abgelehnt. 172 So etwa der Mannheimer Verein, was nicht zutreffend ist. Vgl. Schmid, Hansjörg/Atmila Akca, Ayse/Barwig, Klaus: Gesellschaft gemeinsam gestalten. Islamische Vereinigungen als Partner in Baden-Württemberg. Baden-Baden 2008, S. 82. 173 Dieses Verbot wurde durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 bestätigt, Az.: 6 A 1/02. 84 Die Nachfolge KAPLANs im Amt des "Kalifen" ging nach dessen Tod 1995 auf den Sohn Metin KAPLAN über. Nachdem ein in Berlin lebender Rivale gleichfalls Anspruch auf das Amt des "Kalifen" erhob, erließ Metin KAPLAN eine Fatwa174, mit der er die Tötung des Konkurrenten verfügte. Aufgrund dieses Vorfalls verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf KAPLAN im November 2000 wegen öffentlichen Aufrufs zum Mord zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe.175 Am 12. Oktober 2004 wurde KAPLAN in die Türkei verbracht, wo ihm wegen Hochverrats der Prozess gemacht wurde. Im Oktober 2008 schließlich wurde er in Istanbul zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Unter den Anhängern in Deutschland kam es nach der Abschiebung Metin KAPLANs in die Türkei zu anhaltenden Nachfolgestreitigkeiten seitens zweier konkurrierender Fraktionen. Das Verbot und die Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur nachhaltig geschwächt. Bei einer länderübergreifenden Aktion im Mai 2008 nahmen deutsche, französische und niederländische Anti-TerrorEinheiten insgesamt zehn mutmaßliche Islamisten wegen des Verdachts der Finanzierung des islamistischen Terrors fest. In Südbaden konnte ein mit europäischem Haftbefehl gesuchter und als Aktivist des "Kalifatsstaats" bekannter türkischer Staatsangehöriger festgenommen werden, bei dem im Zusammenhang mit den bundesweiten Durchsuchungen vom 11. Dezember 2003 entsprechendes Propagandamaterial aufgefunden worden war. Abgesehen von der über das Internet verbreiteten Propaganda, wodurch das Gedankengut des "Kalifatsstaats" - zum Teil auch in deutschen Übersetzungen - nach wie vor zugänglich ist176, war im Jahr 2008 in Baden-Württemberg keine Propagandatätigkeit des "Kalifatsstaats" festzustellen. 174 Islamisches Rechtsgutachten. 175 Urteil des OLG Düsseldorf vom 15. November 2000, Az.: VI 11/99. 176 Internetauswertung vom 12. November 2008. 85 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Organisationen von Ausländern werden als extremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Der gesetzlich vorgesehenen Beobachtung unterliegen neben islamistischen Gruppierungen auch Bestrebungen, die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im jeweiligen Heimatland angestrebt wird. Daneben fallen Bestrebungen unter den Beobachtungsauftrag, wenn diese gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Deshalb sind die Entwicklungen im Bereich Ausländerextremismus vor allem von den Ereignissen in den jeweiligen Heimatländern geprägt und können sich anlassbezogen kurzfristig ändern. Ausländersextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2006 - 2008 86 In Baden-Württemberg waren 8.365 (2007: 8.440) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder terroristischer Zielsetzung aktiv. Die Gesamtzahl der politisch motivierten Straftaten im Phänomenbereich Ausländer stieg in Baden-Württemberg, nachdem es bereits im Jahr 2007 einen auffallenden Zuwachs gab, im Jahr 2008 von 135 auf 228 (plus 69 Prozent) nochmals enorm an. Einen extremistischen Hintergrund wiesen 217 (2007: 123) dieser Straftaten auf. Die Anzahl der Gewaltdelikte verzeichnete einen bedeutenden Zuwachs von 14 auf 41 Fälle.177 Ein Teil dieses Zuwachses dürfte auf Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Anhängern des "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) und türkischen Fußballfans während der Fußball-Europameisterschaft zurückzuführen sein. Auch ist davon auszugehen, dass die demonstrativen und vereinzelt gewalttätigen Reaktionen von KONGRA-GEL-Anhängern auf die Militäroperationen der Türkei im Nordirak mit Ursache für diese Tendenz sind. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer sowie ausländerextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2008 177 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führt keine eigene Strafund Gewalttatenstatistik. Alle in diesem Jahresbericht aufgeführten statistischen Angaben zu politisch motivierten Straftaten beruhen auf Zahlenangaben des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. 87 2. "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL), vormals "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) GRA-GELGründung: 1978 (in der Türkei) Logo Betätigungsverbot in Deutschland vom 22. November 1993 (bestandskräftig seit 26. März 1994) Umbenennung in KONGRA-GEL seit November 2003 Sitz: Grenzgebiet Türkei/Nord-Irak Vorsitzender:Zübeyir AYDAR (formell; weiterhin gilt faktisch Abdullah ÖCALAN als Leitund Identifikationsfigur) Anhänger: ca. 700 Baden-Württemberg (2007: ca. 700) ca. 11.500 Bund (2007: ca. 11.500) Publikation: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kur - distans" (PKK), die sich bereits zweimal umbenannt hat, ist eine mitgliederstarke Organisation von überwiegend aus der Türkei stammenden Kurden. Ihr ursprüngliches Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". Deshalb begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei im Jahr 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Befreiungseinheiten Kurdistans" (HRK), der im Oktober 1986 in "Volks - befreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) umbenannt wurde, einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. In Deutschland versuchte die Organisation, den Kampf im Heimatland durch politische und gewalttätige Aktionen zu unterstützen. Deshalb wurde der PKK und ihrer im März 1985 gegründeten Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet durch NK-Logo den Bundesminister des Innern untersagt. Dieses Verbot umfasst auch den "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und den "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL). Unter jeder dieser drei Bezeichnungen ist die Organisation auf Beschluss des Rats der "Europäischen Union" (EU) vom 2. April 2004178 auch in der "EU-Terrorliste" genannt. 178 Amtsblatt der Europäischen Union L 99 vom 3. April 2004, S. 28f. 88 Nachdem am 3. April 2008 der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden hatte, dass die PKK beziehungsweise der KONGRA-GEL wegen unzureichender Begründung von der "EU-Terrorliste" zu nehmen sei179, nahm die Europäische Kommission die PKK beziehungsweise den KONGRA-GEL in einer aktualisierten Fassung mit angepasster Begründung wieder in die "EU-Terrorliste" auf.180 Darüber hinaus behält die Entschei"EU-Terrorliste" dung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21. Oktober 2004181, die Führungsebene der PKK in Deutschland als kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 Abs. 1 Strafgesetzbuch zu betrachten, weiterhin ihre Gültigkeit. Nach der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und den anschließenden Gewaltphasen verkündete die PKK im September 1999 ihre so genannte Friedensstrategie, deren konkrete Ausgestaltung auf dem 7. Parteikongress im Januar 2000 beschlossen wurde. Vorgeblich auf politischem Weg und ohne Anwendung von Gewalt fordern die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen seitdem die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr Rechte und kulturelle Autonomie. Als übergeordnetes Ziel wird eine Einheit aller Kurden unter Wahrung der bestehenden Staatsgrenzen angestrebt. Dabei versteht sich die PKK selbst als einzig legitimer Vertreter und Ansprechpartner dieser Volksgruppe und reklamiert den alleinigen Führungsanspruch für sich. Um die politische Neuausrichtung nach außen zu dokumentieren und sich von dem über viele Jahre hinweg geprägten Makel einer Terrororganisation zu befreien, nahm die Organisation verschiedene Veränderungen vor. Insbesondere wurden die PKK HPG-Logo selbst und mehrere Teilorganisationen umbenannt beziehungsweise formal aufgelöst und unter neuen Namen wieder gegründet. Der militärische Arm ARGK erhielt zum Beispiel die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Die ehemalige Propagandaorganisation ERNK firmiert seit Sommer 2004 als "Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Euro - Komalen Ciwanpa" (CDK). Die KONGRA-GEL-Jugendorganisation tritt als "Vereinigung Logo der demokratischen Jugendlichen Kurdistans" (Komalen Ciwan) auf. Unabhängig von ihrer Bezeichnung ist die Organisation nach wie vor trotz der nach außen propagierten "Friedenslinie" und der vielen Veränderungen seit Herbst 1999 eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands. Denn weiterhin eine grundsätzliche Wandlung ist nicht festzustellen: So haben sich an dem gefährlich für die strikt hierarchischen Aufbau und an der autoritären Führung bis heute innere Sicherheit weder substanziell noch personell nennenswerte Veränderungen ergeben. Eine zumindest teilweise Demokratisierung der Strukturen ist bislang trotz 179 Urteile des EuGH T-229/02 PKK ./. Rat und T-253/04 KONGRA-GEL u.a. ./. Rat. 180 Gemeinsamer Standpunkt 2008/5867GASP des Rates vom 15. Juli 2008. 181 Urteil des BGH vom 21. Oktober 2004, 3 StR 94/04. 89 mehrerer Versuche, wenigstens einzelne demokratische Elemente einzuführen und die Basis bei Entscheidungen mit einzubeziehen, nicht erfolgt. Auch wird Gewalt nach wie vor als ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung der Ziele und zum eigenen Schutz angesehen. Die Organisation verfolgt derzeit eine Doppelstrategie: einerseits bewaffnete Auseinandersetzungen in der Türkei und andererseits gewaltfreie Protestaktionen in Deutschland. Dennoch behält sie sich auch hier die Anwendung von Gewalt zumindest vor. Anlassbezogen kann sie einen großen Teil der Mitglieder und Anhänger auch in Baden-Württemberg für gewalttätige Aktionen mobilisieren. Schwerpunkte und Mobilisierung Beherrschende Themen unter den KONGRA-GEL-Anhängern und Auslöser für Aktivitäten waren 2008 in erster Linie das Verbot des kurdischsprachigen Senders "ROJ-TV", die Militäroperationen der türkischen Streitkräfte im Nordirak, die Verlängerung des einjährigen Mandats für diese Aktivitäten, und der Gesundheitszustand sowie die Haftbedingungen ÖCALANs. sweit aktiv Die Aktionsschwerpunkte in Baden-Württemberg waren dabei Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Ulm und Freiburg im Breisgau. Landesweit engagieren sich etwa 700 Personen aktiv für den KONGRA-GEL oder die ihm nahe stehenden Organisationen. Für besondere Anlässe lassen sich in BadenWürttemberg jedoch mehrere Tausend Sympathisanten mobilisieren. Die örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereine spielen eine zentrale Rolle bei der Kommunikation unter den Anhängern, der Mobilisierung der Organisationsanhänger für Aktionen und der Vorbereitung und Durchführung von öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten. Die Veranstaltungen der Organisation verlaufen meist weitgehend friedlich, wenn auch einzelne gewalttätige Auseinandersetzungen, oft zwischen jugendlichen KONGRA-GEL-Anhängern und national eingestellten, staatstreuen Türken zu beobachten sind. Gewaltpotenzial unter den jugendlichen Anhängern Seit dem Frühjahr 2007 werden die kurdischen Jugendlichen mit Nachdruck in einschlägigen Medien wie der Zeitschrift "Ciwanen Azad" ("Freie Jugend") oder auf der Website der KONGRA-GEL-Jugendorganisation in allgemeiner Form zu Aktionen aufgerufen und dazu ermutigt, sich der Guerilla in den Bergen anzuschließen. Diese Aufrufe dürften teilweise auf fruchtbaren Boden fallen, denn unter den jugendlichen Anhängern herrscht eine latente Gewaltbereitschaft, die jederzeit durch den KONGRA-GEL 90 und die ihm nahe stehenden Organisationen abrufbar ist, vor allem, wenn die Organisation in Bedrängnis geraten sollte. Das unter den KONGRA-GEL-nahen Jugendlichen vorhandene Mobilisierungsund Gewaltpotenzial offenbarte sich mehrmals im Lauf des Jahres 2008, meist durch Gewalttätigkeiten am Rande von ansonsten friedlichen Protestaktionen. Beispielsweise kam es im Anschluss an eine durch den örtlichen KONGRA-GEL-nahen Verein durchgeführte friedliche Demonstration anlässlich des neunten Jahrestages der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 2008 in Stuttgart zu Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten, als nach Beendigung der eigentlichen Demonstration eine Gruppe von etwa 70 Personen mit verbotenen Fahnen durch die Innenstadt zog. Auch als etwa 700 kurdische Jugendliche am 19. April 2008 unter dem Motto "Freiheit für Öcalan, Frieden für Kurdistan" in Berlin demonstrierten, kam es zu teilweise schweren Ausschreitungen zwischen den Teilnehmern, darunter mehreren jugendlichen Tatverdächtigewaltbereite gen aus Baden-Württemberg, und der Polizei. Bei diesen Auseinandersetjugendliche zungen auf der erstmals bundesweit organisierten Demonstration wurden Anhänger elf Polizisten verletzt und 86 Teilnehmer unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs vorübergehend festgenommen.182 Ferner kam es während der Fußball-Europameisterschaft im Juni 2008 in Stuttgart und Heilbronn vereinzelt zu gewalttätigen Ausschreitungen und Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen KONGRA-GEL-Anhängern und türkischen Fußballfans. Auf dem von der "Komalen Ciwan" veranstalteten "11. Mazlum Dogan Jugend-, Kulturund Sportfestival" am 12. Juli 2008 in Köln, an dem rund 4.000 zumeist junge Kurden teilnahmen, wurden neben kulturellen Darbietungen und sportlichen Wettkämpfen183 in mehreren Redebeiträgen politische Themen behandelt. So riefen die HPG in einer Botschaft die kurdischen Jugendlichen dazu auf, "sich für den Kampf einzusetzen".184 Mithilfe des Festivals sollten jugendliche KONGRA-GEL-Anhänger verstärkt an die Organisation gebunden und zu weiteren Aktionen ermuntert werden. 182 Angaben der Polizei beziehungsweise Presseangaben. Die Zeitung "Yeni Ögzür Politika" vom 21. April 2008 sprach von 5.000 Teilnehmern aus ganz Europa. 183 So fand etwa im Vorfeld des Festivals ein Fußball-Turnier mit Mannschaften aus Deutschland und anderen Staaten, darunter drei Mannschaften aus Stuttgart statt, um die beiden Finalisten zu bestimmen, die auf dem Festival gegeneinander antraten. "Yeni Özgür Politika" vom 27. Juni 2008. 184 "Yeni Özgür Politika" vom 14. Juli 2008, S. 12. 91 Finanzierung Der KONGRA-GEL benötigt hohe Geldbeträge für seine Propagandatätigkeit, den Parteiapparat sowie für die Versorgung seiner Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und über Gewinne aus Großveranstaltungen. Zusätzlich sollen die angesprochenen Landsleute bei der alljährlichen Spendenkampagne einen größeren Betrag abliefern, in Abhängigkeit von ihrem Einkommen bis zur Höhe von mehreren Hundert Euro. Dabei werden allein in Deutschland mehrere Millionen Euro eingenommen. Diese Einnahmen Spendenquittung sind seit Verkündung des "Friedenskurses" tendenziell rückläufig, weil sich zahlreiche Kurden nicht mehr ausreichend elder in mit der Organisation identifizieren. Weitere Gründe für die Weigerung, den onenhöhe geforderten Beitrag ganz oder teilweise zu zahlen, dürften die einschränkenden staatlichen Maßnahmen in Deutschland sowie die wirtschaftliche Situation der Anhänger und Sympathisanten sein. Allerdings steigt die Spendenbereitschaft erfahrungsgemäß in angespannten Phasen, weshalb die im Jahr 2008 verstärkten Kampfhandlungen in der Türkei und im Nordirak für zusätzliche Einnahmen gesorgt haben dürften. ÖCALANs Gesundheitszustand beschäftigt Anhänger Die KONGRA-GEL-Führung verkündete im September 2007 den Start der Kampagne "Edi Bese" ("Es reicht!"), bei der ÖCALANs Gesundheitszustand und seine angebliche Vergiftung im Mittelpunkt mehrerer Veranstaltungen stehen sollten.185 Das "Europäische Komitee zur Verhinderung der Folter" (CPT) hatte zwar zur Untersuchung des Gesundheitszustandes und 185 Mittlerweile wird unter diesem Motto auch das militärische Vorgehen der Türkei gegen die kurdische Guerilla thematisiert. 92 der Haftbedingungen von ÖCALAN im Mai 2007 eine Delegation in die Türkei gesandt, jedoch verzögerte sich die Veröffentlichung des Berichts. Aus Protest gegen die Haltung des CPT fand vom 7. Januar bis zum 6. März 2008 eine Mahnwache von KONGRA-GEL-Anhängern, unter andeÖCALAN rem aus Baden-Württemberg, vor dem Gebäude des Europarats in Straßmobilisiert auch burg statt, um die Veröffentlichung des CPT-Berichts zu erreichen.186 Die in Haft seine Ergebnisse des Berichts, der schließlich am 6. März 2008 veröffentlicht Anhänger wurde, bestätigen indes den Vorwurf einer Vergiftung nicht.187 Es wurden zwar erhöhte "Metallwerte" im Blut ÖCALANs nachgewiesen, diese konnten aber nach Auffassung des CPT nicht unbedingt ursächlich auf eine Vergiftung zurückgeführt werden. Auch in der Folgezeit stand die Gesundheit der Leitfigur der Organisation im Mittelpunkt von Aktionen der KONGRAGEL-Anhänger. Beispielsweise wurden anlässlich der Feierlichkeiten zum 59. Geburtstag von ÖCALAN am 4. April 2008 in den KONGRA-GELGebieten Bodensee, Mannheim, Heilbronn und Stuttgart mit insgesamt mehreren Hundert Teilnehmern neben kulturellen Programmpunkten auch die aktuelle politische Situation sowie die Haftbedingungen und der Gesundheitszustand ÖCALANs thematisiert. Nach Medienberichten erklärten die Rechtsanwälte Abdullah ÖCALANs am 16. Oktober 2008, dass er von seinen Wärtern misshandelt worden sei.188 ÖCALAN sei zu Boden gegangen, als er von einem Vollzugsangestellten in den Rücken getreten worden sei. Daraufhin rief die CDK auf der Website der Nachrichtenagentur Firat News vom 17. Oktober 2008 die Kurden in Europa zu Protesten auf demokratischer Grundlage auf. Murat KARAYILAN, Vorsitzender des Exekutivrates der "Koma Civaken Kurdistan" (KCK)189, erklärte zu dem Vorfall, "dass man eine Erniedrigung des kurdischen Volkes, die es über die Person Öcalans erfahre, nicht zulassen werde. (...) Ziel dieses Vorgehens sei es, den Willen des kurdischen Volkes zu brechen. (...) Falls die Folter weiter anhalte, so käme dies dem Ende des kontrollierten Krieges gleich." 190 186 "Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 19 to 22 May 2007", PDF-Dokument unter URL: http://www.cpt.coe.int.; hier: Arbeitsübersetzung. 187 Ebd. CPT-Report S. 16. 188 "Yeni Özgür Politika" vom 17. Oktober 2008. 189 Von Abdullah ÖCALAN verfasste ideologische Grundlage, hervorgegangen 2007 aus der "Koma Komalen Kurdistan" (KKK), die die kurdische Identität fördern und bei Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen zu einem politischen Verbund der Kurden in der Region führen soll. 190 "ROJ-TV" vom 20. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 93 Der Bericht über ÖCALANs Misshandlung löste unter den Anhängern des KONGRA-GEL in der Türkei und zahlreichen anderen Staaten eine Welle der Empörung aus. So kam es etwa im Südosten der Türkei zu Protestaktionen und teilweise schweren Straßenschlachten mit Toten und Verletzten.191 Auch in vielen europäischen Staaten hatte dieser Bericht Demonstrationen und Gewalttaten zur Folge, so wurde unter anderem ein Brandanschlag auf die türkische Botschaft in Helsinki/Finnland verübt. In BadenWürttemberg kam es ab dem 18. Oktober zu weitestgehend friedlichen, von den örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereinen organisierten Kundgebungen von insgesamt etwa 2.600 KONGRA-GEL-Anhängern in Stuttgart, Mannheim/Ludwigshafen, Heilbronn und Ulm. Dabei wurden Transparente mit Bildern von ÖCALAN gezeigt und die üblichen KONGRA-GELParolen skandiert. Ein Funktionär eines örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereins hob in seiner Rede die zentrale Rolle ÖCALANs hervor: "Der Vorsitzende Apo192 ist der Stolz und die Ehre der Kurden. Das unmoralische Verhalten ihm gegenüber trifft das gesamte kurdische Volk." 193 Darüber hinaus kam es nach der Meldung über die Misshandlung ÖCALANs in Kornwestheim, Stuttgart und Waiblingen zu Sachbeschädigungen unter anderem in türkischen Vereinen und einer türkischen Bank. Diese Taten seien, so eine Meldung auf einer KONGRA-GEL-nahen Website, von jugendlichen Anhängern als Reaktion auf die Nachricht von der Misshandlung verübt worden. Türkische Militäroperation im Nordirak im Februar 2008 Nachdem am 17. Oktober 2007 das türkische Parlament der Regierung ein auf ein Jahr befristetes Mandat erteilt hatte, um gegen die sich dort aufhaltenden Guerilla-Kämpfer des KONGRA-GEL vorzugehen und bereits im Dezember 2007 türkische Soldaten kurzzeitig in den Nordirak eingedrungen waren und Stützpunkte der Guerilla angegriffen hatten, startete das türkische Militär am 21. Februar 2008 eine groß angelegte Bodenoffensive, um gegen Stellungen der Guerillas vorzugehen. Presseberichten zufolge drangen bei der neuerlichen, durch Luftstreitkräfte unterstützten Offensive etwa 10.000 türkische Soldaten auf nordirakisches Territorium vor. Am 29. Februar 2008 wurde die Bodenoffensive beendet; die türkischen Streitkräfte zogen sich danach wieder auf türkisches Staatsgebiet zurück. 191 Frankfurter Rundschau vom 21. Oktober 2008, taz vom 23. Oktober 2008. 192 Abdullah ÖCALAN wird von den KONGRA-GEL-Anhängern respektvoll "Apo", dt. "Onkel", genannt. 193 "Yeni Özgür Politika" vom 20. Oktober 2008. 94 Im Verlauf des Jahres 2008 lieferte sich das türkische Militär im Grenzgebiet brisante zum Irak weitere zahlreiche Gefechte mit den Guerillas. Auch kam es zu Sicherheitslage zahlreichen Anschlägen in der Türkei, beispielsweise auf Stützpunkte des in der Türkei und türkischen Militärs oder auf die Öl-Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan, zu denen im Nordirak sich die HPG auf ihrer Website bekannten. Ferner sollen nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Firat News vom 10. Juli 2008 Einheiten der "YJA STAR", des militärischen Arms des "Verbands der stolzen Frauen" (KJB), gemeinsam mit Kämpferinnen einer militärischen Teilorganisation der "Kommunistischen Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) einen Angriff auf eine Polizeistation in Tunceli (Dersim) durchgeführt haben, bei dem elf Polizisten und Soldaten getötet wurden. Nachdem sich die Lage im Südosten der Türkei Anfang Oktober 2008 durch einen Angriff der KONGRA-GEL-Guerillas auf eine Kaserne in Aktütün (Bezele; Provinz Hakkari) an der türkisch-irakischen Grenze zugespitzt hatte194, verlängerte das türkische Parlament am 8. Oktober 2008 das Mandat zur Anordnung von Militäroperationen im Nordirak um ein Jahr.195 Einerseits soll damit der militärische Druck auf die Kämpfer des KONGRA-GEL, andererseits der politische Handlungsspielraum der Türkei gegenüber dem Irak und den USA im Kampf gegen den KONGRA-GEL aufrechterhalten werden. Die türkischen Militäroperationen im Nordirak riefen in Baden-Württemberg breiten Protest unter den KONGRA-GEL-Anhängern hervor. Im Februar und März 2008 nahmen insgesamt über 2.000 Anhänger des KONGRA-GEL sowie teilweise Anhänger türkischer linksextremistischer Organisationen an Demonstrationen in Heilbronn, Pforzheim, Freiburg im Breis - gau, Stuttgart, Ulm und Mannheim teil. Die Aktionen wurden von den örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereinen angemeldet und verliefen meist störungsfrei. Auf Türkisch wurden Parolen skandiert wie "Türkische Armee raus aus Kurdistan!" oder "Schlag zu, Guerilla, schlag zu. Errichte das Kurdistan!". 194 Nach Angaben des türkischen Militärs gab es dabei 42 Tote, darunter 17 türkische Soldaten. 195 Website des türkischen Parlaments URL: http://www.tbmm.gov.tr/tbmm_kararlari/karar929.html; hier: Arbeitsübersetzung. 95 Duran KALKAN, Mitglied im Exekutivrat der KCK, erklärte zur Mandatsverlängerung, dass das türkische Militär seit der Erteilung des Mandats für grenzüberschreitende Operationen im Oktober 2007 im Kampf gegen die Guerilla "keine Erfolge erzielt" habe, die Kämpfer des KONGRA-GEL hingegen seitdem immer stärker geworden seien.196 In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)197 und weitere Organisationen die Mandatsverlängerung des türkischen Staates als einen "rassistischen, nationalistischen Angriff des türkischen Staates".198 Verbot von ROJ-TV und Entführung von drei Deutschen in der Türkei Am 19. Juni 2008 verbot der Bundesminister des Innern den Betrieb der in Dänemark ansässigen Medienunternehmen "Mesopotamia Broadcast A/S" und "ROJ-TV" im Bereich der Bundesrepublik Deutschland.199 Außerdem erließ er ein Organisationsverbot gegen die in Wuppertal ansässige Produktionsgesellschaft "VIKO Fernsehproduktion GmbH", die faktisch der Repräsentant von "ROJ-TV" in Deutschland war. Der Satellitensender "ROJ-TV" hatte der Verbotsverfügung zufolge Propaganda für den KONGRA-GEL 196 "Yeni Özgür Politika" vom 7. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 197 In dem Dachverband YEK-KOM mit Sitz in Düsseldorf sind überwiegend die örtlichen KONGRAGEL-nahen Vereine in Deutschland zusammengeschlossen. 198 "Yeni Özgür Politika" vom 10. Oktober 2008; hier: Arbeitsübersetzung. Mitunterzeichner der Erklärung: "Plattform der demokratischen Massenorganisationen in Europa" (DEKÖP-A), "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK), "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK), "Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa" (AvEG-Kon), "Plattform für die Einheit der Arbeiter und die Freundschaft der Völker" (BIR-KAR) und die Zeitung "Yasanacak Dünya". Vgl. hierzu Kap. C Ziff. 3.2.2 (TKP/ML) und 3.2.3 (MLKP). 199 Verbotsverfügung des Bundesministerium des Innern vom 13. Juni 2008, Az: ÖS II 3 - 619 314 - 2/52. 96 betrieben, den bewaffneten Kampf gegen die Türkei glorifiziert und damit gegen deutsche Strafgesetze und gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen. Der KONGRA-GEL und die ihm nahe stehenden Organisationen äußerten in zahlreichen Erklärungen ihren Unmut über das Verbot und riefen zu vielen Protestaktionen auf. Das Präsidium des Exekutivrates der KCK kritisierte am 27. Juni 2008 das Verbot scharf, indem es Deutschland eine Mitschuld an der "Vernichtungsund Verleugnungspolitik" gegenüber den Kurden unterstellte. Der Exekutivrat forderte die deutsche Regierung "zum letzten Mal" zu einer Abkehr von seiner kurdenfeindlichen Politik auf. Ansonsten werde Deutschland für die Folgen verantwortlich sein. Die "Komalen Ciwan" teilte mit, dass man "mit großen Aktionen" gegen die Angriffe auf die eigenen Werte reagieren und alle kurdischen Jugendlichen zum Protest gegen das Verbot aufrufen werde.200 Wie im gesamten Bundesgebiet und in anderen europäischen Staaten rief das Verbot des für den KONGRA-GEL äußerst bedeutsamen Fernsehsenders "ROJ-TV" auch in Proteste von Baden-Württemberg unter den Anhängern der Organisation Proteste herAnhägern in vor. Insgesamt nahmen etwa 700 KONGRA-GEL-Anhänger im Juli und BadenAugust 2008 an den von den örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereinen Württemberg organisierten friedlichen Protestaktionen in Stuttgart, Freiburg im Breisgau, Ulm, Heilbronn und Mannheim teil. Die weitgehend friedlichen Aktionen von Kurden gegen das Verbot von "ROJ-TV" erreichten mit der Entführung von drei deutschen Bergsteigern Protest eskaliert im Osten der Türkei am 8. Juli 2008 durch Kämpfer der HPG ihren vormit Entführung läufigen und dramatischen Höhepunkt. Laut Aussage der HPG-KommanDeutscher datur auf ihrer Website vom 10. Juli 2008 sollte mit der Entführung gegen in der Türkei das zunehmend restriktive Vorgehen der deutschen Behörden gegenüber dem KONGRA-GEL, insbesondere das Verbot von "ROJ-TV" protestiert werden. Mit der Entführung sollte die deutsche Regierung zu einer Änderung ihrer Politik gegenüber dem KONGRA-GEL bewegt und eine Aufhebung des Verbots von "ROJ-TV" erreicht werden. Unter den KONGRAGEL-Anhängern in Deutschland herrschte hinsichtlich der Entführung eine gewisse Genugtuung und Zustimmung, da durch diese Aktion medienwirksam auf die derzeitige "Lage der Kurden" aufmerksam gemacht wurde. Andererseits gab es teilweise Befürchtungen, dass sich die Entführung langfristig kontraproduktiv auf das "friedliche" Erscheinungsbild des KONGRAGEL auswirken und eventuell weitere exekutive Maßnahmen seitens der deutschen Behörden hervorrufen könnte. 200 Meldung von "ROJ-TV" vom 29. Juni 2008. 97 16. Internationales Kurdisches Kulturfestival Unter dem Motto "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan" fand am 6. September 2008 das "16. Internationale Kurdische Kulturfestival" in Gelsenkirchen mit etwa 35.000 Teilnehmern aus ganz Europa statt. Kulturelle Darbietungen und politische Botschaften, so etwa die Grußbotschaft des aus dem türkisch-irakischen Grenzgebiet telefonisch zugeschalteten KARAYILAN, prägten auch diesmal die Veranstaltung.201 KONGRA-GEL-Anhänger feiern 30. Jahrestag der Gründung Europaweit fanden in zahlreichen Städten Jubiläumsveranstaltungen zum Gedenken an die Organisationsgründung statt. Auch in Baden-Württemberg begingen die Anhänger des KONGRA-GEL im November 2008 mit mehreren Veranstaltungen den 30. Jahrestag der Organisation. Dabei fanden in Freiburg im Breisgau, Ilsfeld/Krs. Heilbronn, Ludwigshafen am Rhein, Stuttgart und im Raum Bodensee Gedenkfeiern mit insgesamt mehreren Tausend Teilnehmern statt. Die für den 29. November 2008 anlässlich des 30. Parteigründungstages geplante zentrale Großveranstaltung in Essen war im Vorfeld vom Veranstalter abgesagt worden. Ausblick Ausschlaggebend für die Stimmung unter den KONGRA-GEL-Anhängern hohes in Baden-Württemberg und deren Verhalten sind in erster Linie die Ereigilisierungsnisse in der Türkei. Die prekäre Sicherheitslage im Südosten der Türkei und otenzial im Nordirak mit fast täglichen Gefechten zwischen den Kämpfern des KONGRA-GEL und den türkischen Streitkräften sowie das Wohlergehen der Leitfigur Abdullah ÖCALAN wirken sich direkt auf die Aktionsbereitschaft der KONGRA-GEL-Anhänger in Baden-Württemberg aus. Vor allem die Meldungen über die angebliche Misshandlung ÖCALANs, aber auch die Bodenoffensive der Türkei im Februar 2008 und das Verbot des Senders 201 Linksextremistische Tageszeitung "junge welt" vom 8. September 2008. 98 "ROJ-TV" lösten reflexartig Protestaktionen Tausender Anhänger in BadenWürttemberg aus. Das Verbot des Senders dürfte die bisherige skeptische Einstellung der KONGRA-GEL-Anhänger gegenüber dem deutschen Staat verstärken. Die zahlreichen Demonstrationen, die teilweise von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Anschlägen vor allem jugendlicher KONGRA-GEL-Anhänger begleitet wurden, belegen dabei das auch hier im Land vorhandene Konfliktpotenzial. Wie an den gewalttätigen Protesten wegen des Vorwurfs der Misshandlung ÖCALANs erkennbar ist, stellt sein Gesundheitszustand einen herausragenden Faktor für die Anhänger des KONGRA-GEL dar und belegt die nach wie vor äußerst starke Verbundenheit mit der zentralen Identifikationsfigur der Organisation. Vom weiteren Umgang des türkischen Staates mit ÖCALAN (zum Beispiel seine Haftbedingungen) hängt in zentralem Maße ab, ob die Anhänger den bisherigen "Friedenskurs" unterstützen oder sich frustriert von der Organisation abwenden. Auch erneute Militäroperationen der Türkei im Nordirak dürften umgehend friedliche wie auch gewalttätige Reaktionen seitens der KONGRAGEL-Anhänger im Land hervorrufen. Obwohl der Konflikt mit der Entführung von drei deutschen Touristen in der Türkei eine neue Stufe der Eskalation erreichte, ist davon auszugehen, dass der KONGRA-GEL auch zukünftig an seiner bisherigen Linie festhalten und die "Doppelstrategie" des bewaffneten Kampfs in der Türkei und Beibehalten des "Friedens-" beziehungsweise "Akzeptanzkurses" in Deutschland fortführen wird. 3. Türkische Vereinigungen 3.1 Extrem nationalistische Organisation: "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.070 Baden-Württemberg (2007: ca. 2.100) ca. 7.000 Bund (2007: ca. 7.500) Die "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." ("Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF) beziehungsweise die Ortsvereine, die sich unter ihrem Dach organisieren, gelten als Sammelbecken extrem nationalistischer Tür99 ken. Ihre Mutterorganisation ist die "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci Hareket Partisi", MHP) in der Türkei. Die Anhänger dieser Bewegung sind auch unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" ("Bozkurtlar") bekannt, wenngleich unter diesem Namen keine Organisation im Bundesgebiet besteht. eologie Die ideologische Ausrichtung der ADÜTDF und ihrer Mitgliedsvereine orientiert sich an der Parteiideologie der MHP. Diese stützt sich auf einen übersteigerten Nationalismus und auf den Panturkismus, das heißt die Idee einer an den Grenzen des Osmanischen Reiches orientierten "Großtürkei" sowie auf den Turanismus, der die Vereinigung aller Turkvölker vom Balkan bis Zentralasien anstrebt. Inzwischen hat sich auch die islamische Religion als zentrales Moment einer türkischen Identität, wie sie von den Anhängern dieser nationalistischen Bewegung definiert wird, in der Parteiideologie verfestigt. Zur eigenen Positionierung bedient sich die türkische nationalistische Bewegung seit jeher auch ethnischer und politischer Feindbilder. In Deutschland können vor allem eine Kurdenfeindlichkeit sowie allgemein eine Ablehnung politischer Gruppierungen aus dem politisch "linken" Spektrum beobachtet werden. Eine besondere Verehrung unter den "Idealisten" genießt weiterhin der 1997 verstorbene Gründer der MHP, Alparslan TÜRKES, auch "Basbug" ("oberster Führer") genannt. Sein Abbild ist in der ADÜTDF allgegenwärtig. Seine Ideen sind in der von ihm aufgestellten und als programmatische Basis für die Nationalisten geltenden "Neun-Lichter-Doktrin" zusammengefasst, deren wesentliche Komponenten der "Nationalismus" (milliyetcilik), der "Idealismus" (ülkücülük) und der "Moralismus" (ahlakcilik) sind. Die übersteigerte Auslegung dieser Werte macht den antidemokratischen Charakter dieser Organisation aus. Denn der extreme Nationalismus führt zu Intoleranz gegenüber anderen Völkern und der extreme Moralismus zu einer starken sozialen Kontrolle und damit zur Einschränkung der individuellen Freiheit vor allem der von Frauen. anisationsDie Anhänger dieser extrem nationalistischen Bewegung sind in Vereinen, ukturen so genannten Ülkü Ocaklari ("Idealistenklubs") organisiert, die wiederum überwiegend Mitglieder in der ADÜTDF sind. Deutschland ist in der Organisationsstruktur der ADÜTDF in 13 "Bölge" ("Gebiete") aufgeteilt. BadenWürttemberg, das die drei Gebiete BW1, BW2 und BW3 umfasst, ist neben Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen ein Schwerpunkt. Hier bestehen über 45 Ortsvereine mit mehr als 2.000 Mitgliedern. 100 Um die Ideen der nationalistischen Bewegung zu transportieren und sie bei ihren Mitgliedern zu verfestigen, organisieren diese Ortsvereine VeranstalAktivitäten tungen zu besonderen nationalen und religiösen Anlässen. Dazu gehören die "Schlacht von Canakkale" während des Ersten Weltkrieges, die auf Seiten der Entente-Mächte über vierzigtausend und auf Seiten der Osmanen über fünfzigtausend Todesopfer forderte, sowie der Geburtstag des Propheten Muhammad. Besonders bemüht sind die Vereine um die türkischen Jugendlichen. Bei sportlichen, kulturellen und sozialen Aktivitäten werden diesen größtenteils in Deutschland geborenen Jugendlichen die "idealistischen" Werte vermittelt, gekoppelt mit der Botschaft, in der "Fremde" die türkisch-islamische Kultur verteidigen und erhalten zu müssen. Die Auslegung dieses Kulturbegriffs ist jedoch in keiner Weise pluralistisch, das heißt sie berücksichtigt nicht die Vielfalt der türkisch-islamischen Gesellschaft, sondern orientiert sich an den engen Vorstellungen der nationalistischen Bewegung. Diese gehen von einem patriotisch eingestellten, ethnischen Türken aus, der Anhänger des sunnitischen Islams ist. Einen wichtigen Stellenwert innerhalb der Vereinsarbeit nimmt daher auch die Organisation von Korankursen für Jungen und Mädchen ein. Die Anhänger der ADÜTDF bedienen sich bei der Vermittlung ihrer Werte einer starken Symbolik. Der mit den Fingern der rechten Hand geformte "Wolfsgruß" wie auch die Verwendung des MHP-Parteilogos, das drei weiße Halbmonde auf rotem Untergrund zeigt, sind unverkennbare Zeichen für die Zugehörigkeit zur nationalistischen Bewegung. Der Schriftzug "CCC" beziehungsweise "cCc" ist eine vereinfachte Darstellungsweise dieses Logos. Das Gefühl, einer besonderen Gruppe zuzugehören, wird durch den "Eid des Idealisten" ("Ülkücü Yemini") erzeugt. Es handelt sich dabei um eine Art Fahneneid, der die Werte und Ziele dieser Bewegung pointiert zusammenfasst. Dieser Eid wird in einem sehr kämpferischen Ton in der Gruppe aufgesagt. Im Oktober 2008 wurden die Räumlichkeiten der Idealistenvereine in Reutlingen und Waiblingen von Unbekannten zum Teil schwer beschädigt. Auf diese Zwischenfälle reagierte der Generalvorsitzende der ADÜTDF, Sentürk DOGRUYOL, mit einer schriftlichen Erklärung, in welcher er diese als "systematische" und "terroristische" Handlungen bezeichnet und "verflucht.".202 Die ADÜTDF werde sich jedoch, so DOGRUYOL, durch derartige Angriffe nicht provozieren lassen, sondern wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen und allenfalls juristisch dagegen vorgehen. 202 Homepage der ADÜTDF vom 17. November 2008. 101 3.2 Linksextremisten 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C - Devrimci Sol) Ursprünge Der Ursprung der heutigen "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und der "Türkischen Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C) liegt im weltweiten revolutionären Aufbruch von 1968. Das im Lauf der Jahre aus verschiedenen linksextremistischen türkischen Organisationen hervorgegangene revolutionäre Potenzial gründete 1978 mit der "Devrimci Sol" eine neue politisch-militärische Organisation. Diese verfolgte insbesondere das Ziel, in der Türkei einen Umsturz der dortigen politischen Verhältnisse herbeizuführen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Die "Devrimci Sol" war seit ihrer Gründung im Jahr 1978 in der Türkei terroristisch aktiv. Vor allem Anfang der 80er-Jahre verübte sie zahlreiche Bombenanschläge gegen militärische und staatliche Einrichtungen, organisierte illegale Massendemonstrationen und Straßenkämpfe und beging Terroranschläge gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Seit ihrer Gründung 1978 wird die "Devrimci Sol" für weit über 200 Tötungsdelikte verantwortlich gemacht, zu denen sie sich in der Regel auch bekannte. Als terroristisch-linksextremistische Organisation wurde sie bereits zwei Jahre später in der Türkei und am 27. Januar 1983 (bestandskräftig seit 1989) durch den Bundesminister des Innern in der Bundesrepublik Deutschland verboten, nachdem von ihr massive und äußerst gewalttätige Ausschreitungen ausgegangen waren. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und persönliche Dispute führender Funktionäre spalteten die konspirativ agierende "Devrimci Sol" Ende 1992 in zwei konkurrierende, alsbald verfeindete Flügel, obwohl beide bis heute die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele haben. Fortan bezeichneten sich die beiden rivalisierenden Fraktionen nach ihren damaligen Führungsfunktionären Dursun KARATAS203 und Bedri YAGAN204 als "KARATAS"beziehungsweise "YAGAN"-Flügel. Mit dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" hat der "KARATAS"-Flügel, der sich seitdem DHKP-C nennt, organisatorisch endgültig die Trennung vollzogen. Der "YAGAN"-Flügel verwendet seit Mitte 1994 die Bezeichnung THKP-C. 203 Verstorben am 11. August 2008. 204 Wurde im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften erschossen. 102 Die DHKP-C und die THKP-C sehen sich in der Erbfolge nach wie vor jeweils als die wahre Nachfolgerin der "Devrimci Sol" und halten an deren ideologischen Leitgedanken fest. Insbesondere von März 1993 bis Anfang des Jahres 1999 kam es zu massiven Flügelkämpfen, die mit hoher krimineller Energie bis hin zum Mord ausgetragen wurden. Am 13. August 1998 erließ daher der Bundesminister des Innern gegen die THKP-C ein BetätiBetätigungsverbot gungsverbot. Die DHKP-C bewertete er zeitgleich als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" und bezog sie in das frühere Verbot mit ein. Die Anfechtungsklage der DHKP-C dagegen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am 1. Februar 2000 letztinstanzlich ab.205 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung: 30. März 1994 in Damaskus/Syrien nach Spaltung der 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke), Verbot in Deutschland seit 13. August 1998 Leitung: Funktionärsgruppe um den Generalsekretär; nach dem Tod von Generalsekretär Dursun KARATAS am 11. August 2008 noch kein Nachfolger benannt Mitglieder: ca. 70 Baden-Württemberg (2007: ca. 75) ca. 650 Bund (2007: ca. 650) Publikationen: "Yeni Kurtulus" (Neue Befreiung) Ideologie Die DHKP-C gliedert sich in einen politischen Flügel, die "Revolutionäre Zielerreichung Volksbefreiungspartei" (DHKP), und einen militärischen Arm, die "Revoauch durch lutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). Ihr erklärtes Ziel ist die Beseitibewaffneten gung des türkischen Staats in seiner jetzigen Form. Dieser soll durch ein Kampf marxistisch-leninistisches Regime ersetzt werden, das schließlich in die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft münden soll. Die Organisation versteht es als "heilige Pflicht", gegen die "Tyrannei und Ausbeutung" in der Türkei zu kämpfen. Dazu bedient sich die DHKP-C auch des bewaffneten Kampfes. Angriffsziele sind nicht nur der türkische Staat und dessen Organe, sondern auch andere "Feinde des Volkes", zu denen die DHKP-C in erster Linie den "US-Imperialismus" zählt. 205 BVerwG, Az.: 1 A 4.98 vom 1. Februar 2000. 103 Organisationsaufbau An der Spitze der DHKP-C steht das Zentralkomitee, welches bisher von Generalsekretär Dursun KARATAS geleitet wurde. Zu dessen Tod am 11. August 2008 äußerte sich die DHKP-C in ihrer Erklärung Nr. 39 vom selben Tag wie folgt: "Wir haben unseren Kommandanten, unseren revolutionären Führer, unseren 'Dayi' [i.e. Onkel] verloren. Wir werden unseren Krieg mit dem, was unser Kommandant uns lehrte, verstärken und ihn weiterhin in Ehren halten!" Seither hat die Organisation noch keinen neuen Generalsekretär ernannt. An der Spitze der Europaorganisation steht der von der Parteiführung eingesetzte Europaverantwortliche mit seinen Stellvertretern. Zur Führung in der Bundesrepublik Deutschland zählen neben dem Deutschlandverantwortlichen und dessen Vertretern die Regionsund Gebietsverantwortlichen sowie weitere, mit Sonderaufgaben betraute Funktionäre wie die nisation in Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit. Die Deutschlandorganisation ist utschland dem Zentralkomitee der DHKP-C gegenüber für die Ausführung der von dort geplanten und angeordneten Maßnahmen und Aktionen verantwortlich, durch die der "Kampf" in der Türkei unterstützt werden soll. Deren konkrete Umsetzung obliegt jedoch den Führungskadern der Deutschlandorganisation. In diesem Netzwerk von Kontrollund Verbindungsinstanzen wird die Organisation in den einzelnen Ebenen von ideologisch geschulten und äußerst konspirativ auftretenden Führungsfunktionären geleitet. Für die Umsetzung von Vorgaben der Führungsspitze und den Informationsfluss zur Basis bedient sich die DHKP-C der örtlichen DHKP-C-nahen Vereine, die den Anhängern zwar als Treffpunkte und Anlaufstellen dienen, deren Satzungen jedoch keinen Rückschluss auf die Organisation zulassen. Der Tätigkeitsschwerpunkt in Baden-Württemberg liegt im Großraum Stuttgart. Zusammenkünfte von Aktivisten und Großveranstaltungen verlagert die gerung von Organisation zunehmend ins benachbarte Ausland, so die traditionelle Vernstaltungen anstaltung zum Parteigründungstag am 19. April 2008 nach Frankreich, ein Ausland Sommerlager vom 16. bis 22. Juni 2008 nach Österreich sowie eine als Familienund Jugendcamp getarnte Veranstaltung vom 27. Juli bis 29. August 2008 nach Frankreich. 104 Propaganda Die DHKP-C veröffentlicht seit ihrer Gründung regelmäßig türkischsprachige Publikationen, wobei sie es aber stets vermieden hat, als Herausgeber oder Autor in Erscheinung zu treten. Die Inhalte dieser Zeitschriften spiegeln jedoch im Wesentlichen die politischen Aussagen und Einschätzungen der DHKP-C wider, weshalb sie bisher regelmäßig nach kurzer Zeit der Partei zugeordnet werden konnten und daraus resultierend in Deutschland verboten beziehungsweise als Nachfolgepublikation in ein bereits bestehendes Verbot einbezogen wurden. Die seit September 2008 aktuell bestehende Publikation "Yeni Kurtulus" (Neue Befreiung) ist durchgängig durch politische Aussagen geprägt, die sich mit der Ideologie der DHKP-C decken. Bereits in der 1. Ausgabe gab sie in einer Erklärung bekannt: "Wir werden eine unabhängige, demokratische und sozialistische Türkei gründen! (...) Hierfür haben wir den bewaffneten Kampf aufgenommen! (...) Es gibt nur einen Weg, nur eine Art der Befreiung: Die Revolution ist der einzige Weg, der Sozialismus die einzige Alternative!" 206 Weitere inhaltliche Bezüge zur DHKP-C lassen sich aus den Berichten zu eingeschränkter Mitgliedern und "Märtyrern" der DHKP-C, der allgemeinen BerichterstatGewaltverzicht tung über Aktivitäten der Gruppierung sowie den Erklärungen zu den von der DHKP-C verübten Anschlägen in der Türkei herauslesen. Redaktion, Druck und Vertrieb der Publikation "Yeni Kurtulus" befinden sich seit Mitte September 2008 in der Türkei. Auf der in türkischer Sprache verfassten Homepage der DHKP-C findet der Nutzer neben aktuellen Artikeln ein vollständiges Archiv der bisher erschienenen Erklärungen zur freien Verfügung. Anders als bei ihrer Zeitschrift werden Veröffentlichungen auf der Homepage stets im Namen der "Partei" oder ihrer Frontorganisation abgegeben. 206 "Yeni Kurtulus" Nr. 1 vom 7. September 2008, S. 12; hier: Arbeitsübersetzung. 105 Finanzierung Die DHKP-C finanziert sich nach wie vor aus Mitgliedsbeiträgen, Spendensammlungen in den Reihen ihrer Anhänger und dem Verkauf von Tonträgern, während die Herausgabe gedruckter Publikationen eher Defizite verursacht. Einen maßgeblichen Beitrag zur Finanzierung dürften auch die Einnahmen aus Musikund Kulturveranstaltungen leisten. Die Spendenbereitschaft der Anhänger ist kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer anhaltenden finanziellen Misere der Organisation geführt hat. Wie in den vergangenen Jahren konnte der Zielbetrag der jährlichen Spendenkampagne auch 2008 bei weitem nicht erreicht werden. Trotz der finanziellen Engpässe scheint es aber zumindest in jüngster Zeit nicht mehr zu Spendengelderpressungen zu kommen. Exekutivmaßnahmen Am 17. März 2008 begann in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C wegen Straftaten nach SS 129b Strafgesetzbuch (StGB).207 Den Angeklagten wird vorgeworfen, für terroristische Aktionen Waffen in die Türkei geschmuggelt, Gelder für die Organisation gesammelt und politische Aktivitäten für die DHKP-C organisiert zu haben. Anklageschrift und Beweisführung stützten sich zum Teil auf Ermittlungsberichte aus der Türkei und den Niederlanden. Dieser Prozess ist der erste, in dem Mitglieder einer ausländischen Organisation nach SSSS 129a, 129b StGB wegen Bildung (Mitgliedschaft in) einer terroristischen Vereinigung angeklagt worden sind. Der Prozess in Stuttgart-Stammheim führte bundesweit zu Demonstrationen. Zuletzt wurde eine Demonstration am 5. Juli 2008 in Stuttgart von der "Stuttgarter Initiative gegen SS 129" veranstaltet. Darüber hinaus erfolgten am 5. November 2008 drei weitere Festnahmen in Köln, Dortmund und Duisburg. Dieses Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde von Seiten der Organisation scharf kritisiert. Der in solchen Exekutivmaßnahmen manifestierte anhaltende Ermittlungsdruck trägt weiterhin dazu bei, die Organisation in Deutschland kontinuierlich zu schwächen. Insgesamt fällt die politische Botschaft der DHKP-C immer weniger auf fruchtbaren Boden. Zwar versammeln sich zu großen Picknickveranstaltungen wie am 12. Juli 2008 in Leinfelden-Echterdingen immer noch mehrere 207 SS 129b StGB erstreckt die Strafbarkeit nach SS 129a StGB auf terroristische Vereinigungen im Ausland. 106 Hundert Personen, jedoch kommt der Großteil nicht aus politischen Gründen, sondern lediglich wegen des musikalischen Rahmenprogramms. Anschläge In den Jahren seit 2003 verübte die DHKP-C durch die DHKC, ihren militärischen Arm, in der Türkei mehrere Sprengstoffanschläge. Ziele waren staatliche türkische Einrichtungen, insbesondere Gebäude, aber auch Mitarbeiter der türkischen Sicherheitsbehörden, der Armee und der Justiz. Im Jahr 2008 wurden keine schwerwiegenden Anschläge der DHKP-C bekannt. Bewertung Seit der Gewaltverzichtserklärung von KARATAS Anfang 1999 sind keine gewaltsamen Aktionen im Bundesgebiet mehr festzustellen. Jedoch bezieht sich der Gewaltverzicht nur auf Deutschland und Europa, nicht aber auf die Türkei. Die intensiven Strafverfolgungsmaßnahmen deutscher Behörden mit Durchsuchungen, Festnahmen und Verurteilungen wichtiger Führungsfunktionäre haben die DHKP-C nachhaltig geschwächt. Im Falle einer Verurteilung der in Stuttgart-Stammheim angeklagten DHKP-C-Funktionäre und der Wahl eines gewaltorientierten neuen Generalsekretärs kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gewaltverzichtserklärung widerrufen wird. 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 315 Baden-Württemberg (2007: ca. 320) ca. 1.300 Bund (2007: ca. 1.300) Die Organisation ist in die folgenden Flügel gespalten: "Partizan" (im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP/ML" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 120 Baden-Württemberg (2007: ca. 120) Militärische Teilorganisation: "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg der neuen Demokratie) 107 und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) (bis Ende 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee"DABK -; im schriftlichen Sprachgebrauch früher "TKP(ML)" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 195 Baden-Württemberg (2007: ca. 200) Militärische Teilorganisation: "Volksbefreiungsarmee" (HKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) Die von Ibrahim KAYPAKKAYA im Jahr 1972 in der Türkei gegründete TKP/ML ist seit 1994 in zwei miteinander konkurrierende Fraktionen gespalten, den "Partizan"-Flügel (TKP/ML) und die "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP). Beide Organisationen berufen sich auf die von KAYPAKKAYA propagierte marxistischleninistisch-maoistische Ideologie. Um ihr erklärtes Ziel zu verwirklichen, die gegenwärtige Staatsstruktur in der Türkei zu beseitigen und statt dieser eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten, unterhalten beide Gruppierungen jeweils eigene Guerillaeinheiten, die in der Türkei terroristische Anschläge verüben. In einer von der "Informationsstelle Kurdistan e.V." am 18. Juli 2008 veröffentlichten Meldung heißt es unter der Überschrift "Gemeinsame Militäraktion von YJA STAR208 und TIKKO-Frauen": oristische "Wie die HPG mitgeteilt haben, ist eine Aktion mit tivitäten schwerem Geschütz auf die Polizeidirektion in Derer Türkei sim-Cemisgezek von Guerillakämpferinnen von YJA STAR und TIKKO gemeinsam durchgeführt worden. Bei dem Angriff kamen drei Polizisten und acht Soldaten ums Leben." moderates In Deutschland verhalten sich die Unterstützer von TKP/ML und MKP seit halten in Jahren gewaltfrei. Die alljährlich unter den Anhängern der beiden Flügel utschland getrennt durchgeführten Spendenkampagnen sowie weitere Einnahmen aus Kulturveranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen dienen vorwie208 "Yekitiya Jina Azad"; Frauen-Guerilla-Organisation des KONGRA-GEL, vergleichbar den "Volksverteidigungskräften" (HPG). 108 gend der Finanzierung der Organisationsstrukturen. Zusätzlich werden mit diesen Geldern offenbar weiterhin die bewaffnete Guerilla und die in der Türkei inhaftierten Gesinnungsgenossen unterstützt. Auch im Jahr 2008 wurden die Anhänger beider Organisationen bei der Durchführung von Veranstaltungen und sonstigen Aktionen von ihren Basisorganisationen propagandistisch unterstützt. Dabei handelt es sich bei der TKP/ML-Partizan um die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF) in Deutschland und deren Dachorganisation auf Europaebene "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK); bei der MKP um die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF) und die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK). In der Öffentlichkeit traten sowohl die "Partizan"-Fraktion als auch die MKP durch Info-Stände, Demonstrationen und durch Verbreiten von Flugschriften in Erscheinung. Die Agitationsthemen orientierten sich dabei hauptsächlich an dem politischen Tagesgeschehen in Deutschland und der Türkei. Im Jahr 2008 handelte es sich um Themen wie restriktive Maßnahmen gegen Kurden in der Türkei und in Deutschland oder Festnahmen von linksextremistischen türkischen Funktionären in Deutschland mit dem Risiko der Auslieferung an die Türkei. Von besonderer Bedeutung für die Anhänger und Sympathisanten beider Flügel waren 2008 die jährlich getrennt durchgeführten Gedenkveranstaltungen zu Ehren KAYPAKKAYAs. So führte die TKP/ML-"Partizan" in Ludwigshafen am 24. Mai 2008 unter dem Motto "Wir gedenken unseres kommunistischen Führers im 35. Jahr seiner Ermordung" eine Saalveranstaltung durch. Daran nahmen etwa 3.200 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland (unter anderem Holland, Frankreich, Schweiz) teil. Ebenfalls einen hohen Stellenwert nahmen kleinere dezentrale Veranstaltungen wie regional organisierte Kulturabende ein. Diese dienen insbesondere auf örtlicher Ebene der Bindung des Unterstützerkreises an die Organisationen. Seit mehreren Jahren gewinnt auch das Medium Internet für die Selbstdarstellung, zur Kontaktpflege mit dem Unterstützerkreis und zur Verbreitung Ausbau eigener von Propaganda zunehmend an Bedeutung. Verlautbarungen werden teilInternetseiten weise auf der Homepage der einschlägigen Organisationen oder als 109 gesonderte Beiträge im Internet veröffentlicht. Dabei werden die Leser häufig themenbezogen dazu aufgefordert, sich an Mailoder Faxaktionen zu beteiligen, deren Adressat deutsche staatliche Stellen sind. Beherrschendes Agitationsund Kampagnenthema der TKP/ML und der MKP sowie der ihnen nahe stehenden Basisorganisationen waren im Verlauf des gesamten Berichtszeitraums die SSSS 129a, b StGB. Diese Straftatbestände waren Auslöser zahlreicher Protestaktionen in verschiedenen deutschen Städten, aber auch im Internet. Unter anderem leitete die Bundesanwaltschaft am 5. Dezember 2007 in Deutschland zeitgleich gegen zehn türkische Personen ein Ermittlungsverfahren nach SS 129b StGB ein. Weitere Verfahren gegen deutsche und türkische Personen wurden im Verlauf des Jahres 2008 eingeleitet. Aus aktuellem Anlass fand am 5. Juli 2008 eine Protestveranstaltung statt, an der sich mehrere Hundert Personen beteiligten. Hintergrund war der seit dem 17. März 2008 in Stuttgart-Stammheim laufende Prozess gegen fünf vermutliche Mitglieder der DHKP-C. Sprayaktionen mit politischen Inhalten wie "Nieder mit der faschistischen Diktatur! Kurdistan wird das Grab des Faschismus sein!! TKP/ML" 209 nebst Stern, Hammer und Sichel der TKP/ML haben im Verlauf des Jahres 2008 in der Region Stuttgart zugenommen. 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Anhänger: ca. 235 Baden-Württemberg (2007: ca. 245) ca. 600 Bund (2007: ca. 600) Publikation: "Partinin Sesi" (Stimme der Partei), zweimonatlich "Internationales Bulletin der MLKP", monatlich Die MLKP wurde im September 1994 auf einem Einheitskongress durch den Zusammenschluss der "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxis - ten-Leninisten" (TKP/ML-Hareketi) und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) gegründet. Die Organisation bekennt sich zur Ideologie von Marx, Engels und Lenin und führt in der Türkei ter209 Hier: Arbeitsübersetzung von "Kahrolsun Fasist Diktatörlük Kürdistan Fasizme Mezar olacak!! TKP/ML". 110 roristische Aktionen mit dem Ziel durch, den türkischen Staatsapparat zu zerschlagen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Bereits im September 1995 war es in der Gruppierung zu ideologischen Richtungskämpfen gekommen, in deren Verlauf sich eine Gruppe der ehemaligen TKP/ML-Hareketi abspaltete und die "Kommunistische ParteiAufbauorganisation" (KP-IÖ) gründete. Diese hat seit ihrer Gründung in Deutschland zunehmend an Bedeutung verloren. Eigenen Angaben zufolge versteht sich die MLKP als die politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation und der nationalen Minderheiten. In ihrem Heimatland gilt die Gruppierung als eine illegale Organisation, die dort den Straftatbestand der "bewaffneten Bande" erfüllt. Die in der Türkei terroristisch operierenden "Bewaffneten Einheiten der Armen und Unterdrückten" (FESK) werden von den dortigen Sicherheitsbehörden als militanter Arm der MLKP angesehen. Ihre terroristischen Anschläge richten sich unter anderem gegen staatliche Einrichtungen. Mehrfach kam es zu heftigen Kämpfen im Rahmen von Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. So bekannten sich die FESK210 am 19. Januar 2008 zu einem Sprengstoffanschlag auf das gerichtsmedizinische Institut in Adana. In der Erklärung Nr. 69 heißt es hierzu unter anderem: "Revolutionäre Häftlinge wurden bestialisch hingerichtet. Dutzende wurden verwundet und zu Krüppeln gemacht. Es ist genau sieben Jahre her, doch die Isolation hält immer noch an und die faschistischen Mörderhorden setzen ihre Angriffe erbarmungslos fort. Die revolutionären Häftlinge setzen ihren ehrenhaften Widerstand gegen die Angriffe fort. Und natürlich konnten auch die bewaffneten Kräfte der Unterdrückten diese Angriffe nicht unbeantwortet lassen." 211 Ihren Nachwuchs rekrutiert die MLKP aus der "Kommunistischen Jugen - Rekrutierung dorganisation" (KGÖ). Dabei indoktriniert sie die jugendlichen Mitglieder aus der Jugendim Verlauf von regelmäßig jährlich durchgeführten Jugendcamps. Zur Infororganisation 210 Sozialistische Wochenzeitung "Atilim" vom 19. Januar 2008. 211 Hier: Arbeitsübersetzung. 111 mation der Anhänger und Sympathisanten bedient sich die MLKP in Deutschland der ihr inhaltlich nahe stehenden Organisationen "Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa" (AvEG-KON) und "Föde - ration der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V." (AGIF). Verlautbarungen der genannten Organisationen werden regelmäßig in der sozialistischen, in der Türkei erscheinenden Wochenzeitung "Atilim" (Angriff) veröffentlicht. Darüber hinaus erscheinen mitunter Erklärungen auf der Homepage von "Atilim", die mit dem Zusatz "die uns auf dem E-Mail-Wege erreicht hat" 212 versehen sind. Weitere Organe zur Veröffentlichung von Mitteilungen sind die zweimonatlich erscheinende "Partinin Sesi" (Stimme der Partei) sowie eine Homepage, auf der Informationen in mehreren Sprachen veröffentlicht werden. Zur Finanzierung der Organisation und der terroristischen Aktivitäten in der Türkei führt die Organisation jährlich unter ihren Anhängern eine Spendensammlung durch. Bei der Höhe der erwarteten Spende stellt man auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des jeweiligen Spenders ab. Weitere Einnahmen erzielt die MLKP insbesondere aus der Durchführung von kulturell geprägten Veranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen. In Deutschland nahmen die Anhänger auch im Jahr 2008 Stellung zu vielfältigen Themen der deutschen Politik, aber auch zu aktuellen Ereignissen in der Türkei. Dies geschah publizistisch und mit Aktionen wie Info-Ständen, Flugblattaktionen oder Aufrufen zum Verfassen von Protestmails an deutsche Behörden. LKP in Unter dem Motto "Mit der Partei zum Sozialismus" führten MLKP und utschland KGÖ am 18. Oktober 2008 in Köln eine Veranstaltung zum 91. Jahrestag der Oktoberrevolution durch. In deren Verlauf riefen die Veranstalter zu Spenden auf. Weiter skandierten die Teilnehmer auf Zuruf Parolen wie "Hoch lebe unsere Partei MLKP!", "Die Hoffnung ist allgegenwärtig" oder "Partei, Angriff, Sieg!". Wie schon in den vergangenen Jahren beteiligten sich auch anlässlich des 1. Mai 2008 Aktivisten und Sympathisanten der MLKP an den traditionellen lokalen Kundgebungen und Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet. Im Vorfeld kam es dabei erneut zu Sachbeschädigungen durch politische Graffiti. 212 Hier: Arbeitsübersetzung. 112 Unter der Überschrift "Grüße aus Ulm an die 68er" fand in Ulm zum Gedenken an die Anführer der türkischen 68er Bewegung wie KAYPAKKAYA eine Demonstration mit anschließender Kundgebung statt. Etwa 100 Teilnehmer marschierten mit Fahnen der MLKP und der TKP/ML zum Kundgebungsplatz, wo Erklärungen im Namen des Komitees abgegeben wurden. 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner Baden-Württemberg genießt bei Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien traditionell einen hohen Stellenwert als Einwanderungsland. Schon in den siebziger Jahren ließen sich hier viele Verfolgte des "TITO-Regimes" nieder. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Mitglieder extremistischer kroatischer Emigrantenorganisationen, deren Ziel die Wiederherstellung eines selbständigen Staates Kroatien war. Ebenso nutzten mehrere Tausend Flüchtlinge in den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien (1991 bis 1995) Baden-Württemberg als Zufluchtsland. Im Jahr 2008 konnten nur noch vereinzelt extremistische Bestrebungen von Angehörigen ehemaliger jugoslawischer Volksgruppen festgestellt werden. Nach wie vor reagiert man jedoch auch in Baden-Württemberg auf wichtige Ereignisse, wie folgende Beispielsfälle zeigen: Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Am 17. Februar 2008 und damit einen Tag vor der Sitzung der Außenministerkonferenz der EU-Staaten am 18. Februar 2008 und gegen den Willen Serbiens und Russlands wurde die Unabhängigkeit des Kosovo vollzogen. Thema dieser Sitzung sollte die angestrebte Unabhängigkeit des Kosovo sein. Die Regierung des Kosovo hatte somit vorzeitig Fakten geschaffen. Die in Baden-Württemberg lebenden Anhänger der linksextremistischen "Volksbewegung von Kosovo" (LPK), der "Front für die Albanische Natio - nale Vereinigung" (FBKSH) sowie der extrem nationalistischen "National - demokratischen Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) haben die Entwicklung mit Genugtuung verfolgt, da man dem Ziel der Vereinigung aller albanischen Siedlungsgebiete213 einen Schritt näher gekommen zu sein scheint. Aus Anlass der Unabhängigkeitserklärung organisierten kosovoalbanische Vereine am 17. Februar 2008 in Baden-Württemberg in Frie - drichshafen, Nagold, Sinsheim, Stuttgart und Tuttlingen friedliche Veranstaltungen. 213 Neben Albanien und dem Kosovo sind dies Teile von Nordgriechenland, Mazedonien, Südserbien und Montenegro. 113 vitäten im Anders als im Mutterland reagierten die in Baden-Württemberg lebenden mmenhang Serben auf die Unabhängigkeitserklärung mit friedlichen Demonstrationen r Unabhänam 23. Februar 2008 in Stuttgart, an der rund 1.000 Personen teilnahmen, tserklärung und am 1. März 2008 in Mannheim mit rund 200 Teilnehmern. In Serbien kam es zu zahlreichen gewalttätigen Ausschreitungen vor allem gegen die Botschaften der USA, Deutschlands, Großbritanniens und der Türkei sowie der "Administration der Vereinigten Nationen zur Übergangsverwaltung des Kosovo" (UNMIK). In Nordkosovo setzten Hunderte Serben von der UNMIK kontrollierte Grenzübergänge in Brand. Festnahme des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Radovan KARADZIC in Belgrad. Der seit 1996 mit internationalem Haftbefehl gesuchte frühere Präsident der bosnischen Serben wurde am 21. Juli 2008 in Belgrad verhaftet. KARADZIC wird für die Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995 mitverantwortlich gemacht.214 Die Festnahme hat unter Serben unterschiedliche Reaktionen und teilweise heftige Proteste hervorgerufen, die in Deutschland bislang aber kaum öffentliche Wirkung entfaltet haben. Die in Baden-Württemberg lebenden Serben bewerteten die Festnahme und die Überstellung an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag am 30. Juli 2008 unterschiedlich. Bei einem Teil der Serben herrschte überwiegend Erleichterung vor, zumal nun bald ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte abgeschlossen werden könne und sich das Land durch Auslieferung des Kriegsverbrechers nach Den Haag den Voraussetzungen für eine künftige Mitgliedschaft in der Europäischen Union weiter angenähert habe. Man verspricht sich nun eine großzügigere finanzielle Unterstützung durch die westliche Staatengemeinschaft, um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes verstärkt forcieren zu können. tionen auf Die in Baden-Württemberg lebenden bosnischen Serben aus der serbischen ahme und Republik Srpska215 sind größtenteils über die Festnahme ihres einstigen Fühferung eines rers bestürzt, zumal er auch heute noch als Nationalheld verehrt wird. Sie verbrechers lehnen jedoch Demonstrationen oder gar gewaltsame Aktionen beispiels214 Damals wurde die bosnische Hauptstadt Sarajevo von den Truppen der bosnischen Serben unter KARADZIC 43 Monate lang belagert. Nach Recherchen des internationalen Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag liegen heute Beweise vor, wonach KARADZIC maßgeblich für das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 verantwortlich ist. Damals wurden etwa 8.000 muslimische Männer und Jungen getötet. 215 Die Föderation Bosnien und Herzegowina besteht aus der muslimisch-kroatischen Föderation und der serbischen Republik (Republica Srpska). 114 weise gegen serbische Einrichtungen in Baden-Württemberg ab. Gewalt sei kontraproduktiv und schade dem Ansehen des eigenen Volkes in der Welt. In Pale hingegen, dem ehemaligen Hauptquartier von KARADZIC in der Republik Srpska, demonstrierten über 2.000 Serben gegen die Inhaftierung. Auch in Belgrad kam es zu mehreren gewaltsamen Demonstrationen von Ultranationalisten. Die Demonstranten warfen Flaschen und Steine gegen serbische Sicherheitskräfte und verbrannten Fahnen politischer Gegner. Zu einer zentral organisierten Großdemonstration konnten zuletzt am 29. Juli 2008 über 10.000 Personen mobilisiert werden. In deren Verlauf kam es zu schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und serbischen Polizeieinheiten. In Deutschland gab es keine Aufrufe zu Demonstrationen oder sonstigen Aktionen. Lediglich eine Sachbeschädigung in der Nacht zum 22. Juli 2008 in Frankfurt am Main zum Nachteil des Generalkonsulats der Republik Serbien wurde registriert. Unbekannte Täter hatten Pflastersteine gegen die Sicherheitsverglasung des Konsulats geschleudert. Die in Baden-Württemberg lebenden Bosniaken (Muslime aus BosnienHerzegowina) reagierten auf die Verhaftung mit Genugtuung. Das Ereignis wurde intern und in der Öffentlichkeit allerdings mit Zurückhaltung diskutiert. Kundgebungen fanden nicht statt. In Sarajevo dagegen feierten mehr als 2.000 Personen die Festnahme ihres "Erzfeindes". Anhänger der nur noch in Reststrukturen in Baden-Württemberg existierenden "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) beteiligten sich überwiegend Veranstaltungen an Gedenkveranstaltungen zu Ehren der im Kosovokrieg (1999) getöteten Kämpfer der von der Organisation unterstützten "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK), so beispielsweise am 18. Mai 2008 in Stuttgart-Feuerbach. Im Rahmen einer Feierstunde am 19. Januar 2008 in Stuttgart wurden die Verdienste der im Januar 1982 in Untergruppenbach/Krs. Heilbronn ermordeten drei Funktionäre216 der Organisation gewürdigt. Funktionäre der "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) trafen sich konspirativ in kleinen Zirkeln unter anderem auch im Raum Heidelberg. Die FBKSH versteht sich als politischer Arm der nach wie vor in Mazedonien und Kosovo existierenden "Albanischen National - armee" (AKSH), deren erklärtes Ziel die Vereinigung aller albanischen Sied216 Die Getöteten waren Mitbegründer der ehemaligen "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ), die später in "Volksbewegung von Kosovo" umbenannt wurde. Sie wurden vermutlich von Angehörigen des damaligen jugoslawischen Geheimdienstes erschossen. 115 Ziel: lungsgebiete in ein "Großalbanien" ist. In verschiedenen Kommuniques ßalbanien betonten die Verantwortlichen wiederholt, dass man trotz der Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor auf einem "Großalbanien" bestehe. Die extrem nationalistische "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) mit Sitz in Donzdorf/Krs. Göppingen entfaltete keine öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten mehr. Die Strukturen der Organisation sind seit Jahren durch persönliche Querelen unter den Führungsfunktionären und die Rückkehr weiterer Mitglieder in das Kosovo, aber auch aufgrund der anhaltenden Politikverdrossenheit vieler Anhänger nachhaltig geschwächt. Daraus zog der Präsident die Konsequenzen und beantragte beim Amtsgericht der Stadt Geislingen an der Steige die Auflösung seiner Organisation in Deutschland, die am 27. Februar 2008 erfolgte. Die B.K.D.SH. wird somit künftig nur noch im Kosovo aktiv sein. Dort ist sie seit 2001 als Partei anerkannt. Ihr Präsident hielt sich wieder überwiegend im Kosovo auf und vertrat seine Partei bei einem von überwiegend linksorientierten albanischen Vereinigungen organisierten Vorbereitungstreffen für den "Albanischen Weltkongress" im Juni 2008 in Durres/Albanien. 5. Sikh-Organisationen "Babbar Khalsa" (BKI)217 Gründung: 1978 in Indien Sitz: Weil am Rhein Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (2007: 30) ca. 200 Bund (2007: 200) "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main; Juni 2007 Umbenennung in "Sikh Federation Germany" (SFG) Sitz: Offenbach am Main Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2007: 90) ca. 550 Bund (2007: 550) 217 Diese Abkürzung verwendet die "Babbar Khalsa" für ihre Auslandsorganisation "Babbar Khalsa International". 116 "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: ca. 15 Baden-Württemberg (2007: 15) ca. 40 Bund (2007: 40) Die Bestrebungen extremistischer Gruppierungen der Sikhs218, im indischen Ziel: Bundesstaat Pandschab einen eigenen Staat "Khalistan" (Land der Reinen) eigener Staat zu gründen, führten in den vergangenen 20 Jahren zu unzähligen gewalttätigen Übergriffen von "Sikh-Kämpfern" und Auseinandersetzungen mit indischen Sicherheitskräften, bei denen eine Vielzahl von Separatisten festgenommen oder getötet wurde. Auch im Jahr 2008 wurden dort wieder Aktivisten der "International Sikh Youth Federation" (ISYF) und der "Babbar Khalsa" (BKI) wegen angeblich verübter Bombenanschläge inhaftiert, was aber zur Folge hatte, dass diese Organisationen zumindest im Heimatland vermehrt Zulauf von Sympathisanten erhielten. Terroristische Aktivitäten außerhalb Indiens sind in den letzten Jahren dagegen nicht bekannt geworden. Aufgrund ihrer terroristischen Aktivitäten fällt die ISYF in Indien unter den "Activities Act" vom 22. März 2002 und ist außerdem in Großbritannien durch den "Terrorism Act 2000" verboten. Da sowohl die "Babbar Khalsa" (BKI) als auch die ISYF vor Jahren noch außerhalb Indiens am häufigsten im Zusammenhang mit terroristischen Aktionen hervorgetreten sind, wurden beide Gruppierungen von der Europäischen Union in die Liste der terroristischen Organisationen aufgenommen. Starke Auslandsgruppen von Sikhs bestehen in Kanada, in den USA und in Großbritannien. Dort sind überwiegend Aktivisten der in verschiedene Flügel gespaltenen ISYF und der "Babbar Khalsa" (BKI) aktiv, die untereinander und auch zu entsprechenden Stützpunkten in Deutschland enge Kontakte unterhalten. Politische Meinungsverschiedenheiten der Organisationen werden in der Regel in den Versammlungsstätten der Sikhs, den Tempeln ("Gurdwaras"), ausgetragen. Oftmals versuchen Funktionäre der einzelnen Gruppierungen, ihren Einfluss in den Tempelkomitees auszuweiten. Dabei kommt es immer wieder zu Gewaltanwendungen oder Einschüchterungen. Die wichtigsten 218 Bei den Sikhs handelt es sich um eine Religionsgemeinschaft, die hauptsächlich im indischen Bundesstaat Pandschab beheimatet ist. 117 Sikhtempel in Deutschland befinden sich in Frankfurt am Main und in Köln. Daneben bestehen unter anderem auch Tempel in Hamburg, München, Stuttgart, Tübingen und Mannheim. nstaltungen Die in Baden-Württemberg lebenden Anhänger extremistischer Sikhgruppierungen beteiligten sich auch im Jahr 2008 wieder an den traditionellen Protestdemonstrationen vor dem indischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main. Bei diesen Veranstaltungen wurde beispielsweise am 26. Januar 2008 gegen den indischen Nationalfeiertag (26. Januar 1950, Tag der Republik) und am 6. Juni 2008 gegen den "Sturm indischer Truppen auf den goldenen Tempel von Amritsar" (5. Juni 1984) protestiert. Auch an einer Protestaktion anlässlich des indischen Unabhängigkeitstages (15. August 1947) in Frankfurt am Main beteiligten sich Anhänger extremistischer Gruppierungen aus Baden-Württemberg. Dabei trat die im Jahr 2007 in "Sikh Federation Germany" (S.F.G.) umbenannte ISYF weiterhin unter ihrer alten Bezeichnung öffentlich in Erscheinung. Darüber hinaus nutzten Funktionäre so genannte Märtyrer-Gedenkveranstaltungen in den Sikhtempeln als politische Plattform und zum Aufruf zu Spendensammlungen zur Unterstützung der Angehörigen gefallener Kämpfer und der Organisationen in der Heimat. Aufgrund langjähriger Streitigkeiten unter den Führungsfunktionären der BKI kam es zur Spaltung der Organisation. Am 12. Oktober 2008 wurde deshalb im Sikhtempel Frankfurt die "Babbar Khalsa Germany" (B.K.G.) neu gegründet. Zellen extremistischer Sikhs konnten in Baden-Württemberg in den Räumen Heilbronn, Herrenberg, Mannheim, Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Weil am Rhein erkannt werden. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten extremistischer Sikhorganisationen in Baden-Württemberg wurden nicht bekannt. Politisch relevante Themen diskutierte man hauptsächlich in internen, manchmal auch gruppenübergreifenden Zirkeln in den Tempeln. 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 110 Baden-Württemberg (2007: ca. 110) ca. 800 Bund (2007: ca. 800) 118 Anfang 2008 eskalierten auf Sri Lanka die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der extremistischen separatistischen Tamilenorganisation "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) und den sri-lankischen Regierungstruppen.219 Ursächlich für die erbitterten Kämpfe war die Aufkündigung des im Jahr 2002 ausgehandelten Waffenstillstandsabkommens im Aufkündigung Januar 2008 durch die sri-lankische Regierung. In diesem Zusammenhang des Friedenskündigte der Staatspräsident von Sri Lanka die vollständige Zerschlagung abkommens der LTTE bis Ende 2008 an. Pressemeldungen zufolge konnten sri-lankische Armeeeinheiten zahlreiche, von den LTTE kontrollierte Gebiete im Norden Sri Lankas erobern. Nach dem Verlust der "tamilischen Ostgebiete" 220 im Jahr 2007 hat sich der Aktionsradius der LTTE im Heimatland erheblich verkleinert. Die Kampfeinheiten der "Tamil Tigers" reagierten auf die Armeeoffensiven mit teils spektakulären Gegenangriffen. So wurde im Februar 2008 auf den Bahnhof in Colombo/Sri Lanka ein Selbstmordanschlag verübt, bei dem 11 Menschen getötet und etwa 100 verletzt wurden. Im April 2008 starben durch einen Bombenanschlag in der Nähe der Hauptstadt Sri Lankas 12 Personen, darunter der Verkehrsminister, zudem gab es rund 90 Verletzte. Im Oktober 2008 bombardierten tamilische Rebellen bei einem Luftangriff ein am Stadtrand von Colombo gelegenes Kraftwerk. Die Stromversorgung der Hauptstadt brach daraufhin zusammen. Die LTTE haben sich in den meisten Fällen nicht zu den Anschlägen bekannt. Die LTTE haben weltweit Exilorganisationen221 gebildet, um mittels propaVernetzung der gandistischer Aktivitäten und regelmäßig groß angelegter GeldbeschafDiasporafungsaktionen den Kampf für einen unabhängigen Staat "Tamil Eelam" in Gemeinschaft der Heimat unterstützen zu können. Die Organisation versucht durch ein breit gefächertes Netz von Nebenund Tarnorganisationen sowie Sportvereinen und tamilischen Schulen auf die im Bundesgebiet lebenden Tamilen Einfluss zu nehmen, um sie dadurch eng an die "Tamil Tigers" zu binden. Darüber hinaus intensivierten LTTE-Kader die bestehenden persönlichen Kontakte zu ihren Landsleuten und warben um Verständnis für den außergewöhnlich hohen Finanzbedarf der Organisation. Die Aktionsschwerpunkte in Baden-Württemberg konzentrieren sich vor allem auf die Räume Bad Friedrichshall, Heilbronn und Stuttgart. 219 Der bewaffnete Kampf auf Sri Lanka hat im Jahr 2008 Tausende von Toten und Verletzten gefordert. Seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 1983 wurden annähernd 75.000 Menschen getötet, mehr als 300.000 befinden sich auf der Flucht. 220 Siehe Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 110ff. 221 Die LTTE unterhalten Vertretungen in circa 40 Ländern der Erde, unter anderem Australien, Kanada, Italien, Frankreich, Großbritannien, Schweiz und Deutschland, die untereinander in engem Kontakt stehen. 119 Angesichts der drastisch gestiegenen Kriegskosten für den Kampf auf Sri Lanka, aber auch zur Finanzierung von Maßnahmen humanitären Charakters wie Flüchtlingshilfe war die LTTE-Führung verstärkt auf Spenden der im Ausland lebenden Landsleute angewiesen. Die streng nach hierarchischen Prinzipien gegliederte deutsche Sektion leistete im Jahr 2008 ihren finanziellen Beitrag, indem sie von allen hier lebenden Tamilen monatlich festgelegte Spenden erhob und darüber hinaus anlassbezogene Spendengeldaktionen durchführte. Die Geldsammlungen selbst fanden ohne jegliche Gewaltanwendung statt. In Baden-Württemberg befolgten die Spendensammler somit strikt die von der LTTE-Zentrale auf Sri Lanka ausgegebene Weisung des Gewaltverzichts. Durch öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen und bundesweite Demonstrationen versuchte die Organisation auf die ihrer Meinung nach unhaltbaren Zustände auf Sri Lanka aufmerksam zu machen. So folgten beispielsweise rund 6.000 Exil-Tamilen einem Aufruf des "Tamil Coordinating Committee" (TCC)222, sich am 28. Juni 2008 in Düsseldorf an einer Demonstration für das Selbstbestimmungsrecht der Tamilen zu beteiligen. In Baden-Württemberg agierende LTTE-Funktionäre mobilisierten hierzu mehrere Hundert Personen, darunter zahlreiche LTTE-Sympathisanten. Zu Beginn der friedlich verlaufenen Kundgebung verteilten Helfer zahlreiche Plakate in tamilischer, englischer und deutscher Sprache, unter anderem mit dem Konterfei des LTTE-Führers Vellupillai PRABHAKARAN. Die Demonstranten skandierten Parolen wie "National Leader of Tamil Eelam", "Unser Land Tamil Eelam" und "LTTE ist die einzig wahre Vertretung der tamilischen Bevölkerung". Eine weitere Protestkundgebung gab es am 10. Oktober 2008 in Berlin. An dieser, ebenfalls vom TCC gesteuerten Demonstration beteiligten sich annähernd 3.000 Personen, darunter etwa 200 aus Baden-Württemberg. Als Abfahrtsorte konnten Mannheim, Heilbronn und Stuttgart lokalisiert werden. Mehrere Teilnehmer trugen Plakate mit Aufschriften wie "Stoppt die Bombardierung tamilischer Flüchtlingslager", "Stoppt die Luftangriffe", 222 Mutmaßlich LTTE-nahe Zentrale in Deutschland. 120 "Wir müssen unseren Leuten helfen", "Stoppt den Genozid am tamilischen Volk" und "Die Regierung von Sri Lanka bringt die Tamilen um". Infolge der Aufnahme der LTTE in die Liste terroristischer Organisationen der Europäischen Union im Jahr 2006 konnte in Baden-Württemberg eine veränderte Arbeitsweise der aktiven Führungsfunktionäre festgestellt werden. Die Kader verhielten sich zunehmend konspirativ. Öffentliche Verankonspiratives staltungen wie beispielsweise "Märtyrer"-Gedenkveranstaltungen durch Verhalten LTTE-nahe tamilische Vereine wurden erheblich eingeschränkt. Im Jahr 2008 wurden lediglich zwei Kulturveranstaltungen am 10. Mai in Kirch - heim-Ötlingen und am 19. Juli in Stuttgart-Zuffenhausen bekannt. Anfang November 2008 verfügte die LTTE-Zentrale zumindest für Deutschland ein absolutes Verbot von Musikund Kulturveranstaltungen. Ausnahme war der traditionelle "Heldengedenktag" am 27. November 2008 in Dortmund. Anlass für diese Maßnahme waren die katastrophale humanitäre Situation (Flüchtlingselend, hohe Opferzahlen in der tamilischen Zivilbevölkerung) und Verluste in den eigenen Reihen der LTTE im Heimatland, für welche die sri-lankische Armee verantwortlich gemacht wurde. 7. Iranische Gruppe: Die "Volksmodjahedin" Die "Volksmodjahedin" unter den Bezeichnungen "Mujahedin-e Khalq Organisation" (MEK oder MKO) und "People's Mujahidin of Iran" (PMOI) gelten auch nach dem aktualisierten Beschluss des Rates der Europäischen Union (EU) vom 15. Juli 2008 als terroristische Organisationen. Großbritannien hatte die PMOI im Juni 2008 formell von der nationalen Liste gestrichen. Ebenfalls gelistet sind die "National Liberation Army of Iran" (NLA), der militante Flügel der MEK, und die "Muslim Iranian Student's Society" (Islamisch-Iranischer Studentenverband). Der "Nationale Wider - standsrat Iran" (NWRI) hingegen wird nicht als Terrororganisation aufgeführt. Diese Gruppierung ist als scheinbar parteiübergreifende demokratische Sammlungsbewegung 1981 in Paris gegründet worden und international tätig. Offiziell sind die "Volksmodjahedin" in Deutschland nicht vertreten. Sie werden seit 1994 durch den NWRI repräsentiert. In Baden-Württemberg unterstützen etwa 70 Aktivisten (Bund: circa 900) und zahlreiche Sympathisanten unter anderem aus Freiburg im Breisgau, Heidelberg und Karls - ruhe die Organisation. 121 olitische Zu den wichtigsten Aktivitäten des NWRI in der Bundesrepublik zählen gitation die Geldbeschaffung und die politische Agitation. Auch 2008 führten mutmaßlich der Organisation nahe stehende Vereine in zahlreichen Städten Spendensammlungen durch. Oftmals werden humanitäre Zwecke als Grund für die Aktion angeführt. In Wirklichkeit dürften diese Gelder aber in die umfangreiche politische Arbeit der Organisation fließen. In europaweiten Veranstaltungen richteten sich die Aktivitäten des NWRI meist gegen das iranische "Mullah-Regime", sein Atomwaffenprogramm und die Menschenrechtsverletzungen in Iran. Großes Engagement zeigte der NWRI zudem bei der Forderung, die "Volksmodjahedin" von der EU-Terrorliste zu streichen. Durch gezielte Lobbyarbeit versuchte die Organisation bei zahlreichen Politikern und Parlamentariern politische Unterstützung für ihr Ziel zu erhalten. Aktivisten des NWRI gelang es erneut, für Demonstrationen mehrere Taunstaltungen send Sympathisanten zu mobilisieren. Öffentlichkeitswirksam trat der NWRI im Jahr 2008 vor allem mit folgenden Großkundgebungen in Erscheinung: Am 28. Juni 2008 trafen sich mehrere Tausend Sympathisanten in Paris-Ville Pinte/Frankreich anlässlich des fünften Jahrestags der polizeilichen Durchsuchung der NWRI/MEK-Europazentrale und der Festnahme von Maryam RADJAVI am 17. Juni 2003. Grund der damaligen Durchsuchung war der Verdacht, dass die Organisationsmitglieder Anschläge auf iranische Botschaften in Europa planten. Bei Protestkundgebungen gegen die Durchsuchung und Inhaftierung gingen einige Anhänger und Mitglieder so weit, dass sie sich öffentlich selbst verbrannten. Seit diesen Vorfällen im Sommer 2003 wird der damaligen Opfer am Jahrestag gedacht. Anhänger der Gruppierung demonstrierten am 20. August 2008 vor dem Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Genf sowie vor den Büros des Internationalen Roten Kreuzes in Washington und London anlässlich der befürchteten Ausweisung von Angehörigen der MEK aus dem Irak. Organisationseigenen Angaben zufolge nahmen an der friedlichen Veranstaltung in Genf mehrere Hundert Personen teil, darunter auch zahlreiche NWRI-Anhänger aus Deutschland. Hintergrund dieser Aktion waren Befürchtungen um die Zukunft der NLA-Angehörigen in dem vom amerikanischen Militär kontrollierten "Lager Ashraf" im Irak nach dessen möglicher Auflösung. Auch Ende 2008 befanden 122 sich noch mehrere Tausend Angehörige der NLA in diesem Lager, die einerseits als Angehörige einer Terrororganisation bezeichnet, andererseits von den USA in Folge des Einmarsches in den Irak als "geschützte Personen" nach der Genfer Konvention eingestuft wurden. Insbesondere bei einer möglichen Übertragung der vollen Zuständigkeit auf irakische Behörden ist die Zukunft dieser Lagerinsassen ungewiss. 123 D. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen Ein differenzierter Blick auf die ideologisch und organisatorisch traditionell zersplitterte rechtsextremistische Szene in der Bundesrepublik Deutschland und in Baden-Württemberg offenbart, dass von einer einheitlichen Entwicklung des deutschen Rechtsextremismus im Jahr 2008 nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist von verschiedenen, teils sogar gegenläufigen Entwicklungen zu sprechen. Das wird schon deutlich, wenn man drei wichtige Teilsegmente der Szene - die rechtsextremistischen Parteien, die rechtsextremistische Skinheadszene und die Neonaziszene - auch nur oberflächlich vergleichend nebeneinander hält: So konnte sich die "Nationaldemokrati - sche Partei Deutschlands" (NPD) in den letzten Jahren zu einer der bedeutendsten, wenn nicht zu der bedeutendsten rechtsextremistischen Kernorganisation in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln. Die "Deutsche Volksunion" (DVU) hingegen, die seit ihrer Gründung als politische Partei im Jahr 1987 immerhin die erfolgreichste rechtsextremistische Wahlpartei ist und noch in den 90er-Jahren schon aufgrund ihrer damals relativ hohen Mitgliederzahl ein zumindest quantitativ bedeutender Faktor innerhalb des deutschen Rechtsextremismus war, machte innerhalb der letzten anderthalb Jahrzehnte einen drastischen personellen Niedergang durch, dessen Ende momentan nicht absehbar ist. Im Jahr 2008 haben sich die Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene verdichtet. Der personelle Schrumpfungsprozess in der als jugendliche Subkultur einzustufenden rechtsextremistischen Skinheadszene ist umso bemerkenswerter, als andere Erscheinungsformen des Rechtsexraktivität tremismus nach wie vor eine fatale Attraktivität auf manche Jugendliche manche ausstrahlen. Dies ist allein schon daran zu sehen, dass der baden-württemendliche bergische Landesverband der "Jungen Nationaldemokraten" (JN)223, der NPD-Jugendorganisation, seine Mitgliederzahl seit 2005 mehr als verdoppeln konnte. Außerdem ist in den letzten Jahren mit den neonazistischen "Autonomen Nationalisten" (AN) eine neue, jugendlich geprägte Erscheinungsform des deutschen Rechtsextremismus in Bund und Land überhaupt erst entstanden. Nicht nur aufgrund dieses Auftauchens der AN zählt die Neonaziszene bereits seit 2002 trotz ihres immer noch relativ geringen Personenpotenzials zu den wenigen noch verbliebenen Teilsegmenten des deutschen Rechtsextremismus, die personelle Zuwächse zu verzeichnen haben. 223 Siehe zu den JN detailliert S. 182ff. 124 Nicht zuletzt anhand der im Herbst 2008 eskalierenden internationalen Finanzkrise kann einmal mehr veranschaulicht werden, wie sehr Rechtsextremisten in den letzten Jahren darum bemüht sind, aktuelle, auch gesamtgesellschaftlich relevante und lebhaft diskutierte Themen in ihrer Propaganda verstärkt aufzugreifen, dadurch thematisch zu besetzen und mit ihren althergebrachten Vorstellungen und Forderungen zu verbinden. So widmete die neonazistische, in Baden-Württemberg erscheinende Zeitschrift "Volk in Bewegung & Der Reichsbote" (ViB)224 weite Teile einer ihrer Ausgaben des Jahres 2008 der Finanzkrise. Einer der darin enthaltenen Beiträge erklärte die vermeintliche "Kriminalisierung und Tabuisierung" der NS-Diktatur nicht nur zu einer der Ursachen der jetzigen Krise, sondern empfahl die Nachahmung nationalsozialistischer Wirtschaftskonzepte auch als vermeintlichen Weg aus derselben: "Während Roosevelts 'New Deal' scheiterte und die USA (wie so oft) den Ausweg in einem Krieg suchten, war die nationale Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches, selbst unter schwierigsten Bedingungen, außerordentlich erfolgreich. Es ist daher hoch an der Zeit, offen und unvoreingenommen zu fragen, was das deutsche Wirtschaftswunder der Dreißiger Jahre ermöglicht hat. Wer ernsthaft nach Alternativen zur Globalisierung sucht, wird an den Lösungen von damals schwer vorbeikommen. Die Kriminalisierung und Tabuisierung einer Zeit, die eine Weltwirtschaftskrise meisterte, wird zwangsläufig in der aktuellen Weltwirtschaftskrise enden." 225 Auch im Jahr 2008 setzte sich der Weg der Partei "Die Republikaner" (REP) in die Bedeutungslosigkeit weiter fort. Mittlerweile ist aufgrund der fortschreitenden Marginalisierung der Partei der Anteil der Rechtsextremisten innerhalb der Organisation sowie die daraus resultierende Anzahl der tatsächlichen Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen kaum noch quantifizierbar. 224 Siehe zu ViB S. 162. 225 ViB Nr. 5-2008, Artikel "Gedanken zu einer neuen Wirtschaftsordnung - Alternativen zur Globalisierung?", S. 14-18, Zitat: S. 18. 125 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale Auch im Jahr 2008 ging das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial in Baden-Württemberg wie im Bund weiter zurück. Damit setzt sich ein seit Mitte der 90er-Jahre fast bruchlos zu beobachtender Trend fort. Seit 1993 hat sich durch diese Entwicklung die Zahl der Rechtsextremisten im Bund wie auch in Baden-Württemberg um gut die Hälfte verringert. Dieser personelle Schrumpfungsprozess betraf im Jahr 2008 fast alle Teilsegmente des deutschen beziehungsweise baden-württembergischen Rechtsextremismus. So verlor die rechtsextremistische Skinheadszene in Baden-Württemberg wie schon in den Jahren 2006 und 2007 Anhänger. Und auch auf Bundesebene ging die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die rechtsextremistischen Skinheads einen wesentlichen Teil ausmachen, wie schon 2007 zurück. Der seit Jahren andauernde personelle Erosionsprozess der DVU setzte sich im Jahr 2008 ungebremst fort. Selbst die NPD, die in den letzten Jahren bis einschließlich 2007 noch steigende Mitgliederzahlen verbucht hatte, hatte im vergangenen Jahr auf Bundesebene personelle Einbußen zu verkraften, während jedoch ihr baden-württembergischer Landeshtsextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg eitraum 2006 - 2008 126 verband noch einmal leicht zulegte. Lediglich die Neonaziszene konnte auch 2008 wie bereits seit Jahren im Bund und im Land Zuwächse verzeichnen. Trotz des auch im Jahr 2008 noch gültigen und von beiden Partnern eingehaltenen "Deutschland-Paktes" vom 15. Januar 2005 zwischen NPD und DVU, der sie vor gegenseitiger Konkurrenzkandidaturen bei Wahlen bis einschließlich 2009 bewahren soll, konnten beide Parteien bei den vier Landtagswahlen des Jahres keine Erfolge feiern: Am besten schnitt noch die Wahlniederlagen NPD mit gerade einmal 1,5 Prozent bei der Wahl zum niedersächsischen Landtag am 27. Januar 2008 ab, während sie am selben Tag in Hessen nur 0,9 Prozent erreichte. Ihr Landtagswahlergebnis in Bayern am 28. September 2008 lag mit 1,2 Prozent ebenfalls im niedrigen Bereich. Mit 0,8 Prozent bei der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft am 24. Februar 2008 lag die DVU bei der einzigen Wahl, zu der sie im vergangenen Jahr antrat, sogar noch unter den Ergebnissen der NPD. Damit offenbarte das Wahljahr 2008 einmal mehr, dass NPD und DVU momentan offenbar ungleich schlechtere Voraussetzungen und Aussichten haben, in einen westdeutschen Landtag einzuziehen als in einen ostdeutschen, wo die beiden Parteien bereits seit Jahren in insgesamt drei Landesparlamenten (DVU in Brandenburg; NPD in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen) vertreten sind. 1.2 Strafund Gewalttaten Die positive, da rückläufige Entwicklung, die die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Strafwie auch der darin enthaltenen Gewalttaten in Baden-Württemberg 2007 erstmals seit 2003 beziehungsweise 2002 genommen hatte, fand 2008 nur zum Teil eine Fortsetzung. Zwar ging die Zahl der Rückgang bei rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten noch einmal deutlich von 78 Gewalttaten (2007) auf 56 zurück und fiel damit auf den Wert des Jahres 2003. Diese Entwicklung dürfte 2008 wie schon 2007 unter anderem darauf zurückzuführen gewesen sein, dass aufgrund der in diesen beiden Jahren drastisch rückläufigen rechtsextremistischen Demonstrationstätigkeit die Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten ebenfalls abnahmen.226 Gleichzeitig jedoch erhöhte sich die Anzahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten insgesamt von 1.062 (2007) auf 1.209 (2008) und näherte sich damit dem Höchstwert der letzten Jahre (2006: 1.282) wieder an. 226 Vergleiche dazu S. 151ff. 127 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts sowie rechtsextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2008 1.3 Ideologie Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ist in sich ideologisch zersplittert. Dennoch gibt es diverse Ideologiebestandteile, die bereits seit vielen Jahrzehnten (teils seit dem 19. Jahrhundert) im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielen und bis heute für viele oder gar für die meisten Rechtsextremisten im Grundsatz konsensfähig sind. Dabei haben einzelne dieser Bestandteile aufgrund wechselnder historisch-politischer Rahmenbedingungen an Bedeutung innerhalb des ideologischen Gesamtgefüges verloren, wie zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antikommunismus seit der historischen Zäsur von 1989, andere gewonnen, beispielsweise die rechtsextremistische Variante des Antiamerikanismus: Die Ideologie der Ungleichheit, insbesondere der rechtsextremistische Nationalismus, Sozialdarwinismus227 und Rassismus. Der Rassismus erhält eine erhöhte Brisanz, wenn er zur Begründung des im rechtsextremistischen Lager allgegenwärtigen Antisemitismus herangezogen wird (Rassenantisemitismus). 227 Sozialwissenschaftliche Theorie, die Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften überträgt. 128 Die Ideologie der Volksgemeinschaft, die auch als Völkischer Kol - lektivismus bezeichnet wird. Rechtsextremistische Fremdenund Ausländerfeindlichkeit haben nicht zuletzt in diesem rassistischnationalistischen Konzept ihren Ursprung. Autoritarismus. Konkrete Ausformungen des rechtsextremistischen Autoritarismus sind Militarismus und Antiliberalismus228, aber auch ein auf das "Führerprinzip" reduziertes Staatsund Politikverständnis, das wiederum Demokratiefeindschaft und Antiparlamenta - rismus beinhaltet. Revisionismus. Von Geschichtsrevisionismus spricht man, wenn Rechtsextremisten die NS-Verbrechen - besonders den Holocaust und die nationalsozialistische Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs - verschweigen, rechtfertigen, verharmlosen, durch Aufrechnung mit vermeintlichen und tatsächlichen Verbrechen anderer Nationen und politischer Systeme relativieren oder sogar leugnen. Von Gebietsrevisionismus ist die Rede, wenn Rechtsextremisten die Anerkennung der deutschen Gebietsverluste, wie sie sich aus den beiden Weltkriegen ergeben haben, verweigern oder noch weitere Gebiete entgegen den vertraglichen Verpflichtungen, die Deutschland seit 1918 beziehungsweise 1945 eingegangen ist, für Deutschland beanspruchen. Der rechtsextremistische Antimodernismus äußert sich in deutlich ablehnenden Reaktionen auf geistige, wissenschaftlich-technische, ökonomische, soziale und kulturelle Modernisierungsschübe und in der Verklärung vergangener Zeiten. 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Zahl der in Baden-Württemberg verübten rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ging im Jahr 2008 wie auch schon 2007 zurück, und zwar von 78 (2007) auf 56. Damit ist der zuvor jahrelang anhaltende Anstieg in diesem Bereich (2002: 51; 2003: 56; 2004: 67; 2005: 71; 2006: 99) in einen 228 Ablehnung einer Staatsund Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gewährt werden soll. 129 deutlichen Rückgang umgeschlagen, auch wenn die für das Jahr 2008 verzeichnete Anzahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten im Land noch immer auf dem Niveau von 2003 liegt. Die Entwicklung der Jahre 2007 und 2008 dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass aufgrund der in diesen beiden Jahren drastisch rückläufigen rechtsextremistischen Demonstrationstätigkeit die Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten ebenfalls abnahmen.229 Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit sind heutzutage im deutschen Rechtsextremismus zwar in der Regel fast ausschließlich auf die Skinheadszene und Teile der Neonaziszene begrenzt. Doch greift zur Erklärung der Gewalt rechtsextremistisch motivierter Gewalt eine allzu einseitige Fokussierung auf gewaltbereite Skinheads und Neonazis zu kurz. Grundsätzlich bleibt dreierlei festzuhalten: 1. Auch diejenigen Rechtsextremisten, die nicht dem gewaltbereiten Spektrum zuzurechnen sind, dürfen in diesem Zusammenhang nicht aus der Verantwortung entlassen werden, sind doch aus ihren Reihen immer wieder Bejahung oder mangelnde Distanzierung von Gewalt beziehungsweise von Gewalttätern zu registrieren. 2. Rechtsextremistische Gewaltbejahung, -bereitschaft und -tätigkeit stellen historische Konstanten dar. Sie sind nicht nur in der bundesdeutschen Gegenwart zu beklagen, sondern auch in der Geschichte des deutschen Rechtsextremismus bis ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Dimensionen nachweisbar. Mit den NS-Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 erfuhren sie ihre extremste Ausprägung. 3. Die Ursachen und Anlässe für rechtsextremistisch motivierte Gewalt mögen im jeweils konkreten Fall vielfältig und komplex sein. Doch ist eine erhebliche Nähe zur Gewalt schon in den ideologischen Traditionsbeständen des Rechtsextremismus angelegt. Zu dieser traditionellen ideologischen Gewaltaffinität treten heutzutage weitere, der aktuellen rechtsextremistischen Szene immanente Faktoren hinzu, die aus Sicht des Verfassungsschutzes zur Entstehung rechtsextremistisch motivierter Gewalt beitragen. Dazu zählen besonders die - teils unpolitischen - gewaltbegünstigenden Eigenschaften der rechtsextremistischen Skinheadszene. 229 Vergleiche dazu S. 151ff. 130 Rechtsextremistisch motivierte Gewalt kommt demnach nicht von ungefähr, war und ist keine von Zufälligkeiten abhängende Ausnahmeerscheinung, sondern eine dem Rechtsextremismus zumindest im Grundsatz innewohnende Konsequenz. 2.2 Die Skinhead(musik)szene in der Krise Schon im baden-württembergischen Verfassungsschutzbericht 2007 (S. 123) wurde die Frage aufgeworfen, ob bereits die damaligen Entwicklungen auf den Beginn einer Krise, vielleicht eines schleichenden Marginalisierungsoder gar Auflösungsprozesses der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene230 hindeuteten. Im Jahr 2008 haben sich diese Hinweise verdichtet. Dieser Einschätzung liegen verschiedene Faktoren zugrunde, die in jüngster Zeit verstärkt auf die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene einwirken: Schrumpfung der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene Im Jahr 2008 wiesen fast alle relevanten Indikatoren, an denen man noch im Jahr 2005 den bis in die frühen 90er-Jahre zurückreichenden Boom der rechtsextremistischen Skinheadszene im Allgemeinen und der dazugehörigen Musikszene im Besonderen hatte ablesen können, deutlich rückläufige Tendenzen auf. So ging die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads in Baden-Württemberg 2008 zum dritten Mal in Folge zurück. Ihre Zahl beträgt jetzt noch rund 700231 (2007: circa 800; 2006: circa 840; 2005: circa 1.040) und liegt damit wieder auf dem Niveau von 1998. Da die rechtsextremistischen Skinheads nach wie vor den Löwenanteil der gewaltbereiten Rechtsextremisten insgesamt stellen, reduzierte sich auch wieder deren Anzahl (2008: circa 740; 2007: circa 850; 2006: circa 900; 2005: circa 1.080). Und auch auf Bundesebene ging die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die rechtsextremistischen Skinheads einen wesentlichen Teil ausmachen, im Jahr 2008 weiter zurück, und zwar von circa 10.000 (2007, 2006 und 2005: circa 10.400) auf circa 9.500. Der personelle 230 Nicht alle Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. Neben rechtsextremistischen existieren auch linksorientierte, linksextremistische, aber auch unbis antipolitische Skinheads. 231 Der Anteil der weiblichen Skinheads, der so genannten Renees, lag 2008 bei knapp 20 Prozent und damit geringfügig über dem Wert der Vorjahre (2003-2007: 19 Prozent). Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Wert nur kapp über dem Frauenanteil an der rechtsextremistischen Gesamtszene Baden-Württembergs liegt, der laut einer statistischen Erhebung des baden-württembergischen Landesamts für Verfassungsschutz bei knapp 19 Prozent (Stand: September 2008) liegt. Demzufolge kann zumindest für das Jahr 2008 gemessen am Frauenanteil an der rechtsextremistischen Gesamtszene in Baden-Württemberg nicht von einer überdurchschnittlichen Unterrepräsentanz von Frauen in der rechtsextremistischen Skinheadszene gesprochen werden. 131 Schrumpfungsprozess in der als jugendliche Subkultur einzustufenden rechtsextremistischen Skinheadszene ist umso bemerkenswerter, als andere Erscheinungsformen des Rechtsextremismus nach wie vor eine fatale Attraktivität auf manche Jugendliche ausstrahlen. Dies wird allein schon dadurch unter Beweis gestellt, dass der baden-württembergische Landesverband der JN seine Mitgliederzahl seit 2005 mehr als verdoppeln konnte und außerdem mit den neonazistischen "Autonomen Nationalisten" (AN) eine neue, jugendlich geprägte Erscheinungsform des deutschen Rechtsextremismus überhaupt erst in den letzten Jahren im Bund und im Land aufgetreten ist. In welchem Ausmaß auch eine Fluktuation aus der rechtsextremistischen Skinheadszene in die JN oder AN für die personellen Rückgänge bei den Skinheads verantwortlich ist, kann nicht eindeutig quantifiziert werden. Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in BadenWürttemberg nach Wohnund Veranstaltungsorten/Szeneaktivitäten Stand: 31.12.2008 Grafik: LfV BW 132 Auch andere Indikatoren, die über die Entwicklungen der rechtsextremistischen Skinheadszene und insbesondere der dazugehörigen Musikszene in Baden-Württemberg Aufschluss geben, wiesen im Jahr 2008 nach unten. So ging die Zahl der in Baden-Württemberg beheimateten rechtsextremistischen Skinheadbands von 17 (2007) auf 14 zurück. Im Bund hingegen blieb die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadbands mit 146 im Vergleich zu 2007 exakt konstant. Noch etwas deutlicher sank die Anzahl der im Land weniger Skinveranstalteten rechtsextremistischen Skinheadkonzerte, nämlich von 13 headkonzerte (2007) auf neun, womit nur noch gut ein Drittel des bisherigen Höchstwertes aus dem Jahr 2005 (26 Konzerte; 2006: 14) erreicht wurde. Gleichzeitig sank die durchschnittliche Konzertbesucherzahl leicht ab, und zwar von rund 150 Personen (2007) auf circa 140 (2008). Auch im Bund nahm die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadkonzerte weiter ab, und zwar von 138 (2007; 2006: 163) auf 127 (2008). Allerdings blieb die durchschnittliche Konzertbesucherzahl hier im Vergleich zu 2007 mit circa 150 Personen konstant. Bei den von baden-württembergischen Skinheadbands (mit)produzierten CDs zeigte sich im Jahr 2008 - ähnlich wie schon 2007 - ein ambivalentes Bild: Während die Anzahl der von jeweils einer Band aus dem Land veröffentlichten CDs von fünf (2007, 2006: acht) auf sechs wieder etwas zunahm, ging diejenige der CDSampler, zu denen neben baden-württembergischen auch andere Skinheadbands Titel beisteuerten, von sechs (2007, 2006: zwei) wieder auf zwei zurück. Rechtsextremistische so genannte Schulhof-CDs spielten im Jahr 2008 - zumindest in Baden-Württemberg - keine bedeutende Rolle mehr. Mit den unter anderem von rechtsextremistischen Parteien auch als Wahlkampfmedium eingesetzten CDs versuchen Rechtsextremisten vor allem Jugendliche für den Rechtsextremismus zu interessieren und zu rekrutieren. Nicht zuletzt deshalb sind die CDs unter anderem mit Titeln rechtsextremistischer Skinheadbands bestückt.232 232 Siehe ausführlich zur Rolle von "Schulhof-CDs": Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2006, S.140-145. 133 Übersicht über rechtsextremistische Skinheadbands und Vertriebe in Baden-Württemberg Stand: 31.12.2008 Grafik: LfV BW Vertriebe Skinheadbands 134 Skinheadkonzerte in Baden-Württemberg 2008 Stand: 31.12.2008 Grafik: LfV BW Wandlungen im äußeren Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Skinheadszene In der öffentlich-medialen Wahrnehmung wird die rechtsextremistische Skinheadszene - und mit ihr nach der unzutreffenden Gleichung "Rechtsextremist = Skinhead" zuweilen die gesamte rechtsextremistische Szene - mit einem stereotypen, uniformen äußeren Erscheinungsbild assoziiert. In der Tat sind bis in die Gegenwart in weiten Teilen der rechtsextremistischen Skinheadszene typische Erkennungsmerkmale wie Kahlkopf, Springerstiefel und Bomberjacke anzutreffen. Doch ist in anderen Teilen der Szene seit relativ kurzer Zeit die Tendenz zu beobachten, sich von diesen szenetypischen Accessoires zu lösen. Stattdessen werden bei anderen jugendlichen Subkulturen Anleihen aufgenommen und längeren Haaren, modischer 135 Kleidung und Turnschuhen der Vorzug gegeben, auch wenn häufig an der Selbstbezeichnung "Skinhead" festgehalten wird. Je nachdem aber, welcher Stellenwert diesen Äußerlichkeiten bei der Definition einer jugendlichen Subkultur eingeräumt wird, hat dieser Trend möglicherweise Folgen für die rechtsextremistische Skinheadszene. Denn wenn man dem äußeren Erscheinungsbild einen hohen Stellenwert beimisst, stellt sich in der Konsequenz die Frage, ob es sich bei einem "Skinhead" mit langen Haaren und von der bisherigen Norm abweichendem Outfit überhaupt noch um einen Skinhead handelt oder um einen jungen Rechtsextremisten, den man zwar noch an seinen ideologischen Überzeugungen, nicht mehr aber ohne weiteres an seinem Äußeren als solchen erkennen kann.233 Zumindest ist doch nicht auszuschließen, dass mit der Abkehr vom bisher typischen Skinhead-Äußeren in vielen Fällen bereits der erste Schritt zur Abkehr von der rechtsextremistischen Skinheadszene - wenn auch nicht zwangsläufig vom Rechtsextremismus insgesamt - vollzogen ist. Vorbehalte und Kritik an der rechtsextremistischen Skinheadszene von Seiten anderer Rechtsextremisten Das Bild vom "klassischen" rechtsextremistischen Skinhead mit Glatze, Springerstiefeln und Bomberjacke bestimmt - ebenso wie das Bild vom streng gescheitelten Neonazi - bereits seit vielen Jahren in den gesamtgesellschaftlichen Debatten in der Bundesrepublik zum Thema "Rechtsextremismus" immer wieder die Wahrnehmung des Rechtsextremismus insgesamt. Unabhängig davon, dass diese verbreitete Reduktion auf Skinheads und Neonazis beziehungsweise auf deren Symbole und Äußerlichkeiten der komplexen Vielgestaltigkeit des deutschen Rechtsextremismus nicht gerecht wird und schon in der Vergangenheit nie gerecht wurde, hat sie dazu beigetragen, die bundesdeutsche Gesellschaft gegen rechtsextremistische Skinheads und Neonazis sowie gegen deren besonders primitive, gewaltbejahende rechtsextremistische Gesinnung konsequent zu sensibilisieren und zu immunisieren. Im Ergebnis sind gerade rechtsextremistische Skinheads und Neonazis in der Bundesrepublik gesamtgesellschaftlich besonders isoliert. Zu der breiten gesellschaftlichen Ächtung gesellt sich für die rechtsextremistische Skinheadszene in der Bundesrepublik besonders in den letzten Jahren Kritik auch aus den Reihen der rechtsextremistischen Gesamtszene: 233 Siehe zum Wandel in der rechtsextremistischen Skinheadszene auch: Menhorn, Christian: Skinheads - eine aussterbende Subkultur? Eine Jugendbewegung im Wandel der Zeit, in: Pfahl-Traughber, Armin; Monika Rose-Stahl (Hrsg.): Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz und für Andreas Hübsch, Brühl/Rheinland 2007, S. 284-303. 136 Manche Rechtsextremisten hegen nämlich trotz gleichzeitiger Bemühungen Vorbehalte um einen Schulterschluss mit der rechtsextremistischen Skinheadszene - anderer Rechtsbesonders von Seiten der NPD - Vorbehalte gegenüber den Umworbenen. extremisten Zum einen sind die britischen und damit nichtdeutschen Ursprünge dieser Subkultur sowie die in ihr bis heute verbreiteten Anglizismen diesen Rechtsextremisten immer noch als "undeutsch" suspekt. Zudem fürchten speziell Vertreter der NPD, dass das subkulturell-martialische Erscheinungsbild von Skinheads negative Auswirkungen auf das eigene Bild in Öffentlichkeit und Medien und damit auf das Parteiimage haben könnte. Weil die NPD jedoch seit Jahren bestrebt ist, in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorzudringen, versuchen zumindest ihre Vordenker, jedes äußerliche "Bürgerschreck-Image" zu vermeiden. Es hat zuweilen den Anschein, dass die Partei die Skinheads nicht als solche, sondern als mit konventionelleren Ordnungsund Ästhetikvorstellungen halbwegs kompatible junge Rechtsextremisten für sich gewinnen will. Daraus resultierender Druck unter anderem von Seiten der NPD mag zum oben beschriebenen Wandel im äußeren Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Szene beitragen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind Stimmen aus den Reihen der NPD, aber auch von anderen Rechtsextremisten einzuordnen, die sich sehr kritisch mit der rechtsextremistischen Skinheadszene auseinandersetzen. Diese Vorbehalte spiegeln sich zum Beispiel in einem Bericht der "Deutschen Stimme" (DS), der NPDParteizeitung, über eine rechtsextremistische öffentliche Gedenkveranstaltung wider, an der nach DS-Angaben am 25. Mai 2008 in Düsseldorf rund 30 Personen teilgenommen hatten. In der DS wird mindestens indirekt Genugtuung darüber geäußert, dass es unter den Veranstaltungsteilnehmern "zum Leidwesen der Fotospäher nur ganz wenige 'Glatzen'" gegeben habe, "die man dazu benutzen kann, das Gedenken als Skinhead-Treffen herabzuwürdigen. Die werden dann wie im Tierfilm aus taktloser Nähe auf Film gebannt, so als handele es sich bei den 'Rechten' nur um seelenlose Exemplare der Gattung Mensch, denen mit den Haaren auch der Verstand abhanden gekommen sei." 234 234 DS Nr. 07/08 vom Juli 2008, Artikel "Schlageter oder die Freiheit in Deutschland - 700 Polizisten schützen Gedenkveranstaltung gegen 400 linke 'Gegendemonstranten'", S. 27. 137 Dass derartige Äußerungen offenbar keine Einzelfälle sind, wird auch aus Reaktionen der rechtsextremistischen Skinheadszene darauf ersichtlich. So heißt es in dem Lied "Danke schön", das die Band "Jagdstaffel" aus dem Großraum Stuttgart 2008 auf ihrer CD "Gesetze der Straße" veröffentlichte: "(...) So mancher Szeneguru auch nur über uns hetzt. Ja, wir, wir wären Scheiße und wir wär'n der letzte Dreck. Ja, wir, wir wären Assis und wir saufen Tag für Tag. Doch leiste erstmal mehr, mein kleiner Kamerad! (...)" 235 Dem auf dieser CD sich direkt anschließenden Lied "Seit vielen Jahren" ist zu entnehmen: "(...) Heut' nennen dich kleine Pisser Opa und Krake, in breiten Hosen und geligen Haaren. Sie sagen, deine Zeit wäre längst vorbei, national ja, aber Skinhead nein. (...)" 236 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? Mangelnde Intellektualität, ein verbreitetes Desinteresse an ideologischpolitischen Fragen, Oberflächlichkeit, Widersprüchlichkeit und Unreflektiertheit entsprechender "Überzeugungen", primitiv-proletenhaftes Auftreten (zum Beispiel verbunden mit exzessivem Alkoholgenuss), Disziplinlosigkeit, Unfähigkeit und mangelnder Wille zu konkreter Organisierung (zum Beispiel in rechtsextremistischen Parteien und Vereinen), der hohe identitätsstiftende und nicht zuletzt freizeitorientierte Stellenwert von szeneeigener Musik und Konzerten sind zentrale Charakteristika der rechtsextremistischen Skinheadszene. 235 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. Die Liedtextversion, die dem CD-Booklet zu entnehmen ist, unterscheidet sich von der gesungenen Version nur geringfügig. 236 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. Die Liedtextversion, die dem CD-Booklet zu entnehmen ist, unterscheidet sich von der gesungenen Version vor allem darin, dass die letzten vier, mehr im Chor gerufenen denn gesungenen Zeilen im Booklet nicht verzeichnet sind. 138 Dieses Erscheinungsbild verleitet Teile der Öffentlichkeit bis heute zu der Einschätzung, dass es sich bei rechtsextremistischen Skinheads nicht um ernstzunehmende Rechtsextremisten handle, da sie nicht fähig oder willens seien, eine vermeintlich komplexe Ideologie wie den Rechtsextremismus zu verstehen, zu verinnerlichen und zur Richtschnur ihres täglichen Handelns zu machen. Ein solcher Einwand unterstellt, dass ein bestimmtes Mindestmaß an Intellektualität nötig sei, um eine extremistische Ideologie zu begreifen und zu vertreten. Gerade das Gegenteil ist jedoch häufig der Fall: Denn extremistische Ideologien reduzieren die komplexen Realitäten des modernen Lebens auf wenige ideologische Leitsätze, präsentieren zur Erklärung zahlreicher vermeintlicher und tatsächlicher gesellschaftlicher Missstände wenige Feindbildgruppen (zum Beispiel "Juden" oder "Ausländer") als "Alleinschuldige" und bieten angeblich einfache Lösungen für doch schwierige gesellschaftspolitische Zusammenhänge an. Einfache Erklärungsmuster und die Verheißung simpler Problemlösungen können gerade auf tendenziell weniger gebildete und "intellektuell limitierte" Menschen, aber auch auf Jugendliche, die sich noch suchend und ungefestigt in ihrer persönlichen Selbstfindungsphase befinden, eine hohe Anziehungskraft ausüben. Wird ihnen doch durch Übernahme eines ideologischen Weltbildes die fatale Illusion vermittelt, diese Welt vollständig verstanden zu haben und Andersdenkenden damit überlegen zu sein. Von gesellschaftlichen Missständen (zum Beispiel von Arbeitslosigkeit) Betroffenen werden die Selbstzweifel genommen, für ihre Situation selbst (mit)verantwortlich zu sein (zum Beispiel aufgrund schulischen oder beruflichen Versagens). Die "Schuld" daran wird stattdessen auf ideologische Feindbilder projiziert, wie beispielsweise die Parole "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!" deutlich macht. Vor allem aber liefert die rechtsextremistische Skinheadszene selbst zahlreiBelege für rechtsche Belege für ihre Gesinnung: extremistische Gesinnung 1. Ein erstes wichtiges Indiz für die grundsätzliche ideologische Ausrichtung der rechtsextremistischen Skinheadszene liefert ein Blick auf die Opfer der aus dieser Szene heraus begangenen Gewalttaten. Bei diesen Opfern handelt es sich überdurchschnittlich häufig um klassische Feindbilder des Rechtsextremismus wie Ausländer, Farbige oder Homosexuelle. 2. Rechtsextremistische Skinheadbands produzieren immer wieder Liedtexte, in denen sie ihre rechtsextremistische Gesinnung entweder offen oder mehr oder minder andeutungsweise zu erkennen geben. Auch dafür, dass zumindest Teile der rechtsextremistischen 139 Skinheadszene sich zum historischen Nationalsozialismus bekennen, liefern Liedtexte baden-württembergischer Skinheadbands immer wieder eindeutige Belege. 3. Auch das äußere Erscheinungsbild und die Symbolwelt der rechtsextremistischen Skinheadszene beschränkt sich nicht auf Komponenten wie Kahlkopf, Springerstiefel oder Bomberjacke, die ursprünglich einen unpolitischen Hintergrund haben. Typische Kennzeichen dieser Szene reichen längst auch von originär rechtsextremistischen bis hin zu nationalsozialistischen Bildern und Symbolen. 4. Auf den rechtsextremistischen Charakter weiter Teile der Skinheadszene lässt allein schon ihre - trotz der oben beschriebenen Vorbehalte und Kritik von Seiten anderer Rechtsextremisten - fortbestehende Vernetzung mit anderen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus schließen. Denn warum sollten oder könnten sich Skinheads und andere Rechtsextremisten miteinander vernetzen, wenn es keine gemeinsamen ideologischen Anknüpfungspunkte gäbe? Diese Vernetzung manifestiert sich nicht nur in der Existenz vereinzelter Mischszenen aus Skinheads und Neonazis. Mittlerweile ist es durchaus üblich, dass rechtsextremistische Organisationen, die nicht der Skinheadszene zuzurechnen sind, Skinheadkonzerte veranstalten oder doch zumindest Skinheads oder Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen begrüßen oder auftreten lassen. Ziel ist dabei unter anderem, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. 2.3.2 Rechtsextremistische Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Texte rechtsextremistischer Skinheadbands thematisieren einerseits das Selbstverständnis und das Lebensgefühl der rechtsextremistischen Skinheadszene. So ist die Verherrlichung des Skinheaddaseins (zum Beispiel des szenetypischen exzessiven Alkoholkonsums) ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Liedern dieser Bands. Andererseits ist rechtsextremistische Skinheadmusik das wichtigste Propagandamedium, über das rechtsextremistische Inhalte in die Skinheadszene tze gegen transportiert werden. So hetzen nicht wenige dieser Lieder gegen szenetyndbilder pische Feindbilder wie Ausländer, Juden, Israel, die USA, Homosexuelle, "Linke", Punker, gegen die Presse sowie staatliche Institutionen und Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. 140 Bei solcher Hetze wird zuweilen auch - direkt oder indirekt - zur Gewaltanwendung aufgerufen. Spätestens in solchen Fällen kann der gewaltbejahende Charakter zumindest von Teilen der rechtsextremistischen Skinheadmusik nicht in Zweifel gezogen werden. Dieser inhaltlich verhetzende Charakter wird oft noch akustisch-stilistisch unterstrichen und verstärkt, zum Beispiel durch stakkatohafte, aufpeitschende und aggressive Rhythmen und Melodien sowie durch bis zur akustischen Unverständlichkeit gepresst vorgetragenen und gegrölten Gesang. Derartige Texte entfalten bei ihren meist jugendlichen Konsumenten langfristig eine ideologisch indoktrinierende, fanatisierende und gleichzeitig eine moralisch verrohende, enthemmende Wirkung und können damit auch Gewaltbereitschaft, in letzter Konsequenz sogar Gewalttätigkeit erzeugen. Außerdem geben solche Texte durch die wiederholt in ihnen artikulierte Hetze gegen gängige rechtsextremistische Feindbilder der Gewalt die Angriffsziele vor. Die meisten von rechtsextremistischen Skinheadbands produzierten Liedtexte bewegen sich jedoch unterhalb der Schwelle zum konkreten Gewaltaufruf - wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Bands andernfalls juristische Folgen zu befürchten hätten. Solchen Befürchtungen dürfte es auch geschuldet sein, dass zumindest für die letzten Jahre sehr viel häufiger solche rechtsextremistischen Skinheadtexte nachweisbar sind, die eine dumpfe, inhumane Atmosphäre aus Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung, aus Hass, Wut, Zorn, Rachephantasien, Verachtung sowie Mitleidund Gnadenlosigkeit verströmen, ohne dabei jedoch zu konkreten Gewalttaten aufzurufen, manchmal sogar ohne die Objekte dieses Hasses, dieser Wut, allzu deutlich zu benennen. Es gibt zwar Stimmen aus der rechtsextremistischen Skinheadszene, die versuchen, die eigene Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen. Sie gewähren einen Einblick in Dimension und Hintergründe dieser Gewaltaffinität. Beispielsweise veröffentlichte die rechtsextremistische Skinheadband "Jagdstaffel" auf ihrer im Jahr 2008 erschienenen CD "Gesetze der Straße" folgenden Titelsong: "Du läufst durch die Straßen deiner Stadt. Dumme Blicke. Du hast sie so satt. Die Wichser, die Assis, das andre Pack. Gleich wird es knallen. Knüppel aus dem Sack! [Refrain:] Gesetze der Straße. Es tobt der Krieg. Du musst dich wehren, sonst wirst du besiegt. Zeigst du einmal Schwäche, wirst du umgeknallt. 141 Es gibt keine Fairness im Großstadtkrawall. Nein! Dein Viertel, dein Revier und deine Stadt, alles wirst du verlieren. Es kommt der Tag. Es sind immer dieselben und in der Überzahl. Doch einfach aufgeben ist nicht deine Wahl. [Refrain] Mit deiner ganzen Horde ziehst du durch die Stadt. Du wirst nicht resignieren. Du hast sie so satt. Ein letztes Aufbäumen vor der Schlacht. Siegen oder Sterben ist jetzt angesagt. [Refrain] In unserer Gesellschaft, da nagt der Zerfall, nicht nur in unseren Köpfen, auch auf dem Asphalt. Edle, große Werte sind heute nichts mehr wert. Ihr habt es übertrieben. Wir werden uns wehrn. (...)" 237 "Jagdstaffel" machen also aus dem eigenen Aggressionspotenzial gar keinen Hehl, versuchen dies aber als sozialdarwinistisch hergeleitete, vermeintlich alternativlose Notwehr zu rechtfertigen ("Du musst dich wehren, sonst wirst du besiegt. Zeigst du einmal Schwäche, wirst du umgeknallt. Es gibt keine Fairness im Großstadtkrawall. Nein!", "Siegen oder Sterben ist jetzt angesagt."). Dabei fällt auf, dass "Jagdstaffel" in den ersten Strophen und im Refrain noch darum bemüht sind zu verschleiern, um wessen Gewaltbereitschaft es sich eigentlich handelt, indem sie ein anonymes "Du" ansingen. Erst am Ende des Liedes wird deutlich, dass "Jagdstaffel" sich selbst oder doch ihresgleichen in der von ihnen beschriebenen Notwehrsituation wähnen ("Wir werden uns wehrn.") Dabei ist es fast schon bezeichnend, dass sich auch bei "Jagdstaffel" die Benennung der Objekte dieser Gewaltbereitschaft in totaler Anonymisierung ("sie", "Ihr", "immer dieselben") und primitiven verbalen Beleidigungen ("Die Wichser, die Assis, das andre Pack.") erschöpft. 237 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. Die Liedtextversion, die dem CD-Booklet zu entnehmen ist, unterscheidet sich von der gesungenen Version nur sehr geringfügig. 142 3. Neonazismus 3.1 Allgemeines Als neonazistisch werden Personenzusammenschlüsse und Bestrebungen Definition bezeichnet, die ein direktes oder indirektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem Vorbild des "Dritten Reiches" ausgerichtet sind. Aus dieser Definition folgt: Jeder Neonazi ist Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist ist Neonazi. Denn nicht jeder Rechtsextremist bekennt sich zum historischen Nationalsozialismus und sieht im "Dritten Reich" ein Vorbild für die zukünftige konstitutionelle Gestaltung Deutschlands. Der Neonazismus ist nur eine von mehreren Erscheinungsformen des Gesamtphänomens Rechtsextremismus, die aber von einem ganz besonders ausgeprägten ideologischen Fanatismus ihrer Anhänger gekennzeichnet ist. Die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig vorgenommene Gleichsetzung "Rechtsextremismus = Neonazismus" läuft also auf eine Vereinfachung hinaus, die der komplexen Realität der ideologisch zersplitterten rechtsextremistischen Szene nicht gerecht wird. Zu dieser komplexen Realität gehört aber auch, dass die Grenzen zwischen dem Neonazismus und bestimmten anderen Teilsegmenten des deutschen Rechtsextremismus zuweilen fließend sein können: Neonazistisches Gedankengut und Neonazis sind auch in rechtsextremistischen Szenebereichen anzutreffen, die nicht in Gänze oder nicht überwiegend als neonazistisch zu bezeichnen sind. So bekennen sich zumindest Teile der rechtsextremistischen Skinheadszene zum historischen Nationalsozialismus, wofür immer wieder Liedtexte von Skinheadbands eindeutige Belege liefern. Auch die NPD muss in Teilen als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden. Sie nimmt teils überregional bis bundesweit bekannte Neonazis als Mitglieder in ihre Reihen auf und lässt manche von ihnen in hohe Parteifunktionen aufsteigen. Der Neonaziszene im engeren Sinne werden in Baden-Württemberg circa 400 (2007: circa 340) personelle und bundesweit circa 4.800 Personen (2007: circa 4.400) zugerechnet. Damit Zuwächse zählt die Neonaziszene bereits seit dem Jahr 2002 (Land: circa 270 Neonazis; Bund: circa 2.600 Neonazis) trotz ihres immer noch relativ geringen Personenpotenzials zu den wenigen Teilsegmenten des deutschen Rechtsextremismus, die personelle Zuwächse zu verzeichnen haben. Ihr Eintreten für die Wiedererrichtung einer NS-Diktatur trug der deutschen Neonaziszene in den 90er-Jahren das Verbot zahlreicher ihrer Vereinigungen ein, was ihr Erscheinungsbild nachhaltig veränderte. Um sowohl 143 bereits vollzogene als auch für die Zukunft erwartete Vereinigungsverbote zu unterlaufen, sind seither in der Neonaziszene an die Stelle fester Organisationsstrukturen zumeist lockere, organisationsunabhängige und informelle Personenzusammenschlüsse getreten. Zumeist geben sich diese Gruppen den Anstrich privater Cliquen oder Freundeskreise und verfügen nur über eine regionale Basis sowie über relativ wenige Angehörige (in der Regel pro Gruppe nicht mehr als circa fünf bis 20 Personen, meist junge Männer). Allerdings können viele dieser Gruppen im Bedarfsfall auf ein Mobilisierungspotenzial zurückgreifen, das über die Zahl ihrer jeweiligen Angehörigen deutlich hinausgeht. Privater Anstrich und regionale Basis kommen auch in den Selbstbezeichnungen der Gruppen zum Ausdruck (zum Beispiel "Kameradschaft Rastatt", "Kameradschaft Karlsruhe"). Die typische Aktivität dieser Gruppen ist der "Kameradschaftsabend", der in Privatwohnungen oder Gaststätten stattfindet, keine Außenwirkung entfaltet und dessen Inhalte aus politisch-ideologischen Schulungen, der Vorbereitung von Aktionen oder einfach Geselligkeit bestehen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast jede dieser Gruppen meist fest in die bundesweite Neonaziszene, partiell auch in andere Teile der rechtsextremistischen Szene eingebunden ist und zuweilen bis ins Ausland Kontakte zu Gesinnungsgenossen pflegt. Innerhalb dieser netzwerkartigen Strukturen legen Neonazis einen erheblichen Aktionismus an den Tag, den sie vor allem durch Teilnahme an zahlreichen, nicht nur neonazistischen Demonstrationen - auch fernab ihrer regionalen Basis - ausleben. Die Überschneidungen zwischen Neonaziund rechtsextremistischer Skinheadszene äußern sich unter anderem in der Existenz entsprechender Mischszenen und in der Teilnahme einzelner Neonazis an Skinheadkonzerten. Ein typisches Beispiel für bundesländerübergreifende Netzwerkstrukturen innerhalb des deutschen Neonazismus gibt das seit dem Jahr 2003 bestehende, im Dreiländereck zwischen Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz aktive neonazistische "Aktionsbüro Rhein-Neckar" ab. Es koordiniert im gesamten RheinNeckar-Raum die Aktivitäten der dort vertretenen Neonaziund rechtsextremistischen Skinheadgruppierungen, ist personell mit der NPD verflochten und hat enge Kontakte zu rechtsextremistischen Führungspersonen und Gruppierungen in den angrenzenden Regionen. Sein Aktionsschwerpunkt scheint weiterhin außerhalb BadenWürttembergs zu liegen. Sein Internetportal, auf dem es als Kontaktadresse ein Postfach im hessischen Viernheim angibt238, gehört zu den bundesweit wichtigsten rechtsextremistischen Internetseiten. 238 Homepage des "Aktionsbüros Rhein-Neckar" vom 11. November 2008. 144 Die Furcht vor staatlichen Repressionsmaßnahmen hat mittlerweile manche versuchte Neonazis bewogen, "Tarnmaßnahmen" zu ergreifen. Ziel ist dabei, nicht Tarnung immer sofort als - gesellschaftlich stigmatisierter - Neonazi erkannt zu werden, vielleicht sogar mit den eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen Gehör auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene zu finden, womöglich sogar auf Veranstaltungen, die nicht von Rechtsextremisten selbst, sondern von Demokraten oder Linksextremisten organisiert werden.239 Einzelne Neonazis nehmen äußerliche Anleihen bei der linksextremistischen autonomen Szene auf, beispielsweise, indem sie sich die Selbstbezeichnung "Autonome Nationalisten" zulegen. 3.2 Bundesweite Aktivitäten 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene Führende NS-Protagonisten wie Hitler, Himmler oder Goebbels auch nur punktuell zu Vorbildern zu erheben, indem man mehr oder minder marginale Details ihres politisch-ideologischen Denkens oder Handelns aus dem Bezugsrahmen ihrer Verbrechen versucht herauszulösen und für sich genommen als vorbildlich darzustellen, gilt in der Gesellschaft und politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland als verwerflich und hat in der Regel entsprechend schwerwiegende Folgen für das Ansehen der Personen, die einen solchen Versuch unternehmen. Vor diesem Hintergrund bieten sich heutigen Neonazis faktisch keine Beispiele hochrangiger Protagonisten aus NSDAP und NS-Staat, anhand derer sie auch nur versuchen könnten, ihr Bekenntnis zum historischen Nationalsozialismus wenigstens ansatzweise positiv zu personalisieren, ohne zu riskieren, sich dadurch gesamtgesellschaftlich, also außerhalb des sehr engen Dunstkreises der eigenen Szene, noch weiter ins moralische und gegebenenfalls auch strafrechtliche Abseits zu stellen, als sie ohnehin schon stehen. In dem "Stellvertreter des Führers" und Reichsminister ohne Geschäftsbereich Rudolf Heß (1894-1987) meinen deutsche, aber auch ausländische Neonazis über ein solch hochrangiges Beispiel für eine positive Personalisierung des historischen Nationalsozialismus zu verfügen. Für Neonazis ist Heß die zentrale Symbolund Integrationsfigur, um die sie bereits seit Jahrzehnten einen teilweise religiös anmutenden Märtyrerkult und eine einzigMärtyrerkult artige Mythenbildung betreiben. Dieser Kult baut weniger auf Heß' konum Heß kreten politischen Funktionen während der NS-Diktatur auf; vielmehr wird 239 Siehe zur so genannten Wortergreifungsstrategie: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 179-184. 145 Heß aufgrund der Tatsache, dass er wegen seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess insgesamt 46 Jahre in alliierter Haft verbrachte, von der Neonaziszene auch noch mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Selbstmord im Berlin-Spandauer Kriegsverbrechergefängnis kritiklos zum Opfer stilisiert. Zudem dient ihr der zeitlebens überzeugte Nationalsozialist Heß als Vorbild an ideologisch-fanatischer Unbeugsamkeit. Auch wird Heß als Kronzeuge für rechtsextremistisch-geschichtsrevisionistische Thesen herangezogen: So wird sein Großbritannien-Flug im Mai 1941 in den einschlägigen Kreisen als vermeintlicher Beweis dafür gewertet, dass der - so die gängige Neonazi-Terminologie - "Friedensflieger" Heß und mit ihm die gesamte NS-Führung um Adolf Hitler friedenswillig gewesen wären, während die Briten diese Friedensbemühungen mit Internierung beantwortet und damit den Beweis ihrer angeblichen Kriegslüsternheit geliefert hätten. Dass Hitler in die Aktion seines Stellvertreters offensichtlich nicht einmal eingeweiht war, sich sogar umgehend davon distanzierte, unter anderem, indem er Heß öffentlich für geistesgestört erklären ließ240, wird von Neonazis zumeist ausgeblendet. Dass Heß die letzten 21 Jahre seines Lebens nach der Entlassung der übrigen Gefangenen als einziger Häftling im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis verblieb, trieb die Mythologisierung seiner Person durch die Neonaziszene weiter voran. Schon allein die Umstände seiner Haft prädestinieren den Hitler-Stellvertreter aus neonazistischer Sicht zum Märtyrer der "Bewegung". Dieser Märtyrerkult wird von Neonazis noch auf die Spitze getrieben, indem sie seit 1987 so faktenwidrig wie unbeirrbar behaupten, Heß sei in Spandau ermordet worden, um die "wahren" Hintergründe seines Großbritannien-Fluges zu vertuschen. Deshalb ist auch nicht Heß' Geburtstag, sondern sein Todestag (17. August) ein wichtiges Datum im neonazistischen Veranstaltungskalender: Gilt es doch, nicht nur den Märtyrerkult um Heß zu pflegen, sondern auch klassische rechtsextremistische Feindbilder (vor allem die westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges) als vermeintlich eiskalt berechnende Mörder an einem 93jährigen, angeblich schuldlosen Greis zu diffamieren. Zentrales Anliegen des neonazistischen Heß-Kultes bleibt jedoch, den historischen Nationalsozialismus positiv zu personalisieren und damit letztlich zu rehabilitieren, indem man diesem ein vermeintlich sympathisch-unschuldiges Opferund Märtyrergesicht verleiht.241 240 Siehe zu den Hintergründen des Heß-Fluges nach Großbritannien und zum Umgang der NS-Führung mit diesem Vorfall: Nolzen, Armin: Der Heß-Flug vom 10. Mai 1941 und die öffentliche Meinung im NS-Staat, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004, S. 130-156. 241 Siehe zu den vielschichtigen Aspekten des Heß-Kultes in der rechtsextremistischen Szene: Kohlstruck, Michael: Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik - Die Mythologisierung von Rudolf Hess im deutschen Rechtsextremismus, in: Fröhlich, Claudia/Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Stuttgart 2004, S. 95-109. 146 Aus Anlass des 21. Heß-Todestages am 17. August 2008 stellten die badenwürttembergischen JN auf ihrer Homepage einen Text ein, in dem einige der zentralen Komponenten des Heß-Märtyrerkultes komprimiert wiedergegeben werden. Dieser Text wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Nähe, die Teile der JN und damit der NPD - auch in Baden-Württemberg - zum Neonazismus aufweisen: "Rudolf Heß steht symbolhaft für die Friedensbemühungen des Deutschen Reiches in den Anfangsjahren des Krieges und genauso für deren systematische Zurückweisung durch die Alliierten. Rudolf Heß wollte mit seinem Flug nach Schottland im Jahr 1940 Europa vor einer Ausweitung des Krieges bewahren - für dieses Anliegen wurde er 46 Jahre lang eingesperrt. Allein die Tatsache, dass ein Mann für seine Überzeugungen und Ideale mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Gittern zu verbringen bereit war, müsste an sich jedem normal denkenden Menschen - unabhängig welcher politischen Couleur - Respekt abnötigen. Und allein aus diesem Grund wäre es bereits angebracht und legitim, diesem Mann, dem seine Ehre und die Ehre Deutschlands mehr galten als seine Freiheit, ein würdiges Andenken zu bewahren. Doch das Leben von Rudolf Heß und ganz besonders die Umstände seines Todes sind heute außerdem mehr denn je Symbole der Fremdherrschaft in der BRD. Sein Tod, der nach objektiver Betrachtung kaum Selbstmord gewesen sein kann, wird uns heute als genau dieses verkauft. Demonstrationen für die historische Wahrheit werden systematisch verboten und verhindert. Die Erinnerung an jenen Mann und sein von Qualen und Kerkerhaft geprägtes Leben soll ausgelöscht werden im Bewusstsein des deutschen Volkes. Aus diesem Grund ist es für freiheitsliebende Patrioten dieser Zeit richtig und wichtig, alljährlich auf die wahren Umstände des Todes von Rudolf Heß aufmerksam zu machen. Sind sie doch das beste Beispiel dafür, wie auch heute noch, über 60 Jahre nach Beendigung des Krieges, Wahrheit, 147 Lüge und Fiktion im Dienste allliierter Siegerpropaganda skrupellos miteinander vertauscht werden." 242 Auch im Jahr 2008 konnte wie schon in den drei vorangegangenen Jahren kein zentraler "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" im bayerischen Wunsiedel, wo Heß begraben liegt, stattfinden, obwohl der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen RIEGER, der seit 2008 stellvertretender NPD-Bundesvorsitzender ist, schon vor geraumer Zeit bis einschließlich 2010 jährliche Gedenkveranstaltungen um den 17. August herum in Wunsiedel angemeldet hatte. Daraufhin konnte die Neonaziszene in den Jahren 2001 bis 2004 zentrale "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" in dieser Stadt durchführen. Die Zahl der Demonstrationsteilnehmer stieg dabei laut Polizeiangaben von rund 900 (2001) auf circa 3.800 (2004). Im Jahr 2008 mussten die neonazistischen Heß-Verehrer jedoch schon deutlich im Vorfeld des 17. August einen stätigung herben juristischen Rückschlag hinnehmen: Am 25. Juni 2008 bestätigte das Verbots Bundesverwaltungsgericht243 in letzter Instanz das Verbot des Wunsiedeler "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" von 2005, das wie auch in den folgenden Jahren auf der Basis des erst 2005 in Kraft getretenen Absatz 4 des SS 130 Strafgesetzbuch (StGB) erfolgt war, und bejahte dabei zudem die Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsnorm.244 Wie vor diesem Hintergrund zu erwarten war, hatte daraufhin auch das vom Landratsamt Wunsiedel ausgesprochene Verbot des "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" 2008 vor den zuständigen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht245 Bestand. Auf demselben rechtsstaatlichen Weg konnte der Versuch RIEGERs unterbunden werden, in der Nähe von Wunsiedel zum selben Termin eine nichtöffentliche Ersatzveranstaltung abzuhalten. So musste die Szene zum wiederholten Male auf kleinere, dezentrale Veranstaltungen ausweichen. An diesen bundesweit neun Ersatzveranstaltungen am 16. und 17. August 2008 nahmen nur noch insgesamt rund 780 Personen teil, während zu den acht Ersatzveranstaltungen im Jahr 2007 noch circa 1.200 Teilnehmer erschienen waren. Die größten Heß-Gedenkveranstaltungen fanden im vorpommerschen Ueckermünde und im thüringischen Altenburg mit rund 250 beziehungsweise circa 230 Teilnehmern statt. Baden-Württemberg war im August 2008 nicht Schauplatz einer Heß-Demonstration. In Mannheim tra242 Bericht "Gedenken an Rudolf Heß auch im Bodenseekreis - Holzkreuze und Transparente zum 17. August", Homepage der baden-württembergischen JN vom 14. November 2008. 243 Az.: 6 C 21/07. 244 SS 130 Absatz 4 StGB lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt." Siehe zur Vorgeschichte der Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung vom 25. Juni 2008: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 140. 245 Beschluss vom 13. August 2008. 148 fen sich am 16. August 2008 in der Innenstadt zwar rund 30 Rechtsextremisten, die allerdings nicht geschlossen als Demonstrationszug oder Kundgebung auftraten. Weitere Aktivitäten dieser Gruppe wurden von der Polizei verhindert. Für denselben Tag hatten die JN zwar eine Demonstration unter dem Motto "Meinungsfreiheit für alle! SS 130 abschaffen" in Biberach angemeldet. Als die Veranstaltung verboten wurde, legten sie jedoch keine Rechtsmittel ein. Darüber hinaus kam es um den 17. August 2008 in verschiedenen Orten Baden-Württembergs zu Plakatund Transparentaktionen mit Heß-Bezug, unter anderem in den Räumen Karlsruhe und Heidelberg, in Singen/Krs. Konstanz und in Langenau/Alb-Donau-Kreis. Dabei kam unter anderem ein Transparent mit der Aufschrift "Rudolf Hess Friedensflieger Ermordet am 17. August 87" zum Einsatz. In der Innenstadt von Friedrichshafen wurden in der Nacht zum 17. August 2008 rund 70 professionell gezimmerte Holzkreuze mit der Aufschrift "Rudolf Hess - 1987 Mord!" aufgestellt. Bereits am 13. August 2008 waren in Rastatt CDs in Briefkästen eingeworfen worden. Die selbst gebrannten Scheiben waren mit einem Cover versehen, auf dem ein Bild von Heß und ein Foto seines Grabsteines in Wunsiedel zu sehen waren sowie ein Foto mit dem Datumsvermerk "10. Mai 1941" 246, auf dem ein Mann aus einem Propellerflugzeug steigt. Auf der CD war ein Film mit einschlägigem Heß-Bezug gespeichert. Die Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2008 zeigen, dass die Variante der HeßErsatzVerehrung mit mehreren dezentralen Ersatzveranstaltungen für die neonaveranstaltung zistische Szene immer unattraktiver zu werden scheint. Der Gedenkmarsch unattraktiv in Wunsiedel mit seinem Symbolwert und seiner Mobilisierungskraft ist für die Szene also nicht ersetzbar. Dass die Ersatzveranstaltungen aus juristischen Gründen in ihren Mottos zum Teil keinen direkten Heß-Bezug mehr erkennen lassen und dadurch zu thematisch fast beliebigen rechtsextremistischen Demonstrationen werden, dürfte manchen potenziellen Teilnehmer zusätzlich demotivieren. Dennoch verfügt das Thema "Heß" in der rechtsextremistischen und offensichtlich nicht nur in der neonazistischen Szene immer noch über Mobilisierungskraft, auch unabhängig vom Heß-Todestag. So fanden am 11. und 12. Mai 2008 in Pforzheim-Dillweißenstein und in Weinheim-Sulzbach/ 246 An diesem Tag startete Heß seinen Großbritannien-Flug. 149 Rhein-Neckar-Kreis zwei Vortragsveranstaltungen zum Thema statt. Zu der ersten Veranstaltung fanden sich circa 150 Personen ein, zu der zweiten sogar rund 250. Vortragender war unter anderem Dr. Olaf ROSE, der rund zwei Wochen später auf dem NPD-Bundesparteitag am 24./25. Mai 2008 in Bamberg in den NPD-Bundesvorstand gewählt wurde und bereits seit Ende 2006 dem Parlamentarischen Beratungsdienst der sächsischen NPD-Fraktion angehört. 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 50 Baden-Württemberg (2007: ca. 60) ca. 600 Bund (2007: ca. 600) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ist die langlebigste und mitgliederstärkste Einzelorganisation in der deutschen Neonaziszene, für die vor dem Hintergrund der zahlreichen Verbote neonazistischer Vereinigungen in den 90er-Jahren feste Organisationsstrukturen wie die der HNG eigentlich untypisch geworden sind. In ihren Aktivitäten ist die HNG absolut spezialisiert: Sie verfolgt den selbst gestellten Auftrag, inhaftierte Gesinnungsgenossen unter anderem durch Rechtsberatung, Überlassung rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten moralisch und materiell zu unterstützen, um sie auch während der Haftzeit sozial und ideologisch weiter an die rechtsextremistische Szene zu binden und somit die staatlichen Ausstiegsangebote zu unterlaufen. Ansonsten erschöpfen sich Aktivitäten und Bedeutung der HNG in der monatlichen Veröffentlichung ihrer 20-seitigen, 2008 im 30. Jahrgang erscheinenden Publikation "Nachrichten der HNG" und in der jährlichen Abhaltung einer Jahreshauptversammlung, die 2008 am 26. April mit circa 120 Teilnehmern in Großrinderfeld/Main-Tauber-Kreis stattfand. Mit Jürgen RIEGER sowie Thomas WULFF traten zwei bundesweit und mit Andreas THIERRY aus 150 Rosenberg/Ostalbkreis auch ein landesweit bekannter Neonazi auf dieser Versammlung als Redner auf. Bei dieser Gelegenheit wurde die seit 1991 als HNG-Vorsitzende amtierende Ursula MÜLLER aus Mainz in ihrer Funktion bestätigt. 3.3 Demonstrationstätigkeit der Neonaziszene Von 2006 auf 2007 war das rechtsextremistische und insbesondere das neonazistische Demonstrationsaufkommen in Baden-Württemberg bereits drastisch rückläufig gewesen. Damals halbierte sich die Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen247 im Land beinahe, und zwar von rund 35 (2006) auf nur noch 18. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielschichtig und weisen zu einem erheblichen Teil über das Jahr 2007 hinaus.248 Daher setzte sich diese Entwicklung auch im Jahr 2008 fort, wenn auch nicht in demselben Ausmaß wie 2007. 2008 fanden nur noch zwölf rechtsextremistische Demonstrationen in Baden-Württemberg statt. Allerdings zog anders als im Vorjahr, als die Zahl der Demonstrationen mit eindeutigem Neonazi-Bezug auf gerade einmal sechs regelrecht eingebrochen war (2006: rund 25), das von Neonazis verantwortete Demonstrationsaufkommen auf neun derartige Veranstaltungen leicht an, während die NPD durch ihre Jugendorganisation JN gerade zweimal (2007: achtmal) in Erscheinung trat. Die baden-württembergischen Tendenzen entsprechen nur teilweise denen im Bund insgesamt. Dort stieg die Zahl der Neonazidemonstrationen auf circa 80 an, nachdem sie sich von 2006 auf 2007 von 126 auf 66 fast halbiert hatte. Die Anzahl der von der NPD und deren Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" organisierten Demonstrationen erhöhte sich von circa 70 (2006 und 2007) auf circa 75. Nicht nur die Zahl der rechtsextremistischen Demonstrationen in Baden-Württemberg nahm im Jahr 2008 weiter ab. Auch deren durchschnittliche Teilnehmerzahl verringerte sich deutlich: Zehn der zwölf Demonstrationen im Berichtszeitraum kamen über Teilnehmerzahlen von bis zu rund 40 Personen nicht hinaus, blieben zum Teil sogar noch deutlich darunter. Und auch für die übrigen beiden Demonstrationen konnte nur ein Personenkreis im untersten dreistelligen Bereich mobilisiert werden: Zu dem vom rechtsextremistischen "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', 247 Hierbei werden unter Demonstrationen angemeldete wie unangemeldete Kundgebungen und Aufzüge, aber auch Eilund Spontanversammlungen verstanden. Letztere machen mit ihrem in der Regel sehr kleinen Teilnehmerkreis (meist im unteren zweistelligen Bereich) einen erheblichen Anteil der rechtsextremistischen Demonstrationen aus. 248 Siehe zu diesen Gründen ausführlich: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 141-147. 151 Pforzheim e.V." (FHD) am 23. Februar 2008 in Pforzheim veranstalteten Fackelgedenken aus Anlass des 63. Jahrestages der Zerstörung der Stadt durch einen alliierten Bombenangriff versammelten sich rund 170 Rechtsextremisten. In Reaktion auf die Tötung eines jungen Mannes am 4. April 2008 in Nordrhein-Westfalen, der von der rechtsextremistischen Szene als Gesinnungsgenosse angesehen wurde, kam es am 6. April 2008 zu zwei als Eilversammlungen angemeldeten Neonazi-Kundgebungen in Ludwigshafen und Mannheim. Bei letzterer demonstrierten etwa 120 Personen rund eine halbe Stunde auf dem Paradeplatz. Die niedrigen Teilnehmerzahlen bei rechtsextremistischen Demonstrationen in Baden-Württemberg im Jahr 2008 sind unter anderem dadurch zu erklären, dass die meisten dieser Veranstaltungen spontan, oft aus aktuellem Anlass und daher ohne die Möglichkeit langfristiger Mobilisierung durchgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund zeugt die Neonazi-Demonstration am 6. April 2008 in Mannheim, deren Anlass zum Zeitpunkt ihrer Durchführung erst rund 48 Stunden zurücklag, von einem weiterhin bestehenden Mobilisierungspotenzial der Neonaziszene. Niedrige und weiter sinkende Teilnehmerzahlen rechtsextremistischer Demonstrationen sind jedoch nicht erst 2008, sondern bereits seit Jahren ein unbestreitbares Problem für die Szene, besonders für ihr öffentliches Erscheinungsbild: Wie auch im Jahr 2008 unter Beweis gestellt wurde, sind mittlerweile rechtsextremistische Demonstrationen und Aufzüge mit Teilnehmerzahlen im lediglich zweistelligen Bereich ein immer häufiger festzustellendes Phänomen. An einer von neonazistischen "Autonomen Nationalisten" am 20. April 2008 (Adolf Hitlers 119. Geburtstag) spontan durchgeführten Aktion unter dem Motto "Nationaler Sozialismus jetzt - kein System hält uns auf" in Singen/Krs. Konstanz nahmen sogar nur fünf Personen teil. Derartig schwach frequentierte Demonstrationen können leicht zum Beleg der eigenen Schwäche missraten, zumal wenn sich zu Gegendemonstrationen eine vielfache Anzahl an Teilnehmern einfinden. Diese eklatanten Missverhältnisse werden auch von manchen Szeneangehörigen mittlerweile aufmerksam zur Kenntnis genommen und münden in Forderungen nach weniger, aber thematisch zielgerichteteren Demonstrationen bei gleichzeitig effektiverer Mobilisierung. Auch damit dürften die in den Jahren 2007 und 2008 in Baden-Württemberg in der Summe drastisch rückläufige Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen zu erklären sein. Diese Entwicklung im Land darf jedoch nicht zu der verfrühten, optimistischen Annahme verführen, diese Momentaufnahme sei bereits Ausdruck einer grundsätzlichen Trendumkehr. Öffentliche Demonstrationen behalten - das wird auch in der Szene selbst immer wieder betont - weiterhin 152 ihre Bedeutung unter den Aktionsund Agitationsformen des deutschen Rechtsextremismus, beispielsweise im Zuge des "Kampfes um die Straße" "Kampf um im Rahmen des NPD-"Vier-Säulen-Konzeptes".249 Ein zentrales, schon ländie Straße" ger und wohl auch in Zukunft gültiges Motiv, das Rechtsextremisten, insbesondere Neonazis, aber auch NPD-Aktivisten bei ihrer Demonstrationstätigkeit leitet, besteht darin, rechtsextremistische und neonazistische Präsenz auf der Straße zu zeigen. Vor dem Hintergrund der eigenen gesamtgesellschaftlichen Isolation und einer negativen Medienberichterstattung über Rechtsextremismus und Neonazismus, erscheint dieser Demonstrationsaktionismus rechtsextremistischen Aktivisten offensichtlich immer noch als die beste Möglichkeit, die Szene und ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen und Aufmerksamkeit zu erregen. 3.4 "Autonome Nationalisten" - Militanter Neonazismus mit ungewohntem Erscheinungsbild Seit Ende 2003 treten im Bundesgebiet bei rechtsextremistischen Demonstrationen immer wieder Personengruppen auf, die sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten vom gewohnten Auftreten der NeonaziSzene bewusst abheben. Spätestens seit der ersten Jahreshälfte 2004 erlangten diese Gruppen unter der seither häufig verwendeten Eigenbezeichnung "Autonome Nationalisten" bundesweite Bekanntheit. Dabei stellt der Begriff "Autonome Nationalisten" keine Bezeichnung für eine bestimmte Organisation dar, sondern wird als Oberbegriff für mehrere, meist regional organisierte Gruppierungen innerhalb der Neonazi-Szene benutzt, die durch den Zusatz der Stadt oder der Region unterscheidbar werden. Allerdings findet nicht bei allen Gruppierungen, die die typischen Charakteristika "Autonomer Nationalisten" aufweisen, der Begriff "Autonome Nationalisten" als Selbstbezeichnung Verwendung. Zuweilen - auch in Baden-Württemberg - treten "Autonome Nationalisten" auch unter Selbstbezeichnungen wie "Aktionsgruppe" oder "Freie Kräfte" auf (zum Beispiel "Aktionsgruppe Südbaden" (AG Südbaden)). Seit Mitte des Jahres 2005 treten "Autonome Nationalisten" in Baden-Württemberg als Anmelder und Veranstalter von Demonstrationen in Erscheinung. So veranstaltete die den "Autonomen Nationalisten" ideologisch nahe stehende "Aktionsgruppe Württemberg" unter dem Motto "Alliierte Kriegsverbrechen beim Namen 249 Zum "Vier-Säulen-Konzept" der NPD siehe S. 165. 153 nennen - damals wie heute!" am 16. April 2008 eine "Mahnwache zum Gedenken an die Opfer vom 16. und 17. April 1945" mit rund 40 Teilnehmern in Freudenstadt. Anlass war der 63. Jahrestag der Zerstörung Freu - denstadts durch französischen Artilleriebeschuss im April 1945. Äußeres Erscheinungsbild Die Unterschiede der "Autonomen Nationalisten" zu den übrigen Neonazis bestehen vor allem in Äußerlichkeiten. Gerade aber diese rein äußerlichen Unterschiede bergen nicht nur gegenüber Linksextremisten und der demokratischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch gegenüber weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene ein erhebliches Provokationsund Konfliktpotenzial. Das äußere Erscheinungsbild der "Autonomen Nationalisten" ist in erster Linie durch eine Übernahme des Kleidungsstils der linksextremistischen autonomen Szene gekennzeichnet. Bei Demonstrationen treten sie in einheitlicher schwarzer Kleidung auf, tragen Baseballkappen oder Kapuzenpullover, Sonnenbrillen und gelegentlich auch so genannte Palästinensertücher, letztlich also eine Bekleidung, die nicht nur ein geschlossenes Auftreten in einem "Schwarzen Block" ermöglicht, sondern auch der Vermummung dienen kann. Darüber hinaus sehen "Autonome Nationalisten" in ihrer Abkehr vom typischen Neonazi-Outfit noch einen weiteren Vorteil: Diese Kleidung dient ihnen offensichtlich auch als Verkleidung, in der sie von der Antifa und von Sicherheitskräften nicht mehr ohne weiteres als Neonazis erkannt werden können. "Autonome Nationalisten" imitieren linksextremistische Autonome auch terminologisch-sprachlich und stilistisch. So sind Anglizismen (zum Beispiel "press enter to reset the system.............*reboot socialism" oder "there is alway's [sic!] hope" 250), die von vielen anderen Rechtsextremisten seit Jahr250 Homepage der "Aktionsgruppe Rheinland" vom 14. November 2008; Übernahme wie im Original. 154 zehnten als "undeutsch" vehement abgelehnt werden, auf den Transparenten und in sonstigen Propagandamedien "Autonomer Nationalisten" ein gängiges Stilmittel. Auch verbreiten "Autonome Nationalisten" antikapitalistische und revolutionäre Parolen (zum Beispiel "Der größte Feind unserer Zukunft ist der Kapitalismus!" 251), die in ihrer Formulierungsweise eher an andere politische Lager erinnern. Selbst bei der graphischen Gestaltung von Flyern und Transparenten orientieren sich "Autonome Nationalisten" häufig an "linken" Vorbildern und Symbolen, bedienen sich zum Beispiel der Graffiti-Ästhetik. Militanz Verlautbarungen "Autonomer Nationalisten" ist häufig eine ostentative Bereitschaft zur Militanz zu entnehmen, wobei einige Gruppierungen sich unter Hinweis auf angebliche Repressionen von staatlicher Seite oder aus den Reihen der Antifa auf ein vermeintliches Notwehrrecht berufen. Auch hier lehnen sie sich eng an die linksextremistischen Autonomen an. Ihre Gewaltbereitschaft belässt es nicht nur bei verbalen Bekundungen, sondern richtet sich besonders bei rechtsextremistischen Demonstrationen gegen Polizeibeamte und Gegendemonstranten, zumal wenn es sich bei letzteren um gewaltbehohe Gewaltreite Linksextremisten handelt. In dieser Frage stehen die "Autonomen bereitschaft Nationalisten" in Opposition nicht nur zu rechtsextremistischen Parteien, sondern auch zu den meisten anderen Neonazis, die mehrheitlich - und sei es aus rein taktischen Erwägungen - den Ordnungsanspruch und das Gewaltmonopol des Staates anerkennen und im öffentlichen Raum auf ein gesetzeskonformes Auftreten achten. Ideologische Ausrichtung Trotz ihres an "linken" bis linksextremistischen Vorbildern orientierten äußeren Erscheinungsbildes handelt es sich bei "Autonomen Nationalisten" ohne Einschränkung um Rechtsextremisten, konkret um Neonazis. Allerdings sind bisher nur sehr wenige grundsätzliche theoretische Abhandlungen aus ihrem Kreis bekannt geworden. Dort, wo das doch der Fall ist, äußern sie neben populistischen Phrasen klassische rechtsextremistische oder neonazistische Positionen, zum Beispiel ein antisemitisch-verschwörungstheoretisch grundierter Antiamerikanismus, Israelfeindschaft, die 251 Beitrag "Sankt Leon-Rot - wir kommen." vom 10. November 2008, Homepage der "Aktionsgruppe Sankt Leon" vom 14. November 2008. 155 Ablehnung des westlichen Demokratiemodells, die Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus NATO und EU und selbst Antikapitalismus. Diese Positionen, die etwa in der Selbstdarstellung der "Aktionsgruppe Sankt Leon" (AG Sankt Leon), die im November 2008 mit ihrer eigenen Internethomepage erstmals in Erscheinung trat, zum Ausdruck kommen, sind in rechtsextremistischen und neonazistischen Kreisen weder neu noch originell, auch wenn sie von der AG Sankt Leon mit "linker" bis linksextremistischer Terminologie garniert werden: "Der größte Feind des Friedens sind die USA und Israel samt NATO und EU! (...) Wir verstehen uns als Anti-Imperialisten, wir lehnen Kriege aus Habgier als schärfste Form des Kapitalismus strikt ab. Als Kriegstreiber und Schuldige für Millionen Tote seit '45 sehen wir die Vereinigten Staaten von Amerika, welche von Israel zumindest finanziell beherrscht und kontrolliert werden. In etlichen völkerrechtswidrigen Kriegen haben Israel und die USA ihr Verständnis von Demokratie, welche sie andauernd predigen präsentiert: 'Wenn du nicht zur Demokratie kommst, kommt die Demokratie zu dir'. Nur Schade, dass die Demokratie in Form von Soldaten, Bomben, Raketen und Millionen unschuldiger Toter kommt. (...) Wir fordern: Austritt Deutschlands aus EU und NATO (...) Anklage der USund Israelregierung vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag (...)!" 252 Es ist zudem bezeichnend für die in Reihen der "Autonomen Nationalisten" gängige fundamentale Verfassungsfeindlichkeit, wenn die AG Südbaden den Internetauftritt der AG Sankt Leon unter anderem dahingehend kommentiert, dass die Gesinnungsgenossen in Sankt Leon-Rot/Rhein-Neckar-Kreis in "enger und freundschaftlicher Partnerschaft zur AG Südbaden (...) der Jugend der Region eine Alternative zu (...) dem kaputten System BRD bieten" wollen.253 252 Ebd.; Übernahme, auch Fettdruck wie im Original. 253 Text "Südbaden expandiert - AG Sankt Leon im Netz" vom 10. November 2008, Homepage der AG Südbaden vom 14. November 2008. 156 "Autonome Nationalisten" - szeneintern umstritten, aber mit Zulauf Folgerichtig ist es weniger ideologischen Differenzen, sondern dem äußeren Erscheinungsbild der "Autonomen Nationalisten" und ihrem Hang zur Militanz geschuldet, dass von anderen Rechtsextremisten (auch Neonazis) teils heftige Kritik an ihnen geübt wird. So kam es schon 2007 zu scharfen AusKritik seitens einandersetzungen zwischen hochrangigen NPD-Vertretern und "Autonoder NPD men Nationalisten", in deren Verlauf das NPD-Parteipräsidium seine kritische Sicht auf die "Autonomen Nationalisten" in zwei offiziellen "Erklärungen" zu diesem Thema darlegte.254 Wie in der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) eigens herausgestellt wurde ("Voigt (...) distanzierte (...) sich ausdrücklich von einigen fragwürdigen Ausdrucksformen des politischen Kampfes."), legte der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT in seiner Rede auf dem Bamberger NPD-Bundesparteitag am 24. und 25. Mai 2008 noch einmal nach. In Bezug auf den "schwarzen Block" und damit auf die "Autonomen Nationalisten" hieß es in der Rede VOIGTs unter anderem: "'Im Laufe des letzten Jahres konnten wir auf verschiedenen Demonstrationen ein neues Phänomen in unseren Reihen bemerken. Spruchbänder mit englischen Texten, die zum Teil auch als Seitentransparente von einem zum Teil vermummten schwarzen Block mitgeführt wurden, zeigten ein von uns nicht gewolltes Erscheinungsbild. (...) So wurden vereinzelt Polizisten, Kameraleute und Journalisten attackiert, die sich in unserer Mitte aufhielten. Solche Aktionsformen halte ich für völlig inakzeptabel. (...) Wer (...) Polizisten attackiert, hilft den Systempolitikern, diese gegen uns aufzuhetzen. Ganz zu schweigen davon, dass ich es für einen Nationalisten unwürdig halte, sich mit der geballten Kommunistenfaust sowie ausländischen Symbolen und Sprüchen, die Aktionsformen der Antifa zu übernehmen. Ich halte es für unwürdig, sich zu vermummen, statt Gesicht zu zeigen, und ich halte Gewalt jeglicher Art gegen deutsche Polizisten für völlig inakzeptabel! (...) Wir lehnen (...) keine Nationalisten ab, wenn sie schwarze Kleidung tragen. Wir 254 Siehe dazu: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2007, S. 150-152. 157 lehnen aber als Nationalisten gewisse Erscheinungsformen ab, wenn sie vom Gegner oder aus dem Ausland kopiert werden. Das ist unser gutes Recht. Wir werden als Partei doch noch bestimmen können, wie unser Erscheinungsbild ist. Wir brauchen Wählerstimmen, wir repräsentieren die schweigende Mehrheit und wollen in die Mitte des Volkes. Jeder von uns zeigt Gesicht und braucht sich und seine Überzeugung nicht hinter einer Vermummung zu verstecken. (...) Wer sich (...) an unsere Anweisungen nicht halten will und sich durch sein Auftreten selbst ausgrenzt, der mag dies doch tun, aber nicht unter der Fahne der NPD!'" Gleichzeitig bekannte sich VOIGT aber wieder ausdrücklich "zum 'Volksfront'-Gedanken" gegenüber den übrigen Neonazis, "zum Schulterschluss mit allen parteiunabhängigen Nationalisten, die ihrerseits zu einer konstruktiv-partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der NPD bereit" seien.255 Trotz des erheblichen Aufsehens, für das die "Autonomen Nationalisten" mit ihren "Schwarzen Blöcken" nicht erst seit 2008 sorgen, handelt es sich zumindest quantitativ immer noch um ein begrenztes Phänomen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spricht in seiner Kurzbroschüre zu diesem Thema mit Stand Mai 2007 von einer "militanten Randerscheinung".256 Es kann davon ausgegangen werden, dass die bundesweite Anzahl der "Autonomen Nationalisten" im Jahr 2008 wie schon 2007 ungefähr ein Zehntel der circa 4.800 (2007: circa 4.400) deutschen Neonazis betrug. Davon entfallen auf Baden-Württemberg circa 90 "Autonome Nationalisten" (2007: circa 70), was rund einem Fünftel bis einem Viertel der badenwürttembergischen Neonazis entspricht. Bezogen auf das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotential in Bund und Land stellen "Autonome Nationalisten" nur rund anderthalb beziehungsweise gut drei Prozent der deutschen beziehungsweise baden-württembergischen Rechtsextremisten. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass "Autonome Nationalisten" über Unterstützer und damit über ein Mobilisierungspotenzial bei ihren Demonstrationen verfügen, das über ihr immer noch relativ geringes Personenpotenzial deutlich hinausgeht. 255 DS Nr. 07/08 vom Juli 2008, Artikel "'Gewalt ist für uns völlig inakzeptabel!' Udo Voigt auf dem Bamberger Bundesparteitag über 'Anti-Antifa', schwarze Fahnen und den 'Schwarzen Block'", S. 14; Übernahme wie im Original. 256 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): "Autonome Nationalisten" - Eine militante Randerscheinung, Köln 2007. 158 4. Rechtsextremistische Parteien 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 450 Baden-Württemberg (2007: ca. 440) ca. 7.000 Bund (2007: ca. 7.200) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) 4.1.1 Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Dass sich die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) in den letzten Jahren zu einer der bedeutendsten, wenn nicht zu der bedeutendsten rechtsextremistischen Kernorganisation in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln konnte, lässt sich nur zum Teil mit ihren Mitgliederzuwächsen, die im Jahr 2008 auf Bundesebene ohnehin ausblieben, und ihren vereinzelten Wahlerfolgen erklären. Entscheidend ist auch, dass die Partei seit Jahren relativ erfolgreich versucht, durch eine gezielte Bündnispolitik sowie durch personelle Verzahnungen einen spürbaren Einfluss auf weite Teile der übrigen rechtsextremistischen Szene auszuüben. In den letzten Jahren hat sich dadurch sogar eine schrittweise Ausrichtung oder Konzentration größerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD herauskristallisiert. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spricht in diesem Zusammenhang von der NPD als dem "Gravitationsfeld" im deutschen Rechtsextremismus.257 Der baden-württembergische NPDLandesverband spielt in diesem Entwicklungsprozess der Gesamtpartei anders als manche anderen, mitgliederstärkeren, aktiveren oder bei Wahlen erfolgreicheren Landesverbände keine Vorreiterrolle. Dennoch sind diese Entwicklungen zumindest zum Teil auch an seinem Beispiel nachvollziehbar. Die herausgehobene Position der NPD innerhalb der rechtsextremistischen Organisationslandschaft im Bund und im Land lässt sich unter anderem an folgenden Anhaltspunkten festmachen: 257 Vgl. zu diesem Thema: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) als Gravitationsfeld im Rechtsextremismus. Stand: Dezember 2006; abrufbar unter www.verfassungsschutz.de. 159 Die NPD hatte in den letzten Jahren - zumindest bis einschließlich 2007 - eine im Vergleich zu anderen rechtsextremistischen Parteien völlig untypische, weil ansteigende Mitgliederentwicklung zu verederstärkste zeichnen und ist seit dem Jahr 2007 die mitgliederstärkste rechtsexsextremistremistische Partei in Deutschland. Diese Entwicklung verlief in e Partei in Bund und Land weitgehend kontinuierlich seit der Einstellung des utschland gegen die NPD angestrengten Parteiverbotsverfahrens am 18. März 2003. Allerdings hatte die NPD seit 2003 auf Bundesebene prozentual insgesamt sehr viel deutlichere Mitgliederzuwächse zu verbuchen als in Baden-Württemberg. Im Jahr 2008 stieg die Zahl der in der NPD Organisierten im Land aber noch einmal leicht auf circa 450 (2007: circa 440), während sie im Bund auf circa 7.000 und damit wieder auf das Niveau von 2006 fiel (2007: circa 7.200). Die Partei konnte seit dem Jahr 2003 - zumindest bis einschließlich 2007 - wieder an die positive Mitgliederentwicklung anknüpfen, die sie in den Jahren 1996 bis 2001 schon einmal auf Bundesebene genommen hatte. Als 1996 ihr jetziger Bundesvorsitzender Udo VOIGT sein Amt antrat, hatte die Bundes-NPD mit gerade noch circa 3.500 Mitgliedern ihren bisherigen personellen Tiefpunkt erreicht. Seither konnte die NPD ihre Mitgliederzahl also verdoppeln, während die baden-württembergische Landes-NPD ihren Mitgliederstand von 1996 (circa 440) im Jahr 2008 kaum übertraf. Im Gegensatz dazu musste die DVU in demselben Zeitraum dramatische Mitgliederverluste hinnehmen. Sie zählte auf Bundesebene im Jahr 2008 (circa 6.000) bei weitem nicht mehr halb so viele Parteiangehörige wie im Jahr 1996 (circa 15.000), auf Landesebene sogar nur noch knapp ein Drittel der Mitgliederzahl (1996: circa 1.900; 2008: circa 600). Aber nicht nur rein quantitativ machte die NPD in den vergangenen Jahren eine aus ihrer Sicht alles in allem positive Mitgliederentwicklung durch. Gleichzeitig gelingt es ihr offenbar, sich immer weiter zu verjüngen: Der baden-württembergische Landesverband der "Jungen Nationaldemokraten" (JN)258, der NPDJugendorganisation, konnte im Jahre 2008 auf circa 110 Mitglieder (2007: circa 90; 2006: circa 60) weiter zulegen. Damit stellen die JN mittlerweile rund knapp ein Viertel der baden-württembergischen NPD-Mitglieder. Der Anstieg der NPD-Mitgliederzahlen in den letzten Jahren wird in seiner Bedeutung noch durch den Umstand verstärkt, dass die Partei an ihrer Bundesspitze, aber auch auf mancher Landesund 258 Siehe zu den JN ausführlicher S. 182ff. 160 Kommunalebene über aktionistische, kampagnefähige Kader verfügt, die zudem häufig ideologisch geschult und gefestigt sind. Auch diese Faktoren unterscheiden die NPD von der DVU und verleihen der Partei eine öffentliche Präsenz (zum Beispiel aufgrund von öffentliche Demonstrationstätigkeit oder im Rahmen der so genannten WorPräsenz tergreifungsstrategie259), die von keiner anderen rechtextremistischen Einzelorganisation in diesem Ausmaß erreicht wird. Die NPD strebt nach einem Schulterschluss mit der rechtsextremistischen Skinheadszene. Zu diesem Zweck veranstaltet sie zum Beispiel Skinheadkonzerte oder lässt Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen auftreten. Ziel ist dabei, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. Doch aufgrund der für Skinheads typischen Unfähigkeit oder Abneigung, sich langfristig in eine festere Organisationsstruktur einbinden zu lassen und dort auch diszipliniert mitzuarbeiten, sind die Erfolgsaussichten dieser Annäherungsversuche begrenzt. Selbst da, wo es der Partei gelingt, Skinheads bei sich einzubinden - und sei es nur vorübergehend als Teilnehmer an NPD-Demonstrationen - bestehen Vorbehalte von Seiten mancher NPD-Vertreter gegenüber den Umworbenen fort.260 Die NPD, die in Teilen inzwischen selbst als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden muss, bemüht sich bereits seit Jahren und nicht ohne Erfolg auch um einen Schulterschluss mit der bislang mehr oder minder parteiunabhängigen Neonaziszene, was in der von ihr seit dem Jahr 2004 betriebenen "Volksfront"-Strategie "Volksfront"zum Ausdruck kommt. Dabei nimmt sie Neonazis nicht nur als einStrategie fache Mitglieder in ihre Reihen auf, sondern wählt auch überregional bis bundesweit bekannte Neonazi-Kader in hohe Parteifunktionen. So waren im Jahr 2008 mit Thorsten HEISE und Jürgen RIEGER zwei bundesweit bekannte Neonazis Mitglieder im NPDBundesvorstand.261 RIEGER wurde auf dem NPD-Bundesparteitag, der am 24. und 25. Mai 2008 in Bamberg stattfand, sogar zu einem von drei stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Partei gewählt.262 An der Spitze der baden-württembergischen NPD besteht eine ähnliche personelle Konstellation: Seit 2007 ist der Neonazi Andreas 259 Siehe zur so genannten Wortergreifungsstrategie S. 171f. Siehe auch: Verfassungsschutzbericht BadenWürttemberg 2007, S. 179-184. 260 Siehe zu diesen Vorbehalten S. 137f. 261 Homepage der Bundes-NPD vom 22. Oktober 2008. 262 DS Nr. 07/08 vom Juli 2008, Artikel "'Vorwärts, Nationaldemokraten!' 32. Bundesparteitag der NPD in Bamberg/Moderate Erneuerung des Parteivorstandes/Udo Voigt als Parteivorsitzender bestätigt", S. 13. 161 THIERRY einer von aktuell zwei stellvertretenden baden-württembergischen NPD-Landesvorsitzenden.263 THIERRY taucht bereits seit 2004 (2004 bis 2006 als Mitglied im "Wissenschaftlichen Beirat", seit 2006 als "Verantwortlicher Schriftleiter" und seit 2007 als Mitglied der "Schriftleitung") im Impressum der neonazistischen, vom in Rosenberg-Hohenberg/Ostalbkreis ansässigen "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" herausgegebenen Zeitschrift "Volk in Bewegung & Der Reichsbote" (ViB)264 auf, in der er zudem seit Jahren Artikel publiziert. Mit einem der stellvertretenden bayerischen NPD-Landesvorsitzenden ist ein weiterer relativ hochrangiger NPD-Funktionär seit 2006 Mitglied der ViB-"Schriftleitung".265 Der offen und zum Teil mit Erfolg angestrebte Schulterschluss der NPD mit der Neonaziszene bleibt für die Partei ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist die personelle Verzahnung zwischen NPD und Neonaziszene grundsätzlich dazu geeignet, im Zusammenspiel mit den beiderseitigen ideologischen Schnittmengen das zumal in der Vergangenheit immer wieder angespannte gegenseitige Verhältnis zu verbessern, was wiederum das Ansehen und damit die Einflussmöglichkeiten der Partei unter den Neonazis erhöht. Andererseits birgt die unverhohlene Annäherung an die Neonaziszene, deren Personenpotenzial trotz seit Jahren steigender Tendenz immer noch sehr überschaubar ist und der NPD nur einen relativ geringen Wählerund Mitgliederzuwachs bescheren würde, die Gefahr, potenzielle Mitglieder oder Wähler abzuschrecken, die nicht diesem härtesten Kern des deutschen Rechtsextremismus zuzurechnen sind. Und auch im Verhältnis zwischen der NPD, deren Vordenker gerade in den letzten Jahren verstärkt auf das Erscheinungsbild der Partei in der Öffentlichkeit bedacht sind, und den Neonazis, die selten willens oder in der Lage sind, ihren ideologischen Fanatismus wenigstens nach außen zu zügeln, zeigen sich immer wieder Sollbruchstellen. Die wiederholten Distanzierungen führender Nationaldemokraten gegenüber den neonazistischen "Autonomen Nationalisten" sind nur ein Beleg dafür.266 Dieses Kon263 Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 23. Oktober 2008. 264 Die Zeitschrift ViB hieß noch bis einschließlich 2007 "Volk in Bewegung - Vierteljahresschrift für eine neue Ordnung!". Ihren neuen Namen erhielt die Zeitschrift nach ihrem Zusammenschluss mit der Zeitschrift "Der Reichsbote". Die Umbenennung erfolgte mit der Ausgabe 1-2008. 265 ViB Nr. 3/4-2008, Impressum, S. 3. 266 Siehe zum Verhältnis von NPD und "Autonomen Nationalisten" auch S. 157f. 162 fliktpotenzial offenbarte sich zum Beispiel auch aus Anlass des Todes von Friedhelm BUSSE (23. Juli 2008), eines NPD-Mitgliedes und früher führenden Protagonisten der Neonaziszene. Zwar drückte die Partei umgehend ihre Trauer aus.267 Mit VOIGT und einem der stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden nahmen zwei hochrangige Parteivertreter an BUSSEs Beerdigung am 26. Juli 2008 in Passau teil. Als bei dieser Beisetzung der Neonazi Thomas WULFF, ein ehemaliges NPD-Bundesvorstandsmitglied, dem Sarg BUSSEs eine Reichskriegsflagge mit ins Grab gab, was zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen führte,268 sah sich die NPD-Führung zu einer offiziellen Distanzierung von der Aktion WULFFs veranlasst. In einer auf seiner Sitzung am 31. Juli 2008 verabschiedeten "Erklärung" missbilligte das NPD-Präsidium die Aktion als "'den Versuch Einzelner, das letzte Geleit für Friedhelm Busse durch die Beisetzung der verbotenen Reichskriegsflagge des Dritten Reiches für eine politische Selbstinszenierung zu instrumentalisieren, die nicht im Einklang mit den Zielen der NPD'" stehe. Es entstehe "'zunehmend der Eindruck, daß die volkstreue Opposition durch derartige Provokationen systematisch diskreditiert werden'" solle. Die NPD stehe hingegen "'für einen modernen, der Zukunft zugewandten Nationalismus. Der Einsatz für ein sozial gerechtes Deutschland, für die Wiederherstellung von nationaler Solidarität, Identität und Souveränität'" bedürfe "'keiner leeren Provokationen von Selbstdarstellern und - unabhängig von ihrer eventuellen Strafbarkeit - keiner Symbolik von gestern.'" 269 Erwartungsgemäß erntete diese "Erklärung" des NPD-Präsidiums heftige Kritik aus der Neonaziszene, teils aber bezeichnender Weise auch aus der eigenen Partei. Auch im Jahr 2008 hielt die seit Jahren zu beobachtende Entwicklung hin zu einer engen personellen Verflechtung der NPD mit anderen rechtsextremistischen Organisationen an. Dies äußert sich nach wie vor nicht zuletzt darin, dass führende NPD-Mitglieder Leitungsfunktionen in solchen Organisationen übernehmen und somit ihrer Partei entsprechende Einflussmöglichkeiten eröffnen. So bekleidet der baden-württembergische NPD-Lan267 Siehe beispielsweise: Text "NPD trauert um Friedhelm Busse", Homepage des NPD-Landesverbandes Bayern vom 30. Oktober 2008. 268 Die Verwendung der Reichskriegsflagge ist dann strafbar, wenn es sich um die mit einem Hakenkreuz versehene Version handelt. 269 DS Nr. 09/08 vom September 2008, Artikel "'Der Einsatz für ein sozial gerechtes Deutschland bedarf keiner Symbolik von gestern' - Erklärung des NPD-Parteipräsidiums zur Beisetzung von Friedhelm Busse", S. 13; Übernahme wie im Original. 163 desvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER aus Villingen-Schwenningen eine führende Funktion in der rechtsextremistischen "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH) und ist Vorstandsmitglied bei der rechtsextremistischen "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP). Als GfP-Vorsitzender fungiert Andreas MOLAU, einer der stellvertretenden niedersächsischen NPD-Landesvorsitzenden, der seine Partei als Spitzenkandidat in die niedersächsische Landtagswahl am 27. Januar 2008 führte. Karl RICHTER, von 2004 bis 2008 Leiter des Parlamentarischen Beratungsdienstes der sächsischen NPD-Landtagsfraktion und seit Juli 2008 stellvertretender Chefredakteur der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS), ist laut Impressum eines von vier Redaktionsmitgliedern bei dem ältesten rechtsextremistischen Strategieund Theorieorgan in Deutschland, "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte", in dem er auch als Autor in Erscheinung tritt. Außerdem zog er als Spitzenkandidat der rechtsextremistischen, NPD-nahen Münchener "Bür - gerinitiative Ausländerstopp" (BIA) bei den bayerischen Kommunalwahlen am 2. März 2008 in den Stadtrat Münchens ein. Die NPD-Nähe der BIA wird nicht zuletzt dadurch dokumentiert, dass RICHTER auch Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes München-Stadt/Land ist. relen und Die NPD produziert immer wieder Querelen und Skandale, die nicht nur kandale das ohnehin schlechte Image der Partei in der demokratischen Mehrheitsgesellschaft weiter verschlechtern, sondern auch die eigene Position innerhalb der rechtsextremistischen Szene beschädigen und teils heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen heraufbeschwören. Einen solchen Vorfall markierte die Verurteilung des ehemaligen NPD-Bundesschatzmeisters Erwin KEMNA zu zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe durch das Landgericht Münster am 12. September 2008, wodurch zugleich eine empfindliche finanzielle Schädigung der Partei offenbart wurde: KEMNA hatte gestanden, Parteigelder in Höhe von insgesamt 741.000 Euro veruntreut zu haben. Der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT, der wegen dieser Vorfälle innerparteilich in die Kritik geriet, sah sich veranlasst, eine noch vom Urteilstag datierte "Persönliche Erklärung" zu veröffentlichen, in der er seinen Rücktritt ausdrücklich ausschloss.270 Nur fünf Tage später verfasste VOIGT eine weitere "Erklärung" in dieser Angelegenheit, worin er nicht nur "eine Krise" der Partei einräumen musste, sondern auch, dass im Fall KEMNA, der auf Aufforderung mittlerweile aus der NPD ausgetreten sei, 270 Text "Persönliche Erklärung des NPD-Parteivorsitzenden zur Verurteilung des Bundesschatzmeisters" von Udo VOIGT vom 12. September 2008, Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2008. 164 "Kontrollmechanismen versagt" hätten. VOIGT stritt aber ab, dass "es in der NPD keine Finanzkontrollen" gegeben habe. Allerdings musste er gleichzeitig anmahnen, dass "wir bis hinein in die Kreisverbände gerade die manchmal eventuell doch eher stiefmütterlich behandelte Wahl der Kassenprüfer nicht mehr dem Zufallsprinzip überlassen dürfen." Einen Rücktritt schloss VOIGT wieder aus, kündigte jedoch den Vorschlag an den Parteivorstand an, "den nächsten Wahlparteitag von 2010 auf einen zeitnahen Termin nach der Bundestagswahl im November 2009 vorzuziehen." 271 VOIGTs Erklärungen konnten offensichtlich nicht alle Kritiker überzeugen: Beispielsweise schied im Oktober 2008 Andreas MOLAU aus Protest über die Vorfälle um KEMNA aus dem NPD-Bundesvorstand aus. 4.1.2 Wahlen Das Wahljahr 2008 verlief für die NPD, die gemäß den Vereinbarungen des "Deutschland-Paktes"272 mit der DVU vom 15. Januar 2005 bei drei der vier Landtagswahlen antrat, alles in allem enttäuschend. Mit gerade einmal 1,5 erfolglose Prozent der Stimmen schnitt sie am 27. Januar 2008 in Niedersachsen noch Landtagswahlvergleichsweise am besten ab, während sie am selben Tag in Hessen mit teilnahmen einem Stimmenergebnis von 0,9 Prozent nicht einmal in den Genuss der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung kam. Auch acht Monate später war kein Aufwärtstrend für die Partei zu erkennen: Bei den bayerischen Landtagswahlen am 28. September 2008 landete die Partei bei nur 1,2 Prozent. In allen drei Bundesländern war die NPD bei den jeweils letzten Landtagswahlen 2003 nicht angetreten. Die drei erfolglosen Landtagswahlteilnahmen der NPD im Jahr 2008 - und auch die Vorbereitungsaktivitäten für die Wahlen des Jahres 2009 - zeigen aber, dass der "Kampf um die Parlamente" innerhalb des von ihr verfolgten "Vier-Säulen-Konzepts" 273 nach wie vor einen hohen Stellenwert besitzt. Die Landtagswahlniederlagen der NPD im Jahr 2008 werfen erneut ein Schlaglicht auf ein grundsätzliches und sich offenbar immer stärker verfestigendes Problem der NPD: Die Partei konnte, nachdem sie nach 1968 bei sämtlichen Landtagswahlen, zu denen sie angetreten war, gescheitert war, in Ostdeutschland seit 2004 in zwei Landesparlamente einziehen und dort in den letzten Jahren auch sonst in der Regel deutlich bessere Wahlergebnisse erzielen als in den alten Bundesländern. Dagegen kommt sie hier bei Urnengängen über den Status einer Splitterpartei nicht oder kaum hinaus. 271 Text "Erklärung des Parteivorsitzenden zum 'Fall Kemna'" von Udo VOIGT vom 17. September 2008, Homepage des NPD-Bundesverbandes vom 31. Oktober 2008. 272 Siehe zum "Deutschland-Pakt": Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 166f. 273 Zum "Vier-Säulen-Konzept" gehören neben dem "Kampf um die Parlamente" der "Kampf um die Straße", der "Kampf um die Köpfe" und der "Kampf um den organisierten Willen". 165 Offensichtlich kann sie Ergebnisse wie bei der sächsischen Landtagswahl 2004 (9,2 Prozent) und bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006 (7,3 Prozent) bislang nur unter den ökonomischen und sozialen Bedingungen Ostdeutschlands erringen. In den westdeutschen Landtagen verfügt sie nach wie vor - anders, als erklärtermaßen von ihr angestrebt - über kein parlamentarisches Standbein. Dadurch wird sie in der Öffentlichkeit immer mehr als ostdeutsches Sonderphänomen ohne ernstzunehmende Chancen in Westdeutschland wahrgenommen. Die NPD scheint entschlossen, ihr Wahlengagement in Ostdeutschland vor dem Hintergrund ihrer bisher dort erzielten Erfolge auszuweiten: Nach Angaben des NPD-Landesverbandes Thüringen vom Oktober 2008 beabsichtigt die Partei, entgegen der ursprünglichen Regelungen des "Deutschland-Paktes" zur thüringischen Landtagswahl am 30. August 2009 anzutreten, und hat entsprechende Vorbereitungen bereits eingeleitet. Es bestehe "die grundsätzliche Bereitschaft des Bundesvorstandes der DVU," auf den im "Deutschland-Pakt" eigentlich ihr zugestandenen Wahlantritt im Freistaat zu verzichten.274 Sollte es tatsächlich so kommen, bedeutete dies zumindest eine Abänderung des "Deutschland-Paktes". Ob in der Ankündigung des NPD-Landesverbandes Thüringen schon der Anfang vom vorzeitigen Ende des "Deutschland-Paktes" zu sehen ist, der ohnehin regulär zum 31. Dezember 2009 auslaufen würde, bleibt abzuwarten. Bereits im September 2006 wurde vom baden-württembergischen NPDLandesverband ein "kommunalpolitischer Arbeitskreis" gegründet, dessen Zielvorgabe darin bestand, ein möglichst gutes Abschneiden der Partei bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen am 7. Juni 2009 zu erreichen. Dabei sollte sich der "Arbeitskreis" schwerpunktmäßig auf die Region Stuttgart konzentrieren, um dort in das Regionalparlament einzuziehen. Die von der Südwest-NPD angestrebte Verankerung auf kommunaler Ebene sollte dabei langfristig als Schritt hin zu einem Einzug in den baden-württembergischen Landtag im Jahr 2011 dienen. Offensichtlich hielt die badenwürttembergische NPD auch im Jahr 2008 an dieser Linie fest. So betonte der Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER in einem Internet-Grußwort die Fortexistenz dieses "kommunalpolitischen Arbeitskreises" und erwähnte in diesem Zusammenhang, dass die "Zahl regelmäßiger Sprechabende, politischer Stammtische und Gesprächsrunden (...) landesweit ausgebaut" werde.275 Seit Oktober 2008 wirbt der baden-württembergische 274 Beitrag "Die NPD wird die vierte Fraktion im Thüringer Landtag", Homepage des NPD-Landesverbandes Thüringen vom 17. Oktober 2008. 275 Text "Grußwort des Landesvorsitzenden" von Jürgen SCHÜTZINGER, Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 28. Oktober 2008. 166 NPD-Landesverband mit Hilfe auf seiner Homepage eingestellter Formblätter um Unterstützungsunterschriften, die die Partei für die Zulassung zur Wahl zur Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart benötigt.276 4.1.3 Ideologische Ausrichtung Die NPD ist eine unverhohlen rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei. Zahlreiche Vertreter der Partei - bis hin zu hochrangigen Funktionären - artikulieren und propagieren in unterschiedlicher Deutlichkeit ihre fundamentale Ablehnung der westlichen Moderne und Wertegemeinschaft im Allgemeinen und der von diesen Werten bestimmten freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen. Beispielsweise wird auf der im Jahr 2008 völlig neu gestalteten Homepage der "Deutschen Stimme" im Rahmen der Vorstellung des Redaktionsmitgliedes Jürgen W. GANSEL behauptet, dass die DDR der Vorwendezeit "in manchem deutscher als die herunterliberalisierte US-Kolonie BRD" gewesen sei "- man denke nur an den preußischen Schneid der Nationalen Volksarmee oder die restriktive Ausländerpolitik, in der die Fremden für die Dauer ihres begrenzten Arbeitsaufenthaltes konsequent von den Einheimischen separiert wurden." In demselben Text ist auch von der "materialistische[n] Rheinbund-Republik, die die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung" gewesen sei, die Rede.277 Die kompromisslos-fanatische Ablehnung der bundesdeutschen VerfasAblehnung der sungsordnung innerhalb der NPD geht so weit, dass manche Vertreter der VerfassungsPartei auf ihrer Suche nach Gegenentwürfen und vermeintlichen "Alternaordnung tiven" auch vor offen neonazistischer NS-Verherrlichung nicht zurückschrecken. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür gab es in der DS-Ausgabe vom Mai 2008. GANSEL, der auch Mitglied sowohl des NPD-Bundesvorstandes wie auch der sächsischen NPD-Landtagsfraktion und nicht zuletzt einer der wichtigsten Vordenker in der Partei ist, verglich in einem Artikel die Studentenbewegung an deutschen Universitäten um 1968 und die "nationalistischen Studenten der Zwischenkriegszeit", wobei aus dem Text immer wieder deutlich wird, dass er unter letzteren nationalsozialistische Studenten zumindest auch, wenn nicht sogar ausschließlich versteht. Die Charakterisierung der "nationale[n]", "nationalistische[n]", aber eben auch explizit der "NS-Studenten" und konkret des "Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes" (NSDStB) der Weimarer Republik gerät dabei zur kritiklosen Verherrlichung und enthält auch antisemitische Anklänge: 276 Beitrag "Kommunalwahl 2009 - Unterstützen Sie uns!", Homepage des NPD-Landesverbandes BadenWürttemberg vom 28. Oktober 2008. 277 DS-Homepage vom 27. Oktober 2008. 167 "Es ist absurd, weil unhistorisch, die nationalistische Studentenschaft der 1920er Jahre mit durchgeknallten Hasch-Rebellen, pseudorevolutionären Kleinkriminellen und familienfeindlichen Erziehungstheoretikern zu vergleichen. Nicht nur habituell und normativ war der nationale Student der Weimarer Zeit, dem es um Arbeit, Familie und Vaterland ging, völlig anders geeicht als der wohlstandsverwöhnte und geistig wurzellose 68er-Student. Weltanschaulich hätten sich beide Studentenbewegungen auf den gegnerischen Campus-Barrikaden wiedergefunden und sprichwörtlich die Klingen gekreuzt, wenn die 68er waffenstudentisch satisfaktionsfähig gewesen wären. Der Student der zwanziger Jahre war vaterländisch und volkstreu gesinnt, der Achtundsechziger hingegen europatümelnd, fernstenliebend und internationalistisch. Und die frühere Studentenschaft protestierte gegen die geistige Zersetzungsarbeit linkssozialistischer und jüdischer Professoren (was oftmals deckungsgleich war), während sich die Achtundsechziger ihren Ideenplunder für die Zerstörung des deutschen Staatsund Volkslebens von jüdischen Denkern wie Adorno, Horkheimer, Marcuse oder Reich holten. (...) In der abgeschmackten Bewältigungsliteratur erfährt man heutzutage (...) mehr über die 'Verbrechen des deutschen Schäferhundes 1933-45' als über die nationalrevolutionären Antriebe vieler Studenten der Weimarer Republik. Dieses Stück deutscher Universitätsund Studentengeschichte wird natürlich deshalb so konsequent beschwiegen, weil es nicht ins systemvermittelte Bild des angeblich so dumpfbackigen Nationalsozialismus passt, dass die akademische Jugend damals eben nicht 'zivilgesellschaftlich' und 'weltoffen' gepolt war, sondern volksund heimattreu. (...) Die Forderung nach einer 'volksoffenen Hochschule' zielte auf die Bildungsund Aufstiegschancen auch von Arbeiterkindern, und der NStDB [sic!] forderte die soziale Mobilität durch ein gebührenfreies Studium ein. (...) Diese fortschrittlichen Forderungen aus dem Geiste der Volksgemeinschaft haben indes nichts zu tun mit dem, was die Anarcho-Internationalisten von 68 verlangten." 168 Hinzu kommt, dass GANSEL zum Beleg seiner Thesen Zitate namhafter NS-Funktionäre wie Baldur von Schirach278 und Joseph Goebbels anführt. Die DS illustriert den GANSEL-Artikel mit einem Porträtphoto von Schirachs. Angesichts derartiger NS-Verherrlichung passt es ins Bild, dass GANSEL die Wendung "geistig verbundesrepublikanisiert" offensichtlich als negative Charakterisierung einstuft und verwendet.279 Die DS erweist sich seit Jahren als Organ zur Verbreitung rechtsextremistischer bis hin zu neonazistischen Äußerungen, auch wenn sie sich dabei zuweilen diverser, meist jedoch fadenscheiniger Verschleierungstaktiken bedient. Die DS ist aber nicht nur ein Forum für dezidierte Systemopposition bis hin zur NS-Verherrlichung. In ihr leisten mehr oder minder prominente Rechtsextremisten auch theoretisch-strategische Grundlagenarbeit: Sie ist ein Ort für Grundsatzdebatten und hat mittlerweile den Charakter eines führenden rechtsextremistischen Theorieund Strategieorgans angenommen. Beispielsweise wird in der DS einer Aktualisierung und Modernisierung des rechtsextremistischen Propagandathemenkanons das Wort geredet. Dabei wird eine Abkehr von vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen (besonders aus dem Bereich des Geschichtsrevisionismus) gefordert, die außerhalb der rechtsextremistischen Szene in der Regel mindestens auf Desinteresse, wenn nicht auf entschiedene Ablehnung stoßen. Stattdessen wird eine stärkere Hinwendung zu gegenwartsbezogenen bis hin zu tagesaktuellen Themen (beispielsweise aus dem Bereich der Sozialund Wirtschaftspolitik) angemahnt, die gesamtgesellschaftlich relevant sind und daher auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene diskutiert werden. Ziel ist es dabei, die eigene Propaganda attraktiver, oberflächlich weniger angreifbar und damit effektiver zu machen, also möglichst bis in die Mitte der Gesellschaft neue Bündnispartner, Anhänger, Mitglieder und Wähler zu gewinnen. Den vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen scheint in dieser Strategie nur noch eine Rolle in der parteibeziehungs278 Baldur von Schirach (1907-1974), hochrangiger NS-Funktionär, unter anderem ab 1928 Reichsführer des NSDStB, ab 1931 Reichsjugendführer der NSDAP, ab 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches, ab 1940 Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. 1946 Verurteilung in Nürnberg zu 20 Jahren Haft, die er in Berlin-Spandau verbüßte. 279 DS Nr. 05/08 vom Mai 2008, Artikel "Der 'Faschismus' ist immer und überall - Götz Aly erklärt in seinem Buch 'Unser Kampf' die 68er zu Spätausläufern der NS-Studentenbewegung" von Jürgen GANSEL, S. 22; Übernahme wie im Original. 169 weise szeneinternen Kommunikation zugedacht zu sein, insbesondere bei der ideologischen Selbstvergewisserung längst eingeschworener Rechtsextremisten, die es nicht mehr zu überzeugen gilt. Mit der Überholung des eigenen Propagandathemenkanons ist keine Aufgabe oder auch nur Relativierung althergebrachter rechtsextremistischer Positionen in der NPD beabsichtigt. Ganz im Gegenteil: Mit der Aufbereitung zeitgemäßer Themen soll rechtsextremistisches Gedankengut erfolgreicher transportiert werden. 4.1.4 Aktivitäten Sieht man insbesondere von ihren Wahlkampfaktivitäten ab, legte die NPD im Jahr 2008 weniger, zumindest weniger öffentlichkeitswirksame Aktivitäten an den Tag als noch 2007. Dies galt nicht zuletzt für ihren baden-württembergischen Landesverband. So fuhren die hiesigen JN ihre Demonstrationstätigkeit spürbar zurück. Am 18. Mai 2008 veranstaltete der NPD-Landesverband "im Raum Tuttlingen" seinen 44. ordentlichen Parteitag, auf dem allerdings keine Vorstandswahlen stattfanden. An dem Parteitag nahmen circa "100 Delegierte und Gäste" teil, darunter "als Vertreter des" NPD-Bundesvorstandes der hochrangige NPD-Multifunktionär Sascha ROßMÜLLER, der unter anderem als stellvertretender NPD-Bundesvorsitzender fungiert.280 Am 8. November 2008 führte die NPD einen bundesweiten Aktionstag aus Anlass der internationalen Finanzkrise durch. Baden-württembergische NPDbeziehungsweise JN-Vertreter beteiligten sich daran nach eigenen Angaben mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen (zum Beispiel mit Informationsständen) in Friedrichshafen, Ravensburg, Überlingen/Bodenseekreis,281 Heilbronn282 und Bretten/Krs. Karlsruhe.283 280 Bericht "Auf zu neuen Taten! Harmonischer Landesparteitag der NPD Baden-Württemberg", Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 21. Mai 2008; Fettdruck nicht im Original. 281 Berichte "Informationsoffensive am Bodensee - Kampf dem Kapitalismus! NPD und JN klären in mehreren Städten über die Finanzkrise auf" und "Infostand der NPD in Überlingen", Homepage des NPDLandesverbandes Baden-Württemberg vom 14. beziehungsweise 24. November 2008. 282 Bericht "Gelungener Infostand im Rahmen des bundesweiten Aktionstages", Homepage des NPDKreisverbandes Heilbronn vom 21. November 2008. 283 Bericht "Bundesweiter Aktionstag der NPD: Informationsstand in Bretten", Homepage des NPD-Kreisverbandes Karlsruhe-Land/Regionalverbandes Karlsruhe-Mittelbaden vom 24. November 2008. 170 Der erst 2006 gegründete "Ring Nationaler Frauen" (RNF), die Frauenorganisation der NPD, legte in Baden-Württemberg im Jahr 2008 wiederholt, wenn auch nur interne Aktivitäten an den Tag und gab sich entschlossen, diese auszubauen. So hieß es in einem Internetbericht der Organisation über ein "RNF-Treffen im Raum Heilbronn", bei dem am 10. Februar 2008 circa 50 Personen, darunter "etwa die Hälfte" Männer zugegen gewesen sein sollen, der "RNF in BadenWürttemberg" werde "in Zukunft regelmäßig im gesamten Landesgebiet derartige Veranstaltungen organisieren, um interessierten Frauen überall im Ländle Anlaufstellen und Kontaktmöglichkeiten bieten zu können." 284 Im August 2008 meldete der NPD-Landesverband Baden-Württemberg die Gründung einer RNF-Regionalgruppe in Villingen-Schwenningen und kündigte "monatliche Treffen" an.285 Auf dem Bundesparteitag am 24. und 25. Mai 2008 in Bamberg erfuhr der RNF eine formale Aufwertung innerhalb der Partei: Es wurde beschlossen, dass von nun an die jeweilige RNF-Vorsitzende qua Amt auch stimmberechtigtes NPD-Bundesvorstandsmitglied ist.286 Die NPD ließ im Berichtsjahr deutlich erkennen, auch in Zukunft auf die so genannte "Wortergreifungsstrategie" setzen zu wollen: So gab der NPD"WortergreiBundesvorstand in Berlin im Mai 2008 eine Broschüre mit detaillierten fungsstrategie" Angaben und Instruktionen zur Durchführung von "Wortergreifungen" heraus.287 Bei einer so genannten "Wortergreifung" handelt es sich um das gezielte und ostentative Erscheinen von Rechtsextremisten auf oder am Rande von öffentlichen Veranstaltungen (zum Beispiel auf Versammlungen, Demonstrationen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen), die gerade nicht von Rechtsextremisten organisiert worden sind. Das Spektrum der Organisationen, deren öffentliche Veranstaltungen von solchen "Besuchen" durch Rechtsextremisten potenziell betroffen sein können, ist breit: Es umfasst unter anderem Parteien, Bürgerinitiativen, Vereine oder staatliche Einrichtungen. Das Themenspektrum der Veranstaltungen, auf denen Rechtsextremisten bevorzugt "das Wort ergreifen", ist dagegen etwas übersichtlicher, scheinen hier doch Veranstaltungen zum Thema "Rechtsextremismus" stärker im Fokus zu stehen als andere. Rechtsextremistische "Wortergreifungen" 284 Bericht "Erfolgreiche Veranstaltung des Ringes Nationaler Frauen im Kreis Heilbronn", RNF-Homepage vom 30. Oktober 2008; Fettdruck nicht im Original. 285 Bericht "Regionalgruppe des RNF in Villingen-Schwenningen gegründet", Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2008. 286 Text "Sondermeldung Bundesparteitag" vom 26. Mai 2008, RNF-Homepage vom 30. Oktober 2008. 287 NPD-Parteivorstand, Amt für Organisation (Hrsg.): Schweigespirale durchbrechen! Erfolgreiche nationale Wortergreifungen durchführen, Berlin 2008. 171 erfolgen also auf fremdem Terrain, aber häufig in eigener Sache. Bei diesen Aktionen lassen es Rechtsextremisten meist nicht bei bloßer Präsenz bewenden, sondern versuchen auch, das Wort zu ergreifen, also durch Diskussionsbeiträge oder in anderer Weise ihre Positionen vorzubringen, beispielsweise durch das Skandieren von Parolen, das Entrollen von Transparenten oder das Verteilen von Propagandamaterial. Die Ziele, die Rechtsextremisten mit ihren "Wortergreifungen" verfolgen, lassen sich grob in zwei Dimensionen unterteilen, die naturgemäß eng miteinander verbunden sind: Die "Wortergreifungsstrategie" soll nach dem Willen ihrer rechtsextremistischen Urheber einerseits dem Rechtsextremismus selber möglichst großen Nutzen bringen, insbesondere zum Aufbrechen seiner gesellschaftlichen Isolation beitragen, andererseits die politischen Gegner des Rechtsextremismus möglichst schwer und nachhaltig, weil vor den Augen der Öffentlichkeit, beschädigen. So heißt es in der Broschüre des NPD-Bundesvorstandes: "Unser Hauptziel ist die öffentliche Bloßstellung der unfähigen Scheindemokraten! (...) Wird der Gegner als undemokratisch, unfähig oder unwissend demaskiert, manifestiert sich der Erfolg der Wortergreifungsstrategie. Geschockt oder geistig angeregt geht das Publikum nach Hause - und bei manch einem Zuhörer trägt ein solches Erlebnis sogar dazu bei, in Zukunft in stärkerem Maße als vorher national zu denken!" 288 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 600 Baden-Württemberg (2007: ca. 700) ca. 6.000 Bund (2007: ca. 7.000) Sprachrohr: "National-Zeitung/Deutsche Wochenzeitung" (NZ) Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Noch in den 90er-Jahren war die "Deutsche Volksunion" (DVU) schon aufgrund ihrer relativ hohen Mitgliederzahl (1993: circa 26.000) ein zumindest 288 Ebd., S. 15f. 172 quantitativ bedeutender Faktor innerhalb des deutschen Rechtsextremismus. Doch die Zahl von nunmehr circa 6.000 Parteiangehörigen (2007: circa 7.000) dokumentiert ihren drastischen personellen Niedergang innerpersoneller halb der letzten anderthalb Jahrzehnte. Auch der baden-württembergische Niedergang DVU-Landesverband mit seinen mittlerweile nur noch circa 600 Mitgliedern (2007: circa 700) büßte seit 1993 (damals rund 2.900 Mitglieder) fast vier Fünftel seiner personellen Substanz ein. Dieser drastische Mitgliederschwund trifft mit der DVU eine Partei, deren Mitglieder ohnehin eine schon traditionell zu nennende ausgeprägte Passivität an den Tag legen. Auf dem DVU-Bundesparteitag am 11. Januar 2009 im sachsen-anhaltinischen Calbe wurde Matthias FAUST zum neuen Bundesvorsitzenden der Partei gewählt. Der Rückzug von Dr. Gerhard FREY von dieser Position Rückzug von bedeutet einen tiefen Einschnitt für die Partei, dessen Bedeutung über die Dr. FREY einer bloßen Personalie weit hinausgeht. Denn die DVU wurde seit ihrem Bestehen von ihrem Gründer und bislang einzigen Bundesvorsitzenden, dem finanzkräftigen Münchner Verleger Dr. FREY, dominiert. Sie stand in einem weitgehenden finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, was er dazu nutzte, jeden innerparteilichen Pluralismus oder gar Widerspruch zu unterbinden. Daher konnte sich weder auf Bundesnoch auf Landesebene eine eigenständige, nicht von ihm gelenkte Parteiarbeit entwickeln. Dieser dominante Führungsstil von Dr. FREY hatte zudem zur Folge, dass neben ihm kaum überregional bekanntes, profiliertes DVU-Führungspersonal existiert. Wie sich der Rückzug ihrer bisherigen Schlüsselfigur vom Amt des DVU-Bundesvorsitzenden auf die Partei konkret auswirken wird, bleibt vorerst abzuwarten. Die feste Verankerung der DVU mitten in der rechtsextremistischen Szene ist schon allein daran abzulesen, dass die Partei bereits seit Jahren an dem am 15. Januar 2005 unterzeichneten so genannten "Deutschland-Pakt" mit der dezidiert rechtsextremistischen, in Teilen sogar neonazistisch ausgerichteten NPD festhält. Beim "Deutschland-Pakt", demzufolge sich DVU und NPD bis einschließlich 2009 bei Wahlen auf Europa-, Bundesoder Landesebene keine Konkurrenz machen wollen, handelt es sich inhaltlich um die Fortschreibung der "Gemeinsamen Erklärung" vom 23. Juni 2004, mit der beide Seiten vereinbart hatten, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im September 2004 nicht gegeneinander anzutreten.289 Sollte die DVU auf den ihr ursprünglich im "Deutschland-Pakt" zugesicherten Landtagswahlantritt in Thüringen am 30. August 2009 zugunsten der NPD verzichten, wie vom thüringischen NPD-Landesverband im Oktober 2008 289 Siehe zum "Deutschland-Pakt": Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 166f. 173 gemeldet wurde290, bedeutet dies zwar zumindest eine Modifikation dieses Paktes, nicht aber zwingend einen Bruch mit der NPD. Mit Sicherheit wäre es ein weiterer Hinweis auf den zunehmenden Bedeutungsverlust der DVU: Immerhin würde die in den letzten Jahren erfolgreichste rechtsextremistische deutsche Wahlpartei, obwohl sie ohnehin schon relativ selten zu Wahlen antritt, ohne ersichtliche Not oder Gegenleistung auf die Teilnahme an einer Landtagswahl verzichten, bei der zumindest die thüringische NPD den "'Zeitpunkt für eine nationale Landtagsfraktion in Erfurt'" als für "'noch nie so günstig wie jetzt'" einschätzt.291 Die von Dr. FREY herausgegebene "National-Zeitung/Deutsche Wochenzeitung" (NZ) ist das Sprachrohr der DVU, aber auch das auflagenstärkste und in der Öffentlichkeit wohl bekannteste rechtsextremistische Presseorgan in Deutschland. Damit kommt ihm nicht nur für die Partei, sondern auch für die gesamte rechtsextremistische Szene eine erhebliche Bedeutung zu. Die NZ, die mit der Ausgabe Nr. 43 vom 17. Oktober 2008 erstmals seit vielen Jahren mit einer nennenswerten Veränderung ihres Layouts erschien, blieb auch im Jahr 2008 ihrer rechtsextremistischen Ausrichtung treu: So findet sich in der NZ-Ausgabe Nr. 40 vom 26. September 2008 unter der Rubrik "Deutsche Gedenktage - Wirken und Werden unseres Volkes" der lapidare und auf den ersten Blick unverfängliche Eintrag "28.9.1858 Gustav [sic!] Kossinna geboren, genialer Vorgeschichtsforscher".292 Zwar war Gustaf Kossinna (1858-1931) als studierter klassischer und germanischer Philologe sowie seit 1902 als außerordentlicher Professor für deutsche Archäologie in Berlin wissenschaftlich hoch qualifiziert. Doch als Mitglied des "Alldeutschen Verbandes"293, des "Deutschbundes" und der "Gobineau-Vereinigung" "sowie 290 Beitrag "Die NPD wird die vierte Fraktion im Thüringer Landtag", Homepage des NPD-Landesverbandes Thüringen vom 17. Oktober 2008. 291 Ebd. 292 NZ Nr. 40 vom 26. September 2008, S. 12. 293 Siehe zu Gustaf Kossinna: Kurzbiographie "Gustaf Kossinna" von Ingo Wiwjorra, in: Puschner, Uwe; Walter Schmitz; Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur "Völkischen Bewegung" 1871-1918, München 1999, S. 913f. 174 als Beiträger völkischer Blätter" war er zudem der unter anderem rassistischen, antisemitischen Völkischen Bewegung "eng verbunden" und zählte zu deren "akademisch gebildeten Vordenkern".294 Die Völkische Bewegung wiederum zählt zu den wichtigen Vorgängern, Wegbereitern und Ideengebern des historischen Nationalsozialismus, der zu ihr in einem besonders engen organisatorischen, personellen und ideologischen Traditionsund Kontinuitätsverhältnis stand. Diese historisch-ideologischen Hintergründe verschweigt die NZ ihren Lesern, erhebt Kossinna stattdessen in den Rang eines Wissenschaftsgenies und demzufolge seinen Geburtstag zu einem vermeintlich positiven nationalen Gedenktag. Wahlen Als Wahlpartei ist die DVU erfolgreicher als jede andere rechtsextremistische Partei: Seit Gründung der DVU als politische Partei im Jahr 1987 konnten rechtsextremistische Parteien vierzehn Mal in deutsche Landesparlamente einziehen, davon allein neun Mal die DVU. Allerdings waren vier ihrer Wahlerfolge einer Besonderheit des Bremer Bürgerschaftswahlrechts geschuldet.295 Diese Erfolge sind vor allem darauf zurückzuführen, dass Dr. FREY seine Partei bislang nur zu Wahlen antreten ließ, bei denen er ihr eine wenigstens halbwegs realistische Aussicht auf Erfolg einräumte296, und dann auch bereit war, erhebliche Summen in den Wahlkampf zu investieren. Zudem ist die DVU aufgrund der bereits genannten Absprachen seit 2004 bei Wahlen vor Konkurrenzkandidaturen durch die NPD geschützt. Seit 1999 ist die DVU mit einer Fraktion im brandenburgischen Landtag vertreten, die seit 2004 sechs Abgeordnete umfasst. Gemäß der Regelungen des "Deutschlands-Paktes" mit der NPD trat die DVU nur zu einer der vier Landtagswahlen des Jahres 2008 an: Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl am 24. Februar 2008 erlitt sie mit 0,8 Prozent der Stimmen eine herbe Niederlage. Aktivitäten Auch 2008 entwickelte der baden-württembergische DVU-Landesverband wieder nur geringe Aktivitäten. Von den DVU-Stammtischen in Aalen/Hei - 294 Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001, S. 124. 295 Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft muss eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete, in Bremen oder Bremerhaven, die 5-Prozent-Hürde überwinden, um in das Parlament einzuziehen. Lediglich bei der Bürgerschaftswahl 1991 gelang der DVU mit 6,2 Prozent im gesamten Land Bremen der Sprung in das Parlament in Fraktionsstärke. 1987, 1999, 2003 und 2007 überwand sie diese Hürde nur in Bremerhaven. 296 Die DVU trat seit 1987 daher nur zu 18 Landtagswahlen, einer Bundestagsund einer Europawahl an. 175 denheim, Heilbronn, Schwäbisch Hall und Stuttgart, die im Laufe des Jahres 2008 auf der DVU-Bundeshomepage und in der NZ beworben wuritäten ohne den297, geht, soweit sie überhaupt stattfinden, keine Außenwirkung aus. Nur enwirkung selten führt die Partei darüber hinaus in Baden-Württemberg Veranstaltungen durch, die dann zudem in der Regel ebenfalls keine ernsthafte Außenwirkung entfalten. So wurde nach DVU-Angaben am 2. März 2008 in Stutt - gart eine Veranstaltung durchgeführt, an der auch der in Bayern wohnhafte baden-württembergische DVU-Landesvorsitzende, Walter BAUR, teilgenommen habe.298 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Ver - lag" Der 1953 von Dr. Herbert GRABERT (verstorben 1978) in Tübingen als "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" gegründete "GRABERT-Verlag" firmiert seit 1974 unter seinem jetzigen Namen. Seit 1972 fungiert GRABERTs Sohn Wigbert als Verlagsleiter und seit dem Tod seines Vaters als alleiniger Geschäftsführer. Der Verlag zählt nicht nur zu den ältesten, sondern auch zu den bedeutendsten organisationsunabhängigen rechtsextremistischen Verlagen in Deutschland. Mittlerweile hat er sich mehrere Tochterunternehmen zugelegt, darunter den 1985 gegründeten und ebenfalls in Tübingen ansässigen "Hohenrain-Verlag", der wie der "GRABERT-Verlag" seit 2004 mit einer eigenen Seite im Internet vertreten ist. In den zahlreichen Veröffentlichungen des "GRABERT-" und des "Hohenrain-Verlages" werden immer wieder entschieden rechtsextremistische Positionen propagiert. Schon wiederholt wurden daher Publikationen der beiden Verlage wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener eingezogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert. Das gilt auch für die vierteljährlich im mittlerweile 56. Jahrgang in Tübingen erscheinende Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart - Zeitschrift für Kultur, 297 NZ Nr. 2 vom 4. Januar 2008, S. 14; NZ Nr. 42 vom 10. Oktober 2008, S. 14; Homepage der BundesDVU vom 15. Oktober 2007. 298 Homepage des DVU-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 17. Oktober 2008. 176 Geschichte und Politik" (DGG). Die pseudowissenschaftlich aufgemachte, meist knapp 50-seitige DGG wird zwar seit 2007 nicht mehr von Wigbert GRABERT herausgegeben. Die nach wie vor enge Anbindung der DGG an den "GRABERT-Verlag" wird aber zum Beispiel aus dem Impressum der Zeitschrift ersichtlich. Seit 2007 fungiert Dr. Rolf KOSIEK, ein einschlägig bekannter Rechtsextremist aus Nürtingen/Krs. Esslingen, als neuer Herausgeber und als Chefredakteur der DGG. Dr. KOSIEK war schon zuvor Teil eines zweiköpfigen DGG-Redaktionsteams. In der Ausgabe vom September 2008 formulierte Dr. KOSIEK in einem mehrseitigen Artikel die schon an sich absurde Verschwörungstheorie, dass "seit Jahrzehnten" ein "systematisch durchgeführte[r]" "Völkermord an den Deutschen" verübt werde. Die von Dr. KOSIEK angeführten Instrumente dieses angeblichen Genozids lesen sich als eine Aneinanderreihung von vermeintlichen oder tatsächlichen Zeiterscheinungen oder Strömungen, die von Rechtsextremisten von jeher aus verschiedenen ideologischen Motiven strikt abgelehnt werden (zum Beispiel Geburtenrückgang, Liberalismus). Unter der Zwischenüberschrift "Auferlegung zum Volkstod führender Verhältnisse" wird deutlich, dass Dr. KOSIEK auch die Verfassungsordnung der Bundesrepublik zu den Faktoren zählt, mit deren Hilfe aus seiner verschwörungstheoretischen Sicht nach 1945 der angebliche "Völkermord an den Deutschen" durchgeführt werde: "Die Alliierten legten nach 1945 dem deutschen Volk in ihren Besatzungszonen, später in den Teilstaaten, solche Bedingungen auf, dass die Deutschen dadurch ihrer eigenen Tradition, ihrem reichen Geistesleben und ihrer Weltanschauung entfremdet wurden und daran auf die Dauer zugrunde gehen müssen. Schon die 'Verfassung' der Westdeutschen, das Grundgesetz, wurde praktisch von den Westmächten diktiert und erst nach Übernahme ihrer Forderungen genehmigt. (...) Das deutsche Volk hat nie über das Grundgesetz abgestimmt, noch sich, was bei der kleinen Wiedervereinigung 1990 eigentlich an der Zeit gewesen wäre, sich selbst eine Verfassung gegeben. Die im Grundgesetz verankerten Grundprinzipien wie Demokratie, Antinationalsozialismus, Liberalismus, Kapitalismus und Pazifismus wurden von den Besatzungsmächten zwingend vorgeschrieben. (...) Festzuhalten ist, dass die gesellschaftspolitischen und staatlichen Verhält177 nisse in Deutschland nach 1945, die den Weg zum Volkstod bereiteten, nicht nach deutschen Wünschen und Interessen entstanden, sondern von den Siegern aufgezwungen wurden, die (...) die Vernichtung des deutschen Volkes erstrebten." Dr. KOSIEK zählt im späteren Verlauf des Artikels auch die westliche Wertegemeinschaft, der die Bundesrepublik mit ihren zentralen Verfassungswerten, darunter unter anderem "Demokratisierung", verpflichtet ist, zu den angeblichen Mordwerkzeugen bei der "Vernichtung des deutschen Volkes": "Mit den Siegern wurde in Deutschland (...) die Weltanschauung des 'American way of life' eingeführt, die 'Coca-Cola-Gesellschaft' oder, wie es heute meist heißt, die Weltanschauung der 'westlichen Wertegemeinschaft'. Sie kann mit den Stichworten Liberalismus, Kapitalismus, schrankenloser Individualismus, Spaßgesellschaft, Internationalismus, Demokratisierung, Globalisierung, Gleichheitsideologie und Milieutheorie umschrieben werden. Ihre Auswirkungen können nun nach zwei Generationen in Reinkultur studiert werden: Sie führen zum Tod des deutschen Volkes, weil sie gegen die Lebensgesetze des Volkes verstoßen. (...) Eine den Volkstod bewirkende Weltanschauung kann auf die Dauer nicht geduldet werden. Das Grundgesetz des Lebens, für die Erhaltung der eigenen Art und des eigenen Volkes zu sorgen, sollte den Vorrang vor anderen Ideologien haben." 299 Derartige Ausführungen können nur als fundamentale Absage an die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik und als Aufforderung interpretiert werden, das Grundgesetz in einer Art Notwehrakt zugunsten eines rechtsextremistischen Gesellschaftsentwurfes abzuschaffen. Mit dem mittlerweile im 19. Jahrgang erscheinenden "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten" verfügt der "GRABERT-Verlag" über ein weiteres Periodikum, das sogar alle zwei Monate erscheint, dafür aber weit weniger umfangreich ist als die DGG. Der rechtsextremistische Charakter vieler der im "Euro-Kurier" veröffentlichten Beiträge, die zu 299 DGG Nr. 3 vom September 2008, Artikel "Völkermord an den Deutschen - Eine heimtückische Methode" von Rolf KOSIEK, S. 2-7, Zitate: S. 2-5; Übernahme wie im Original. 178 einem erheblichen Teil auch der Werbung für Publikationen aus den beiden Verlagen dienen, steht demjenigen der meisten DGG-Artikel in Nichts nach. 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP) Die "Gesellschaft für freie Publizistik e.V." (GfP), 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründet, ist trotz ihrer eindeutig rechtsextremistischen Ausrichtung nicht dem neonazistischen Spektrum zuzurechnen. Sie verfügte im Jahr 2008 bundesweit über circa 500 Mitglieder (2007: etwa 500). In Baden-Württemberg stagniert die GfP-Mitgliederzahl bereits seit Jahren bei circa 40. Sie bleibt damit die mitgliederstärkste rechtsextremistische "Kulturvereinigung" in Deutschland und rekrutiert sich vor allem aus rechtsextremistischen Verlegern, Redakteuren, Publizisten und Buchhändlern. Ihr Mitteilungsblatt "Das Freie Forum" erscheint vierteljährlich. Als eine Art Kontaktadresse gibt die GfP ein "Sekretariat" mit Postfach in Ober - boihingen/Krs. Esslingen an.300 Zum Jahresbeziehungsweise "Deutsche[n] Kongreß" der GfP unter dem Rahmenthema "1968 - Vierzig Jahre Volkszerstörung" versammelten sich nach GfP-Angaben ungefähr 300 Teilnehmer (2007: über 350) vom 11. bis 13. April 2008 im thüringischen Suhl.301 Die personelle Verflechtung der GfP-Führung mit der NPD ist nach wie vor eng: Der seit 2005 amtierende GfP-Vorsitzende Andreas MOLAU ist zugleich einer der stellvertretenden NPD-Landesvorsitzenden in Niedersachsen und bekleidete das Amt des Spitzenkandidaten der Partei zur niedersächsischen Landtagswahl am 27. Januar 2008. Im GfP-Vorstand sitzt zudem bereits seit Jahren der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER. 5.3 Geschichtsrevisionismus302: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Geschichtsrevisionistenszene hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker internationalisiert. Unter ihren Protagonisten waren und sind neben Deutschen zum Beispiel auch Briten, Franzosen, US-Amerikaner oder Österreicher, wobei sich letztere aus einer unter 300 Zum Beispiel in "Das Freie Forum" Nr. 2 vom April/Mai/Juni 2008, S. 16. 301 Ebd., Artikel "Der Deutsche Kongreß 2008", S. 1-3. 302 Definition vergleiche S. 129. 179 Rechtsextremisten verbreiteten großdeutschen Perspektive häufig selber auch als Deutsche ansehen und von deutschen Gesinnungsgenossen als Landsleute angesehen werden. Diese internationale Dimension mag auf den ersten Blick erstaunen, da es rechtsextremistischen Geschichtsrevisionisten doch (unter anderem) darum geht, das nationalsozialistische Deutschland von der Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Gegensatz zu den historischen Fakten freizusprechen, im Gegenzug jedoch den Kriegsgegnern des "Dritten Reiches" - also zum Beispiel Großbritannien, Frankreich oder den USA - diese Schuld zuzuweisen. Trotzdem fühlen sich nichtdeutsche Geschichtsrevisionisten - offenbar aus mehr oder minder großer ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus - dem historischen Ansehen des "Dritten Reiches" mehr verpflichtet als dem ihrer eigenen Nation. Seit 2005 musste die internationale rechtsextremistische Geschichtsrevisionistenszene eine ganze Reihe von Rückschlägen hinnehmen. Denn seither gingen eine Reihe ihrer führenden Protagonisten den deutschen und österreichischen Strafverfolgungsbehörden ins Netz. Einige davon befinden sich bis heute in Haft. Auch im Jahr 2008 setzte sich dies fort: Am 14. Januar 2008 wurde die Rechtsanwältin Sylvia STOLZ vom Landgericht Mannheim unter anderem wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Hintergrund dieser Verurteilung waren unter anderem geschichtsrevisionistische Auslassungen, die STOLZ im Zusammenhang mit einem Prozess, in dem sie als Verteidigerin eines bekannten Geschichtsrevisionisten aufgetreten war, gemacht hatte und die zu ihrem Ausschluss aus dem damaligen Verfahren geführt hatten. Zudem verhängte das Gericht ein Berufsverbot für die Dauer von fünf Jahren. Die Verteidigung legte am 16. Januar 2008 Revision ein, die jedoch nur teilweise Erfolg hatte: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe sprach STOLZ mit Beschluss vom 2. Dezember 2008303 in einem Anklagepunkt (Beihilfe zum Verstoß gegen ein Berufsverbot) frei beziehungsweise stellte das Verfahren insoweit ein und änderte im Übrigen lediglich den Schuldspruch ab. Damit ist STOLZ nunmehr rechtskräftig, unter anderem wegen Volksverhetzung, verurteilt. Das fünfjährige Berufsverbot bleibt bestehen. Zur Neufestsetzung des Strafmaßes verwies der Bundesgerichtshof den Fall an das Landgericht Mannheim zurück. 303 Az.: 3 StR 203/08. 180 Am 1. Oktober 2008 wurde der in Deutschland geborene Australier Dr. Fredrick TÖBEN aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft Mannheim im August 2004 erlassenen internationalen Haftbefehls in London festgenommen. Ihm wird zur Last gelegt, in seinen über das Internet verbreiteten Artikeln und Kommentaren die millionenfache Ermordung von Juden im Konzentrationslager Auschwitz geleugnet zu haben. Dr. TÖBEN ist Gründer und Direktor des seit 1996 bestehenden, von Australien aus hauptsächlich über das Internet agierenden rechtsextremistischen "Adelaide Institute". Es ist eines der Zentren geschichtsrevisionistischer Propagandaaktivitäten. Dr. TÖBEN wurde am 29. Oktober 2008 gegen Kaution und die Auflage, sich regelmäßig bei der britischen Polizei zu melden, wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 19. November 2008 kam der britische High Court in seinem letztinstanzlichen Urteil in dieser Sache zu der Auffassung, dass dem von der Bundesrepublik Deutschland beantragten Auslieferungsersuchen nicht stattzugeben sei. Dr. TÖBEN habe sich nach britischem Recht keines Verbrechens schuldig gemacht. Der internationale Haftbefehl gegen ihn bleibt aber weiterhin aufrechterhalten. Nicht nur der Fall Dr. TÖBEN zeigt, dass rechtsextremistische Geschichtsrevisionisten ihre Thesen häufig über das Internet verbreiten, da sie sich hier vor Strafverfolgung sicher fühlen. Dieser Kalkulation steht aber ein - bereits damals konkret im Fall Dr. TÖBEN ergangenes - Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000304 entgegen, wonach sich auch in Deutschland strafbar macht, wer Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des SS 130 Abs. 1 oder des SS 130 Abs. 3 StGB erfüllen ("Auschwitz-Lüge"), auf einem ausländischen, aber Internetnutzern in Deutschland zugänglichen Server in das Internet einstellt. Aber das World Wide Web ist nicht das einzige Medium, über das geschichtsrevisionistische Thesen Verbreitung finden. Nach wie vor stehen dem Geschichtsrevisionismus auch klassische Printmedien offen, so neben der DGG zum Beispiel auch die rechtsextremistische Zeitschrift "Deutsche Geschichte - Europa und die Welt" (DG). Die DG erscheint alle zwei Monate im rechtsextremistischen "Druffel & Vowinckel-Verlag" im bayerischen Inning, hinter dem sich die rechtsextremistische 304 Az.: 1 StR 184/00. 181 "Verlagsgesellschaft Berg mbH" in Inning verbirgt. Sie widmet sich auf über 60 Seiten schwerpunktmäßig historischen Themen, die für die rechtsextremistische Szene aus verschiedenen ideologischen Gründen von Bedeutung sind. Das umfasst auch geschichtsrevisionistische Umdeutungen der für Rechtsextremisten neuralgischen historischen Ereignisse, ohne dass dabei jedoch strafrechtliche Normen verletzt werden. Unter den wechselnden Mitarbeitern der Zeitschrift befinden sich mehrere einschlägige Rechtsextremisten. So kam auch im Jahr 2008 der GfP-Vorsitzende und hochrangige NPD-Funktionär Andreas MOLAU mit Beiträgen in der DG zu Wort.305 Mit ihrem unverdächtigen Titel und ihrer bunten, oberflächlich ansprechenden Titelseite ähnelt die DG im Layout einigen der auf dem Markt befindlichen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften, die nicht extremistisch ausgerichtet sind. Das führt dazu, dass sie leicht mit diesen unbedenklichen Publikationen verwechselt werden kann und manchmal im öffentlichen Zeitschriftenhandel neben diesen angeboten wird. Die DG tritt auch als Veranstalterin von Tagungen und Vortragsveranstaltungen auf. So lud sie für den 11. und 12. Oktober 2008 unter der Überschrift "Zeitgespräche 2008" zum mittlerweile "8. Erlebnis-Wochenende Geschichte" mit Vorträgen zum Thema ",Das Kriegsende 1918 und seine Folgen' - Eine Bilanz nach 90 Jahren" nach "Süddeutschland" ein.306 6. Aktionsfelder: Rechtsextremistische Jugendarbeit und Immobiliengeschäfte deutscher Rechtsextremisten 6.1 "Junge Nationaldemokraten" und "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." - zwei rechtsextremistische Jugendorganisationen im Vergleich 6.1.1 "Junge Nationaldemokraten" (JN) Gründung: 1969 Sitz: Bernburg Mitglieder: ca. 110 Baden-Württemberg (2007: ca. 90) ca. 400 Bund (2007: ca. 400) Publikation: unter anderem "hier & jetzt" 305 DG Ausgabe 93 vom Januar 2008, Artikel "Der Poet der Farben - zum 200. Geburtstag von Carl Spitzweg" von Andreas MOLAU, S. 62f.; DG Ausgabe 96 vom August 2008, Artikel "Treitschkestraße muß bleiben!" von Andreas MOLAU, S. 58f. 306 DG Ausgabe 97 vom September 2008, S. 2. 182 Strukturelle Rahmendaten Die "Jungen Nationaldemokraten" (JN) sind die Jugendorganisation der NPD. Sie verzeichneten 2008 wie 2007 circa 400 Mitglieder. Die JN verfügen anders als ihre Mutterpartei, die auf ihrer Bundeshomepage Landesverbände für alle 16 Bundesländer ausweist307, nicht über ein bundesweites Netz von offiziellen Organisationsstrukturen: Auf der Homepage ihres Bundesvorstandes führen die JN solche Strukturen in nur elf Bundesländern auf, davon in einem Flächenland wie Brandenburg keinen Landesverband, sondern nur einen regionalen, so genannten "Stützpunkt", während für andere Flächenländer (Hessen, Mecklenburg-Vorpommern) zwar der jeweilige Landesverband, aber keine "Stützpunkte" aufgelistet werden.308 Geht man nach der Zahl der Mitglieder und der von den JN im Internet ausgewiesenen "Stützpunkte", zählt der baden-württembergische JN-Landesverband zu den strukturell am deutlichsten ausgeprägten JN-Landesverbänden. Er konnte personell im Jahr 2008 wiederum von circa 90 (2007; personeller 2006: circa 60) auf circa 110 Mitglieder zulegen. Dieser seit Jahren zu beobZuwachs achtende Mitgliederzuwachs ist einerseits auf eine hohe personelle Kontiin Badennuität aktivistischer Führungskader im JN-Landesverband Baden-WürttemWürttemberg berg zurückzuführen. Zum anderen scheinen die relativ zahlreichen und vielfältigen, teils öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen und Aktionen der JN einen spürbaren Rekrutierungseffekt zu entfalten. Im Dezember 2008 gab es in Baden-Württemberg zehn JN-Stützpunkte309 (Oktober 2007: neun). Die leichte Steigerung kam durch die nach JN-Angaben Anfang August 2008 erfolgte Gründung des "Stützpunktes" für den Bereich Reutlingen-Esslingen zustande.310 Diese "Stützpunkte"-Architektur 307 Homepage der Bundes-NPD vom 19. November 2008. 308 Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 19. November 2008. 309 Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 16. Dezember 2008. 310 Bericht "Stützpunktgründung der JN in Esslingen-Reutlingen", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 19. November 2008. Außerdem wurden auf der Homepage des baden-württembergischen JN-Landesverbandes mit Stand 16. Dezember 2008 noch Stützpunkte im Bereich Bodensee mit Postfach in Friedrichshafen, in Göppingen mit Postfach in Geislingen, in Heilbronn, in Karls - ruhe, in Konstanz mit Postfach in Singen, im Bereich Ostalb, in Schwäbisch Hall, Stuttgart und Ulm/Heidenheim aufgelistet. 183 offenbarte in der Vergangenheit - wenn auch nicht im Jahr 2008 - immer wieder eine gewisse Instabilität und Inkontinuität, die sich in häufigen Neugründungen und Auflösungen von "Stützpunkten" niederschlug. Diese Fluktuation dürfte trotz der JN-Mitgliederzuwächse der letzten Jahre mit der immer noch recht dünnen Personaldecke der baden-württembergischen JN zu erklären sein: Bei circa 110 baden-württembergischen JN-Mitgliedern und zehn "Stützpunkten" ist der einzelne "Stützpunkt" im statistischen Durchschnitt nur rund elf Mitglieder stark, wobei bei dieser Rechnung noch nicht einmal der Tatsache Rechnung getragen wird, dass das JN-"Stützpunkte"-Netz große Lücken aufweist (zum Beispiel in weiten Teilen Badens) und daher zumindest einzelne JN-Mitglieder gar keinen Stützpunkt in ihrer erreichbaren Nähe haben dürften. Verliert ein schwach besetzter "Stützpunkt" auch nur wenige Mitglieder (beispielsweise durch Austritt aus den JN, Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene oder durch Wegzug) kann das schon die Auflösung des "Stützpunktes" bedeuten, während im Gegenzug bereits der Eintritt von wenigen Jugendlichen in die JN zu einer "Stützpunkt"-Neugründung führen kann. Ideologische Ausrichtung fassungsWie ihre Mutterpartei NPD lassen auch die JN ihre dezidierte Verfassungsdlichkeit feindlichkeit weitgehend unverhohlen erkennen. Dafür legte der JNBundesvorsitzende Michael SCHÄFER auf dem Landeskongress der JN Baden-Württemberg am 2. März 2008 im Raum Karlsruhe eindrücklich Zeugnis ab. Nach JN-eigenen Angaben legte SCHÄFER "in einer kämpferischen Rede dar, wie verkommen und degeneriert das BRD-Regime in allen Lebensbereichen längst geworden sei, und wie stark die Auseinandersetzung mit der nationalen Bewegung von dümmlichen Vorurteilen und haltlosen Unterstellungen bestimmt werde. Schäfers Fazit: 'Wir erleben hier einen Staat, der komplett wahnsinnig geworden ist.' Diesem Staat, der nicht mehr willens oder in der Lage sei, die Lebensrechte des Deutschen Volkes zu garantieren und stattdessen im dekadenten Wahn den Volkstod forciere, gelte es mit kompromissloser Entschlossenheit entgegenzutreten, und den Men184 schen klar zu machen, dass nur die nationale und soziale Erneuerungsbewegung zukunftsfähige Lösungen biete." 311 Teile der JN - auch in Baden-Württemberg - weisen wie auch andere Teile der NPD mittlerweile eine deutliche Nähe zum Neonazismus auf. An anderer Stelle wurde bereits ein Text zitiert, den die baden-württembergischen JN aus Anlass des 21. Todestages von Rudolf Heß (17. August 2008) auf ihrer Homepage einstellten. In diesem Text werden einige der zentralen Komponenten des neonazistischen Heß-Märtyrerkultes komprimiert wiedergegeben.312 Aktivitäten und Außenwirkung Die JN fuhren im Jahr 2008 ihre Demonstrationstätigkeit in Baden-Württemberg deutlich zurück. Die Organisation trat gerade zweimal (2006 und 2007: je siebenmal), nach Mitte Februar 2008 - sieht man von einer letztlich verbotenen JN-Demonstration am 16. August in Biberach ab - sogar überhaupt nicht mehr, als Demonstrationsveranstalter in Erscheinung. Folgt man der Selbstdarstellung der baden-württembergischen JN auf ihrer Internetseite, haben sie im Laufe des Jahres 2008 dennoch relativ zahlreiche und vielfältige Veranstaltungen und Aktionen durchgeführt, von denen die beiden JN-Demonstrationen nur die besonders öffentlichkeitswirksame Spitze des Eisbergs bildeten. Außerdem nahmen baden-württembergische JN-Vertreter an Veranstaltungen der Mutterpartei oder anderer Rechtsextremisten teil, vereinzelt auch in anderen Ländern oder im Ausland. Wie andere Rechtsextremisten entfalten auch die JN eine Vielzahl ihrer Aktivitäten unter anderem aus Sorge vor Störung durch politische Gegner ganz bewusst nur intern, also ohne Außenwirkung, unter sich und auf sich selbst bezogen, höchstens zusammen mit anderen Rechtsextremisten. Daher wird eine derartige Aktivität auch nicht bereits im Vorfeld einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, sondern allenfalls im Nachgang im Internet darüber berichtet. An internen Aktivitäten veranstalteten die interne baden-württembergischen JN beziehungsweise deren einzelne "StützpunkAktivitäten te" 2008 nach eigenen Angaben neben dem bereits erwähnten Landeskongress zum Beispiel zu Beginn des Jahres 2008 eine "Neujahresfeier" in Schwäbisch Hall, am 26. Januar 2008 eine "Rednerveranstaltung mit anschließendem Balladenabend" sowie vorangegangener Aktivisten-Schu311 Bericht "Landeskongress der JN Baden-Württemberg vermittelt Aufbruchstimmung", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008; Übernahme wie im Original. 312 Siehe dazu S. 147. 185 lung bei Aalen, am 9. Februar 2008 eine "Apres-Ski Party", "Mitte Juni" 2008 eine zweitägige "Kaderschulung" in Rosenberg-Hohenberg/Ostalbkreis, Anfang August 2008 ein Zeltlager im Raum Schwäbisch Hall, im Herbst 2008 eine Klausurtagung des baden-württembergischen JN-Landesvorstandes im bayerischen Landkreis Ansbach und am 22. November 2008 einen weiteren Landeskongress in Rosenberg-Hohenberg.313 Derartige interne Veranstaltungen dienen - das geht aus den entsprechenden Berichten auf der baden-württembergischen JN-Homepage immer wieder klar hervor - unter anderem der ideologischen Indoktrination und Selbstvergewisserung der Teilnehmer sowie der Schaffung beziehungsweise Aufrechterhaltung von Kameradschaft, Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl innerhalb der JN. Nicht zuletzt aber dienen sie auch als kurzzeitige, kollektive mentale Flucht aus einer von den JN zutiefst abgelehnten westlich-modernen, demokratischen Gegenwart, gegen deren Einflüsse man hofft, sich auch langfristig in der verschworenen Gemeinschaft Gleichgesinnter abschotten und immunisieren zu können. So heißt es in dem JN-Internetbericht über das JN-Zeltlager von Anfang August 2008 im Raum Schwäbisch Hall mit "etwa 40" Teilnehmern: "Aus allen Teilen Baden-Württembergs sind sie gekommen, um (...) im Kreise alter und neuer Kameraden Kraft zu tanken für den täglichen Kampf gegen den ganz normalen Wahnsinn in dieser Republik. (...) 'Gemeinschaft leben', so heißt (...) das Motto des arbeitsintensiven Wochenendes (...). Am Ende des Zeltlagers wird jeder Teilnehmer alle Arbeitsgruppen im Rotationsprinzip durchlaufen haben, um gestärkt und mit neuen Eindrücken und Ideen den politischen Kampf in Zukunft noch effektiver und professioneller führen zu können. Der Samstagmittag dient indes dem kulturellen Aspekt in Form des Erkundens der paradiesischen Umgebung des Schwäbisch Haller Hinterlandes - weit weg von Überfremdung, Globalisierung und Dekadenz, dort wo die Welt zumindest auf den 313 Berichte "JN-Neujahresfeier in Schwäbisch Hall 2008", "Rednerveranstaltung mit anschließendem Balladenabend am 26.01.2008 im Ostalbkreis", "SKI HEIL - Apres-Ski Party des JN-Stützpunktes Heilbronn", "Kaderschulung 2008", "'Gemeinschaft leben' ist unsere Stärke!", "Neues wächst nicht von allein - Klausurtagung der JN Baden-Württemberg setzt Ziele für das kommende Jahr" und "Mit Geschlossenheit und Stärke der Zukunft entgegen - Landeskongress der JN Baden-Württemberg stellt Weichen für 2009", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008 beziehungsweise vom 25. November 2008; Übernahme außer Fettdruck wie im Original. 186 ersten Blick noch in Ordnung zu sein scheint. (...) Nach dem Einholen der Fahne stellen sich alle Teilnehmer im Kreis auf und fassen sich gegenseitig an den Armen. Eine feierliche Stimmung kehrt ein, als ein Kamerad das Wort ergreift und mit bewegenden Worten die Bedeutung von Kameradschaft und Zusammenhalt betont, die uns auch in stürmischen Zeiten bei der Fahne halten werden und Grundlage all unseres Handelns sind. Nur in der geschlossenen Gemeinschaft kann der Einzelne im Einklang mit den Anderen die Kraft entwickeln, die er braucht, um im Ringen um eine Zukunft für unser Volk und unsere Nation nicht zwischen die Mühlräder des Systems zu geraten." Dem Bericht zufolge treten die Teilnehmer des Zeltlagers die Heimreise nicht an, "ohne einmal mehr das Gefühl erneuert zu haben, mit dem eigenen Denken und Handeln zum Wohle von Volk und Heimat das Richtige zu tun, egal wie der Ungeist der Zeit auch darüber richten mag." 314 Derartigen internen Aktivitäten wurde 2008 innerhalb der baden-württembergischen JN offenbar ein hoher Stellenwert eingeräumt. So äußerte der baden-württembergische JN-Landesvorsitzende, Lars GOLD aus Rosen - berg/Ostalbkreis auf dem JN-Landeskongress am 2. März 2008 nach JNAngaben sinngemäß: "die politische Schulungsarbeit innerhalb des Landesverbandes werde im neuen Jahr weiter intensiviert werden, ebenso wie gemeinsame Ausflüge, Zeltlager und sonstige Aktivitäten, die das Gemeinschaftsgefühl innerhalb der JN im Ländle weiter stärken und vertiefen sollen." Bei derselben Gelegenheit führte GOLD laut JN-Landeshomepage in Bezug auf das Jahr 2007 aus, dass "man zwar deutlich weniger überregionale Demonstrationen durchgeführt" habe, "dafür hätten jedoch umso mehr dezentrale und kreative Aktionen stattgefunden, die auch in der Systempresse für regelmäßige Präsenz und Resonanz sorgten." GOLD "betonte in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit regelmäßiger politischer Arbeit vor 314 Bericht "'Gemeinschaft leben' ist unsere Stärke!", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008; Übernahme wie im Original. 187 Ort, die oftmals mehr Wirkung entfalte als eine landesweite Demonstration." 315 Der am 2. März 2008 von GOLD vorgenommenen Relativierung der Bedeutung von "landesweite[n]", "überregionale[n] Demonstrationen" dürfte es unter anderem geschuldet sein, dass im Jahr 2008 die Zahl der JNDemonstrationen insgesamt in Baden-Württemberg sichtbar zurückging. Daneben setzten die baden-württembergischen JN jedoch auch 2008 wieder auf eine Vielzahl der von GOLD offenbar favorisierten dezentral-regionalen, öffentlichkeitswirksamen, nach außen auf ein breiteres Publikum gerichteten Propagandaaktionen, mit denen sie auf sich und ihre rechtsextremistischen Positionen oft provokativ aufmerksam machen und letztlich auch neue Sympathisanten und Mitglieder werben wollen. So setzten die JN nach eigenen Angaben eine bereits im Dezember 2007 gestartete Kampagne gegen einen Moscheebau in Neckarsulm/Krs. Heilbronn samt eigener Kampagnehomepage auch im Januar 2008 fort.316 Laut baden-württembergischer JN-Homepage veranstalteten die Landes-JN beziehungsweise deren einzelne "Stützpunkte" zudem etwa am 22. März 2008 eine "Umfrageaktion" im "Rahmen der bundesweiten NPDund JN-Aktionstage unter dem Motto 'Sozial geht nur national!'" in Friedrichshafen und am 30. März 2008 eine Flugblattaktion "zu verschiedenen aktuellen politischen Themen" in Schwäbisch Hall.317 Am 8. Mai 2008, dem 63. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, säuberten nach JN-Angaben Angehörige des "Stützpunktes" Heilbronn ein Denkmal in der Stadt und verteilten dabei "über 1000" Flugblätter.318 Zum Streben der baden-württembergischen JN nach einer öffentlichkeitswirksamen Propagandaarbeit zählt auch, dass der Landesverband bereits seit Jahren immer wieder eigene Flugblätter und Aufkleber verbreitet. 6.1.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ) Gründung: 1990 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 25 Baden-Württemberg ca. 500 Bund Publikation: "Funkenflug" 315 Bericht "Landeskongress der JN Baden-Württemberg vermittelt Aufbruchstimmung", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008. 316 Internetauswertung vom 20. und 21. November 2008. 317 Berichte "Kein Vertrauen mehr in das politische System BRD" und "Erfolgreiche Informationsaktion in Schwäbisch Hall", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008. 318 Bericht "8. Mai: Junge Nationalisten reinigen Heilbronner Trümmerfrauen-Denkmal", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 14. November 2008. 188 Strukturelle Rahmendaten Die am 31. März 2009 vom Bundesministerium des Innern verbotene "Heimattreue Deutsche Jugend e.V." (HDJ)319 war eine parteiunabhängige neonazistische Kinderund Jugendorganisation. Ihre Mitgliederzahl lag 2008 in Baden-Württemberg bei circa 25, in Deutschland insgesamt bei circa 500. Laut Darstellung auf der vereinseigenen Homepage verfügte die HDJ über ein bundesweites, allerdings sehr weitmaschiges Netz an offiziellen Organisationsstrukturen, bestehend aus vier so genannten "Leitstellen" ("Nord", "Mitte", "Süd" und "West"), die sich wiederum in insgesamt zehn so genannte "Einheiten" gliederten. Die Weitmaschigkeit dieser offiziellen HDJ-Organisationsstrukturen ergab sich schon daraus, dass die HDJ allein ihren "Leitstellen Nord" und "Mitte" einen Zuständigkeitsbereich von jeweils fünf Bundesländern zuschrieb, während diese beiden "Leitstellen" jedoch nur je drei "Einheiten" umfassten. Die "Leitstelle Süd" mit Postfach im bayerischen Alzenau war für die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern zuständig und umfasste die "Einheit Schwaben" und die "Einheit Franken".320 Ideologische Ausrichtung Ganz offensichtlich bemühte sich die HDJ in ihren öffentlichen Verlautbarungen darum, ihren Charakter als neonazistische Organisation zumindest teilweise zu verschleiern. Die wenigen, relativ kurzen Texte, die die HDJ auf ihrer Homepage zur Selbstdarstellung eingestellt hatte, waren unter extremismusanalytischem Aspekt - ganz anders als vergleichbare Texte zum Beispiel auf JNHomepages - eher nichtssagend, beispielsweise wenn unter der Rubrik "Was wir wollen" unter anderem "ein unabhängiges Deutschland in einem Europa der freien Völker" oder "eine saubere Umwelt und eine intakte Natur" als HDJ-Ziele ausgegeben wurden und man sich gegen "die Verenglischung unserer Muttersprache" aussprach.321 Die laut Impressum von der HDJ herausgegebene, vierteljährlich erscheinende "volkstreue Zeitschrift für Jugend und Familien" 322 namens "Funkenflug" (Untertitel: "jung - stürmisch - volks319 Vollständiger Name seit 2001: "Heimattreue Deutsche Jugend - Bund zum Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e.V.", davor: "Die Heimattreue Deutsche Jugend - Bund für Umwelt, Mitwelt und Heimat e.V.". 320 HDJ-Homepage vom 25. November 2008. 321 Ebd. 322 "Funkenflug" 02/Sommer 2008, Impressum, S. 23. 189 treu") veröffentlichte hingegen auch Beiträge eindeutig rechtsextremistischen, auch konkret neonazistischen Inhalts. So hieß es in der Ausgabe vom Herbst 2008 in einem Artikel unter anderem: "Krieg und Frieden sind nicht (...) einander ausschließende Gegensätze. Vielmehr sind es zwei sich ergänzende Begriffe, die einander bedingen und abwechseln im ewigen Kreislauf des Lebens. Und dieses Leben bedeutet Kampf! Für Menschen unserer Rasse gilt dieser Grundsatz im Besonderen - er ist Ausdruck der seelischen Grundhaltung, tief und fest verankert in unserem Ahnenerbe. Aus seinem innersten Wesen heraus bejaht der Nordmensch den Kampf, sucht ihn aber nicht zwangsläufig. Darum weiß er, daß auch der Frieden erkämpft und anschließend bewahrt werden muß. Völlig fremd sind uns dagegen Begriffe wie der 'ewige Frieden', den die Verkünder artfremder Religionen als höchstes Ziel preisen. Dabei wurden und werden im Namen ihres wüstenländischen Gottes die meisten Kriege geführt, die auch unserem Volk einen unersetzbaren Blutzoll abverlangten. Ebenso wenig begreifen wir den ewig kriegerischen Wandertrieb der Nomadenvölker, denen der Frieden und beständige Aufbau unverständlich ist. Nicht minder weltfremd mutet uns das Gewäsch des 'Pazifismus' an. Wer sich im gewaltigen Ringen der Völker selbst aufgibt, beschwört damit nur seinen eigenen Untergang herauf. Niemals werden sich diese Phantasten ihrem Schicksal stellen und es erfüllen können. Sangund klanglos gehen sie unter und niemand wird sich ihrer Taten erinnern. (...) Wohl weicht die künstlerische Seele in bestimmten Zeiten dem soldatischen Heldenmut - allein die schöpferische Schaffenskraft ist die Selbe! Lassen wir uns also nicht von leeren Worthülsen beeindrucken und unserer Art gemäß beides bejahen: Krieg und Frieden! Denn eines bedingt das andere und beides gehört zum Leben." 323 323 "Funkenflug" 03/Herbst 2008, Artikel "Krieg & Frieden", S. 7; Übernahme wie im Original. 190 Dieser "Funkenflug"-Artikel offenbart nicht nur eine prinzipielle, sozialdarwinistisch grundierte Bejahung des Kampfes beziehungsweise Krieges als vermeintlich schöpferisches Lebensprinzip und eine daraus abgeleitete fundamentale Absage an den Pazifismus, was beides auch für den historischen Nationalsozialismus ideologisch kennzeichnend war. Darüber hinaus lässt der in ihm zum Ausdruck kommende Rassismus in Wortwahl und Inhalt deutliche Parallelen zu NS-spezifischen Rassismen erkennen. Zudem sind Formulierungen wie "Verkünder artfremder Religionen" oder "im Namen ihres wüstenländischen Gottes" nicht nur als Absage an das Christentum zu interpretieren, sondern lassen in ihrer Anspielung auf die jüdischen Ursprünge des Christentums deutlich antisemitische und daher ebenfalls NS-spezifische Anklänge erkennen. Die Formulierung "den ewig kriegerischen Wandertrieb der Nomadenvölker" greift das antisemitische, auch im historischen Nationalsozialismus gängige Stereotyp vom "zu ewiger Wanderschaft verurteilten Juden Ahasver" beziehungsweise vom "ewigen Juden" in nur wenig verklausulierter Form auf. Aktivitäten und Außenwirkung Nach hiesigem Erkenntnisstand setzte die HDJ anders als die JN auch im Jahr 2008 nicht auf öffentlichkeitswirksame, nach außen auf ein breiteres Publikum gerichtete Propagandaaktionen (zum Beispiel Demonstrationen, Informationsstände), um auf sich und ihre rechtsextremistischen Positionen aufmerksam zu machen und neue Sympathisanten und Mitglieder zu werben. Da, wo sie sich wie bei ihrer Homepage zwangsläufig einem breiten Publikum öffnete, gab sie sehr wenig von sich preis. Vielmehr schien die HDJ im Umgang mit der bundesdeutschen Gesellschaft auf größtmögliche Abschottung bedacht zu sein. Offenbar suchte die Organisation ganz bewusst neue Mitglieder vor allem in Familien, die bereits der rechtsextremistischen beziehungsweise der Neonaziszene angehörten. Bei den für die HDJ typischen Aktivitäten, die sie selbst auf ihrer Homepage als "Zeltlager und Großfahrten in den Ferien", "Kanufahrten, Fahrrad191 touren und Wanderungen am Wochenende", "regionale Einheitstreffen", "Feierund Gedenkstunden", "Leistungsmärsche", "Nachtwanderungen, Schwimmbadbesuche" sowie "Liederrunden, Lagerfeuer" konkretisierte 324 und über die im Nachgang im "Funkenflug" häufig eingehend berichtet wurde, handelte es sich offenbar um rein interne Veranstaltungen, bei denen eine Außenwirkung ganz bewusst vermieden wurde. Wie bei den JN dienten derartige interne Veranstaltungen - das geht aus den entsprechenden Berichten im "Funkenflug" immer wieder klar hervor - unter anderem der ideologischen Indoktrination und Selbstvergewisserung der Teilnehmer sowie der Schaffung beziehungsweise Aufrechterhaltung von Kameradschaft, Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl innerhalb der HDJ, aber auch einer wehrsportähnlich anmutenden Körperertüchtigung der männlichen HDJ-Mitglieder. Nicht zuletzt dienten sie auch als kurzzeitige, kollektive mentale Flucht aus einer von der HDJ wie von den JN zutiefst abgelehnten westlich-modernen, demokratischen Gegenwart, gegen deren Einflüsse man hoffte, sich beziehungsweise seine Kinder auch langfristig in der verschworenen Gemeinschaft Gleichgesinnter abschotten und immunisieren zu können. Vor diesem Hintergrund war es bezeichnend für die HDJ, dass sie eigentlich erst im Laufe des Jahres 2008 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Und auch diese Steigerung ihres Bekanntheitsgrades kam erst durch ekutive exekutive Maßnahmen von staatlichen Behörden zustande: Am 8. August ßnahmen 2008 löste die Polizei ein HDJ-Zeltlager im mecklenburgischen Hohen Sprenz auf. Vorangegangen war eine Durchsuchungsmaßnahme, die belegte, dass es sich bei dem Lager für die rund 40 anwesenden Kinder und Jugendlichen um einen jugendgefährdenden Ort im Sinne des Jugendschutzgesetzes handelte. Als verantwortlicher Leiter gab sich ein BadenWürttemberger zu erkennen. Neben ihm waren noch rund zehn Teilnehmer aus Baden-Württemberg anwesend, überwiegend Kinder und Jugendliche. Am 9. Oktober 2008 wurden bundesweit Räumlichkeiten von rund 100 Funktionären und Mitgliedern der HDJ durchsucht. Dabei wurden zahlreiche NS-Devotionalien, Schriftstücke und Computer beschlagnahmt. Betroffen waren erneut auch Personen aus Baden-Württemberg. Die HDJ wurde am 31. März 2009 vom Bundesministerium des Innern verboten. Auch in Baden-Württemberg fanden vereinzelt HDJ-Aktivitäten statt. Diese wurden konspirativ vorbereitet und ohne Außenwirkung durchgeführt. 324 HDJ-Homepage vom 25. November 2008. 192 6.2 Sein oder Schein? Immobiliengeschäfte deutscher Rechtsextremisten In weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft besteht bereits seit Jahrzehnten ein breiter Konsens, rechtsextremistischen Bestrebungen möglichst entschieden entgegenzuwirken. So können zum Beispiel Anhaltspunkte dafür, dass in der eigenen Gemeinde eine rechtsextremistische Organisation oder Einzelperson im Begriff sein könne, eine Immobilie für politisch-ideologische Zwecke langfristig anzumieten oder gar zu erwerben, erhebliche Befürchtungen und entsprechende Reaktionen von demokratischer Seite wachrufen. Die Sorge vor einem Erstarken der örtlichen rechtsextremistischen Szene, beispielsweise aufgrund verstärkter rechtsextremistischer Rekrutierung im Umfeld einer solchen Immobilie, die auch für nicht vor Ort ansässige Rechtsextremisten eine erhebliche Attraktivität entwickeln und - je nach Art und Funktion des Objektes - zu verstärktem Zuzug von Szene-Angehörigen in die Region führen kann, paart sich mit der Angst vor vermehrten rechtsextremistischen Übergriffen, aber auch vor Gegenaktionen gewaltbereiter Linksextremisten, die in handfeste Auseinandersetzungen um die Immobilie ausarten könnten. Außerdem bangen die betroffenen Kommunen und Regionen um ihren guten Ruf als demokratisches Gemeinwesen, fürchten als "Hochburg des Rechtsextremismus" abgestempelt zu werden. Aber nicht immer, wenn Meldungen über ein vermeintlich bevorstehendes Immobiliengeschäft auftauchen, liegt tatsächlich ein ernsthaftes Kaufoder Nutzungsinteresse von rechtsextremistischer Seite vor. Vielmehr kann es sich auch um ein Scheingeschäft handeln, mit dessen Hilfe Rechtsextremisten oder/und die nicht unbedingt der Szene zuzurechnenden Immobilienbesitzer versuchen, aus den oben geschilderten Befürchtungen im Wortsinne Kapital zu schlagen. Im Folgenden sollen die Gründe, die Rechtsextremisten nach Immobilienbesitz streben, aber eben zuweilen auch Scheingeschäfte tätigen lassen, herausgearbeitet werden. Es werden zudem Anhaltspunkte aufgezeigt, anhand derer ein tatsächliches Kaufinteresse von einem Scheingeschäft unterschieden werden kann. 6.2.1 Wozu brauchen Rechtsextremisten Immobilien? Es geht hier selbstverständlich nicht um Immobilien, die von Rechtsextremisten aus allgemein üblichen, von ihren politisch-ideologischen Bestre193 bungen nicht tangierten Motiven angemietet oder erworben werden (zum Beispiel zu reinen Wohnzwecken). Entsprechend dimensionierte Immobilien, die Rechtsextremisten als Stützpunkte und Infrastrukturelemente für politische Aktivitäten nutzen, stoßen schaftliche immer wieder auf zivilgesellschaftliche Gegenwehr. Nicht zuletzt deshalb genwehr verzeichnen Rechtsextremisten schon seit Jahren zunehmend Schwierigkeiten, geeignete Veranstaltungsorte für Parteiund Vortragsveranstaltungen, Schulungen oder Skinheadkonzerte zu finden. So verweigern potenzielle Vermieter von Versammlungsund Tagungsstätten häufig Vermietungen, sobald ihnen der rechtsextremistische Hintergrund des Mieters bekannt wird, was Rechtsextremisten oft dazu veranlasst, von vornherein derartige Räumlichkeiten inkognito und unter Angabe fingierter Veranstaltungsanlässe anzumieten. Dennoch sehen sie sich mit der Erfahrung konfrontiert, dass selbst dieses konspirative Vorgehen nicht immer zum Erfolg führt. Aufgrund dieser Problemlage bemühen sich Rechtsextremisten zum einen um die langfristige Anmietung von für ihre Zwecke geeignet erscheinenden Objekten. In letzter Konsequenz streben sie aber, zum Teil durchaus mit Erfolg, auch nach dem Erwerb von entsprechendem Immobilieneigentum. Dabei geht es ihnen auch um eine Verankerung vor Ort, um regionale und lokale Präsenz, im Idealfall um ein bundesweites Netz von Stützpunkten in Form von Veranstaltungssälen, Schulungsräumen, Übernachtungsund Bewirtungsmöglichkeiten für möglichst viele Gesinnungsgenossen, große Freiflächen für Freiluftveranstaltungen etc. Ein solches bundesweites Netz von Stützpunkten in Form geeigneter Immobilien in Privatbesitz würde die rechtsextremistische Szene unabhängiger machen, zum Beispiel von Boykottund Störaktionen politischer Gegner. Davon, dass die Szene es geschafft hätte, ein solches Netz flächendeckend zu knüpfen, kann aber bislang nicht die Rede sein. Ein derartiges Unterfangen würde die heutige rechtsextremistische Szene, auch diejenigen ihrer Protagonisten, die dafür überhaupt in Frage kämen, sehr wahrscheinlich finanziell überfordern. 6.2.2 Warum tätigen Rechtsextremisten Scheingeschäfte mit Immobilien? anzielle Solche finanziellen Engpässe können ein Motiv für Rechtsextremisten sein, obleme ein Kaufinteresse an einer Immobilie nur öffentlichkeitswirksam vorzutäuschen, um die unter den Druck der zu erwartenden gesellschaftlichen Proteste geratene Gemeinde indirekt dazu zu verleiten, das Objekt zum Bei194 spiel im Zuge des Vorkaufsrechts zu einem überhöhten Preis zu erwerben. Ein vorher mit dem Vorbesitzer vereinbarter Anteil am Kaufpreis würde dann quasi als Provision dem rechtsextremistischen "Agent provocateur" zufließen. Auf diese Weise könnten die beteiligten Rechtsextremisten wie auch der Vorbesitzer Kapital aus der Sorge der demokratischen Mehrheitsgesellschaft vor der Einrichtung etwa eines "Nationalen Schulungszentrums" in ihrer Gemeinde schlagen. Offenbar hat sich diese fragwürdige Methode des Immobilienverkaufs unter Eigentümern schwer zu verkaufender Immobilien herumgesprochen, denn mittlerweile wurden schon Immobilien angeboten, bei denen die Eigentümer den Kontakt zu angeblich rechtsextremistischen Kaufinteressenten lediglich vortäuschten, um einen besseren Preis zu erzielen. In manchen Fällen ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass Rechtsextremisten aus der ostentativen Verlautbarung letztlich vorgetäuschter Immobilienkaufabsichten und aus der daraus resultierenden gesellschaftlichen Empörung lediglich öffentlich-mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Selbst diese ihnen eigentlich negativ gesonnene Aufmerksamkeit betrachten manche Rechtsextremisten offensichtlich nach dem Motto "Schlechte Presse ist besser als gar keine Presse" als kostenlose Möglichkeit zur Steigerung des eigenen Bekanntheitsgrades und zur Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Positionen. 6.2.3 Woran erkennt man tatsächliches Immobilienkaufinteresse von Rechtsextremisten? Grundsätzlich gilt: Rechtsextremisten, die sich für den Kauf einer zu welchen Zwecken auch immer genutzten Immobilie tatsächlich interessieren, legen gerade keinen Wert auf gesteigerte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und auch nicht auf eine Konfrontation mit staatlichen Behörden oder politischen Gegnern. Denn dies sind Faktoren, die einen solchen Kauf letztlich noch verhindern könnten, beispielsweise indem gesellschaftlicher Druck auf Immobilienbesitzer erzeugt wird, von Verkäufen an Rechtsextremisten abzusehen. Indizien für reale Immobilienkaufabsichten von rechtsextremistischer Seite liegen zum Beispiel vor, wenn das Geschäft in aller Stille und damit ohne Einschaltung der Öffentlichkeit vollzogen werden soll, der Verkäufer nichts von dem rechtsextremistischen Hintergrund des Käufers weiß, die Vertragsbedingungen den marktüblichen Konditionen entsprechen oder/und der Käufer tatsächlich über die nötigen finanziellen Mittel verfügt. 195 6.2.4 Woran erkennt man Immobilienscheingeschäfte von Rechts - extremisten? Grundsätzlich gilt: Die finanziellen Mittel der rechtsextremistischen Szene sind in der Regel so begrenzt, dass Rechtsextremisten ohnehin nicht alle Immobilien, mit denen sie in der Öffentlichkeit in Verbindung gebracht werden oder mit denen sie sich selbst in Verbindung bringen, kaufen könnten, selbst wenn sie dies wollten. Das gilt besonders für die meisten rechtsextremistischen Einzelpersonen und Kleinstorganisationen. Aber auch die finanziellen Möglichkeiten einer im Vergleich dazu relativ mitgliederstarken Organisation wie der NPD stoßen hier an Grenzen. So befindet sich etwa der baden-württembergische NPD-Landesverband schon seit Jahren in einer finanziellen Situation, die sechsoder gar siebenstellige Ausgaben für Immobilien sehr wahrscheinlich ausschließt, es sei denn, die Landespartei würde dabei von außen unterstützt. Als mögliche Anhaltspunkte für eine nur vorgetäuschte Kaufabsicht kann gewertet werden, wenn die Öffentlichkeit vom Verkäufer und/oder Käufer zu einem frühen Zeitpunkt ganz gezielt über das angebliche Immobiliengeschäft informiert, auf ein angeblich geplantes "Nationales Schulungszentrum" ausdrücklich hingewiesen wird, das Objekt - etwa wegen der Lage oder des baulichen Zustands - auf dem freien Markt schwer verkäuflich ist, eine hohe Diskrepanz zwischen Verkaufspreis und tatsächlichem Wert besteht oder/und der Käufer nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt. Die hier genannten Anhaltspunkte für ein tatsächliches Kaufinteresse beziehungsweise für ein Immobilienscheingeschäft von Rechtsextremisten können nur Indizien, nicht Beweise für das Vorliegen des einen oder des anderen Falles sein. Selbst bei Vorliegen zahlreicher, auf ein Scheingeschäft hindeutender Indizien bleibt immer ein zwar geringes, gleichwohl nicht ganz auszuschließendes Restrisiko, dass tatsächliche Kaufabsichten bestehen. 6.2.5 Beispiele für (versuchte) rechtsextremistische Immobilienge - schäfte in Baden-Württemberg 2008 Im April 2008 mietete ein Rechtsextremist ein Gebäude in Karlsruhe-Dur - lach an. In der Folge waren kurzzeitig rechtsextremistische Aktivitäten in dem Haus feststellbar. Eine Absicht, das Objekt zu kaufen, bestand allerdings von rechtsextremistischer Seite nie. Zudem untersagte die Stadt Karlsruhe mit Bescheid bereits vom 18. April 2008 die Nutzung des Gebäudes für Zwecke jeglicher Art. Das Gebäude ist seither versiegelt. 196 Ab Anfang Juli 2008 äußerte die NPD öffentlich Interesse an dem Erwerb eines ehemaligen Hotels in Straßberg/Zollernalbkreis, um dort nach eigenen Angaben unter anderem ein Schulungs-, Kommunikationsund Tagungszentrum einzurichten. Wie der finanziell nicht sehr solvente NPDLandesverband dieses Vorhaben finanzieren wollte, blieb allerdings von Beginn an unklar. Im September 2008 erwarben der Zollernalbkreis, die Stadt Albstadt und die Gemeinde Straßberg das Objekt. Bereits seit Jahren sorgen rechtsextremistische Aktivitäten in einer ehemaligen Brauereigaststätte in Rosenberg-Hohenberg/Ostalbkreis für öffentliches Aufsehen. Die Immobilie war bereits im Jahr 2004 von einem österreichischen Rechtsextremisten erworben worden. Danach wurde sie Sitz eines rechtsextremistischen Verlages. Ihr Besitzer avancierte später zum stellvertretenden baden-württembergischen NPD-Landesvorsitzenden. Der NPD-Landesverband richtete in dem Objekt 2007 eine eigene Landesgeschäftsstelle ein. Im Jahr 2008 wurden Verkaufsverhandlungen zwischen dem Eigentümer und der Gemeinde aufgenommen, die in den Abschluss eines Kaufvertrags mündeten. Mit einem Eigentümerwechsel ist im Laufe des Jahres 2009 zu rechnen. 197 E. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Nach den Protesten gegen das G8-Treffen in Heiligendamm im Juni 2007, die das linksextremistische Spektrum bereits Monate im Voraus in Atem gehalten hatten, fehlte 2008 ein vergleichbares Großereignis. Einen Versuch, an die Mobilisierungserfolge des Vorjahres anzuknüpfen, bildeten die so genannten Perspektiventage vom 17. bis 20. Januar 2008 in Berlin, auf denen ein "Aktionsfahrplan 2008/2009" entwickelt wurde. Ihm zufolge standen die alljährlich stattfindende Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar 2008 sowie vier bundesweite Protestcamps auf der Tagesordnung. Die Beteiligung an zwei "antimilitaristischen" Camps in Brandenburg und Rheinland-Pfalz sowie an dem als "Doppelcamp" konzipierten "Antirassismusund Klimacamp" vom 16. bis 24. August 2008 in Hamburg offenbarte jedoch ein deutlich gesunkenes Interesse. Mit Bekanntwerden der geplanten Jubiläumsveranstaltung in Straßburg (Frankreich) und Baden-Baden aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der NATO kündigte sich für April 2009 ein neuer Brennpunkt für Linksextremisten an. Vorbereitungen von Protestmaßnahmen der Szene liefen schon 2008 an und fanden in einer zunehmenden, auch internationalen Vernetzung ihren Niederschlag. Es zeichnete sich schon bald deutlich ab, dass der NATO-Gipfel 2009 für das linksextremistische Spektrum in ähnlicher Weise zu einem Schlüsselereignis werden soll wie das G8-Treffen in Heiligendamm. Nicht zuletzt strafrechtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit den Protesten von Heiligendamm haben dem zuvor schon virulenten Thema "staatritik an liche Repression" für Linksextremisten neue Dynamik verliehen. In der Diseblicher kussion um den seit den Terroranschlägen vom September 2001 angeblich litischer staatlicherseits gezielt vorangetriebenen Ausbau des "Überwachungsstaates" pression trat 2008 als weiterer Baustein der Entwurf eines neuen Versammlungsge- s Staates setzes für Baden-Württemberg hinzu, der in der linksextremistischen Szene zu heftigen Reaktionen führte. Diese nach deren Meinung zunehmende "Repression" korrespondierte aus Sicht der Szene mit einer zunehmenden "Militarisierung" Deutschlands. Im Mittelpunkt des Protests stand deshalb der Bundeswehreinsatz in Afghanistan als Ausdruck "imperialistischer" Bestrebungen Deutschlands. 198 Als Anlass für historische Rückblicke wurde das Jahr 2008 eher verhalten historische genutzt. Der parteinahe Hochschulverband der Partei "DIE LINKE.", der Rückblicke "Sozialistisch-Demokratische Studierendenverband" (DIE LINKE.SDS) , veranstaltete einen Kongress zum Thema "40 Jahre 1968. Bilanz und Perspektiven" 325 mit vielfältigen Veranstaltungen. Im Vorwort der zu diesem Kongress veröffentlichten Broschüre wurde unter anderem bilanziert, "dass das zentrale Emanzipationsversprechen der 68er unerfüllt blieb." Der Kapitalismus sei "nicht überwunden, im Gegenteil, in den letzten Jahren noch verstärkt worden." Die "68er Revolution" stand im Mittelpunkt der historischen Rückschau, doch erinnerten Szenepublikationen auch an den 90. Jahrestag der "Oktoberrevolution" in Russland, die "Novemberrevolution" in Deutschland oder die Ereignisse um den "Prager Frühling". Im Vorgriff auf auch im Jahr 2009 anstehende historische Daten stellte man sich bereits auf weitere "geschichtspolitische" Auseinandersetzungen ein. "Antifaschismus" als kontinuierliches Aktionsfeld von Linksextremisten erhielt im Jahr 2008 durch verstärkte tatsächliche oder vermeintliche Versuche von Rechtsextremisten, Immobilien zur Errichtung von Schulungszentren zu erwerben, eine besondere Akzentuierung. In Baden-Württemberg standen Auseinandersetzungen um ein mögliches "Nazi-Zentrum" in Karlsruhe-Durlach im Mittelpunkt des Interesses. Die "soziale Frage" blieb demgegenüber im Hintergrund. Die Teilnehmerzahlen bei nach wie vor stattfindenden "Montagsdemos" bewegten sich maximal im zweistelligen Bereich. Die dominierende Rolle der "Marxis - tisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD) machte den Besuch dieser Veranstaltungen selbst für Sympathisanten aus dem linksextremistischen Lager wenig attraktiv. Auch bei der mittlerweile "5. bundesweiten Demonstration gegen die Regierung" unter dem Motto "Wer sich gegen Armut und Unterdrückung wehrt, lebt ehrenwert!" 326 am 8. November 2008 in Berlin war die Teilnehmerzahl weiter rückläufig. Im Herbst 2008 rückte die aktuelle Finanzkrise zunehmend in den Mittelpunkt. Linksextremisten sahen in diesem nach ihrer Lesart größten Desaster der "bürgerlichen Demokratie" seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 eine Bankrotterklärung des Kapitalismus. Die Krise des europäischen und des US-Bankensystems sei eine "Bruchlandung der 'freien Marktwirtschaft', des Kapitalismus".327 Man sah sich in den eigenen Vorhersagen und Analy325 Hier und im Folgenden: DIE LINKE.SDS (Hrsg.): 40 Jahre 1968. Bilanz und Perspektiven. Reader zum Kongress. Berlin 2008, S. 1. 326 Zum Beispiel "Rote Fahne" Nr. 29 vom 18. Juli 2008, S. 3. 327 Hier und im Folgenden: Presseerklärung der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP); Internetauswertung vom 16. Oktober 2008. 199 sen bestätigt und nahm die aktuelle Entwicklung zum Anlass, vor dem Hintergrund des vermeintlichen Versagens des Kapitalismus auf die angeblich bessere Alternative eines sozialistischen Gesellschaftssystems hinzuweisen. nungen auf Linksextremisten werden die sozialen Auswirkungen der Finanzkrise im auf durch Zuge der 2009 anstehenden Kommunalwahlen in Baden-Württemberg anzkrise sowie der Bundestagsund der Europawahlen ausführlich thematisieren und versuchen, aus der aktuellen Stimmungslage politischen Profit zu schlagen. Vor allem die Partei "DIE LINKE.", die unbeschadet ihrer verfassungsfeindlichen Ausrichtung nach beträchtlichen Wahlerfolgen im Jahr 2008 erstmals in mehrere westdeutsche Landesparlamente einzog, erhofft sich eine weitere Bestärkung ihres bundesweiten Aufwärtstrends. Die Auseinandersetzungen um Äußerungen eines Mitglieds der "Deutschen Kommunisti - schen Partei" (DKP) zur Einführung einer Stasi-Nachfolgeinstitution, das bei den Landtagswahlen in Niedersachsen Anfang 2008 über die offene Liste der Partei "DIE LINKE." ein Mandat erreicht hatte, lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Verhältnis der Partei "DIE LINKE." zu Kommunisten. Eine Zusammenarbeit mit der DKP bei Wahlen hat die Partei zwar auf ihrem Parteitag in Cottbus vom Mai 2008 für die Bundesund die Landesebene ausgeschlossen, dabei jedoch die kommunale Ebene offen gelassen. In Baden-Württemberg zeichnen sich bereits regional unterschiedliche Lösungen ab. Weitere Kandidaturen bei den Landtagswahlen 2008 haben im Übrigen gezeigt, dass ein Zusammenwirken mit der DKP für die Partei "DIE LINKE." kein wirkliches Problem darstellt. So kandidierte in Hamburg auf der Wahlliste der Partei "DIE LINKE." unter anderem ein hochrangiges DKP-Mitglied. 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Das Personenpotenzial des linksextremistischen Spektrums ist auch 2008 weitgehend konstant geblieben. Großkampagnen wie die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm hatten in dieser Hinsicht keine messbaren Auswirkungen. 200 Linksextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2006 - 2008 Weiterhin deutlichen Mitgliederzulauf verzeichnete die Partei "DIE LINKE.". Ihr Aufwärtstrend als drittgrößte Partei in Deutschland setzte sich fort. Dies wurde durch die Ergebnisse der Landtagswahlen in Hessen, "DIE LINKE." Niedersachsen und Hamburg unterstrichen, mit denen die Partei 2008 erstmit Mitgliedermals Einzug in mehrere westdeutsche Landesparlamente hielt. Allerdings zuwachs werden bislang um weiterer Erfolge willen unausgetragene innerparteiliche Konflikte zurückgestellt. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich die derzeitige Entwicklung auch in Zukunft fortsetzen wird. Parteien wie die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschland" (MLPD) oder die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) können realistischerweise bereits seit Jahren keine ernsthaften Mitgliederzuwächse verzeichnen. Hier wie auch bei der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V." (VVN-BdA) stehen Kampagnen zur Mitgliedergewinnung im Vordergrund, allerdings ohne spürbaren Erfolg. Auch wenn es im Jahr 2008 vereinzelt zur Gründung neuer Gruppierungen kam, dürfte sich das Personenpotenzial der Autonomen im Ganzen nur 201 unwesentlich verändert haben. Die Szene lebt unverändert von der hohen Mobilisierungskraft des Themenfelds "Antifaschismus", verstärkt aber auch vom Kampf gegen die vermeintlich vom Staat ausgehende "politische Repression" oder vom Engagement für "selbstbestimmte", das heißt staatlichem Einfluss und öffentlicher Kontrolle bewusst entzogene Lebensund Freiräume. 2.2 Strafund Gewalttaten Bei den linksextremistischen Strafund Gewalttaten gab es eine zweigeteilte Entwicklung. Während die Gewalttaten im Land im Jahr 2008 sanken und damit weiterhin rückläufig waren, stieg die Zahl der Straftaten. Für den Rückgang der Gewalttaten dürften die rückläufigen rechtsextremistischen Aktivitäten ursächlich gewesen sein, für den Anstieg der Straftaten hingegen vor allem der Protest der linksextremistischen Szene gegen die vermeintlich insbesondere gegen die "Linke" gerichtete, zunehmende "politische Repression" des Staates. Die rückläufigen Zahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei einzelnen, anlassbezogenen Aktionen wie etwa der "Revolutionären 1. MaiDemo" in Stuttgart ein weiterhin hohes Aggressionspotenzial sichtbar wurde. itisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links sowie ksextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2008 202 3. Gewaltbereiter Linksextremismus Die Verfolgung politischer Ziele auch durch den Einsatz von Gewalt gehört zu den Grundpfeilern des politischen Selbstverständnisses autonomer Gruppen. Bei den Protesten in Heiligendamm schien der schwarze Block - erstmals seit Jahren aufgrund seiner Massivität wieder bundesweit in der Öffentlichkeit wahrgenommen - ein Wiedererwachen der autonomen Szene zu symbolisieren. Diese trat 2008 mangels vergleichbarer "Events" deutlich weniger in Erscheinung. Ihre Militanzbereitschaft ist gleichwohl ungebrochen und richtete sich erneut hauptsächlich gegen Rechtsextremisten. Das zeigte vor allem das regionale Demonstrationsgeschehen. Ein Höhepunkt an Aggressivität und Gewaltanwendung war die von schweren Krawallen begleitete Demonstration zum 1. Mai 2008 in Hamburg, bei der über 1.000 Autonome gegen mehrere hundert Rechtsextremisten gewalttätig vorgingen. Dabei gelang es ihnen, den Aufzug der Rechtsextremisten massiv zu stören. Von den Ausschreitungen linksextremistischer Gewalttäter waren jedoch mehr noch die eingesetzten Polizeikräfte betroffen. Auch eine unter dem Motto "Gegen Polizeigewalt und -willkür! Don't hide! Gegen jede Repression!" 328 am 31. Mai 2008 in Neustadt an der Weinstraße (Rheinland-Pfalz) durchgeführte Demonstration thematisierte explizit "polizeiliche Repression". Die Kundgebung war eine Reaktion auf "Provokationen, Gewalttaten und Misshandlungen durch die Bullen am 1. Mai" 329. Sie richtete sich gegen polizeiliches Handeln bei der Neustädter Demonstration am 1. Mai 2008, an der auch Angehörige der linksextremistischen Szene aus dem Rhein-Main-Gebiet (M Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe) teilgenommen hatten. Zur eigenen Rechtfertigung behaupten Linksextremisten immer wieder, dass ihre Anwendung von Gewalt lediglich eine Reaktion auf angeblich von der Polizei ausgehende Provokationen sei. Autonome "Gegenwehr" wird als "legitime" Antwort auf angeblich vom Staat ausgehende Gewalt dargestellt, die sich gezielt vor allem gegen "Linke" richte. So schrieb die Szeneschrift "break-out" der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD) in Auseinandersetzung mit dem Gerichtsverfahren gegen den Anmelder der Demonstration zum 1. Mai 2007 in Stuttgart, bei der es ebenfalls zu gewaltsamen Aktionen gekommen war: "Die Kreuzung wurde aufgrund des massiven und provokanten Polizeiaufgebots kurzzeitig blockiert, um ein Ende der Polizeischikanen zu erreichen." 330 328 "break-out. monatsschrift der AIHD" ("Antifaschistische Initiative Heidelberg") Nr. 6/2008, S. 3. 329 Ebd. 330 "break-out. monatsschrift der AIHD" Nr. 9/2008, S. 7. 203 In der gleichen Ausgabe hieß es im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen Abschiebungen in Mannheim vom 30. August 2008: "(...) die Polizei hielt sich dezent im Hintergrund. Trotzdem wurde - wie so oft in Mannheim - wieder einmal durch den Einsatz berittener Bullen provoziert. Diese bedrängten mehrfach DemonstrantInnen und versuchten, mit ihren Pferden immer wieder in den hinteren Teil der Demo zu reiten. Die ewalt als dadurch massiv gefährdeten DemoteilnehmerInnen bwehr beschwerten sich lautstark, so dass die Situation in izeilicher einem heftigen Streit eskalierte. Vom LautsprecherWillkür" wagen wurde die Polizei mehrmals aufgefordert, die Provokationen zu unterlassen." 331 Zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam es auch aus Anlass der Proteste gegen das "Maieinsingen" der Burschenschaften in Tübingen am 30. April 2008 oder bei der im Anschluss an die traditionelle 1. Mai-Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Stuttgart durchgeführten Demonstration der "Initiative für einen revolutionären 1. Mai in Stuttgart". Heftige Kritik erfuhr der Gesetzentwurf der Landesregierung für ein neues Versammlungsgesetz in Baden-Württemberg, unter anderem weil dieser, ähnlich wie im bayerischen Gesetz, ein "Militanzverbot" vorsehe, das durchtion gegen zusetzen Sache des Versammlungsleiters sei. Dieses "Militanzverbot" tanues Vergiere einen Grundkonsens der linksextremistischen Szene, dem zufolge bei lungsgesetz Demonstrationen alle "Aktionsformen" einschließlich Gewalt toleriert werden. So kommentierte die "Autonome Antifa Freiburg", durch diese "divide et impera-Strategie" würde "eine Spaltung entlang der Gewaltfrage forciert. (...)".332 Weiter heißt es: "Ganz allgemein erkennen wir das Gewaltmonopol des Staates nicht an, denn 'Militanz, die sich durch angemessene Zielgerichtetheit, permanente Selbstreflexion, konsequente Abwägung und hohes Verantwortungsbewusstsein der Agierenden auszeichnet, betrachten wir (...) als legitimes Mittel im 331 Ebd., S. 6. 332 Hier und im Folgenden: "break-out. monatsschrift der AIHD" Nr. 9/2008, S. 9f. 204 Kampf um Befreiung.' (Zitat aus dem Selbstverständnis der Antifaschistischen Initiative Heidelberg aus dem Jahre 2001)." Insbesondere gegen "Nazis" gilt die Anwendung aller Mittel, also auch von Gewalt, weiterhin als legitim und gerechtfertigt. So lässt beispielsweise die Schilderung von Vorfällen im Zusammenhang mit der "Antifa-Demonstration" in Pforzheim am 23. Februar 2008 anlässlich der alljährlichen Fackelmahnwache von Rechtsextremisten zur Erinnerung an die Bombardierung dieser Stadt am 23. Februar 1945 die Anwendung von Gewalt wie eine notwendige Begleiterscheinung der Proteste erscheinen: "Während und nach der Spontandemonstration [sc. auf dem Wartberg] zogen verschiedene Gruppen durch die Pforzheimer Innenstadt. Dabei wurden einige geschichtsrevisionistische Gedenktafeln zerstört, Mülltonnen angezündet und auf den Straßen kleinere Barrikaden errichtet. Die Aktion ist im Großen und Ganzen als Erfolg zu werten (...)." 333 Insgesamt hätten die Kampagne und der Aktionstag gegen die "Nazis" gezeigt, "dass wir [sc. die "Autonome Antifa"] ihre Aktionen nicht dulden werden." Der Aufruf zur erwähnten Demonstration in Neustadt an der Weinstraße weiterhin Gewalt vom 1. Mai 2008, bei der es gelang, durch eine Sitzblockade des militanten gegen "Nazis" autonomen Spektrums einen Aufzug von Rechtsextremisten schon nach wenigen Metern zu verhindern, bot Gelegenheit, noch einmal grundsätzlich darauf abzuheben, dass "sich der aktive Antifaschismus nicht bloß beim passiven Bekämpfen von Naziaufmärschen aufreiben" 334 könne. "Antifaschismus in einem radikal-linken Sinn" bedeute "stets einen offensiven Umgang mit Nazismus in jeder Form. (...) Erst in der Überwindung des Kapitalismus" werde sich "auch die Überwindung des Antisemitismus, Rassismus und Sexismus ergeben - auch wenn all diese Phänomene hier und jetzt schon offensiv angegangen werden" müssten. An "Tagen wie dem 1. Mai" gelte "daher das Wort von Marx erst recht: 'Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen'". 333 Hier und im Folgenden: "break-out. monatsschrift der AIHD" Nr. 3/2008, S. 4f. 334 Hier und im Folgenden: "break-out. monatsschrift der AIHD" Nr. 4/2008, S. 11f. 205 4. Parteien und Organisationen 4.1 "DIE LINKE." Gründung: Hervorgegangen aus der 1946 gegründeten SED, danach mehrfach umbenannt, zuletzt am 16. Juni 2007 nach dem Beitritt der WASG Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 2.600 Baden-Württemberg (2007: ca. 2.200) ca. 76.000 Bund (2007: ca. 70.900) Publikationen: "Disput", "Clara", "Landesinfo Baden-Württemberg" Die Partei "DIE LINKE." ist unverändert eine linksextremistische Organisation, wenngleich nicht jedes Parteimitglied als linksextremistisch gelten kann. Sie bietet nach wie vor unterschiedlichen politischen Strömungen eine Heimat, die sich allerdings im Ziel der letztendlichen Systemüberwindung nicht unterscheiden. Umstritten ist jedoch der Weg zum Ziel. Infolgedessen ist zwischen den Polen "Transformation" über Reformen und "Fundamentalopposition" gegen das bestehende System insbesondere die Frage der Regierungsbeteiligung und ihrer Voraussetzungen stark umstritten. Innerparteiliche Strömungen, die eine strategische Festlegung auf die Oppositionsrolle innerhalb und außerhalb des Parlaments befürworten, erhalten sogar weiteren Zulauf. Dies gilt namentlich für die "Kommunistische Plattform" (KPF), deren Mitgliederzahl sich nach eigenen Angaben um mehr als 100 auf 961 erhöht hat. Der Bundessprecherrat erklärte, mit der Konzentration auf bestimmte Schwerpunkte der KPF unter anderem dazu beitragen zu wollen, "das Bewusstsein wieder zu beleben oder (...) zu bewahren und zu vertiefen, dass (...) - trotz der ungeheuren Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert - dieser den einzigen Ausweg aus der zunehmenden Barbarei der Ausbeutergesellschaft darstellt." 335 In ihrer Beschlussfassung zu den Schwerpunktaufgaben bezeichnete die KPF es als eine wesentliche Aufgabe, im kommenden Parteiprogramm der Partei "DIE LINKE." auf die "Verankerung der eindeutigen gesellschaft335 Referat des Sprecherrates auf der Bundeskonferenz am 22. November 2008; Internetauswertung vom 17. Februar 2009. 206 lichen Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftssystem" hinzuwirken und betonte ausdrücklich und gerade "in Anbetracht zunehmender Stigmatisierung durch die bürgerlichen Medien" weiterhin mit Marxisten, insbesondere der DKP, zusammenarbeiten zu wollen.336 In einer Stellungnahme zum Umgang mit der Geschichte schrieb der Ältestenrat der Partei unter anderem: "Eine echte Transformation aber kann in historischer Perspektive nur die Ablösung der kapitalistischen durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung bedeuten." 337 Ein Thesenpapier aus den Reihen des Bundessprecherrates der "Sozialisti - schen Linken" (SL) enthielt unter anderem die Passage: "DIE LINKE muss zugleich reformistisch und antikapitalistisch sein. Reformistisch nicht im Sinne einer Beschränkung der Forderungen und Perspektiven auf den Rahmen des kapitalistischen Systems und der Vermeidung des Kampfes gegen die Herrschaft des Kapitals. (...) Sondern im Sinne eines entschiedenen Kampfes für soziale Reformen und gegen Herrschaftspositionen des Kapitals hier und jetzt und der Verbindung und Ausrichtung dieses Kampfes auf die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft." 338 Unter den offen extremistischen Strömungen innerhalb der Partei "DIE LINKE.", zu denen neben KPF und SL das "Marxistische Forum" (MF) und Kampf offen die "Antikapitalistische Linke" (AKL) gehören, gab es sowohl im Vorfeld extremistischer des Cottbuser Parteitages als auch im weiteren Verlauf des Jahres 2008 Strömungen um Bestrebungen, auf gemeinsame politische Standpunkte hinzuarbeiten und verstärkten damit das Gewicht dieser Richtung innerhalb der Gesamtpartei zu erhöhen. Einfluss Die Strömungen können ihre politischen Aktivitäten weiterhin unbehindert verfolgen. Unter ihnen sind die KPF, der "Geraer Dialog/Sozialistischer 336 "Schwerpunktaufgaben der Kommunistischen Plattform in den nächsten Monaten. Beschluss der 14. Bundeskonferenz" vom 22. November 2008; Internetauswertung vom 17. Februar 2009. 337 "Anregungen des Ältestenrats der Partei DIE LINKE zum Umgang mit der Geschichte". In: Bulletin des "Geraer Dialogs/Sozialistischer Dialogs", Ausgabe 15 vom Oktober 2008, S. 6. 338 "Bankrott des Neoliberalismus - Aufgaben der LINKEN". Diskussionsthesen eines Mitglieds des Bundessprecherrates der Sozialistischen Linken und der Programmkommission der Partei "DIE LINKE." vom Dezember 2008; Internetauswertung vom 17. Februar 2009. 207 Dialog" (GD/SD) und die "Sozialistische Linke" (SL) von der Gesamtpartei offiziell als bundesweite Zusammenschlüsse anerkannt. Damit verbunden ist zugleich auch eine finanzielle Förderung. All diesen Gruppierungen ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger unverbrämt den Systemwechsel im Sinne der Überwindung der bestehenden Gesellschaftsund Herrschaftsverhältnisse propagieren. Nicht minder deutlich formulierte aber auch der parteinahe Jugendverband "Linksjugend [s' olid]" in seinem auf dem ersten Bundeskongress in Leipzig vom 4. bis 6. Mai 2008 verabschiedeten Programm: "Wir wollen eine kooperative Wirtschaft, in einer von Mitbestimmung und Freiheit geprägten Gesellschaft, nicht in ferner Zukunft, sondern so schnell wie möglich! Die Überwindung kapitalistischer Prondverband duktionsund Herrschaftsverhältnisse ist dafür notmpft für wendig. (...) Als SozialistInnen, KommunistInnen, ssenlose AnarchistInnen kämpfen wir für eine libertäre, klassellschaft senlose Gesellschaft jenseits von Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat. (...) Linke Organisierung ist für uns kein Hobby oder eine jugendliche Phase, sondern notwendiger Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Dabei setzen wir auf massenhaften Widerstand, die Selbstorganisation in Betrieben, Schulen und Hochschulen und die bewusste Aktion der organisierten Mehrheit der Bevölkerung zur Umwälzung der Verhältnisse. Banken und Konzerne müssen in öffentliches Eigentum überführt werden (...). Unser Kampf gilt dem Kapitalismus, für ein ganz anderes Ganzes - für eine Gesellschaft, in der die Menschen ihr Leben endlich selbst gestalten können. So radikal wie die Wirklichkeit - leben wir den Widerstand." Nicht nur, dass das Programm wiederholt die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln fordert; die instrumentelle Sichtweise auf den Parlamentarismus belegt auch die Ablehnung des repräsentativ-demokratischen Regierungssystems: 208 "Wir wollen die Bühne des Parlamentarismus für den Kampf um eine gerechtere Welt nutzen, uns aber nicht der Illusion hingeben, dass dort der zentrale Raum für reale Veränderung sei. Gesellschaftliche Veränderungen finden schwerpunktmäßig außerhalb der Parlamente statt. Das gilt sowohl bei der Durchsetzung von Kapitalinteressen als auch für soziale Errungenschaften. Nur die außerparlamentarische Bewegung kann reale Veränderungen herbeiführen." Offen extremistische Strukturen haben weiterhin in der Partei "DIE LINKE." unbestritten ihren Platz. Selbst führende Repräsentanten des Bundesvorstandes der Partei demonstrieren Solidarität mit verfassungsfeindlichen Organisationen. So war eine der stellvertretenden Parteivorsitzenden Ende 2007 zusammen mit weiteren führenden Mitgliedern in die linksextremistische "Rote Hilfe e.V." eingetreten. In einer gemeinsamen Erklärung dazu hieß es: "Wir sind heute geschlossen in die 'Rote Hilfe' e. V. eingetreten, um der Solidaritätsorganisation demonstrativ zur Seite zu stehen. In Zeiten, in denen Teile der Exekutive linkes Engagement kriminalisieren, anstatt sich aktiv der Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung neofaschistischer Gewalttaten zu widmen, muss die Unterstützung politisch Verfolgter aus dem linken Spektrum wachsen. Wenn Menschen auf Grund ihres politischen Handelns, wegen kritischer Schriften, spontaner Streiks oder der Unterstützung politischer Gefangener ihren Arbeitsplatz verlieren, vor Gericht gestellt und verurteilt werden, muss Solidarität sichtbar werden. Unsere Unterstützung der Roten Hilfe soll zugleich ein Beitrag zur Stärkung der außerparlamentarischen Bewegung sein. Alle, die sich an Protestaktionen beteiligen, sollen das in dem Bewusstsein tun können, dem staatlichen Machtapparat nicht alleine gegenüberzustehen." 339 339 Internetauswertung vom 10. Dezember 2008; Übernahme wie im Original. 209 Unter dem Motto "Widerstehen. Sagen, was ist. Die Politik verändern" hielt die Partei "DIE LINKE." am 24./25. Mai 2008 in Cottbus ihren ersten Bundesparteitag seit dem Beitritt der Partei "Arbeit & soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative" (WASG) im Juni 2007 ab. Wichtigste Tagesordnungspunkte waren die Neuwahl des Vorstands und die Verabschiedung des Leitantrags. Die beiden bisherigen Parteivorsitzenden wurden mit 81,3 und 78,5 Prozent wiedergewählt. Bis auf eine Person wurden auch die stellvertretenden Parteivorsitzenden bestätigt. Aus Baden-Württemberg wurden vier Parteimitglieder in den erweiterten Bundesvorstand gewählt. Im Ergebnis blieb die personelle Kontinuität auch im neuen Bundesvorstand weitgehend erhalten. Ebenfalls erneut bestätigte Funktionäre der früheren "Linkspartei.PDS" besetzen mit der Stelle des Bundesschatzmeisters und des Bundesgeschäftsführers weitere Schlüsselpositionen in der Partei. Von den insgesamt 44 Personen des alten Parteivorstands wurden 37 wiedergewählt. Im Zuge der Neuwahl von sieben ausgeschiedenen Mitgliedern vollzog sich zugleich eine weitere Kräfteverschiebung zugunsten der früheren "Linkspartei.PDS" und zu Lasten der vormaligen WASG. Die meisten Stimmen auf einer eigenen Frauenliste erhielten das führende Mitglied der KPF, Sahra WAGENKNECHT, mit 70,5 Prozent, und mit zwei Mitgliedern von "marx21-Netzwerk für internationalen Sozialismus" (ehemals "Linksruck") auch zwei Trotzkistinnen mit 68,8 beziehungsweise 57,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. zkisten im Dem 44 Personen umfassenden Bundesvorstand gehören insgesamt drei esvorstand Trotzkisten an. Von diesen äußerte einer in einem Interview mit der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" auf die Frage, was es heute heiße, revolutionär zu sein, unter anderem, dies bedeute, "die bestehenden Verhältnisse grundlegend in Frage zu stellen (...), Menschen über die Situation aufzuklären, in der sie leben, ihnen politisches Bewusstsein zu vermitteln. Und: Sich am Aufbau von Widerstandsund Gegenmachtstrukturen zu beteiligen." 340 Auf die Bankenkrise angesprochen, stellte er im Zusammenhang mit möglichen Notmaßnahmen einer Verstaatlichung die "Macht und Systemfrage": 340 Hier und im Folgenden: "junge Welt" Nr. 254 vom 30./31. Oktober 2008, S. 8; Übernahme wie im Original. 210 "Damit steht die Partei plötzlich vor einer großen Verantwortung: Entweder Diktatur des Finanzkapitals oder Diktatur über das Finanzkapital." Bei der derzeit im Raum stehenden Idee einer Verstaatlichung komme es darauf an, "nicht nur die von der Krise betroffenen Teile der Unternehmen in staatliche Verwaltung zu übernehmen, sondern auch die florierenden. Das gesamte Spektrum der Banken und Versicherungen muss übernommen werden." Derartig deutliche Äußerungen aus den Reihen des Bundesvorstandes stehen keineswegs im Widerspruch zum Inhalt des auf dem Parteitag mit großer Mehrheit verabschiedeten Leitantrags "Eine starke Linke für eine andere, bessere Politik". Darin heißt es unter anderem: "Die neue LINKE eint die Auffassung, dass die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse nicht das letzte Wort der Geschichte sind, dass demokratischer Sozialismus möglich und nötig ist (...)." An anderer Stelle heißt es weiter: "Eine Gesellschaft, die sich in ihrem wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen immer stärker von wenigen großen wirtschaftlichen Machtzusammenballungen abhängig macht, ist für die Partei DIE LINKE keine erstrebenswerte Gesellschaft, sondern die Aufforderung, die Frage nach den Regeln des Systems zu stellen und über das bestehende System hinauszugehen." Die Präsenz von Angehörigen früherer K-Gruppen341 ebenso wie von TrotzTrotzkisten kisten kennzeichnet unverändert auch die Situation des Landesverbandes Einfluss auch im Baden-Württemberg. Im aktuellen sechsköpfigen geschäftsführenden LanLandesverband desvorstand, der auf dem Landesparteitag am 6. Dezember 2008 gewählt wurde, blieben zwei Schlüsselpositionen weiterhin mit Linksextremisten besetzt, die bereits seit etlichen Jahren Funktionen im Landesvorstand ausfüllen. Wieder gewählt in den erweiterten Landesvorstand wurde auch ein 341 Sammelbezeichnung für politische Gruppierungen wie den "Kommunistischen Bund Westdeutschland" (KBW), die "Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten" (KPD/ML) oder die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD), die sich vor allem in den 60erbis 80er-Jahren am chinesischen Marxismus-Leninismus (Maoismus) orientiert und beabsichtigt hatten, das bestehende Gesellschaftssystem in Deutschland zu beseitigen. 211 Mitglied der früheren trotzkistischen Gruppierung "Linksruck" (heute "marx21-Netzwerk für internationalen Sozialismus"). Darüber hinaus nehmen Trotzkisten über die Mitarbeit in der Redaktion des "Landesinfo Baden-Württemberg" Einfluss auf das Parteiorgan des Landesverbandes, spielen aber auch in der parteinahen Jugendorganisation "Linksjugend ['solid]" und dem parteinahen "Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband" (DIE LINKE.SDS) eine prägende Rolle. Der Landesverband Baden-Württemberg der Jugendorganisation bezeichnet sich ausdrücklich als Bestandteil des Bundesjugendverbandes. Seit seiner Gründung im September 2007 ist seine Mitgliederzahl nach eigenen Angaben von 400 auf 600 Personen gestiegen. Sowohl der Landesverband als auch die Studentenorganisation beteiligten sich in Baden-Württemberg vielfältig an politischen Protesten, bei denen sie zum Teil eine führende Rolle spielten, wie bei Schülerstreiks gegen die Bildungspolitik des Landes. In einem Redebeitrag in Tübingen im Rahmen eines bundesweit ausgerufenen Schulstreiks am 12. Juni 2008 äußerte der Sprecher der "Linksjugend ['solid]" unter anderem: "Die kapitalistische Gesellschaft begreift Bildung in erster Linie als Qualifikation für das Berufsleben. Zweck der Bildung ist einerseits die Veredelung der Ware Arbeitskraft und andererseits die Auslese von geeignetem Personal. Bildung dient somit den Interessen der Herrschenden." 342 Auf der am 12. November 2008 in Stuttgart durchgeführten Schülerdemonstration sprach eine Trotzkistin als Vertreterin der "Linksjugend ['solid]" ein Grußwort.343 Mit dem Engagement von Linksextremisten bei Schülerstreiks sollen Jugendliche, deren Anliegen man sich zu eigen macht, motiviert werden, gesellschaftliche ssnahme auf Normen in Frage zu stellen und aktiven "Widerstand" gegen diese zu leislerproteste ten. Die Organisation "Linksjugend ['solid]" gründete am 19. Juli 2008 einen Landesarbeitskreis "Antifa". Im "Gründungsstatement" hieß es in Auseinandersetzung mit "Nazi-Propaganda" beispielsweise: 342 "Landesinfo Baden-Württemberg" Nr. 3 vom Juli 2008, S. 10. 343 Internetauswertung vom 18. November 2008. 212 "Die Unterscheidung von gutem, deutschen, schaffenden Kapital und bösem jüdisch-amerikanischen raffenden Kapital war konstitutives Element der NS-Propaganda. Wer gewisse Konzerne als 'Heuschrecken' bezeichnet, der fängt an, Kapital in 'gut' und 'böse' zu unterscheiden. Das Problem sind aber nicht 'böse Kapitalisten', sondern der Kapitalismus an sich. Ihn gilt es zu kritisieren und abzuschaffen!" 344 "Antifaschismus" richtet sich nach diesem Verständnis letztendlich gegen das kapitalistische System als solches. Am Rande der Landesmitgliederversammlung der "Linksjugend ['solid]" "SMASH am 18. und 19. Januar 2008 in Heidelberg protestierten die Teilnehmer vor CAPITALISM!" einer nahe gelegenen Kaserne gegen die Militärpolitik der NATO und den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dabei wurden Transparente unter anderem mit der Aufschrift "SMASH CAPITALISM!" gezeigt. "Die Linksjugend ['solid]" Stuttgart gehörte neben zahlreichen anderen linksextremistischen Gruppen und Organisationen zu den Unterstützern des Aufrufs "Schluss mit der Kriminalisierung. Weg mit den Paragraphen 129, 129a & 129b!" 345 für eine Demonstration am 5. Juli 2008 in Stuttgart. "DIE LINKE." in Baden-Württemberg beteiligte sich vor allem auf KreisEngagement des ebene in unterschiedlichen Formen an nahezu sämtlichen derzeit im linksLandesverbands in extremistischen Spektrum aktuellen Politikfeldern. Die Teilnahme an Proklassischen linkstesten gegen die NATO, gegen Krieg, staatliche "Kriminalisierung" von extremistischen "Linken", Ausbau des "Überwachungsstaates", gegen die "Aggression" Agitationsfeldern Israels in Gaza, gegen ein neues Versammlungsgesetz oder gegen "Neofaschismus" vermitteln den Eindruck eines oppositionellen Verhältnisses zu Staat und Politik in Deutschland. Dieser wird noch bestärkt durch die Haltung des Landesvorstandes, wie sie anlässlich des bevorstehenden Bundesparteitages in Cottbus zum Ausdruck kam. In der Diskussion um den Wahlvorschlag BISKYs für den neuen Bundesvorstand wurde berichtet: "Die überdeutliche Mehrheit der Delegierten und des Landesvorstandes lehnt diesen Vorschlag ab. 344 "Gründungsstatement des LAK Antifa der Linksjugend ['solid] Baden-Württemberg"; Internetauswertung vom 18. November 2008; Übernahme wie im Original. 345 Die SSSS 129, 129a und 129b Strafgesetzbuch (Bildung einer kriminellen, terroristischen beziehungsweise kriminellen und terroristischen Vereinigung im Ausland) gelten für Linksextremisten als zentrale "Instrumente" staatlicher "Repression", die sich angeblich in erster Linie gegen die "Linke" richtet. 213 Politisch geht es für DIE LINKE nicht darum, Anschlussfähigkeit an die SPD und Regierungsfähigkeit zu erlangen, sondern klare und eindeutige Oppositionspolitik zu machen. Ein Meinungsbild der anwesenden Delegierten und Vorstandsmitglieder ergab: wenn sich keine Kompromisskandidatin findet, würde eine überdeutliche Mehrheit der Anwesenden Sahra Wagenknecht gegenüber Halina Wawzyniak vorziehen." 346 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: unter 500 Baden-Württemberg (2007: ca. 500) ca. 4.200 Bund (2007: ca. 4.200) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) eier des Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) feierte im September 2008 -jährigen ihr 40-jähriges Bestehen. Der Rückblick auf die eigene Geschichte belegt stehens zugleich ihr unverändertes Selbstverständnis als traditionskommunistische Organisation, deren ganze Tätigkeit auf der "Theorie von Marx, Engels und Lenin und deren schöpferische Anwendung auf die heutigen Bedingungen des Klassenkampfes" 347 beruht. Ihre Gründung im Jahr 1968 versteht sie auch heute noch als eine "Neukonstituierung" der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Um ein erneutes Verbot als Nachfolgeorganisation zu umgehen, habe man im Parteiprogramm bestimmte Schlüsselbegriffe wie "Marxismus-Leninismus", "Diktatur des Proletariats" und "demokratischer Zentralismus" umschreibend vermieden. Inhaltlich sei man aber von den Vorgaben der "revolutionären deutschen Arbeiterbewegung von Marx und Engels bis Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht" und der "in der Weimarer Republik von Ernst Thälmann geführten KPD" nicht abgerückt.348 Bis heute vertritt die DKP den Kommunismus marxistisch-leninistischer Ausprägung, wie er von der "Kommunistischen Partei der Sowjetunion" (KPdSU) bis zum Untergang des Ostblocks Ende der 80er-/Anfang der 90erJahre vorgegeben war. In ihrem Rückblick bedauerte die DKP, "Fehlent346 Bericht über eine Delegiertenbesprechung am 27. April 2008 in Stuttgart. Landesinfo Baden-Württemberg Nr. 2 vom 16. Mai 2008, S. 25. 347 "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 38 vom 19. September 2008, S. 15; Fettdruck im Original. 348 UZ Nr. 37 vom 12. September 2008, S. 15. 214 wicklungen und Deformationen" in den "Ländern des realen Sozialismus", die sich "im ökonomischen, gesellschaftlichen und ideologischen Bereich immer deutlicher zeigten", ignoriert zu haben.349 An ihrem Ziel "eine(r) andere(n) Produktionsund Lebensweise", einer "sozialistische(n) und kommunistische(n) Alternative und Perspektive" hält sie gleichwohl unvermindert fest. Ihr Gründungsjubiläum beging die Partei am 27. September 2008 mit einem Festakt in Recklinghausen, an dem rund 500 Personen aus allen Bundesländern teilnahmen, darunter als Gast eine Bundestagsabgeordnete der Partei "DIE LINKE.". In seiner Ansprache kleidete der Parteivorsitzende Heinz STEHR den Stolz auf die erreichten 40 Jahre kommunistischer Präsenz als DKP in der Bundesrepublik Deutschland in die Worte: "Die DKP ist heute das Beste, was die revolutionäre Arbeiterbewegung in der 90-jährigen Existenz von KPD und DKP hervorgebracht hat!" 350 Dennoch kam STEHR nicht umhin, die reale Situation der Partei anzusprechen, die sich in von Jahr zu Jahr schrumpfenden Mitgliederzahlen, in kontinuierlichem Abonnentenrückgang des Parteiorgans "Unsere Zeit" (UZ) und damit verbundenen, existentielle Ausmaße annehmenden Finanzproblemen sowie internen Konflikten niederschlägt. Seine Partei, so STEHR, befinde sich "in einer Verfasstheit, die sie nur begrenzt wahrnehmbar vor Ort wirken" lasse. Ihr Einfluss sei "sehr begrenzt", die Realität hingegen "gnadenlos: Bei 81 Millionen Einwohnern 4.250 organisierte Kommunistinnen und Kommunisten in der DKP bei einem Altersdurchschnitt von um die 60 Jahre." Ein Höhepunkt im Parteileben der DKP war ihr alle zwei Jahre stattfindender Parteitag, der am Wochenende des 23. und 24. Februar 2008 als 18. Bundesparteitag 18. Parteitag im Bürgerhaus Mörfelden-Walldorf (Hessen) in Anwesenheit von 176 Delegierten durchgeführt wurde. Der bisherige Parteivorsitzende Heinz STEHR wurde ebenso wie seine Stellvertreterin Nina HAGER von den Delegierten wieder gewählt, wenngleich mit für eine kommunistische Kaderpartei schmerzhaft vielen Gegenstimmen. In den Parteivorstand wurden auch zwei Parteimitglieder aus Baden-Württemberg gewählt. 349 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 38 vom 19. September 2008, S. 15. 350 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 29/30 vom 18. Juli 2008, S. 2. 215 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V." (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Berlin Publikationen: "antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur" "AntiFa Nachrichten" (Baden-Württemberg) Die politische Linie der linksextremistisch beeinflussten VVN-BdA folgt noch immer einem kommunistischen Faschismusverständnis, das im Kern bereits Mitte der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts formuliert worden ist. Diesem zufolge ist der Faschismus die "offen terroristische Diktatur" des "Monopol-" beziehungsweise "Finanzkapitals". Dem "Faschismus" komme eine funktionelle Bedeutung zu, indem er in Zeiten der Krise des kapitalistischen Systems zur Herrschaftssicherung eingesetzt werde, wenn die Herrschaftsform der bürgerlichen Demokratie zum Machterhalt nicht mehr ausreiche. eiterhin Das Fortbestehen dieser Sichtweise auch im baden-württembergischen Lantierung am desverband zeigen offizielle Äußerungen wie die, dass es seitens der Regieox-kommurung anscheinend "ein Interesse an Faschismus in der Reserve" 351 gebe. So hen Faschiskonstatierte der Landesverband eine "Rechtsentwicklung in Deutscherständnis land" 352 mit Parallelen zur "Vorgeschichte der faschistischen Diktatur Ende der zwanziger Jahre". Ähnlich wie am Ende der Weimarer Republik würden "auch heute wieder Konzepte einer entsolidarisierten und überwachten Gesellschaft, eines entdemokratisierten und autoritären Staates und einer militärisch gestalteten Außenpolitik gedacht und gemacht." Weiter hieß es: "In der deutschen Außenpolitik wird eine gefährliche Kontinuität des deutschen Großmachtstrebens und des deutschen Militarismus sichtbar." Militäreinsätze gegen den internationalen Terrorismus seien in Wirklichkeit ein "Kampf um Märkte, Rohstoffe und Transportwege", der sich in den Ölregionen der Welt abspiele. Aus der vermeintlich unveränderten Gültigkeit und Aktualität dieses Interpretationsschemas, aus dem sich angeblich Anzeichen einer neuerlichen Entwicklung in Richtung "Faschismus" in Deutschland ablesen ließen, leitet die VVN-BdA bis heute ihre eigene Unentbehrlichkeit als "antifaschistische" Organisation ab. 351 "AntiFa Nachrichten" Nr. 2 vom Juli 2008, S. 6. 352 Hier und im Folgenden: "AntiFa-Nachrichten" Nr. 2 vom Juli 2008, Beilage "Aufstehen! gegen Überwachung, Krieg und Nazis"; Übernahme wie im Original. 216 Das "Faschismus"-Verständnis der VVN-BdA wird durch führende Funktionäre immer wieder in die Öffentlichkeit transportiert. So formulierte Ulrich SANDER, einer ihrer Bundessprecher und gleichzeitiges Mitglied in der DKP und der Partei "DIE LINKE.", Ende Januar 2008 in einem Rückblick auf die "Machtübertragung an die Nazis" und deren Folgen353: "Trotz vieler guter Ansätze konnten die richtigen Lehren auch nach 1945 nicht gezogen werden." Die Bonner Republik habe "die Linken entweder weitgehend zur Anpassung zwingen oder andererseits unterdrücken" können. In der Gegenwart drohe "kein neues 1933 mit Faschismus gehabter Prägung." Aber es drohe "ein Staat, wie er ebenfalls vor 1933 bereits konzipiert" worden sei. Weiter äußerte SANDER, man müsse sich heute "faschistische Politik oder doch hochgradig autoritäre Politik von rechten Regierenden vorstellen können, die in Koalitionen eingebunden" seien. Diese Vorstellung falle "nicht schwer", wenn man sich "Roland Kochs Wahlkampf und Schäubles Sicherheitspolitik" ansehe. "Eine solche Politik" berge "die Gefahr des Umschwungs in profaschistische Regierungsformen", sie könne "aber auch in kontrollierter Form auftreten." Und weiter legte er dar: "Doch den inneren Zusammenhang zwischen Großkapital, Konzernen und der äußersten Rechten - auch der Militaristen - zu erkennen - und diesen auch zu begreifen -, das ist die historische Erfahrung der Gründer der VVN. Sie gilt, auch unter den Vorzeichen des 'Neoliberalismus'." Die Landesvereinigung Baden-Württemberg der VVN-BdA hielt am 14. und 15. Juni 2008 in Stuttgart ihre 37. Landeskonferenz ab. Im Rückblick auf ihre politische Tätigkeit wurde insbesondere die aktive Rolle der VVN-BdA in "antifaschistischen" Bündnissen als positiv und erfolgreich benannt. 37. Die Bilanz fiel insgesamt zwiespältig aus. Überdeutlich drängen sich NachLandeskonferenz wuchsund Personalprobleme gerade für die baden-württembergische Landesvereinigung in den Vordergrund, seit sie in den letzten beiden Jahren nicht nur weitere ehemalige Widerstandskämpfer, sondern mit dem Tod dreier aktiver Funktionäre der zweiten Generation "tragende Säulen" der 353 Hier und im Folgenden: Vortrag "75 Jahre danach - Zur Machtübertragung an die Nazis und den Folgen"; Internetauswertung vom November 2008; Übernahme wie im Original. 217 landes-, aber auch bundespolitischen Arbeit verloren hat. Diese Verluste aufzufangen, fällt der Landesvereinigung erkennbar schwer. Damit wird die in den letzten Jahren bereits forcierte Mitgliederwerbung für die VVN-BdA nicht nur vor dem Hintergrund einer chronisch angespannten Haushaltslage, sondern vor allem zur Gewinnung neuer Aktivisten zu einer zentralen Frage für das künftige politische Wirken. Die VVN-BdA kündigte die Absicht an, sich innerhalb des "antifaschistischen Internationalismus" zusammen mit der Friedensbewegung gegen Krieg und NATO engagieren zu wollen. Dazu zählte bereits die Beteiligung an der Demonstration vom 20. September 2008 in Stuttgart gegen die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. Dazu gehört perspektivisch die Unterstützung der Proteste gegen den NATO-Jubiläumsgipfel im April 2009 in Straßburg (Frankreich) und Baden-Baden (Deutschland). Das Motto des verabschiedeten umfangreichen Leitantrags der Landeskonferenz "Aufstehen! Gegen Überwachung, Krieg und Nazis" bezeichnet die - jeweils für sich genommen unproblematischen - Schlüsselbegriffe eines politischen Programms, das unverändert in letzter Konsequenz auf eine andere Staatsund Gesellschaftsordnung abzielt. Dies umfasst zunächst das Vorgehen gegen Rechtsextremisten, zu dem, wie die scheidende Landesprecherin betonte, auch die "Verteidigung der Demokratie" gehöre, die von der Bundesregierung "durch verfassungswidrige Militarisierung nach Innen - schrittweise in einen totalitären Überwachungsstaat umgewandelt" werde. Diese angebliche "Militarisierung nach innen" korrespondiert nach Lenins Imperialismustheorie mit der "Militarisierung nach außen". Kampf gegen Krieg und "Überwachungsstaat" bedeutet faktisch Kampf gegen das "imperialistische System". Nach kommunistischer Lesart ist zudem mit "Verteidigung der Demokratie" nicht etwa eine Wertschätzung dieser Staatsform als solche gemeint, sondern die Möglichkeit der Ausnutzung der in der Demokratie garantierten Rechte und Freiheiten für den Kampf für den Sozialismus. Nicht nur die Warnung vor einem angeblich systematisch angestrebten "Überwachungsstaat" oder die ausdrückliche Nichtdistanzierung von Gewaltausübung gegen Rechtsextremisten, sondern auch Grußworte anwesender Vertreter der DKP und der Partei "DIE LINKE." bei der Stuttgarter 218 Landeskonferenz zeigen die unverändert linksextremistisch dominierte Sichtweise der VVN-BdA sowie ihre Einbindung in das linksextremistische Spektrum bis hin zur autonomen Szene. Das Referat der Bundestagsabgeordneten der Partei "DIE LINKE.", Ulla JELPKE, zum Thema "Orwell lässt grüßen! 'Innere Sicherheit' als Vorwand für Demokratieabbau" war offenbar einer der Höhepunkte der Konferenz. Auch die Ausführungen eines Landessprechers354 in der linksalternativen Agitation gegen "Stattzeitung für Südbaden" zum Thema "Totalitarismusdoktrin - WiederTotalitarismusauferstehung eines Feindbildes des Kalten Krieges" 355 zeigen exemplarisch, theorie dass sich die VVN-BdA ideologisch nach wie vor in orthodox-kommunistischen Bahnen bewegt. Die Totalitarismustheorie vergleicht Diktaturen von "rechts" und "links", ohne zu bestreiten, dass es trotz auffallender Parallelen Unterschiede gibt. Kommunisten hingegen stellen kapitalistische und sozialistisch/kommunistische Systeme einander gegenüber und lehnen den Vergleich zwischen Diktaturen ab. So bezeichnet auch der Landessprecher der VVN-BdA in seinem Beitrag die "Totalitarismusdoktrin" als "ideologische(s) Werkzeug" aus der Zeit des Kalten Krieges. Sie und damit die "Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus" sei erfunden worden, um nach 1945 "dem platten Antikommunismus ein Mäntelchen umzuhängen". Auch heute, "nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systemalternative", erfülle die Totalitarismusthese unter anderem den Zweck, die "Militarisierung aller Lebensbereiche" bei gleichzeitiger Entsorgung unangenehmer Erinnerung an die Vergangenheit als Normalität zu vermitteln. Zudem solle mit ihr ein "bewährtes Feindbild" wieder belebt werden, das, ausgedehnt auf Terrorismus und Islamismus, "als Rechtfertigung für den Abmarsch in einen autoritären Überwachungsstaat" diene. Die "antidemokratische Rolle" des Rechtskonservatismus als Mitte der Gesellschaft werde verschleiert, "die Formierung der Gesellschaft nach Rechts durch Verdummung und durch Spaltung des Widerstands" werde erleichtert und der "Gedanke(n) an eine gesellschaftliche Alternative zum real existierenden Kapitalismus" werde als "Bestrebung zur Errichtung einer kommunistischen Diktatur" verteufelt. Eine "Systemalternative" solle damit als "undenkbar" erscheinen. Die Auseinandersetzung mit der Totalitarismusthese, die aus linksextremistischer Perspektive auf der Basis nicht des Vergleichs zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, sondern zwischen Kapitalismus und Sozialismus und damit konkret zwischen der ehemaligen DDR und der Bundes354 Beide Landessprecher der VVN-BdA wurden neu gewählt. 355 Hier und im Folgenden: "Stattzeitung für Südbaden", Ausgabe 72 vom August 2008. 219 republik betrieben wird, fügt sich in die Sichtweise auch der Bundesorganisation der VVN-BdA nahtlos ein, wie auf deren Bundeskongress am 24./25. Mai 2008 in Berlin deutlich wurde. Nina HAGER, die stellvertretende Vorsitzende der DKP, deren Vorfeldorganisation356 die VVN-BdA bis zum Ende der DDR war, konnte dort unwidersprochen die nach ihrer Meinung "ungeheuerliche Behauptung" zurückweisen, "die DDR sei die zweite deutsche Diktatur nach 1933 bis 45" gewesen.357 Der Bundesvorsitzende der VVN-BdA, Prof. Heinrich FINK358, nahm die DDR ausdrücklich gegen den Vorwurf des "staatlich verordneten Antifaschismus" in Schutz und betonte in dieser Frage vielmehr deren Vorbildcharakter mit den Worten: "Würde es in der Bundesrepublik wenigstens einen staatlich verordneten Antifaschismus geben, bräuchten wir nicht für ein NPD-Verbot zu kämpfen." 359 usst keine In diesem Denkmuster war es nur logisch, dass FINK die VVN-BdA-Mitanzierung glieder dazu aufrief, sich nicht "von Kommunisten und radikalen Linken" von zu distanzieren. Eine als Delegierte auf dem Kongress gleichfalls vertretene munisten Bundestagsabgeordnete der Partei "DIE LINKE." sprach sich unwidersprochen "für eine verstärkte Zusammenarbeit mit autonomen Antifaschisten" aus und forderte, diese "als engagierte Bündnispartner anzuerkennen". Nach Darstellung der VVN-BdA beschrieb FINK in seiner Rede die sicherheitspolitischen Maßnahmen zum Schutz des G8-Gipfels im Jahr 2007 gegen gewaltbereite Störer als "Kriminalisierung des demokratischen Protestes", als "bisher nicht gekannten Angriff auf die Bürgerrechte" und "Zäsur in der Geschichte des Landes". Die beschlossenen Maßnahmen und Gesetzesvorhaben der Bundesregierung in Reaktion auf die Sicherheitslage wurden in der politischen Sichtweise des Kongresses zu einer "geschürten Anti-Terror-Hysterie", aufgrund derer "an breiter Front in einem nie da gewesenen Maße demokratische Grundrechte ausgehöhlt" würden. Die "innerstaatliche Militarisierung Deutschlands" und der "Weg zum Überwachungsstaat" müssten gestoppt werden. Der Kongress nahm auch mit "Empörung" die Ablehnung der Forderung nach einer Entschädigung für "kommunistische Widerstandskämpfer" als Opfer des Nationalsozialismus durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages (außer der Partei "DIE LINKE.") am 8. Mai 2008 zur Kennt356 Kommunistisch gesteuerte, formal unabhängige Organisation, in der auch Nichtextremisten mitarbeiten. 357 Internetauswertung vom 17. Oktober 2008. 358 FINK war zu DDR-Zeiten Theologie-Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und als Informeller Mitarbeiter "Heiner" für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig. 359 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 5. Juni 2008. 220 nis. Indem in diesem Zusammenhang von "den kommunistischen Widerstandskämpfern, die sowohl unter Hitler wie Adenauer politisch verfolgt wurden", die Rede war, setzte die VVN-BdA nicht nur Hitler und Adenauer gleich, sondern unterstellte dem deutschen Staat zugleich Willkür gegenüber politischen Gegnern. 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 500 Baden-Württemberg (2007: ca. 600) ca. 2.300 Bund (2007: ca. 2.300) Publikationen: "Rote Fahne" (RF), "Lernen und Kämpfen" (LuK), "REBELL" Die 1982 aus dem bereits 1972 gegründeten "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands" (KABD) hervorgegangene "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) strebt nach wie vor den "Sturz der kapitalistischen Herrschaft" 360 und den Aufbau einer "sozialistischen Gesellschaftsordnung" an. Die "Arbeiterklasse" müsse nach dem "Sturz der Diktatur der Monopolkapitalisten und der Eroberung der Staatsmacht die Diktatur des Proletariats errichten und die Produktionsmittel in gemeinsames Eigentum des gesamten werktätigen Volkes überführen." Die MLPD agiert unverändert auf der Grundlage der Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und vor allem von Mao Tsetung. In "ausnahmslos allen ehemals sozialistischen Ländern" hat sich nach Ansicht und zum Bedauern der MLPD jedoch eine "Restauration des Kapitalismus" vollzogen, aus der die internationale marxistisch-leninistische Arbeiterbewegung ihre Lehren ziehen müsse. Die Partei betont daher, dass sie nicht allein aus den "Erfolgen der [sc. chinesischen] Kulturrevolution Lehren gezogen" habe, sondern auch "aus ihren Schwächen".361 Die Lehre von der Denkweise, wie sie die MLPD entwickelt habe, baue zwar auf der Theorie und Praxis Mao Tsetungs auf, führe sie aber weiter. Über das damit verbundene "System der Selbstkontrolle" will die MLPD Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen im Ansatz erkennen und so verhindern, dass "Funktionäre den sozialistischen Weg verlassen". 360 Hier und im Folgenden: Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), hrsg. vom Zentralkomitee der MLPD, Gelsenkirchen 2000, S. 35, 46, 53. 361 Hier und im Folgenden: "Rote Fahne" (RF) Nr. 24 vom 13. Juni 2008, S. 21. 221 Im Unterschied zu den anderen linksextremistischen Parteien bekennt sich die MLPD offen als revolutionär-marxistische Organisation, ohne ihre Überzeugung von der Notwendigkeit einer gewaltsamen Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung terminologisch zu verschleiern. Marx habe "nie einen Hehl daraus gemacht, dass die revolutionären Ziele der Arbeiterklasse 'nur erreicht werden könn[t]en durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung'". Weiter heißt es in diesem Zusammenhang: "Wer also heute in die Fußstapfen von Karl Marx treten will, der muss schon einige Schuhnummern größer wählen und den revolutionären Sturz des Kapitalismus und die Errichtung der Diktatur des Proletariats zum Kernpunkt seines Programms machen." Das für die MLPD zentrale Ereignis des Jahres 2008 war ihr, wie bei der Partei üblich, konspirativ durchgeführter VIII. Parteitag in Hamburg. Ihm maß der Parteivorsitzende Stefan ENGEL in einem erstmals am 16. September 2008 im Online-Nachrichtenmagazin der MLPD, "Rote Fahne News", veröffentlichten Interview eine "herausragende Bedeutung in der Geschichte der MLPD" bei.362 ENGEL wurde parteieigenen Angaben zufolge einstimmig wieder gewählt. Dem bisherigen Zentralkomitee wurde "mit überwältigender Zustimmung" erneut "das Vertrauen gemburger schenkt". Die Äußerungen des Parteivorsitzenden zeigen auch, dass sich die teitag als MLPD vor allem als Alternative zur Partei "DIE LINKE." zu empfehlen verles Ereignis sucht, was auch in ihrer Absicht zum Ausdruck kommt, bei den Bundestagswahlen 2009 anzutreten. Aus seinen Äußerungen über Inhalt und Ablauf des Parteitags geht hervor, dass man innerhalb der Partei große Hoffnung auf den angeblich vorherrschenden "aallgemeine(n) Linkstrend" setzte, der, so ENGEL, eine "Widerspiegelung (...) der historischen Umbruchphase vom Kapitalismus zum Sozialismus" darstelle. Diese auch international feststellbare Tendenz gehe allerdings noch vielfach mit der Hoffnung auf die Durchsetzung einer "gesellschaftlichen Alternative auf parlamentarischem Wege oder auf andere Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems" einher. Ohne die "Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht" und die 362 Hier und im Folgenden: "Erfolgreicher Hamburger Parteitag der MLPD!" Interview mit Stefan Engel; Rote Fahne News vom 16. September 2008; Internetauswertung vom 17. September 2008; Übernahme (einschließlich Fettdruck) wie im Original. 222 "Errichtung der Diktatur des Proletariats" könne der Sozialismus aber nicht durchgesetzt werden. Der Parteitag bildete auch den Abschluss der im Dezember 2005 begonnenen, Kräfte zehrenden "Reorganisierung" der Partei in sieben Landesverbände und der Gründung neuer Kreisverbände. In einer Pressemitteilung vom 20. Mai 2008363 wurde auch die Gründung des Landesverbands Baden-Württemberg bekannt gegeben. Landesvorsitzender ist Peter BORGWARDT, der darüber hinaus auch Mitglied des Zentralkomitees der MLPD ist. Sitz der Landesgeschäftsstelle ist das "Arbeiterbildungszentrum Süd" in Stuttgart-Untertürkheim. Die Umstrukturierung war aus Sicht der Partei erforderlich geworden, weil sich das Zentralkomitee nicht mehr in der Lage sah, der Parteibasis die notwendige "Anleitung und Kontrolle" 364 zukommen zu lassen, wie sie von der nach dem Prinzip des "demokratischen Zentralismus" aufgebauten MLPD als unabdingbar erachtet wird. Mit ihr waren umfangreiche parteiinterne Ausbildungsmaßnahmen sowie personelle und organisatorische Veränderungen verbunden. "Mehrere hundert Genossinnen und Genossen" wurden nach Angaben der MLPD-eigenen Mitgliederund Funktionärszeitschrift "Lernen und Kämpfen" vom Januar 2008365 allein für die Ausstattung der Landesebene benötigt. Außerdem wurde auf dem VIII. Parteitag nochmals die einschneidende Krise innerhalb der MLPD aufgearbeitet, die 2005 einen außerordentlichen Parteitag erforderlich gemacht hatte. Ursache dafür sei das Vordringen der "kleinbürgerlichen Denkweise" in der "Zentralen Kontrollkommission" (ZKK) gewesen, das zum Ausgangspunkt von der Parteiführung nebulös umschriebener "negativer Entwicklungen" wurde. Im Ergebnis lobte ENGEL das "allseitig funktionierende System der Selbstkontrolle" als Geheimnis der Partei, das die seinerzeitigen Fehlentwicklungen habe korrigieren können.366 Als bedeutsam hob er in seinem Interview auch die angebliche "Trendwende in der marxistisch-leninistischen Jugendarbeit" und den Erfolg der beiden Großveranstaltungen des "Frauenpolitischen Ratschlags" vom 3. bis 5. Oktober 2008 in Düsseldorf und des "3. Internationalen Bergarbeiterseminars" vom 28. bis 31. August 2008 in Gelsenkirchen hervor. 363 Internetauswertung vom 27. Mai 2008. 364 "Erfolgreicher Hamburger Parteitag der MLPD!" Interview mit Stefan Engel; Rote Fahne News vom 16. September 2008; Internetauswertung vom 17. September 2008. 365 "Lernen und Kämpfen" Nr. 1 vom Januar 2008, S. 2. 366 Hier und im Folgenden: "Erfolgreicher Hamburger Parteitag der MLPD!"; Interview mit Stefan Engel; Rote Fahne News vom 16. September 2008; Internetauswertung vom 17. September 2008. 223 Allein letzteres wurde nach MLPD-Angaben mit circa 600 bis 700 Teilnehmern durchgeführt. In seinem wie üblich die Realität stark positiv überzeichnenden Resümee zum Parteitag bescheinigte ENGEL seiner Partei unter anderem "eine große Reife" und eine "gewachsene Schlagkraft und Anziehungskraft auf die Massen", was sich insbesondere "in dem deutlichen Mitgliederwachstum" niederschlage. So habe man zwischen dem VII. und dem VIII. Parteitag mit "60 Prozent Neuaufnahmen die große Attraktion der Partei auf die Massen erleben können", von denen allerdings ein Teil wieder verloren gegangen sei. Im Zusammenhang mit diesen Verlusten räumte er Schwächen bei der Betreuung und Ausbildung der Neuzugänge ein. Wie auch bei anderen linksextremistischen Organisationen dürfte zukünftig der fehlende Nachwuchs das Hauptproblem der Partei bleiben. 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz: Dortmund Geschäftsstelle: Göttingen Mitglieder: ca. 330 Baden-Württemberg (2007: ca. 300) ca. 5.000 Bund (2007: ca. 4.300) Publikationen: "Die Rote Hilfe" Die 1975 wiedergegründete "Rote Hilfe e.V." versteht sich als Nachfolgeorganisation der historischen, KPD-nahen "Roten Hilfe Deutschland" aus der Zeit von 1924 bis 1936. Laut Satzung ist sie eine "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation".367 Sie leistet solidarische Hilfe "für alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden." Die politische Einseitigkeit der Unterstützung ist jedoch unverkennbar. Beispielhaft werden politische Aktivitäten wie "das Eintreten für die Ziele der ArbeiterInnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr" aufgezählt. Zudem heißt es: "Unsere Unterstützung gilt denjenigen, die deswegen ihren Arbeitsplatz verlieren, Berufsverbote erhalten, vor Gericht gestellt und zu Geldoder Gefängnisstrafen verurteilt werden oder sonstige Nachteile erleiden." 367 Hier und im Folgenden: SS 2 der Satzung der "Roten Hilfe e.V.". 224 Indem die RH der Bundesrepublik politische Verfolgung und somit staatliche Willkür gegenüber Andersdenkenden unterstellt, agitiert sie gegen die rechtsstaatliche Fundierung staatlichen Handelns in Deutschland. Seit Jahren ist die RH eine der wenigen Organisationen im Spektrum des neue Ortsgruppen deutschen Linksextremismus, die auf stabile Mitgliederzahlen verweisen in Badenkann. 2008 gründeten sich bundesweit neue Ortsgruppen, darunter in Württemberg Tübingen und Stuttgart. Wie bereits 2007 im Zusammenhang mit strafrechtlichen Nachwirkungen der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm stand auch 2008 das Thema "Repression" im Vordergrund der politischen Aktivitäten. Bereits Ende 2007 hatte die RH eine Broschüre mit dem Titel "Der G8 2007 in Heiligendamm: Von Armeeeinsatz bis Zensur. Ein ABC der Repression" veröffentlicht. Im Mittelpunkt stand 2008 die Agitation gegen die SSSS 129a und 129b Strafgesetzbuch als die "dicksten Repressionskeulen" des Staates, wie sie 2007 gegen "G8-GegnerInnen, aktuell (...) gegen angebliche Mitglieder der militanten gruppe (mg) und gegen türkische Linke, die in Stuttgart-Stammheim vor Gericht" stünden, zur Anwendung kämen.368 Die Einstellung der "vollkommen haltlosen 129a-Verfahren gegen G8-GegnerInnen" 369 wurde von der RH entsprechend begrüßt. Zusammen mit anderen war die RH außerdem an der Veranstaltung einer bundesweiten "Infotour" im Zusammenhang mit "politischen Schauprozessen in Stammheim" vom 16. Oktober bis 18. November 2008 beteiligt, die von Stuttgart ausgehend auch in Mannheim Station machte. In einem Faltblatt rief die RH außerdem zur "Solidarität mit den angeklagten "politische Antifas" auf, die am 17. Februar 2007 infolge einer gewaltsamen AuseinanderRepression setzung mit Rechtsextremisten festgenommen und wegen gefährlicher Körgegen Linke" perverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor dem Amtsweiterhin im gericht Böblingen angeklagt worden waren.370 Darin hieß es abschließend: Vordergrund "Zeigen wir den Angeklagten, dass sie nicht allein sind! Machen wir den Repressionsbehörden klar, dass sie mit ihren Schweinereien nicht durchkommen! Wir fordern: Einstellung aller Verfahren! Antifaschismus ist notwendig, nicht kriminell!" 368 Solidaritätserklärung der "Roten Hilfe e.V." Stuttgart vom 20. Juli 2008. 369 "Kriminalisierung von G8-GegnerInnen nach 129a fehlgeschlagen: Ermittlungen eingestellt"; Presseerklärung der "Roten Hilfe e.V." vom 5. Oktober 2008; Übernahme wie im Original. 370 Der am 8. September 2008 begonnene Prozess endete mit der Verurteilung von drei der sieben Angeklagten zu einer Haftstrafe von jeweils 16 Monaten. Die übrigen wurden zu neun beziehungsweise zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Urteil (Az.: 40 Ns 5 Js 15494/07) ist noch nicht rechtskräftig. 225 Die genannten Verfahren bestimmten teilweise auch den Inhalt der diesjährigen traditionellen "Sonderausgabe der Roten Hilfe" zum "18.03.2008 Tag der politischen Gefangenen" 371, die wie in den Vorjahren als Beilage in der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" erschien. Ein kontinuierliches Anliegen bleibt die Freilassung der "verbliebenen Gefangenen aus der RAF". Dass gegen Christian KLAR nach über 25 Jahren "Knast unter zum Teil härtesten Bedingungen" 372 sogar Beugehaft verhängt werden sollte, zeige "überdeutlich" den "Zweck seiner Inhaftierung". Es gehe "einerseits schlicht um Rache, andererseits darum, einen Menschen in seiner politischen Identität zu brechen und an ihm zu demonstrieren, dass radikale Rebellion zum Scheitern verurteilt sei." Mit Beschluss vom 24. November 2008 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart die Vollstreckung des Restes der gegen KLAR verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe mit Wirkung vom 3. Januar 2009 zur Bewährung ausgesetzt. Am 19. Dezember 2008 wurde KLAR nach 26 Jahren Freiheitsstrafe aus der Justizvollzugsanstalt Bruchsal entlassen. 4.6 Sonstige Vereinigungen entierung Unter den trotzkistischen Gruppierungen konzentrierten sich mehrere f Partei weiterhin auf eine politische Betätigung innerhalb der Partei "DIE LINKE." LINKE.". Dies gilt namentlich für die "Sozialistische Alternative" (SAV). Die bislang nur in Westdeutschland präsente Organisation gab am 11. September 2008 in einer Stellungnahme ihre Entscheidung bekannt, nun auch in Ostdeutschland und in Berlin in die Partei einzutreten, um damit einen Beitrag dazu zu leisten, "die Linkspartei und die Jugendorganisation Linksjugend ['solid] aufzubauen und die Kräfte in der LINKEN zu stärken, die sich für eine konsequent antikapitalistische Politik einsetzen." Sie engagiere sich "für eine Partei (...), die Widerstand gegen die Angriffe der Konzerne und ihrer Regierungen" leiste und "für eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse, für eine sozialistische Demokratie" eintrete.373 Die SAV ist im Bundesvorstand der Partei "DIE LINKE." und in Baden-Württemberg unter anderem im "LandessprecherInnenrat" der Jugendorganisation "Linksjugend ['solid]" vertreten. Die trotzkistische Organisation "Linksruck" agiert seit ihrer formalen Selbstauflösung im September 2007 als Netzwerk "marx21" in der "Sozialistischen 371 Mit dem Datum des 18. März wird historisch Bezug genommen auf die Barrikadenkämpfe in Berlin während des Revolutionsjahrs 1848, den Beginn der Pariser Kommune am 18. März 1871 und den Anknüpfungspunkt des am 18. März 1923 erstmals in der ehemaligen KPD-nahen "Roten Hilfe" ausgerufenen "Internationalen Tages der politischen Gefangenen". 372 Hier und im Folgenden: "18.03.2008. Tag der politischen Gefangenen. Sonderausgabe der Roten Hilfe", S. 1. 373 Internetauswertung vom 16. Oktober 2008. 226 Linken" (SL), einem von der Partei "DIE LINKE." offiziell anerkannten, bundesweiten innerparteilichen Zusammenschluss. Er ist gleichzeitig aber ebenfalls im Jugendverband "Linksjugend ['solid]" aktiv. Das Netzwerk lud für den 31. Oktober bis 2. November 2008 zu dem Kongress "Marx is' muss 2008" als einem "Forum für die Debatte um linke Strategien und sozialistische Perspektiven" nach Berlin ein.374 In Baden-Württemberg sind Mitglieder des früheren "Linksruck" unter anderem sowohl im Landesvorstand der Partei "DIE LINKE." als auch auf Regionalbeziehungsweise Ortsebene als Funktionäre aktiv. Ein Mitglied gehört dem Bundesvorstand an. Der "Revolutionär-Sozialistische Bund/IV. Internationale" (RSB/IV. Inter - nationale) mit Sitz in Mannheim organisierte am 27. und 28. September 2008 erstmals eine größere öffentliche Veranstaltung unter dem Motto "70 Jahre Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung" mit nach Eigenangaben 100 Teilnehmern. Anlass bot der 70. Jahrestag der Gründung der IV. Internationale. 5. Aktionsfelder 5.1 NATO-Gipfel 2009/Antimilitarismus Seit Bekanntwerden der Tatsache, dass der NATO-Gipfel 2009 aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Verteidigungsbündnisses in Straßburg/Frankreich und Baden-Baden/Deutschland375 stattfinden wird, nahm diese Großveranstaltung in der Prioritätenskala deutscher Linksextremisten den obersten Platz ein. Verbunden damit trat die Thematik "Militarismus" beziehungsweise "Militarisierung" noch deutlicher in den Vordergrund. Zuvor war bereits seit Ende 2007 unter anderem mit dem Slogan "FIGHT CAPITALIST WAR! FIGHT CAPITALIST PEACE! - NATO-Kriegskonferenz angreifen!" 376 zur Großdemonstration gegen die "44. Konferenz für Sicherheitspolitik" in München vom 8. bis 10. Februar 2008 mobilisiert worden. Unter den insgesamt 7.000 bis 8.000 Teilnehmern, darunter ein "Schwarzer Block" mit circa 500 Gewaltbereiten, befanden sich auch Linksextremisten aus Tübingen/Reutlingen, Stuttgart und Freiburg im Breisgau. Auf nur mäßiges Interesse stieß der NATO-Gipfel vom 2. bis 4. April 2008 in Bukarest/Rumänien. Gleichwohl befanden sich unter den bei Protestak374 "marx21" Nr. 7 vom September 2008, S. 34. 375 Am 17. Oktober 2008 hatte das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass die Veranstaltungen auf deutscher Seite von der ursprünglich vorgesehenen Stadt Kehl nach Baden-Baden verlegt worden seien. 376 Internetauswertung vom 10. November 2008. 227 tionen 46 Festgenommen auch 22 Personen aus Deutschland. Nachdem auf diesem Treffen der geplante NATO-Doppelgipfel in Frankreich und anungen Deutschland im April 2009 bekannt geworden war, begannen deutsche Vorfeld Linksextremisten mit Protestplanungen. Die Vorbereitungen von Aktionen gegen den NATO-Gipfel 2009 wurden bundesweit in erster Linie von dem "Bye-Bye-NATO"-Bündnis und der "No-NATO-Kampagne" getragen, denen ein Spektrum von nichtextremistischen, linksextremistisch beeinflussten bis linksextremistischen Organisationen und Einzelpersonen in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung zuzurechnen war. Bei einem bundesweiten Arbeitstreffen am 7. September 2008 in Frankfurt am Main verständigten sich die etwa 130 Teilnehmer auf erste Aktionsplanungen, die in Arbeitsausschüssen vorbereitet werden sollten. Bei einer "Internationalen Arbeitskonferenz" der "No-NATO-Kampagne" am 4./5. Oktober 2008 in Stuttgart wurden die Aktionsplanungen vorgestellt. Die circa 100 Teilnehmer aus 16 Ländern einigten sich im Grundsatz auf die Veranstaltung einer Demonstration am 4. April 2009, eine "Internationale Konferenz" vom 2. bis 4. April 2009, ein "Internationales Widerstandscamp" vom 1. bis 5. April 2009 sowie Aktionen des "zivilen Ungehorsams". uttgarter Die Teilnehmer verabschiedeten einen "Appell", unterschrieben von einer Appell" Fülle von Organisationen und Gruppierungen aus zahlreichen europäischen, aber auch außereuropäischen Ländern, darunter aus Deutschland unter anderem von der DKP und namentlich ihrer Untergliederung in Lud - wigsburg, der Bundespartei "DIE LINKE." und einzelnen Landesverbänden, darunter der Landesverband Baden-Württemberg, der "Rosa-LuxemburgStiftung Baden-Württemberg", des "RevolutionärSozialistischen Bundes/IV. Internationale" (RSB/IV. Internationale) und der VVN/BdA. Der Appell rief zur Teilnahme an den Protesten gegen die "aggressive Militärund Nuklearpolitik der NATO" auf.377 Die NATO sei "ein wachsendes Hindernis für den Frieden in der Welt". Trotz anders lautender Deklarierung sei sie in Wirklichkeit "ein Vehikel für den Einsatz von Gewalt unter Führung der USA". Sie betreibe seit 1991 eine "expansionistische Politik mit dem Ziel, ihre strategischen und Ressourceninteressen zu vertreten". Sie habe unter dem "Deckmantel" humanitärer Hilfe auf dem Balkan Krieg geführt und führe seit Jahren einen "brutalen Krieg" in Afghanistan. Die NATO verschärfe Spannungen, befeuere den Rüstungswettlauf und erhöhe die Kriegsgefahr. 377 Hier und im Folgenden: Appell "Nein zum Krieg - Nein zur NATO". Beschlossen in Stuttgart am 5. Oktober 2008; Internetauswertung vom 18. Februar 2009. 228 Um die Aktionsplanungen zu forcieren, veranstaltete die "No-NATO-Kampagne" am 8. November 2008 in Stuttgart und am 8. Dezember 2008 in Frankfurt am Main bundesweite sowie am 1. Dezember 2008 ein internationales Vorbereitungstreffen in Brüssel/Belgien. Im Rahmen dieser drei weiteren Vorbereitungsveranstaltungen kam man überein, dass die Demonstration am 4. April 2009, die "Internationale Konferenz" sowie das "Internationale Widerstandscamp" jeweils in Straßburg/Frankreich stattfinden sollen. Für den 3. April 2009 war beabsichtigt, die Veranstaltungen der NATO in Baden-Baden mittels Blockaden zu behindern. Die Aktionsplanungen sollten bis zur "Internationalen Aktionskonferenz" der "No-Nato-Kampagne" am 14./15. Februar 2009 in Straßburg konkretisiert und verabschiedet werden. "'Dissent!' Frankreich"378 lud unter der Programmatik "Radikaler Widerstand gegen den NATO-Gipfel 2009" zu einem internationalen Vorbereitungstreffen von Gruppen aus mehreren europäischen Ländern vom 17. bis 18. Januar 2009 an einen Ort im Raum Straßburg mit dem Ziel ein, möglichst "eine Koordination im anarchistischen, autonomen und linksradikalen Spektrum [zu] befördern" und "konkrete Verabredungen" zu treffen.379 Zudem sollte ein Prozess in Richtung eines "dauerhaften und organisierten Widerstand[s] gegen die globalen Herrschaftsverhältnisse" in Gang gebracht werden. Neben den bundesund europaweiten Proteststrukturen entwickelten sich in Deutschland auch zahlreiche regionale und lokale Initiativen. In BadenWürttemberg gingen Protestplanungen, an denen auch Linksextremisten beteiligt waren, von Regionalbündnissen vor allem in den Räumen Freiburg im Breisgau, Kehl, Baden-Baden, Stuttgart, Tübingen, Karlsruhe und Mannheim/Heidelberg aus. Am 22. November 2008 fand in Stuttgart ein Arbeitsund Vernetzungstreffen statt, organisiert unter anderem von der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS) und dem "Infoladen Karlsruhe". Im Zuge der Fokussierung auf die als "Kriegsbündnis" diffamierte NATO thematisierten Linksextremisten zeitgleich auch die in Deutschland angeblich voranschreitende Militarisierung. So richteten sich Bündnisdemonstrationen in Berlin und Stuttgart am 20. September 2008 im Vorfeld 378 "'Dissent!' Frankreich" ist der französischsprachige Ableger des maßgeblich von militant orientierten britischen "Globalisierungskritikern" zur Vorbereitung der Proteste gegen das G8-Treffen von 2005 in Gleneagles (Schottland) initiierten Netzwerks "Dissent!". 379 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 11. November 2008. 229 gegen der anstehenden Abstimmung im Deutschen Bundestag gegen eine Verlänehmende gerung des Einsatzes deutscher Truppen in Afghanistan. In einem von einer arisierung" Vielzahl von Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen, darunter "DIE LINKE.", DKP, VVN-BdA, MLPD und "Linksjugend ['solid]" unterstützten Aufruf hieß es, bisher sei mit den sieben Jahren Krieg in Afghanistan keines der "vorgeblichen" Ziele erreicht worden.380 Die "Kriegsführungsstrategie der NATO und damit der USA" ziele "auf die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens zur Durchsetzung machtpolitischer und wirtschaftlicher Interessen". Der Verdacht liege nahe, "dass die 'zivile' Komponente des Bundeswehreinsatzes zur Rechtfertigung des Krieges instrumentalisiert" werde. Zur Beteiligung an einem "antikapitalistischen Block" im Rahmen der beiden Veranstaltungen hatten auch autonome und antiimperialistische Kräfte mobilisiert. In einem gemeinsamen Aufruf "Bundeswehr und Nato raus aus Afghanistan. Kriege sabotieren - Kapitalismus abschaffen" 381 der "Revolutionären Perspektive Berlin" und der RAS hieß es unter anderem: "Mit eigenen antikapitalistischen Blöcken auf den Demonstrationen in Stuttgart und Berlin soll deutlich gemacht werden, dass es um mehr als eine Aufforderung an die Sozialabbauer und Kriegstreiber im Bundestag geht - es geht um eine konfrontative Stellung ihnen gegenüber. Es geht darum, für eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive einzutreten, eine gemeinsame Praxis gegen Krieg, Ausbeutung und das ganze kapitalistische System zu entwickeln und sich dafür zu organisieren." 382 An den friedlich verlaufenen Demonstrationen in Berlin und Stuttgart beteiligten sich circa 3.300 beziehungsweise 2.000 Personen. Der "antikapitalistische Block" hatte auf beiden Demonstrationen durch eine symbolische Aktion auf sich aufmerksam gemacht, bei der ein Panzer aus Pappmaterial in Brand gesetzt wurde. Damit sollte gegen die "Kriminalisierung von Kriegsgegnern" wie im Strafverfahren gegen mutmaßliche Angehörige der "militanten gruppe" (mg) hingewiesen werden, deren Prozess am 25. September 2008 in Berlin begann. 380 Hier und im Folgenden: Aufruf "Dem Frieden eine Chance, Truppen raus aus Afghanistan"; Internetauswertung vom 10. November 2008. 381 Internetauswertung vom 11. November 2008. 382 Internetauswertung vom 10. November 2008. 230 5.2 "Antirepression" Das Thema "staatliche Repression" gegen "linke Zusammenhänge" legte Agitation gegen angesichts aktueller Entwicklungen im Jahr 2008 für die linksextremistische SS 129 StGB Szene noch an Bedeutung zu. Im Mittelpunkt standen hierbei die Agitation gegen den "Ermittlungsparagrafen 129" und im weiteren Verlauf des Jahres die Diskussion um ein neues Versammlungsgesetz für Baden-Württemberg. Betroffen war die linksextremistische Szene nicht nur durch zahlreiche Ermittlungsund Strafverfahren im Nachgang zu den Protesten gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, sondern vor allem durch Verfahren nach SS 129 Strafgesetzbuch (Bildung einer kriminellen Vereinigung) gegen mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" (mg). Das Verfahren im Zusammenhang mit der "militanten Begleitkampagne" gegen den G8-Gipfel wurde am 24. September 2008 von der Staatsanwaltschaft Hamburg eingestellt. Der Prozess gegen die mutmaßlichen Mitglieder der mg, die am 31. Juli 2007 unmittelbar nach einem versuchten Brandanschlag auf Fahrzeuge der Bundeswehr in Brandenburg festgenommen worden waren, begann am 25. September 2008 vor dem Kammergericht in Berlin. Etwa zeitgleich mit dem Beginn der Hauptverhandlung erschien im September 2008 die "ZEITUNG GEGEN KRIEG, MILITARISMUS, DIE MG-VERFAHREN UND REPRESSION" als eine Beilage in der linksextremistischen "jungen welt" und der Berliner Tageszeitung taz. Der Beilagenartikel "DAS ENDE EINER DIENSTFAHRT" bezieht sich auf eine gleichnamige Erzählung von Heinrich Böll, die von einem Prozess gegen Vater und Sohn handelt, die ein Bundeswehrfahrzeug in Brand gesteckt hatten und der mit einer eher milden Strafe endete. Ähnlich wie in dieser Erzählung, so lautete das Fazit der Autoren des Artikels, solle auch heute nach Maßgabe des Staates "das 'aktive Abrüsten' keine Schule machen" nur sei "die gewählte Strategie diesmal eine völlig andere." Erläuternd hieß es dann: "Statt die 'Abrüstung' klein zu reden, wurde und wird der Versuch unternommen, die den drei Beschuldigten vorgeworfene antimilitaristische Aktion im Rahmen einer groß angelegten Repressionsund Ermittlungsaktion zu kriminalisieren." 231 Des Weiteren formulierte ein so genanntes Einstellungsbündnis383: "Wir fragen, was ist die Zerstörung von Kriegsmaterial im Vergleich dazu, es herzustellen und damit verheerende Schäden anzurichten?" Dieses "Einstellungsbündnis" distanzierte sich ausdrücklich nicht von Gewalttaten dieser Art, sondern befürwortete im gleichen Zusammenhang auch für die Zukunft "jegliche Art von Protest und Widerstand". Um die breite Öffentlichkeit über den Stand des Verfahrens zu informieren, organisierte dieses Bündnis ferner eine so genannte Infotour im gesamten Bundesgebiet, darunter auch am 27. Juni 2008 in Stuttgart, am 5. September 2008 in Karlsruhe und am 19. Oktober 2008 in Freiburg im Breisgau. Großes Interesse der linksextremistischen Szene zog auch das Verfahren in Stuttgart-Stammheim gegen fünf angeklagte Mitglieder der in der Türkei verbotenen "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) auf sich, "der erste größere 129b-Prozess gegen eine linke Organisation".384 Unter dem Motto "Politischer Schauprozess in Stammheim" veranstaltete unter anderem ein "Komitee gegen SSSS 129" zusammen mit dem "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" eine bundesweite "Infotour", die auch über Stuttgart führte und dort mit einer bundesweit ausgerichteten Demonstration ("WEG MIT DEN PARAGRAPHEN 129, 129A und 129B!") am 5. Juli 2008 endete. Bereits im Vorfeld der ansonsten friedlich verlaufenen Demonstration, an der sich etwa 400 Angehörige aus dem deutschen und türkischen linksextremistischen Spektrum aus Baden-Württemberg, Hamburg, Berlin und Magdeburg beteiligten, waren insgesamt 25 Personen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz vorläufig in Gewahrsam genommen worden. Ein Ziel des im Zusammenhang mit obigem Verfahren gegründeten Komitees war nach eigenen Angaben, sich anlässlich "dieser neuen Qualität für die Stärkung der Bewegung gegen die Kriminalisierung linker Strukturen" einzusetzen und "offensiv gegen die repressive Entwicklung" vorzugehen.385 383 Ein loser Zusammenschluss von Personen, die Solidaritätsarbeit für die Betroffenen im mg-Verfahren leisten. 384 "Schluss mit der Kriminalisierung. Weg mit den Paragraphen 129, 129a & 129b!" Aufruf zur Demonstration am 5. Juli 2008 in Stuttgart. 385 Internetauswertung vom 10. November 2008. 232 In der Nacht zum 30. Juni 2008 wurde auf das Gebäude des Oberlandesgerichts Stuttgart ein Farbanschlag verübt. In einem Bekennerschreiben erklärten die Autoren, mit dieser Aktion auf den laufenden Prozess in Stutt - gart-Stammheim sowie auf die Demonstration am 5. Juli 2008 hinweisen und dabei "symbolisch eine repressionsbehörde angreifen" 386 zu wollen, "deren letztlicher zweck" es sei, "jeglichen widerstand zu zerschlagen und die herrschenden unmenschlichen verhältnisse zu manifestieren." Weiter wurde darin ausgeführt: "(militanter) widerstand der mit der perspektive verbunden ist, das kapitalistische System anzugreifen und zu überwinden, ist dabei schon immer im visier staatlicher repressionsapparate gewesen." Die Erklärung endete neben der Forderung nach Freiheit für die Inhaftierten der RAF und nach Einstellung des Strafverfahrens gegen die mg mit den Parolen: "kampf einem system das sich nur mit kontinuierlicher repression bis heute am leben hat halten können und jeglichen antiimperialistischen und antikapitalistischen widerstand bekämpft!" Neben Maßnahmen wie neue Polizeigesetze, Einführung der VorratsdatenProtest gegen speicherung, zunehmende Videoüberwachung oder biometrische Daten in angeblichen Personalausweisen symbolisierten aus Sicht von Linksextremisten Trend zum Überbesonders die Pläne für ein neues Versammlungsgesetz in Baden-Württemwachungsstaat berg den vermeintlichen Trend in Deutschland zu einer fortgesetzten Einschränkung der Grundund Freiheitsrechte sowie verschärfter Repression - und dies gezielt im Hinblick auf die "linke" Szene. Im Zusammenhang mit der Novellierung des Versammlungsgesetzes wurde neben der Ankündigung mehrerer Informationsveranstaltungen zu einer landesweiten Großdemonstration in Stuttgart am 6. Dezember 2008 sowie zu weiteren Kundgebungen am 29. November 2008 in Mannheim und am 13. Dezember 2008 in Freiburg im Breisgau aufgerufen. Bereits am 18. Oktober 2008 kam es in Mannheim zu einer nicht angemeldeten Demonstration mit etwa 50 bis 70 Teilnehmern, die gegen den Gesetzentwurf protestierten. 386 Hier und im Folgenden: Bekennung zum Farbanschlag auf das Oberlandesgericht Stuttgart; Internetauswertung vom 6. November 2008; Übernahme wie im Original. 233 5.3 "Antifaschismus" "Antifaschismus" ist ein Themenfeld mit hoher Mobilisierungskraft geblieben. Im Hinblick auf die im Jahr 2009 anstehenden Wahlen kündigten sich bereits gesteigerte Aktivitäten an, die sich vor dem Hintergrund, mögliche Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien zu verhindern, besonders auf die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) konzentrieren dürften. Dennoch wurde bislang nur sehr vereinzelt die Neugründung von Gruppen bekannt. Andererseits zeigte sich anlässlich der "Antifa-Demo" in Friedrichshafen zum "Gedenken an die Opfer und die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz" am 26. Januar 2008, dass seit Jahren bestehende Streitpunkte innerhalb der linksextremistischen Szene weiterhin virulent sind. Wie sehr die politische Haltung gegenüber dem Nahostkonflikt weiterhin die autonome Szene spaltet, zeigte sich, als es während der Demonstration zu "wüsten Beschimpfungen" zwischen "Antideutschen" und einer "Intifada-Fraktion" kam. Letztere wurde schließlich von der Demonstrationsleitung von einer weiteren Teilnahme an der Veranstaltung ausgeschlossen.387 Insbesondere "autonome Antifaschisten" hielten sich auch 2008 weiterhin zugute, sowohl ideologisch als auch in der Praxis über den "bürgerlichen" Antifaschismus hinauszugehen. So hieß es im Zusammenhang mit dem - auch gewaltsamen - Vorgehen gegen "Nazis" auf der 1. Mai-Demonstration in Neustadt/Weinstraße, das als "voller Erfolg" gewertet wurde: "Der Naziaufmarsch wurde direkt verhindert, die Nazis in ihre Schranken gewiesen und der Protest über ein übliches 'gegen Rechts' hinaus gehoben. Womit der Bogen zur traditionellen, revolutionären Praxis der Linken geschlagen werden konnte. Antifaschistische Intervention (...) bedeutet mehr als nur den (notwendigen) Protest gegen Nazis. Die Intervention ist stets auch gegen den kapitalistischen Staat und die Polizei zu richten, welche erst die Naziaufmärsche ermöglichen und in einen 'tolerierbaren' Kontext einbetten." 388 387 Bericht bei "indymedia.org." über die Demonstration in Friedrichshafen am 26. Januar 2008; Internetauswertung vom 28. Februar 2008. 388 "break-out. monatsschrift der AIHD" Nr.5/2008, S. 7. 234 Drei entscheidende Zielsetzungen "antifaschistischen" Engagements formulierte die "Antifa Gruppe 76 Murgtal" in einer im August 2008 veröffentlichten Erklärung: "Wir wissen, dass der Kampf gegen den Faschismus nur über das Überwinden des kapitalistischen Systems gewonnen werden kann, halten es aber trotzdem für unabdingbar, Nazis direkt anzugreifen und ihre Aufmärsche zu verhindern. Außerdem sehen wir im Antifaschismus ein wirksames Mittel um gerade junge Menschen zu politisieren und sie mit radikaler, emanzipatorischer Kritik zu versorgen." 389 "Antifaschismus" "Antifaschismus" bedeutete auch im Jahr 2008, vor allem auf öffentliche letztlich als Auftritte von "Nazis" zu reagieren. Dazu zählten alljährlich wiederkehrende Vehikel zur Veranstaltungen wie Protestaktionen gegen die Mahnwache von RechtsexSystembekämpfung tremisten auf dem Pforzheimer Wartberg am 23. Februar 2008 im Gedenken an die Bombardierung Pforzheims. Vor dem Hintergrund der versuchten Vereinnahmung des "Tags der Arbeit" durch Rechtsextremisten werden auch die traditionellen Kundgebungen am 1. Mai verstärkt als "antifaschistische" Demonstrationen deklariert. Gleichwohl gab es auf dem Aktionsfeld "Antifaschismus" 2008 einige besondere Akzente. Am 11. Oktober 2008 fand in Bühl unter dem Motto "Unsere Solidarität gegen eure Repression!" eine "Antirepressionsdemo" statt, die sich vor dem Hintergrund von Hausdurchsuchungen im Großraum Bühl, Rastatt und Achern am 16. Juli 2008 gegen die massive "Repressionswelle" wandte, der "sich die autonomen Strukturen in Mittelbaden ausgesetzt" sahen.390 Die laufende "Freiraum-Kampagne"391 war Anlass, die zunehmend spiegelbildlich von Rechtsextremisten angestrebte Errichtung "nationaler Zentren" zu attackieren. So intensiv, wie einerseits Rechtsextremisten versuchen, "linke" Theorien und Praktiken zu kopieren, so betont legen Linksextre389 Internetauswertung vom 10. September 2008. 390 Internetauswertung vom 20. Oktober 2008. 391 Siehe S. 237ff. 235 misten Wert darauf, dass "links ungleich rechts" sei. Die für Linksextremisten legitime Forderung nach "autonomen Zentren", so hieß es deshalb, habe auf rechtsextremistischer Seite keineswegs die gleiche Berechtigung, "sind doch die grundsätzlichen Überlegungen, was linke Zentren darstellen und vermitteln sollen, von denen rechter Projekte grundsätzlich verschieden. (...) 'Nationale Zentren' sind, wie der Name schon sagt, Menschen vermeintlich 'deutschen Blutes' vorbehalten. Demgegenüber wollen linke Zentren gerade gegen den alltäglichen Rassismus Stellung beziehen." 392 Aus dieser entschiedenen politischen Frontstellung "linker selbst verwalteter Zentren" ergebe sich als logische Folge: "Wer gegen Nazis ist, muss konsequenterweise auch für selbstverwaltete linke Projekte sein!" Die Bestrebungen der linksextremistischen Szene, "klar zu machen, dass zwischen linken selbstverwalteten Projekten und rechten 'nationalen Zentren' - in welcher Erscheinungsform auch immer - keine Gemeinsamkeiten bestehen", sind in den übergeordneten Zusammenhang mit der Agitation gegen den totalitarismustheoretisch begründeten Ansatz des Begriffes "Extremismus" einzuordnen. Während die gesamte linksextremistische Szene immer wieder auf eine deutliche qualitative Unterscheidung zwischen "Links-" und "Rechtsextremismus" hinwirkt, wird mit der Verwendung des Terminus "Extremismus" eine nach Auffassung der linksextremistischen Szene unzulässige Gleichsetzung beider politischen Bereiche unterstellt. Unabhängig davon, dass diese Gleichsetzung nicht stattfindet, bleibt die Tatsache bestehen, dass Linksund Rechtsextremismus eines gemeinsam ist, nämlich die Ablehnung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung. Verstärkt in den Fokus linksextremistischer "Antifaschismusarbeit" gelangten 2008 Versuche von Rechtsextremisten, Immobilien zum Aufbau von Schulungszentren zu erwerben. In diesem Zusammenhang stand in BadenWürttemberg das Interesse von Rechtsextremisten an der Nutzung eines Gebäudes in Karlsruhe-Durlach im Vordergrund, die letztendlich jedoch von der Stadt verhindert werden konnte. Am 19. Juli 2008 kam es zu einer "Spontandemo" unter anderem autonomer "Antifaschisten", in deren Verlauf die Polizei gezwungen war, Pfefferspray einzusetzen. Eine heftige Kon392 Hier und im Folgenden: Flugblattaufruf der AIHD "wir sind überall! für den aufbau und die verteidigung selbstverwalteter freiräume" (Übernahme einschließlich der Unterstreichungen wie im Original). 236 troverse ergab sich, als die Stadt Karlsruhe eine separate Veranstaltung, die sich von Extremismus von "Rechts" und von "Links" gleichermaßen distanzierte, durchführte, an einer Veranstaltung des "Antifaschistischen AktionsKampf gegen bündnisses Karlsruhe" (AAKA) dagegen nicht teilnahm, da an diesem "Nazizentren" Bündnis auch linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen beteiligt waren. Ein Landessprecher der an dem AAKA beteiligten VVN-BdA kommentierte die Vorgänge unter anderem mit den Worten: "Allen aus der Totalitarismus-Lüge gespeisten Schikanen zum Trotz ist das Antifa-Bündnis AAKA quicklebendig und guten Mutes. (...) Je länger diejenigen, die mit ehrlicher Politik reale Aufklärungserfolge erzielen, von der Obrigkeit als 'Linksextremisten' diffamiert und behindert werden, umso mehr Menschen werden den demagogischen Charakter der obrigkeitlichen Verdummung begreifen und selber aktiv werden gegen Rechts. (...) Die NPD und alle neofaschistischen Organisationen gehören gemäß Verfassung als verbotene Nachfolgeorganisationen aufgelöst bzw. verboten. Je länger CDUgeführte Länderministerien einen erneuten NPDVerbotsprozess sabotieren, umso mehr Menschen werden begreifen, dass die Rechtskonservativen offen auftretende Rechtsextremisten brauchen, weil sie damit ihre knallharte rechte Politik des Kriegs nach Außen und nach Innen besser verkaufen können." 393 5.4 Kampf um "Freiräume" beziehungsweise "Autonome Zen - tren" Der bereits im Jahr zuvor angelaufene Kampf um "soziale Freiräume" war im Jahr 2008 ebenfalls ein Thema von bundesweiter Bedeutung. Als "Freiräume" gelten für die Szene "autonome Zentren", das heißt in Eigenregie betriebene Projekte und besetzte Häuser. Diese "Freiräume" seien "nicht nur selbstbestimmte und -verwaltete Strukturen, sondern auch Prozess der Aneignung." 394 Beide Ansätze verbinde der Versuch, "sich von der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu eman393 "Stattzeitung für Südbaden", Ausgabe 72 vom August 2008. 394 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 6. November 2008; Übernahme wie im Original. 237 zipieren." Solche "autonomen Freiräume" gelten in der Szene als "unabdingbar", als "Ausgangspunkt von Kommunikation, Politik und Kultur stellen sie die strukturelle Grundlage der Bewegung." Die "Schaffung jedes Freiraums" wird als "ein weiterer - wenn auch kleiner - Schritt in Richtung einer befreiten Gesellschaft" verstanden.395 Im Kampf um solche "Freiräume" sah sich die Szene einer verschärften politischen Situation gegenüber. Während in den 70erund 80er-Jahren noch erfolgreiche Besetzungen möglich gewesen seien und diese in letztlich vom Staat tolerierte dauerhafte Einrichtungen hätten überführt werden können, sei man "heute mit einem autoritären Staat und zunehmend reaktionären Tendenzen in der Gesellschaft konfrontiert. Sozialabbau (...), Rassismus, Nationalismus sowie der Ausbau zum Polizeiund Überwachungsstaat" bestimmten "das Programm, das sich auch auf die linke Bewegung" auswirke. In dem hier zitierten "Aufruf des AK Antifa Mannheim zu den Aktionstagen für autonome Freiräume vom 11. bis 12. April 2008" 396 hieß es weiter: "Autonome Freiräume werden nicht nur von der Privatwirtschaft angegriffen. Die Räume einer kritischen Bewegung, in denen subversives Gedankengut entsteht, werden vom Staat als Bedrohung angesehen. Wenn wir unsere Freiräume verteidigen wollen, dürfen wir also nicht mit, sondern müssen gegen Staat und Kapital vorgehen und deren Negation vorantreiben." mpf mit So fanden am 11./12. April 2008 in Deutschland und anderen europäischen nationaler Ländern internationale "decentralized days of action for squats [= besetzte mension Häuser] and autonomous spaces" statt, um das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, "bestehende Freiräume zu verteidigen, neue zu erkämpfen und Kritik an den Herrschaftsverhältnissen zu üben." 397 In zahlreichen deutschen Städten, darunter in Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg im Breisgau und Stuttgart kam es in diesem Zusammenhang unter dem Motto "Freiräume aufbauen und verteidigen!" zu Demonstrationen, Kundgebungen und "Straßenfesten". Zuvor hatten sich am Wochenende des 8. bis 10. Februar 2008 in Mannheim circa 60 "Freiraumaktivistinnen und -aktivisten" aus dem gesamten Bundesgebiet getroffen, "um sich auszutauschen, 395 "Aufruf des AK Antifa Mannheim zu den Aktionstagen für autonome Freiräume vom 11. bis 12. April 2008"; Internetauswertung vom 6. November 2008. 396 Ebd. 397 Internetauswertung vom 6. November 2008. 238 [zu] vernetzen und gemeinsame Aktionen zu planen." 398 Die Kampagne als solche galt in der Szene als "alles in allem ein großer Erfolg", und man rief dazu auf: "Schaffen wir zwei vier fünf autonome Freiräume (...) und den Kapitalismus ab!!!" In Heidelberg, wo es unter anderem in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 2008 zu einer vorübergehenden Hausbesetzung gekommen war, fand unter dem Motto "Kein Tag ohne Autonomes Zentrum" vom 28. September bis 4. Oktober 2008 eine Aktionswoche für ein "selbstverwaltetes Kulturzentrum" statt. Dabei wurde neben Informationsund Vortragsveranstaltungen eine abschließende "Nachttanzdemo" durchgeführt, an der etwa 500 Personen teilnahmen. Im Unterschied zu den friedlichen Aktionen in Baden-Württemberg hatten "Aktionstage" im gleichen Zusammenhang in Berlin Ende Mai/Anfang Juni 2008 einen Eindruck von dem durchaus vorhandenen Gewaltpotenzial vermittelt. Gewalttätige Aktionen, die auch von Brandanschlägen begleitet waren, verursachten dort einen Gesamtsachschaden von über einer Million Euro. 398 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 6. November 2008. 239 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, 1970 erste Niederlassung in Deutschland, 1972 erste Niederlassung in Baden-Württemberg Gründer: Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) Nachfolger: David MISCAVIGE (Vorstandsvorsitzender "Religious Technology Center", RTC) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: Baden-Württemberg ca. 1.000 - 1.100 (2007: ca. 1.000 - 1.100) Bundesgebiet ca. 5.000 - 6.000 (2007: ca. 5.000 - 6.000) weltweit ca. 100.000 - 150.000 (2007: ca. 100.000 - 150.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Free Mind", "Impact", "Auditor", u.a. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die "Scientology-Organisation" (SO) geriet auch im Jahr 2008 wiederholt in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. In Belgien und Frankreich wurden unter anderem wegen des Vorwurfs des Betrugs Gerichtsverfahren gegen Scientology und verschiedene ihrer Funktionäre eingeleitet. bachtung In Deutschland wurde die Frage eines Vereinsverbots diskutiert. Die orderlich ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder war am 21. November 2008 auf Grundlage eines Prüfberichts zur Möglichkeit eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Auffassung, dass die verfassungsfeindliche Zielrichtung der SO eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz weiter erforderlich macht. Unter dem Begriff "Anonymous" formierte sich eine zunächst nur lose über das Internet agierende Bewegung von SO-Kritikern, die seit Anfang 2008 vor allem in den USA und Europa gegen die Aktivitäten der SO protestierten. Auslöser war die als Zensur empfundene Taktik der SO, unter Berufung auf ihr Urheberrecht Scientology-Dokumente aus dem Internet zu entfernen, die für die Organisation unangenehme Interna offenbaren. An den Demonstrationen nahmen weltweit jeweils etwa 1.000 bis 9.000 Personen teil. Die SO reagierte darauf mit vehementen Verunglimpfungen und stellte offenkundig Recherchen über Demonstrationsteilnehmer und Kritiker an. Im Widerspruch zu ihren ständigen Behauptungen zu expandieren, stagnierten die Mitgliedszahlen der SO in Baden-Württemberg. Ihr gelang es trotz intensiver Werbung nicht, eine dynamische Mitgliederentwicklung 240 herbeizuführen. Sie konnte auch kein neues, repräsentatives Gebäude ("Ideale Org") in der Landeshauptstadt eröffnen. Zudem erlitt die SO schwere juristische Niederlagen vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Juristische Münster und vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg. Niederlagen Der VGH stellte fest, dass die Erhebung von Straßensondernutzungsgebühren in Stuttgart wegen des gewerblichen Charakters von öffentlichen SO-Veranstaltungen rechtmäßig ist.399 Das OVG Münster entschied, dass die Beobachtung der SO durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtmäßig ist.400 2. Organisation, Finanzen und Mitgliederbestand Die SO wird vom obersten Management in Los Angeles geführt. An der Spitze der Hierarchie steht das "Religious Technology Center" (RTC), das Besitzer der Urheberrechte an den Schriften HUBBARDs ist. Die Vorgaben der Führung werden an das jeweilige "Kontinentale Verbindungsbüro" weitergeleitet, das sich für Europa in Kopenhagen befindet. Führungspositionen werden meist durch die "Sea Organization" ("Sea Org") besetzt. Ihre paramilitärisch organisierten Kader bilden den harten Kern der SO. Das Selbstverständnis dieser uniformierten Truppe beruht auf dem Prinzip von Sea Org-Logo Befehl und bedingungslosem Gehorsam. Sie kann Kommandos in nachgeordnete Organisationseinheiten entsenden. Diese gelten als unmittelbare Vollstrecker des Willens des Managements und sind mit "unbeschränkter Macht" 401 ausgestattet. Scientologen an der Basis dürfen daran keine Kritik üben und sich nicht widersetzen. "Sea Org"-Angehörige haben sich auch wiederholt in Baden-Württemberg aufgehalten. 399 Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Januar 2008, Az.: 5 S 393/06 (rechtskräftig). 400 Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 12. Februar 2008, Az.: 5 A 130/05 (rechtskräftig). 401 "Inspector General Network Bulletin" Nr. 1, Copyright 1987. 241 norme Die internationale SO-Führung verfügt über eine enorme finanzielle Schlaganzielle kraft. Das zeigte sich zum Beispiel anhand einer bekannt gewordenen Zahl hlagkraft für die weltweite Werbung, der zufolge die SO für ihre Propaganda pro Jahr mehr als 40 Millionen US-Dollar einsetzt. Ein US-Wirtschaftsmagazin hat im November 2008 Recherchen über die weltweiten Einnahmen und Finanzströme der SO veröffentlicht. Demnach soll die SO durch ihr Dienstleistungsangebot für Kurse und "Auditing" 402 jährlich etwa 400 Millionen USDollar einnehmen. Weitere geschätzte 50 bis 100 Millionen US-Dollar pro Jahr würden durch Spendenkampagnen eingenommen. Etwa 50 Millionen US-Dollar jährlich erziele die SO zudem durch Lizenzeinnahmen. Somit dürften sich die Gesamteinnahmen in einem Jahr im Bereich auf über eine halbe Milliarde US-Dollar belaufen. Die Finanzreserven seien auf zahlreiche Treuhandvermögen (Trusts) und auf Immobilienbesitz verteilt.403 Die SO gibt mit zehn Millionen Anhängern eine weit übertriebene Zahl an. In Wirklichkeit verfügt sie weltweit über etwa 100.000 bis 150.000 Mitglieder. Ein erneuter Hinweis hierzu ergab sich durch die Veröffentlichung einer Kursteilnehmerzahl im Zusammenhang mit der Neuausgabe der HUBBARD-Grundlagenbücher im Juli 2007. Seitdem sollen alle Scientologen diese Bücher durch Kurse verinnerlichen. Im Juni 2008 gab die SO intern an, dass weltweit über 100.000 Personen diese Kurse absolvieren würden und behauptete einen hohen Mobilisierungsgrad unter den Scientologen.404 Die Angabe von zehn Millionen Anhängern ist daher offenkundig falsch, wenn sie intern eine Zahl von über 100.000 Mitgliedern als Richtgröße verwendet. liederzahl In Baden-Württemberg hat die SO seit mehreren Jahren unverändert etwa agniert 1.000 bis 1.100 Anhänger. Ein Indiz dafür ist die Mobilisierung bei regionalen Veranstaltungen. Im Mai 2008 fand in Stuttgart eine Tagung des SOWirtschaftsverbands "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) mit rund 40 Personen statt. Treffen von WISE in den Vorjahren wiesen ähnliche Zahlen auf. Auch der Teilnehmerkreis von Veranstaltungen der "Org" Stuttgart umfasste wie in den Vorjahren bis zu rund 250 Personen. Der Kern der Anhängerschaft besteht aus zumeist langjährigen Scientologen, um den herum eine gewisse Fluktuation herrscht. Darüber hinaus treten hierzulande seit mehreren Jahren vermehrt jugendliche Scientologen ab 16 Jahre beziehungsweise junge Erwachsene in Erscheinung. Sie sind durch ihre 402 "Auditing": Psychotechnik der SO zur Persönlichkeitsveränderung des Menschen. 403 URL: www.portfolio.com/news-markets/national-news/portfolio/2008/11/19/Monetary-value-of-Scientology vom 26. November 2008. 404 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 38/2008, S. 1. 242 Eltern, die selbst langjährige Mitglieder sind, zur SO gekommen. Die SO konnte dadurch teilweise ihre Mitgliederverluste ausgleichen. Zudem konnte sie durch intensive Werbung begrenzt neue Anhänger gewinnen, aber nur teilweise länger an sich binden. Zur Mobilisierung inaktiver Scientologen rief die SO weltweit das "Nachbarschaftsprojekt" ins Leben. Dafür sollten Scientologen in ihrer jeweiligen Region systematisch an inaktive Mitglieder herantreten, auch wenn seit langer Zeit kein Kontakt mehr bestanden hat. All das deutet auf Rekrutierungsprobleme hin. Dafür spricht auch, dass die SO Personal aus BadenWürttemberg abzog, als sie im Januar 2007 ihr neues Zentrum in Berlin eröffnete. Dadurch entstanden in der "Org" Stuttgart Engpässe bei der Besetzung von Posten, die sich in der Tendenz eher verstärkt haben. Die SO versucht hartnäckig weiter, ihre Stagnation im Land zu überwinden. Scientology besitzt in Baden-Württemberg einen ihrer bundesweiten Schwerpunkte und das dichteste organisatorische Netz in Deutschland. Es besteht aus einer "Class V Org"405 ("Kirche") in Stuttgart und drei "Missio - nen" in Ulm, Karlsruhe und Göppingen. In Kirchheim unter Teck besteht eine "Feldauditorengruppe " 406, die in der SO als eine der wichtigsten in Westeuropa gilt. Im Jahr 2007 wurde in Freiburg im Breisgau von Scientologen ein "Zentrum für Lebensfragen" gegründet. Darüber hinaus bestehen in Erlenbach/Krs. Heilbronn, Sinsheim, Leinfelden-Echterdingen und Welzheim weitere "Missionen", die allerdings unbedeutend sind, kaum Mitglieder haben und teilweise nur noch formal bestehen. Im Bereich der Hilfsorganisationen existieren zwei Anlaufstellen der "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) in Stuttgart und Karlsruhe. Eine "Applied Scholastics" (ApS)-Niederlassung bietet unter dem WCC-Logo Namen "Professionelles Lerncenter" in Stuttgart Schülernachhilfe an. Ein weiterer ApS-Anbieter in Geislingen an der Steige ist weitgehend inaktiv. Anfang des Jahres 2008 wurde in Stuttgart eine "Jugend für Menschenrechte"-Gruppe gegründet, die aus etwa einem Dutzend junger Scientologen besteht. Der SO-Wirtschaftsverband WISE umfasst in Baden-Württemberg rund 50 Mitglieder. Es handelt sich um Einzelpersonen oder um kleine Firmen, die häufig in der Immobilienoder Finanzdienstleistungsbranche oder KVPM-Logo als Unternehmensberater tätig sind. In Stuttgart besteht ein "WISE Charter Committee" (WCC) als "Justiz"-Stelle für WISE-Mitglieder. 405 SO-Niederlassung mit breiterem Dienstleistungsangebot. 406 "Feldauditoren": Personen, die "Auditing" außerhalb der "Org" anwenden. 243 3. Expansionsbestrebungen durch "Ideale Orgs" Ein Teil der vielschichtigen Expansionsstrategie der SO ist das globale Projekt "Ideale Org". Scientology versteht darunter die Etablierung von prestigeträchtigen Repräsentanzen "an wichtigen strategischen Orten".407 Diese "Orgs" in Regionen mit großer politischer beziehungsweise wirtschaftlicher Bedeutung sollen der Ausgangspunkt für eine schneeballartige Expansion in der Gesellschaft zur langfristigen Schaffung einer "neuen Zivilisation" ische Ziele und für nachhaltige politische Einflussnahme werden. Die "Idealen Orgs" sollen zudem "Führungspositionen" in der Kommunalpolitik erlangen.408 Die Organisation betont dabei immer wieder die Positionierung ihrer Niederlassungen in der Nähe politischer Institutionen wie Parlamenten. Ein ehemaliger SO-Anhänger wies darauf hin, dass der Erwerb repräsentativer Gebäude der SO-Führung in den USA auch weitere Einnahmequellen erschließen soll. Denn es sei nicht vorgesehen, dass nach einer Finanzierung, die hauptsächlich durch die Spenden der Basis erfolgen soll, das neue Gebäude in das Eigentum der betreffenden "Org" übergeht, sondern dass das internationale Management Eigentümer werde, welches das Objekt anschließend an die jeweilige "Org" vermieten werde. Vielen Mitgliedern, die durch teils hohe Spenden ihren "Orgs" zu Immobilieneigentum verhelfen wollten, sei dies nicht bekannt.409 Für Stuttgart hatte die SO den 8. August 2008 als Stichtag der Etablierung einer "Idealen Org" propagiert. Dieses ambitionierte Ziel war jedoch nicht realisierbar, obwohl Funktionäre mit teils rigiden Mitteln bis Ende 2006 rund vier Millionen Euro von der Anhängerschaft im Raum Stuttgart gesameale Org" melt haben. Seitdem soll das "Spendenaufkommen" deutlich zurückgeganStuttgart gen sein, obwohl nach unterschiedlichen Berichten der Druck auf die Scientologen an der Basis, etwa durch ständige Telefonanrufe, kontinuierlich gewachsen sein soll. Bis Ende 2008 soll der gesammelte Betrag auf knapp fünf Millionen Euro angewachsen sein. Die Basis im Raum Stuttgart wurde 2008 auch verstärkt zu Beiträgen in Höhe von etwa 250 Euro animiert. Solche Summen sind für Scientology-Maßstäbe sehr klein, nachdem in den Vorjahren mitunter Einzelspenden in bis zu sechsstelliger Höhe geleistet worden sein sollen. All das deutet auf eine derzeit finanziell weitgehend ausgeblutete Anhängerschaft hin. Das Management hat den Finanzbedarf für das neue Gebäude auf rund acht Millionen Euro veranschlagt. 407 IAS-Flugblatt "Patron with Honours", 2008. 408 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 37/2008, S. 30ff. 409 Internetauswertung vom 9. Oktober 2008. 244 Dabei könnte die internationale SO-Führung das Projekt auch ohne Beteiligung der hiesigen Scientologen weiter betreiben. Der Erfahrung zufolge haben in vergleichbaren Fällen ausländische Investoren Immobilien erworben, ohne dass dabei die künftige Nutzung für Scientology erkennbar wurde. 4. Expansionsbestrebungen in der Wirtschaft Der strategische Auftrag des SO-Wirtschaftsverbandes lautet: "WISE ist verantwortlich, die Wirkungskraft von Scientology auf die Gesellschaft auszuweiten, indem LRH-Verwaltungstechnologie410 herausgebracht und sie auf breiter Front in jeder Firma, Organisation und Regierung der Welt verwendet wird." 411 Dabei handelt der SO-Wirtschaftsverband mit der Intention, dass das Scientology-Programm, "wenn auf einer internationalen Ebene bekannt und angewandt, das Erscheinungsbild der Zivilisation und die Gesellschaftsstruktur, wie wir sie kennen, verändern kann." 412 Die politische Stoßrichtung von WISE wurde seit Herausgabe der Führungsanweisungen in den 90er-Jahren vom Management immer wieder bekräftigt. WISE hat an Baden-Württemberg wegen seiner Wirtschaftskraft seit geraumer Zeit großes Interesse. Durch geschäftliche Kontakte oder eine "Beratungstätigkeit" sollen insbesondere Führungskräfte für die SO rekrutiert werden. Diese Expansionsbestrebungen erfolgen zumeist nicht offen. WISE-Berater bieten Seminare für Personaltraining an, die fast identisch mit verdeckte Scientology-Kursen sind. Dass sich dahinter Scientology verbirgt, ist anfangs Vorgehensweise aber kaum erkennbar. Allenfalls ergeben Copyrightvermerke wie "Hubbard von WISE College of Administration International" (HCAI), "L. Ron Hubbard Library" oder Begriffe wie "Hubbard Managementsystem" Rückschlüsse auf Scientology. Die Website von WISE International schließlich offenbart, dass das Seminarprogramm umfangreiche SO-Literatur und die gleichen Basiskurse enthält, die auch die "Scientology Kirche" verwendet.413 Im Jahr 2008 boten HUBBARD-Anhänger aus dem Großraum Stuttgart, Sinsheim und Karlsruhe durch Telefonakquise, Werbeschreiben oder auch durch das Internet ihre Beratungsdienste an. Das Angebot umfasste Organisationskonzepte, Zeitmanagement-Seminare oder Kommunikationskurse, 410 LRH: Kürzel für L. Ron HUBBARD. "Verwaltungstechnologie" ist die umfangreiche Summe der Richtlinien und Verfahren nach HUBBARD für Wirtschaft und Politik. 411 "WISE Executive Directive 284" vom 18. Mai 1993. hier: Arbeitsübersetzung. 412 "WISE Executive Directive 281" vom 18. Mai 1993. hier: Arbeitsübersetzung. 413 Website von WISE International vom 9. April 2008. 245 ohne dass der scientologische Hintergrund der Trainer dabei zunächst erkennbar wurde. Zu dem Online-Angebot gehörte auch ein 200 Fragen umfassender "Personaltest", der nahezu identisch mit dem "Persönlichkeitstest" der Scientology-Zentren ist.414 Dabei handelt es sich um keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Test. Die Fragen, die vor allem auf das Selbstwertgefühl und auf die soziale Situation abzielen, erlauben jedoch eingehende Rückschlüsse über persönliche Schwachstellen, die für eine Vermittlung eines Einstiegskurses ausgenutzt werden können. Das Angebot ist so konzipiert, dass es zunächst Erfolgserlebnisse vermitteln kann, um die Betroffenen schrittweise an die SO heranzuführen. Durch die Einführung von HUBBARD-Konzepten entsteht die Gefahr der ogisierung Ideologisierung des Unternehmens und der zunehmenden Verbreitung nternehmen menschenverachtender und totalitärer Konzepte im Betrieb. Darüber hinaus kann die Gefahr des finanziellen Ausblutens der Firma wegen hoher Kapitalentnahmen zugunsten von Scientology entstehen. Eine Person, die in einer von Scientologen geführten Firma in Süddeutschland beschäftigt war, berichtete über ihre Erfahrungen zu HUBBARD-Konzepten auf Betriebsebene. Es habe eine Überwachung der Mitarbeiter durch die ständige Kontrolle von E-Mails und Telefongesprächen stattgefunden. Denunziation im Betrieb durch schriftliche "Wissensberichte" sei als Fehlermeldung getarnt worden. Führungspositionen seien aus rein ideologischen Erwägungen vergeben worden. Nicht die Qualifikation sei entscheidend gewesen, sondern allein die Zugehörigkeit zu Scientology. An die Mitarbeiter sei auch Propaganda der SO verteilt worden. Zudem sei in den Betrieb nur wenig investiert worden, obwohl die Firma hohe Umsätze erzielt habe. Hingegen würden die scientologischen Geschäftsführer bei der SO im Ausland kostenträchtige Kurse absolvieren, die mitunter mehrere Monate dauerten. 5. Propaganda und Werbemethoden Scientology versuchte im Jahr 2008 durch massive und aufwändige PRKampagnen in die Offensive zu gehen. Dabei stellte sich die SO erneut als chung der unpolitische Religionsgemeinschaft dar. Die PR-Feldzüge sind letztlich ein ntlichkeit Ablenkungsmanöver. Sie sollen der Öffentlichkeit suggerieren, dass sich die SO für Menschenrechte, Bildung und gegen Drogen einsetzt. Die Wirkung soll auch durch den Einsatz von Künstlern und Schauspielern ("Celebri414 Internetauswertung vom 14. Oktober 2008 und 27. November 2008. 246 ties"), die selbst Scientologen sind, erhöht werden. Die Organisation verfolgt damit das langfristige Ziel, in Politik und Wirtschaft sowie im Bildungsund Kulturbereich verstärkt Fürsprecher und Unterstützer, mögWerben um lichst auch Mitglieder zu gewinnen. Zunächst geht es nur darum, Kontakte Unterstützer zu knüpfen, dann den angeblich karitativen Charakter der HUBBARDKonzepte herauszustellen, um so Sympathien zu erzeugen. Die SO zielt mit ihrer Werbung auch zunehmend auf Jugendliche. In einem Rundschreiben an Scientologen legte ein Funktionär dar, dass die Anti-Drogenbroschüren der SO ein wirksames Mittel seien, damit die Angesprochenen "ihre ersten Schritte" in das scientologische Kurssystem unternehmen.415 Diese Kampagne richtet sich gerade auch an Jugendliche. Die Organisation bot zudem verstärkt Bücher für den Erziehungsund Bildungsbereich an. Ein Journalist, der sich 2008 verdeckt im SO-Zentrum Berlin aufhielt, berichtete von Kindern, die dort teilweise als Mitarbeiter aufgetreten und von Achtbis Zehnjährigen, die am "E-Meter" 416 ausgefragt worden seien.417 Die SO gab an, mit ihrer Werbung allein in Berlin 100.000 Jugendliche kontaktiert zu haben.418 Diese Behauptungen mögen übertrieben sein, weisen jedoch auf die Dimension hin, mit der die SO ihre Werbekampagnen betreiben will. Ähnlich hohe Zahlen wurden weltweit für die Zielgruppe Medien, staatliche Behörden und "einflussreiche Leute in großen Branchen und Institutionen" behauptet.419 In Baden-Württemberg versandte Scientology gezielt Werbung an Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Behörden oder unterbreitete diesem Personenkreis Gesprächsangebote. Die SO-Hilfsorganisationen "Jugend für Menschenrechte", "Way to Happiness Foundation" sowie die vermeintlichen Drogenhilfen "Narconon", "Foundation for a Drug-free World" und "Sag NEIN zu Drogen sag JA zum Leben" versandten teils vom Ausland aus Werbung an Schulen oder Polizeidienststellen in Baden-Württemberg, ohne ihren Hintergrund zu offenbaren. Dabei wurde auch deutlich, dass Scientology in großem Stil personenbezogene Daten der Adressaten sammelt. Im Dezember 2008 verteilten Scientologen in Karlsruhe bei einer Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte SO-Propaganda und versuchten, Besucher im Foyer des Veranstaltungsortes anzusprechen. Die Veranstalter riefen die Polizei, die Platzverweise erteilte. 415 Rundschreiben der "Foundation for a Drug-free World", Los Angeles, ohne Jahresangabe. 416 "Hubbard Elektrometer": Eine Art einfacher Lügendetektor. 417 Internetauswertung: "Scientology will Berlin knacken", STERN TV vom 14. Mai 2008. 418 Zeitschrift "Impact" Nr. 116/2008, S. 48. 419 Zeitschrift "Impact" Nr. 118/2008, S. 57. 247 Ein weiteres Propagandainstrument sind angebliche Hilfseinsätze von "Ehrenamtlichen Geistlichen" ("Volunteer Ministers") der SO bei Katastrophen. Den Erfahrungen in Deutschland zufolge handelt es sich aber nicht etwa um eine wirtschaftliche Hilfe der finanzkräftigen Organisation, sondern letztlich um Mitgliederwerbung. Scientology setzte ferner auch in Baden-Württemberg ihre "Bibliothekenkampagne" fort, um Büchereien flächendeckend mit HUBBARD-Literatur auszustatten. All diese Aktivitäten sind kein soziales Engagement im eigentlichen Sinn, sondern vor allem PR und zielen darauf ab, den Einfluss für die angestrebte scientologische gebliche Gesellschaftsordnung langfristig zu erweitern. David MISCAVIGE äußerte sangebote hierzu: "Wir setzen Programme in Gang, die die Bevölkerung auf das Kläund ren420 vorbereiten." 421 Im gleichen Zusammenhang legte er dar: "Das bedeuampagnen tet, dass die Menschen letztendlich auf unsere Scientology Kirchen verwiesen werden müssen." 422 Damit unterstrich MISCAVIGE, dass es bei den vermeintlichen Sozialprogrammen in Wirklichkeit darum geht, die Bevölkerung für die SO zu gewinnen. Straßenwerbung ("body routing") und Anwerbungen im Familien-, Freundesund Bekanntenkreis von Scientologen sind wichtige Rekrutierungsmethoden der SO. Die politisch-extremistischen Ziele sind dabei in der Regel zunächst kein Thema. Stattdessen wird Lebenshilfe versprochen. SONiederlassungen erlangen auch durch Straßenwerbung in größerem Umfang personenbezogene Daten, die offenkundig in unterschiedlichen Dateien gespeichert und teilweise auch an Datenbanken der Organisation in den USA weitergegeben werden. Anlässlich der Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz im Juni 2008 rief die SO ihre Mitglieder dazu auf, Werbeaktionen im benachbarten Ausland zu unterstützen. Die Resonanz war hierzulande allerdings gering. Dagegen führten SO-Mitglieder in zahlreichen Kommunen Baden-Württembergs in großer Zahl Straßenaktionen mit gelben Zelten oder Buchverkaufständen durch, zum Beispiel in Göppingen, Karlsruhe, Tübingen, Heidelberg und Schramberg. Bei einem Scientology-internen Buchverkaufswettbewerb konnte sich die Stuttgarter Niederlassung im Juni 2008 unter dem ersten Drittel aller "Orgs" weltweit platzieren. SO-Werber sollen in Stuttgart an Busund Straßenbahnhaltestellen gezielt Jugendliche angesprochen haben. In Konstanz betrieben Scientologen Ende August 2008 ohne Genehmigung Werbung und stellten im Zentrum ein gelbes 420 "Klären": Anwendung von Scientology-Verfahren. 421 Zeitschrift "Impact" Nr. 117/2007, S. 80. 422 Zeitschrift "Impact" Nr. 118/2008, S. 54. 248 Großraumzelt auf. Mitunter beschwerten sich Passanten, dass der scientologische Hintergrund der Straßenwerbung nicht klar erkennbar gewesen sei. Wohl auch deshalb wurden die Angebote der SO-Anhänger für einen "Stresstest" oder für eine vermeintliche Persönlichkeitsanalyse zunächst häufiger angenommen. Auch Werbeprospekte offenbarten den Scientology-Bezug nicht immer. Als Kontaktadresse wurde teilweise nur "Dianetik Beratungszentrum" angegeben. Das Stuttgarter "Lerncenter" verteilte Werbung mit dem Slogan "Wie viel Spaß hat ihr Kind in der Schule?", die den Hintergrund des Betreibers nicht offen legte. Die "Feldauditorengruppe" aus Kirchheim unter Teck streute einen 200 Fragen umfassenden "Persönlichkeitstest", der nur im Kleingedruckten den SO-Bezug offenbarte. Ebenfalls in Kirchheim unter Teck vertrieben SO-Anhänger im Eigenverlag eine Broschüre unter dem Titel "mehr wissen besser leben", in der vereinzelt für Vorträge bei der "Feldauditorengruppe" oder für HUBBARD-Konzepte geworben wurde, ohne den Begriff "Scientology" zu erwähnen. Die verbal aggressiv auftretende "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) versuchte durch persönliche Anschreiben Hetze gegen an Politiker und Entscheidungsträger Stimmung gegen die Psychiatrie zu Psychiatrie machen und Antipathien zu schüren. Im August 2008 führte sie in Stuttgart mit demselben Ziel eine dreiwöchige, professionell konzipierte Ausstellung unter dem Titel "Psychiatrie - Tod statt Hilfe" durch. Ergänzend protestierten SO-Anhänger vor einer Stuttgarter Klinik für Psychotherapie. Dabei zeigten sie Transparente mit der Aufschrift "Psychiatrie tötet". Insgesamt stießen diese Aktionen auf verhältnismäßig wenig Resonanz in der Bevölkerung. Auch wenn die Ausstellung schätzungsweise etwa lediglich 1.000 249 Personen gesehen haben, dürfte die Kampagne dennoch verschiedentlich Besucher verunsichert haben. Die fortwährende Hetze gegen diesen Teil des Gesundheitswesens erfolgt, weil die SO Psychiater und Psychologen als weltanschauliche Gegner sieht und den Boden für HUBBARD-Konzepte in der Justiz, der Jugendhilfe und im gesamten Gesundheitswesen bereiten will. 6. Mitgliederorientierte Propaganda Innenansichten der SO offenbaren eine Organisation, die mit einer militanten Sprache die Erlangung politischer Macht fordert und die Expansion in der Gesellschaft zum obersten Ziel erhebt, um ganze Nationen zu "klären". "Clear Germany" bedeutet die Errichtung einer nach scientologischen Prinzipien funktionierenden Gesellschaftsordnung. Ein Funktionär der SOEuropazentrale forderte die "breite planetarische Verbreitung" und die Schaffung "einer Armee von neuen Scientologen in einer völlig neuen Größenordnung", die sich in "unserem Kreuzzug zur Klärung dieses Planeten einreihen werden".423 In Stuttgart propagierte die SO, nun zum Ziel der Expansion "durchzubrechen".424 Die Verbreitung der Lehre HUBBARDs in der Gesellschaft wurde als "Schlagen von Schneisen" 425 beschrieben. Die Mitgliedervereinigung "International Association of Scientologists" (IAS) forderte zur Verdoppelung der Anhängerzahl im Jahr 2008 auf, um eine AS-Logo "powervolle Basis von Mitgliedern" zu schaffen, die "das Schicksal der Erde neu gestalten" soll. Dabei machte die IAS deutlich, dass sich die Mitglieder den Zielen der Organisation kompromisslos unterzuordnen haben: "Wir betreiben diese Unternehmung jetzt nicht zum Zeitvertreib. Die persönliche Zukunft eines jeden von uns hängt davon ab, weiterzumachen und uns keine größeren Patzer zu erlauben. Die Frage ist nicht: ,Gibt es etwas anderes?' Das gibt es nicht. Niemand kann halb in Scientology drin und halb draußen sein. Scientologen sind Scientologen, egal womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. (...) 423 Rundschreiben vom 10. Mai 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 424 Flugblatt "Einladung zum Ideale Org Deutschland-Treffen", Stuttgart 2008. 425 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 38/2008, S. 1. 250 Wir sind die einzige Gruppe auf der Erde, die wirklich eine brauchbare Lösung hat.426 Es liegt auf der Hand, dass aus Sicht einer solchen Organisation, die sich zur alleinigen Retterin der Gesellschaft erklärt, jede Person mit konträren Vorstellungen bekämpft werden muss. Die SO wähnt sich im Krieg mit Kritikern, propagiert das "Zerschlagen" von Widerstand gegen Scientology und lehrt ein Feindbild, das zum Hass aufstacheln kann. Das zeigte eine Rede von MISCAVIGE, in der er die Gegner von Scientology als auszumerzende Krankheit darstellte. Nach den von HUBBARD geschaffenen Verschwörungstheorien soll eine kleine Gruppe von Finanzmagnaten weltweit die Macht besitzen, während demokratisch legitimierte Regierungen nur deren Marionetten seien und die Psychiatrie die Bevölkerung durch "Drogen" gefügig mache. MISCAVIGE griff diese Weltsicht wie folgt auf: "Auf der einen Seite [sc. Scientology] standen einige wenige hingebungsvolle Leute mit Ehre und Integrität als ihre höchsten Werte. Auf der anderen Seite waren die Bösen, die Milliarden besitzen und sich nicht um die Regeln kümmern, weil sie jene Leute in der Tasche haben, die diese Regeln machen. (...) Obwohl unsere Geschichte noch jung ist, bestand sie in der Hauptsache darin, Schlachten zu schlagen, um dann den wirklichen Krieg zu füh"Krieg gegen ren - den Krieg gegen die Feinde der Menschheit. die Feinde der (...) Wenn man deren Schlüsselfiguren entfernt und Menschheit" die Fäden der Marionette durchschneidet, brechen sie zusammen. Das bringt uns zum wichtigen zweiten Schritt: Das Übel an seiner Wurzel zu packen. Anders ausgedrückt: Wenn man eine Infektion hat, so verwendet man Antibiotika. Aber wenn man immer wieder dieselbe Infektion bekommt und dann die Quelle der Bakterien findet, so vernichtet man diese, anstatt immer wieder krank zu werden und die Symptome zu behandeln." 427 426 "International Association of Scientologists", "Das Schicksal der Erde neu gestalten"; IAS Field Disseminator Newsletter, 2008. 427 Zeitschrift "Impact" Nr. 112/2006, S. 15ff. 251 Im Dezember 2008 agitierte die SO weiterhin mit scharfer Rhetorik: "Unsere Politik ist vorherbestimmt. Als Menschenfreunde müssen wir die Quelle großer Unmenschlichkeit beseitigen - und diese Quellen sind alle Verbrecher, die Dinge, die grausam und hart sind, da sie die menschliche Rasse verlassen haben. (...) Hier erkläre ich somit unseren Krieg. (...) Wenn man sterben muss, ist es besser, wie ein Adler im Kampf zu sterben. (...) Geben Sie bekannt, wer Ihr Feind ist, und alle, die ihn bekämpfen, sind ihre Freunde. (...) Wir haben gelernt, dass wir gewinnen, wenn wir die Verbrecher der Erde bekämpfen, aber dass wir nur bluten, wenn wir uns vor der Schlacht verstecken." 428 Scientology unterstellt, dass alle Kritiker von Scientology "antisoziale Persönlichkeiten" und Kriminelle seien. Nach den Vorstellungen der SO sind diese Menschen wertlos und sollten ausgesondert beziehungsweise isoliert werden, ebenso wie man "Leute mit Pocken unter Quarantäne stellt." 429 Das OVG Münster legte hierzu dar, dass die Einstellung der SO den Verdacht begründet, dass Menschen, die den scientologischen Vorstellungen nicht folgen, rechtlos gestellt und diskriminiert werden.430 7. Reaktionen auf Kritik an Scientology Scientology hetzt systematisch gegen Kritiker und betreibt seit Jahren eine tze gegen planmäßige Herabsetzung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland ritiker und ihrer Repräsentanten. Die Organisation entwirft dabei das Zerrbild eines Unrechtsstaates, der "religiöse Apartheid" und "Verfolgung von Scientologen" betreiben würde.431 Das SOPropagandaorgan "Freedom" ("Frei - heit") verglich im Internet die Lage von Scientologen in Deutschland mit der Judenverfolgung während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Unterstellungen gipfelten in dem Versuch, auf subtile Weise zu suggerieren, deutsche Politiker hätten gar 428 L. Ron HUBBARD, Zeitschrift "Impact" Nr. 119/2008, S. 16. 429 L. Ron HUBBARD, "Einführung in die Ethik der Scientology", Kopenhagen 2007, S. 182ff. 430 Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 12. Februar 2008, Az.: 5 A 130/05, S. 58. 1 Website des "Human Rights Office" der SO vom 16. Oktober 2008. 252 den "Genozid" an Scientologen befürwortet. An gleicher Stelle verglich "Freedom" kritische Berichte deutscher Medien mit der antisemitischen Hetze des NS-Blattes "Der Stürmer" und behauptete, "Freedom" biete NS-Vergleiche Informationen, "die Ihnen anderswo vorenthalten werden." 432 Damit sollte wohl der Eindruck erweckt werden, dass eine Zensur ausgeübt würde. Die SO verbreitet die abwegigen NS-Vergleiche international seit den 90er-Jahren, was seinerzeit zu scharfer Kritik an der SO im Inund Ausland führte, gerade auch von Institutionen der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Dennoch hält die SO an ihrer Hetze fest. Für die Bekämpfung von Kritikern ist in Scientology das "Office of Special Affairs" (OSA) zuständig, ein auch geheimdienstliche Zwecke erfüllendes Netzwerk, das weitgehend abgeschottet von anderen Bereichen der Organisation tätig ist und dessen Deutschlandzentrale sich in München befindet. Das OSA soll Gegner ausforschen, um im Einzelfall mit Diffamierungen oder auch gerichtlichen Klagen gegen sie vorgehen zu können. Die Doktrin OSA-Logo beinhaltet die Einschüchterung der Kritiker: "Wir finden keine Kritiker der Scientology, die keine kriminelle Vergangenheit haben. Wir beweisen das immer wieder. Politiker A bäumt sich in einem Parlament auf seine Hinterbeine auf und schreit eselsgleich nach einer Verdammung der Scientology. Wenn wir ihn überprüfen, finden wir Verbrechen - veruntreute Gelder, moralische Fehltritte, eine Begierde nach kleinen Jungen - schmutziges Zeug. (...) Wir erteilen den Ruchlosen langsam und gründlich eine Lektion. Sie sieht folgendermaßen aus: ,Wir sind keine Rechtsvollzugsbehörde. ABER wir werden uns für die Verbrechen von Leuten interessieren, die versuchen, uns zu stoppen. Wenn Sie sich der Scientology entgegenstellen, halten wir prompt nach Ihren Verbrechen Ausschau - und werden sie finden und enthüllen. Wenn Sie uns in Ruhe lassen, werden wir Sie in Ruhe lassen.' Es ist sehr einfach. Selbst ein Narr kann das begreifen. Und unterschätzen Sie unsere Fähigkeit nicht, es auszuführen. (...) diejenigen, die versuchen, uns das Leben schwer zu machen, sind sofort in Gefahr." 433 432 Englische und deutsche Website des "Freedom Magazine" vom 16. Oktober 2008. 433 L. Ron HUBBARD, Bulletin "Kritiker der Scientology", in: "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs", Kopenhagen 2001, S. 78. Hervorhebungen im Original in kursiv. 253 Als im Frühjahr 2008 unter dem Begriff "Anonymous" weltweite, lose über este gegen das Internet organisierte Proteste gegen Scientology entstanden, wurde die SO erneut deutlich, dass die SO unverändert auf Grundlage derartiger Richtlinien vorgeht und auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzt. Medien berichteten zudem von Unterwanderungsversuchen bei "Anonymous" in den USA. Im September 2008 hätten sich unter die "Anonymous"-Kundgebung in Los Angeles Gegendemonstranten mit Hakenkreuzschildern gemischt. Die "Anonymous"-Aktivisten gingen davon aus, dass es sich um eine Aktion gehandelt habe, um die Proteste gegen die SO zu diskreditieren.434 "Anonymous" führte auch in Deutschland Kundgebungen, unter anderem in Stuttgart, Sindelfingen, Leinfelden-Echterdingen und Freiburg im Breis - gau durch, die angemeldet wurden und friedlich verliefen. Die SO verunglimpfte die Demonstranten als Kriminelle und versuchte, sie in die Nähe von Rechtsextremisten, Gewalttätern und Terroristen zu rücken. In der Landeshauptstadt wurden "Anonymous"Demonstranten wiederholt von Personen fotografiert, die der Scientology zugerechnet werden konnten. Dabei wurden die Demonstranten sowohl aus dem Gebäude der Stuttgarter SONiederlassung als auch durch einzelne SO-Angehörige in der Innenstadt von Stuttgart gefilmt. Während einer "Mahnwache" der KVPM im Oktober 2008 in Stuttgart überwachten zwei SO-Angehörige, darunter der Leiter des Stuttgarter OSA-Büros, das Umfeld der Veranstaltung. Derselbe OSA-Funktionär versuchte durch Anfragen bei Behörden Informationen über die Initiatoren ärung und der Proteste gegen Scientology zu erlangen. Die SO veröffentlichte in einer nglimpfung weiteren Ausgabe des Propagandablattes "Freiheit" sowie auf der Website Kritikern ihres Münchner "Menschenrechtsbüros" den Namen eines jungen Demonstranten aus Stuttgart, verunglimpfte ihn als "Rädelsführer" und publizierte gleichzeitig, an welcher Universität und in welchem Fachbereich er dort studiert.435 Die Organisation wollte offenkundig exemplarisch signalisieren, dass sie ihre Kritiker ausforscht. Scientologen stellten einen weiteren Kritiker an den Pranger. Nachdem der Repräsentant einer Kinderund Jugendschutzinitiative vor dem scientolo434 URL: http://www.heise.de/newsticker/meldung/prin/115968 vom 15. September 2008. 435 Website des "Menschenrechtsbüros" der SO vom 3. September 2008. 254 gischen Hintergrund des "Lerncenters" in Stuttgart gewarnt hatte, veröffentlichte das Institut im Internet den Namen des Betroffenen und sprach eine "dringende Warnung" vor ihm aus. Überdies legte das "Lerncenter" dar, dass man "Ermittlungen" über den Kritiker anstelle.436 Dabei wurde bekannt, dass Unbekannte im persönlichen Umfeld des Betroffenen angerufen und Fragen nach seinen persönlichen und beruflichen Verhältnissen gestellt hatten, wobei die Fragestellungen durchaus auf Scientology hindeuteten. Solche Recherchen entsprechen einer SO-Taktik, um Kritiker mundtot zu machen: "In vielen Fällen braucht man nur zu sagen, dass man an ihrer Türklinke rütteln wird, und sie brechen bereits zusammen. Ich kann Ihnen mehrere schwere Angriffe aufzählen, die in sich zusammenfielen, indem wir geräuschvoll eine Untersuchung des Angreifers einleiteten." 437 Der Betroffene wehrte sich mit Hilfe eines Rechtsanwalts gegen die als ehrverletzend empfundenen Unterstellungen des "Lerncenters". Die Betreiberin gab daraufhin eine Unterlassungserklärung ab und entfernte verschiedene Behauptungen auf der Internetseite des "Lerncenters". In diesem Zusammenhang wurde auch zugegeben, dass die Betreiberin des ApS-Instituts "Ermittlungen" über den Repräsentanten der Jugendschutzinitiative angestellt hatte. All das weist daraufhin, dass Scientology ihre zeitweilige Zurückhaltung aufgegeben hat und zunehmend vehementer gegen ihre Kritiker vorgeht. Insbesondere verdeutlichen die Reaktionen von Scientology, dass sie die wenigen, aber ständigen Gegendemonstranten in Baden-Württemberg als ernstzunehmende Gegner betrachtet. Die Pressesprecherin von OSA Deutschland, Sabine WEBER, räumte in einem Interview ein Interesse an "speziellen Informationen" über Kritiker ein.438 Es kann davon ausgegangen werden, dass etwaige "Ermittlungsergebnisse" in Dossiers des OSA gespeichert werden. Für solche Zwecke will die SO auch ihre Basis mobilisieren. Scientologen sind gehalten, über jegliche Kritik an Scientology "Wissensberichte" zu fertigen, was Aussteigern zufolge zu Bespitzelungen führen kann. Die Berich436 Website des "Professionellen Lerncenters" vom 6. November 2008. 437 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Angriffe auf Scientology", Copyright 1988, S. 4. 438 Internetauswertung: "Report München" vom 14. Juli 2008. 255 te sollen online direkt in die USA an das "Generalinspekteur Netzwerk" des RTC versandt werden, "um versteckte Unterdrückung, Infiltration, Subversion oder Korruption sowohl innerhalb als auch außerhalb von Scientology Kirchen, Missionen und anderen Organisationen der Kirche (...) zu entdecken. In einigen Fällen hätte es wahrscheinlich länger gedauert, einen Unterdrücker [sc. Kritiker] zu entdecken, wenn nicht wachsame und interessierte Scientologen einen bestimmten Sachverhalt an das Inspector General Network berichtet hätten." Zu den scientologischen "Schwerverbrechen", die berichtet werden sollen, zählen: "...auf Anstiftung feindlicher Kräfte hin Unzufriedenheit oder Proteste zu schüren. Anti-Scientology (...) -Aktionen oder Absichten. Eine Person, die bezüglich Scientology oder der Kirche außerordentlich kritisch ist. Öffentlich von Scientology wegzugehen. Öffentliche Äußerungen gegen Scientology oder Scientologen; (...) Jemand, der das Schreiben von Wissensberichten verbietet oder davon abrät. (...) Jemand, der ein Confessional [sc. "Sicherheitsüberprüfung" der SO] verweigert." 439 Die SO, die gegenüber der Öffentlichkeit Werte wie Toleranz und Meinungsfreiheit propagiert, erwähnte auf der Website auch die Richtlinie über "das Abbrechen der Verbindung". Das sind Anweisungen, nach denen Scientologen im Extremfall auch den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen sollen, wenn diese Scientology ablehnt. 8. Gerichtsurteile gegen die SO Die "Church of Scientology International", Los Angeles, verlor in zweiter Instanz eine Klage gegen die Stadt Stuttgart wegen der Festsetzung von Straßensondernutzungsgebühren. Am 16. Januar 2008 entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, dass die Zahlung von Sondernutzungsgebühren an die Stadt Stuttgart für Informationsveranstaltungen der SO rechtmäßig ist und bestätigte damit ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 7. November 2005. Der VGH führte aus, dass es sich um Werbeveranstaltungen handle, die weder gemeinnützigen Zwecken noch dem öffentlichen Interesse dienen. Die Klägerin gehöre nicht zu den in Deutschland als gemeinnützig anerkannten Religionsgemeinschaften mit dem Recht der Steuerbefreiung. Auch die Gebühren in Höhe von insgesamt 53.868 Euro seien nicht zu beanstanden. Eine Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht hat der VGH nicht zugelassen.440 Die SO legte 439 Website des RTC vom 31.Juli 2008. Hervorhebung in Fettschrift durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 440 Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Januar 2008, Az.: 5 S 393/06 (rechtskräftig). 256 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ein, die am 17. Oktober 2008 durch das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen wurde.441 Das Urteil des VGH wurde damit rechtskräftig. Die SO scheiterte darüber hinaus mit einer Klage gegen die Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Am 11. November 2004 hatte das Verwaltungsgericht Köln eine Klage der "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) und der "Scientology Kirche Berlin e.V." gegen die nachrichtendienstliche Beobachtung durch das BfV abgewiesen. Die SO legte daraufhin Berufung ein. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster Beobachtung entschied am 12. Februar 2008, dass die Beobachtung der SO durch das BfV rechtmäßig rechtmäßig ist und ließ keine Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht zu. Die SO legte zunächst Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ein, zog diese aber anschließend zurück. Das Urteil des OVG Münster wurde damit rechtskräftig. Das OVG Münster kam zum Ergebnis, dass die SO und ihre Mitglieder nach wie vor Bestrebungen verfolgen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet seien. Aus den zum Teil nicht allgemein zugänglichen Scientology-Quellen sowie den Aktivitäten der SO und ihrer Mitglieder ergäben sich zahlreiche Hinweise, dass Scientology eine Gesellschaftsordnung anstrebe, in der zentrale Werte der Verfassung wie die Menschenwürde und das Recht auf Gleichbehandlung außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden sollen. Insbesondere bestehe der Verdacht, dass in einer scientologischen Gesellschaft nur Scientologen die staatsbürgerlichen Rechte zustehen sollten. Zudem ergäben sich tatsächliche Anhaltspunkte, dass die SO Bestrebungen verfolge, die darauf gerichtet seien, das Recht des Volkes, die Volksvertretung in allgemeiner und gleicher Wahl zu wählen, zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Es gebe aktuelle Erkenntnisse, nach denen Scientology ihr Programm in Deutschland umsetzen, zu diesem Zweck personell expandieren und scientologische Prinzipien in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verbreiten und damit auf die staatliche Ordnung übertragen wolle. Es gebe aktuelle Erkenntnisse, dass sich Scientology bemühe, Einfluss auf staatliche Funktionsträger und die Gesetzgebung zu gewinnen. Der begründete Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen und die verstärkten Expansionsaktivitäten begründeten eine Gefahrenlage, die es rechtfertige, die SO auch künftig mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten.442 441 Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Oktober 2008, Az.: 9 B 25/08. 442 Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 12. Februar 2008, Az.: 5 A 130/05 (rechtskräftig). 257 Im Rahmen der Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde versuchten die Kläger im Mai 2008, das Urteil des OVG Münster unter anderem in einem an das Innenministerium Baden-Württemberg gerichteten Schreiben als "Missverständnis" und angebliche Folge von "Vorurteilen" und "Irrtümern" abzutun. Die SO erklärte, eine "Resolution" und für deutsche SOVereine Satzungsänderungen veranlasst zu haben, die ein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten enthielten. Offenkundig war das kurz vor Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde herausgegebene Papier aber eine rein vorgeschobene Verlautbarung. Die von den USA aus gesteuerte Organisation vermarktete ihre Schriften mit verfassungsfeindlichem Inhalt unverändert weiter. Das Schreiben enthielt hinlänglich bekannte Behauptungen, unpolitisch zu sein und keine politische Macht anzustreben. Man befasse sich nur mit der geistigen Befreiung des Menschen. Diese Behauptungen widersprechen allerdings der Expansionsstrategie der Organisation und ihren unverändert gültigen Weisungen, die fordern, Schlüsselpositionen zu erobern443 und die Kontrolle über wichtige Politiker, die Eigentümer der Massenmedien und die Verantwortlichen der internationalen Finanzwirtschaft zu erlangen.444 Wären die Behauptungen der "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) glaubwürdig, würden sie eine radikale Kursänderung bedeuten. Dafür gibt es bei der global handelnden SO aber nicht nur keine Anzeichen, sondern es ergibt sich selbst aus offenen Verlautbarungen das Gegenteil. Internetseiten von WISE offenbaren dies. Dort heißt es: "Ihr alle wisst, dass es unsere Absicht ist, die LRHVerwaltungstechnologie tatsächlich in die Gesellschaft einzuflößen. (...) Tragt an dieser Entwicklung Euren Teil bei! (...) Die WISE-Mitgliedschaft (...) wird durch die gemeinsame Absicht geeint, diese Technologie in allen Bereichen der Gesellschaft anzuwenden und zu verbreiten. (...) Mitglieder des Führungskreises [sc. von WISE] nutzen ihre Position und Verbindungen, um Hubbards ManagementTechnologie in großen Unternehmen und bei anderen Meinungsführern einzuführen." 445 443 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Was wir von einem Scientologen erwarten", zum Beispiel in einem Rundschreiben der "Scientology Kirche Frankfurt" vom 3. August 2003 veröffentlicht. 444 L. Ron HUBBARD, vertraulicher Richtlinienbrief "Targets. Defense", neu herausgegeben am 24. September 1987. 445 Englischsprachige Website von WISE Ungarn vom 16. Mai 2008; hier: Arbeitsübersetzung. 258 Auch die WISE-Zentrale "Hubbard College of Administration Internatio - nal" (HCAI) in Los Angeles formulierte wie auch schon früher das Ziel, diese "Technologie" in Regierungen zu etablieren.446 Zudem sind die Darlegungen der SKD mitunter doppeldeutig oder sprechen sogar gegen den behaupteten Sinngehalt. So wird proklamiert, ein Mensch "ist nur so wertvoll", wie er "anderen dienen kann." 447 Der Wert eines Menschen bemisst sich für Scientology somit nach Nutzbarkeitserwägungen. Menschen, die wegen Alter oder Krankheit nicht mehr arbeiten oder "dienen" können, verlieren bei dieser Sichtweise ihren Wert. Das OVG Münster hat in seiner Entscheidung festgestellt, dass die formalen Bekundungen der SO zur Rechtstreue die zahlreichen Anhaltspunkte für Verfassungsfeindlichkeit nicht entkräften können. HUBBARDs Schriften liegt ein polarisierendes Freund-Feind-Denken zugrunde, das Intoleranz und eine aggressive Einstellung fördert. Nach außen gibt die SO jedoch wohlklingende Erklärungen ab, die verharmlosen und vortäuschen sollen, dass Scientology Demokratie und Menschenrechte achte. Vertrauliches Telefon/Weitere Informationen Bei der Beobachtung der SO ist der Verfassungsschutz auch weiterhin auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie uns an: 0711/9561994. 2008 erschien die Broschüre "Scientology-Organisation" des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 446 Website des "Hubbard College of Administration International" vom 16. Mai 2008. 447 "Religion, Menschenrechte und Gesellschaft. Proklamation der Scientology Kirche", 17. September 2003. 259 G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die Welt befindet sich mitten in einem umfassenden und immer rascher voranschreitenden Wandlungsprozess mit weit reichenden Folgen. Die Herausforderungen der Globalisierung, die Folgen des Klimawandels, Krisen und Konflikte prägen die politische Diskussion. Schwellenländer wie Indien und China streben neue Rollen im globalen Gefüge an. Der internationale Terrorismus, aber auch die Auswirkungen des noch jungen und sich laufend verändernden Mediums Internet fordern uns immer mehr heraus. Die Bewältigung dieser Veränderungen verlangt Kreativität und eine Vielzahl von Innovationen in fast allen Bereichen. Vor allem Politik und Wirtschaft benötigen möglichst aktuelle und detaillierte Informationen, um verlobaler antwortungsvolle Entscheidungen treffen und sich im globalen Wettstreit ettstreit optimal positionieren zu können. Die frühzeitige Kenntnis zukünftiger Entwicklungen bringt massive politische, wirtschaftliche und militärische Vorteile mit sich. In einer derartigen Umbruchsituation setzt eine Reihe von Staaten auch ihre Geheimdienste zur Informationsgewinnung ein. rtschaftsDie Wirtschaftsspionage ist ernst zu nehmen und steht angesichts der herge - Bedroausragenden technologischen Leistungsfähigkeit baden-württembergischer g für den Unternehmen und Forschungseinrichtungen nach wie vor im Mittelpunkt ttelstand der Abwehrarbeit des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Am stärksten betroffen ist der Mittelstand. Vor allem chinesische und russische Nachrichtendienste sind hierzulande besonders aktiv. China schöpft alle Möglichkeiten aus, um im Bereich der zivilen und militärischen Hochtechnologie rasch zu den westlichen Industrieländern aufzuschließen. Weil die Entwicklung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Potenziale aus eigener Kraft viel Geld kostet, hoch qualifizierte Fachleute erfordert und zudem relativ lange dauert, hat es eine umfassende, gut durchdachte Strategie zur schnelleren und kostengünstigeren Optimierung seiner Volkswirtschaft entwickelt, die auf den verschiedensten Ebenen auch unter Einbindung der Nachrichtendienste konsequent umgesetzt wird. Die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2008 in Peking bedeutete für die chinesische Staatsführung den vorläufigen Höhepunkt der seit dem Jahr 1978 währenden gesellschaftlichen Öffnung. Dennoch ging die Regierung schon im Vorfeld der Spiele entschlossen gegen protestierende Tibeter, auf260 ständische Uiguren und sonstige oppositionelle Bestrebungen vor. Auch in Baden-Württemberg waren Anstrengungen chinesischer Sicherheitsbehörden festzustellen, Aktivitäten von Dissidenten mit nachrichtendienstlichen Mitteln aufzuklären. Die zahlenmäßig starken Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Russischen Föderation verfügen über erheblichen politischen Rückhalt. Von ihnen wird ein maßgeblicher Beitrag zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation erwartet. Der gesetzlich verankerte Auftrag zur Beschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Daten schlägt sich trotz guter Beziehungen zwischen Russland und der Bundesrepublik Deutschland auch in Baden-Württemberg in geheimdienstlichen Aktivitäten nieder. Die mit der Wirtschaftsspionage eng verbundene Proliferation448 stellt noch Proliferation - ein immer ein globales sicherheitspolitisches Problem dar. In Baden-Württemglobales sicherberg standen wie in den vorangegangenen Jahren die Beschaffungsbemüheitspolitisches hungen von Nordkorea, Syrien, Pakistan und des Iran im Mittelpunkt. Problem Bei der Beschaffung nachrichtendienstlich interessanter Informationen spielt die Technik eine immer wichtigere Rolle. Speziell die elektronische Datenverarbeitung weist eine Reihe von Schwachstellen auf, die gezielt ausgenutzt werden. Ihnen stehen erhebliche Vorteile auf der Seite der Angreifer gegenüber: niedriger technischer und finanzieller Aufwand, geringes Entdeckungsrisiko, keine zeitlichen und geografischen Barrieren sowie ein immenses Informationsaufkommen. Im Internet lauern Gefahren, die den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens innerhalb kürzester Zeit zunichtemachen oder dessen Image nachhaltig schädigen können. Nachrichtendienste nutzen das Internet zur offenen Informationsgewinnung und vor allem auch als Spionageinstrument. Insgesamt muss man von einer wachsenden Bedrohung der Informationstechnik ausgehen. Die Angriffe wachsende Beerfolgen häufig parallel über verschiedene Medien. In kleinen und mitteldrohung der Inständischen Unternehmen gibt es vielfach erheblichen Nachholbedarf bei formationstechnik der IT-Sicherheit. Das Landesamt für Verfassungsschutz steht den Unternehmen im Land mit einer breiten Palette unterschiedlichster Dienstleistungen zur Seite: von Broschüren mit praxisgerechten Handlungsempfehlungen über allgemeine Beratungsgespräche bis hin zur Erörterung konkreter firmenspezifischer 448 Weiterverbreitung von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dazu erforderlichen Know-hows sowie entsprechender Trägersysteme. 261 Problemstellungen. Bei Auffälligkeiten, die den Verdacht der Spionage nahelegen, sollte der Verfassungsschutz eingeschaltet werden, um fallbezogen ein professionelles Vorgehen zu gewährleisten. Die zentrale Aufgabe des im Jahr 1999 unter Beteiligung des Landesamts für Verfassungsschutz ins Leben gerufenen Sicherheitsforums Baden-Württemberg besteht darin, die betriebliche Sicherheit speziell bei kleineren und mittelständischen Unternehmen zu verbessern. 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Volksrepublik China 2.1.1 Ausspähung der Wirtschaft China hat den Anspruch, seine internationale Konkurrenzfähigkeit deutlich zu verbessern und bis zum Jahr 2020 wirtschaftlich und militärisch mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen. In diesem Zusammenhang spielen auch die großen und mächtigen Geheimdienste des Landes eine wichtige Rolle. Zur Realisierung dieses Ziels werden sowohl offene als auch konspirative Methoden angewandt. Die Leistungsfähigkeit der chinesischen Auslandsspionage scheint mittlerweile qualitativ ein Niveau erreicht zu haben, wie es vor kurzem noch undenkbar war. Dies betrifft besonders die China zugerechneten massiven Internetattacken auf deutsche Regierungsstellen und Unternehmen. Im Bereich der sive elekWirtschaft waren hiervon nahezu sämtliche Branchen und Hochtechnolohe Attacken giebereiche betroffen, von der Rüstungsindustrie über den Automobil-, Behörden Chemieund Pharmasektor bis hin zu Finanzdienstleistern. Wirtschaft Nach wie vor kommt auch der Informationsbeschaffung mit Hilfe menschlicher Quellen große Bedeutung zu. Häufig ist deutschen Unternehmensvertretern das hohe Risiko, beim Kontakt mit chinesischen Verhandlungspartnern auf ausgebildete Geheimdienst-Profis zu stoßen, nicht bewusst. Erst wenn das scheinbar lukrative Geschäft plötzlich geplatzt ist, wird ihnen deutlich, dass sie in Erwartung hoher Gewinne voreilig zu viel an sensiblem Know-how preisgegeben haben. Einem Geschäftsführer aus Baden-Württemberg, der ein spezielles Verfahren zur Oberflächenbearbeitung von Werkstücken entwickelt hatte, wurde von einem chinesischen Vertriebsexperten professio262 nelle Hilfe angeboten. Der Chinese, der sich zuvor schon in anderer beruflicher Verwendung im westlichen Ausland aufgehalten hatte und dabei in nachrichtendienstlichen Verdacht geraten war, stellte in Aussicht, die Vermarktung des innovativen Verfahrens als Generalvertreter in China zu organisieren. Nahezu zeitgleich hatte er sich in ähnlicher Weise an eine Reihe weiterer Unternehmen aus derselben Branche gewandt. Auch sie stellten ihm bei den vertraglichen Verhandlungen vielfältige technische Informationen zur Verfügung. Letztlich ermöglichte er seinen mutmaßlich nachrichtendienstlichen Auftraggebern nicht nur tiefe Einblicke in ein einzelnes Unternehmen, sondern erschloss ihnen mit dieser "Masche" umfassendes Branchenwissen. 2.1.2 Überwachung von regimekritischen Bestrebungen Bestrebungen, die die gegenwärtigen Machtverhältnisse in der Volksrepublik China auch nur im Entferntesten in Frage stellen könnten, erwecken unverzüglich heftiges Misstrauen der chinesischen Staatsführung. Wer sich nicht im völligen Gleichklang mit dem von der Kommunistischen Partei geprägten politischen System befindet, steht im besonderen Fokus der Sicherheitsbehörden. Der Bekämpfung der so genannten "Fünf Gifte" 449 Bekämpfung der kommt in diesem Zusammenhang herausragende Bedeutung zu. Anhänger "Fünf Gifte" dieser aus chinesischer Sicht staatsfeindlichen Organisationen und Bestrebungen können sich selbst im Ausland vor den Nachstellungen chinesischer Nachrichtendienste nicht sicher sein. Hierzulande sind in erster Linie Aufklärungsmaßnahmen gegen Uiguren und die Falun-Gong-Bewegung450 bekannt geworden. Mehreren örtlichen Falun-Gong-Gruppierungen in Baden-Württemberg war ein Mitglied durch ungewöhnlich großes Interesse an Adresslisten sowie Vereinssatzungen aufgefallen. Überdies hatte sich der Betreffende anderen Falun-Gong-Angehörigen scheinbar uneigennützig als Sprachmittler und Berater beim Kontakt mit deutschen Behörden angeboten. Besonders schutzwürdige Informationen, die ihm dabei anvertraut worden waren, sollen in China zu Zwangsmaßnahmen gegenüber dritten Personen geführt haben. 449 Die Bezeichnung "Fünf Gifte" wird in China für die Tibetbewegung, Demokratiebestrebungen, uigurische Separatisten, Falun-Gong-Strukturen und die Sezession Taiwans verwendet. 450 Aus China stammende Bewegung mit religiösen Elementen. 263 Agenten, die die chinesischen Nachrichtendienste innerhalb von FalunGong gewinnen konnten oder die konspirativ in die Organisation hineingeschleust wurden, bilden die "Speerspitze" der Überwachung beziehungsweise Unterwanderung. Um Personen für Spitzeldienste gefügig zu machen, schrecken chinesische Sicherheitsorgane auch vor dem Einsatz von Zwangsmitteln nicht zurück. Im deutschen Exil lebenden Uiguren, die sich dem Ansinnen verweigerten, an der Ausspähung und Aufklärung der Separatisten-Organisation "World Uigur Congress" (WUC) mitzuwirken, wurde beispielsweise mit der Ablehnung einer Passverlängerung oder mit Repressalien gegen die in der Heimat lebenden Familienangehörigen gedroht. Den Agenteneinsatz im Ausland betreiben auch die chinesischen Nachrichtendienste über getarnt in Botschaften und Konsulaten platzierte Mitarbeiter. Unter der Legende einer offiziellen Kontaktstelle in Passund Visa-Angelegenheiten können hier innerhalb der diplomatischen Vertretung gefahrlos nachrichtendienstliche Angelegenheiten abgewickelt und Aufträge an die jeweiligen Adressaten übermittelt werden. Neben dieser eher klassischen Form der Agentenführung gibt es Hinweise, wonach China den Kontakt zu seinen Aufklärern im Ausland auch mit E-Mail-Verbindungen hält. 2.2 Russische Föderation 2.2.1 Geheimdienste mit Auslandsbezug Die Aufklärung von Wirtschaft und Wissenschaft zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation bildet seit jeher einen Schwerpunkt nahezu aller russischen Dienste. Dies gilt auch hinsichtlich des primär für die innere Sicherheit zuständigen FSB..451 Dem FSB obliegen unter anderem die Gegenspionage, die Beobachtung des politischen Extremismus sowie die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und Terrorismus. Obwohl er nicht als Aufklärungsdienst konzipiert ist, versucht er bei passender Gelegenheit ausländische Staatsangehörige, die bei Aufenthalten in Russland unter dem Vorwand der Spionageabwehr oder der Ermittlungsbefugnis als Strafverfolgungsbehörde angesprochen werden, für Zwecke der Auslandsaufklärung anzuwerben. Bei seinen Abwehraktivitäten betreibt er eine intensive Kontrolle des in Russland abgewickelten Datenverkehrs. Daher müssen auch ausländische Staatsangehörige in Russland damit rechnen, bei der Nutzung des Internets oder durch Telefongespräche gezielt nachrichtendienstlich überwacht zu werden. 451 "Federalnaja Slushba Besopasnosti" ("Föderaler Dienst für Sicherheit"). 264 Hauptträger der Auslandsaufklärung ist der zivile Nachrichtendienst SWR.452 Seine Mitarbeiter haben die Aufgabe, Informationen über modernste Technologien zu beschaffen, die der russischen Wirtschaft helfen sollen, hohe Forschungsund Entwicklungskosten zu sparen und den Rückstand zum Westen aufzuholen, Märkte und Wettbewerbsbedingungen zu erkunden und frühzeitig Veränderungen zu erkennen, um die eigene Machtposition zu stärken beziehungsweise die Exportchancen zu verbessern und ausländische Entscheidungsträger im Sinne russischer Interessen zu beeinflussen. Die Aktivitäten des militärischen Auslandsnachrichtendienstes GRU453 umfassen neben klassischer Militärspionage mittlerweile auch zivile Bereiche. Dies gilt speziell für wissenschaftlich-technologische Informationen, die für militärische Zwecke nutzbar sein könnten. Besonders ausgeprägt ist das Interesse an Rüstungsfirmen, bei denen versucht wird, frühzeitig neue Forschungsschwerpunkte zu erkennen, um die Auswirkungen auf zukünftige Waffenund Kriegsführungstechnologien beurteilen und gegebenenfalls mit der Abwehrforschung beginnen zu können. 2.2.2 Erkannte Vorgehensweisen der Nachrichtendienste Im Unterschied zu den früheren, häufig aggressiven Vorgehensweisen der russischen Nachrichtendienste spielt bei der heutigen Informationsbeschaffung die offene Gesprächsabschöpfung eine bedeutsame Rolle. Sie führt Erfolge durch angesichts einer hierzulande immer größer werdenden Aufgeschlossenheit offene Gesprächsgegenüber den einstigen "Gegnern" aus dem "Kalten Krieg" zu erstaunabschöpfung lichen Erfolgen. Ausgangspunkt dieser Beschaffungsmethode sind nicht selten die Legalresidenturen.454 Wie kaum ein anderes Land nutzt die Russische Föderation ihre Möglichkeiten, deutsch sprechende hauptamtliche Geheimdienst-Angehörige in diplomatischen und konsularischen Vertretungen unterzubringen. Botschaftsund Konsulatsgebäude eröffnen als Treffpunkte vielfältige Möglichkeiten, mit interessant erscheinenden Zielpersonen unverfänglich in Kontakt zu treten. 452 "Slushba Wneschnej Raswedkij" ("Dienst für Ermittlungen im Ausland"). 453 "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije" ("Hauptverwaltung für Aufklärung" beim Generalstab der Streitkräfte). 454 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet. 265 Ein unter diplomatischer Abdeckung eingesetzter russischer Nachrichtendienstangehöriger bekundete gegenüber einem Ingenieur einer innovativen geheimschutzbetreuten455 Firma aus Baden-Württemberg Kaufinteresse hinsichtlich eines primär für zivile Anwendungen konzipierten Produkts. Um ein Vertrauensverhältnis herzustellen, wurde der Ingenieur zu "geselligen Abenden" eingeladen und großzügig freigehalten. Im Laufe der Begegnungen wurde immer deutlicher, dass sich das Interesse des Russen in Wirklichkeit auf die Beschaffung neuester militärischer Geräte nach NATO-Standard richtete. Nachdem der deutsche Ingenieur befürchtete, sich möglicherweise strafbar zu machen, meldete er den Sachverhalt dem Sicherheitsverantwortlichen seiner Firma, der daraufhin das Landesamt für Verfassungsschutz einschaltete. Der Spionageabwehr des Landesamts für Verfassungsschutz gelang es, mit Hilfe vielfältiger Kontakte zu Behörden, Industrieverbänden, Selbstschutzeinrichtungen der Wirtschaft sowie Spezialisten auf dem Gebiet der Unternehmenssicherheit an wertvolle Erkenntnisse über russische Nachrichtendienste zu gelangen und Aspekte der Prävention an wichtige Multiplikatoren heranzutragen. 2.3 Proliferation Auch wenn proliferationsrelevante Staaten wie Iran, Nordkorea, Syrien und Pakistan in den letzten Jahren ihre eigenen Entwicklungsund Produktionskapazitäten ausbauen konnten und somit weitere Schritte in Richtung technischer Unabhängigkeit gemacht haben, waren sie im Jahr 2008 immer noch auf Produkte und Know-how aus dem Ausland angewiesen. In Anbetracht der restriktiven Ausfuhrbestimmungen in Deutschland verzichten sie für gewöhnlich auf Direkteinkäufe.456 Das Risiko, dass derartige Aktivitäten entdeckt werden und damit gleichzeitig Einrichtungen, die an der Herstellung und Optimierung von Massenvernichtungswaffen beteiligt sind, enttarnt werden könnten, möchten diese Länder möglichst klein halten. Daher chleierung haben sie zahlreiche Methoden zur Verschleierung der Beschaffungsaktieschaffungsvitäten entwickelt: Sie gründen Tarnfirmen, beteiligen Zwischenhändler, tivitäten wählen Lieferwege über einen oder mehrere Drittstaaten oder legen gefälschte Endverbleibszertifikate vor. 455 In erster Linie Betriebe der Verteidigungswirtschaft, denen zur Ausführung staatlicher Verschlusssachenaufträge geheimhaltungsbedürftige Unterlagen anvertraut werden. 456 Die beschaffende Stelle versucht, die Ware direkt beim Hersteller einzukaufen, gegebenenfalls unter offener Nennung des Endverbleibs und Verwendungszwecks. 266 Internationale Gremien und Regelungen zur Bekämpfung der Proliferation 267 Verbote, Genehmigungspflichten und Genehmigungsformen im Außenwirtschaftsverkehr * 268 Zur Erlangung von Spezialwissen werden auch bestehende internationale Kontakte zu Universitäten, Instituten oder Forschungseinrichtungen genutzt. Selbstverständlich wird gegenüber den dortigen Partnern die geplante missbräuchliche Verwendung des erlangten Wissens verheimlicht. Die Islamische Republik Iran ist unter Proliferationsgesichtspunkten nach wie vor als das aktivste Land zu betrachten. Die Bekräftigungen der iranischen Regierung, das zivile Atomprogramm, insbesondere die Anreicherung von Uran, nicht aussetzen zu wollen, nähren die Befürchtungen, dass sie trotz der gültigen UN-Resolutionen 1737 und 1747 auch zukünftig versuchen wird, unter dem Deckmantel der zivilen Nuklearforschung ein militärisches Atomund Trägertechnologieprogramm zu betreiben. Zwangsläufig geht damit auch die Beschaffung nuklearrelevanter Technologien auf dem Weltmarkt und somit auch in Deutschland einher. So konnten aktuell Hinweise gewonnen werden, wonach ein in BadenWürttemberg ansässiges Unternehmen, welches Messgeräte vertreibt, die unter anderem auch im Nuklearbereich eingesetzt werden können, von unterschiedlichen iranischen Firmen Anfragen zu diesem Spezialprodukt erhalten hat. In einem weiteren Fall konnte festgestellt werden, dass iranische "Einkäufer" persönlich bei hiesigen Firmen vorstellig geworden sind, um an proliferationsrelevante Güter zu gelangen: Der "Einkäufer" einer Beschaffungsfirma des iranischen Verteidigungsministeriums nutzte seinen Deutschlandaufenthalt, um mehrere Unternehmen aus dem Bereich Fahrzeugbau aufzusuchen. Die Einladung, die er für ein Visum benötigte, erhielt er von einer in Baden-Württemberg ansässigen Firma einer gänzlich anderen Branche, die er jedoch bei seiner Tour quer durch das Bundesgebiet - mit Abstechern in das angrenzende Ausland - überhaupt nicht aufsuchte. Wie dieser Fall exemplarisch zeigt, missbrauchen iranische Geschäftsleute ihre Beziehungen zu unverdächtigen deutschen Firmen immer wieder, um sich das Visum für die Einreise ins Bundesgebiet beziehungsweise in den Schengen-Raum zu erschleichen. So glauben sie, unbemerkt von den hiesigen Sicherheitsbehörden Beschaffungen mit Proliferationshintergrund besser einfädeln zu können. Auch die Demokratische Volksrepublik Korea interessierte sich im Jahr 2008 für qualitativ hochwertige Produkte und technisches Know-how aus 269 Baden-Württemberg. Obwohl Beschaffungen in der Bundesrepublik in der Vergangenheit wiederholt zu Schwierigkeiten mit den zuständigen deutschen Exportkontrollbehörden geführt haben, wurde weiterhin mit großer Hartnäckigkeit versucht, Produkte zu erwerben, die auch in proliferationsrelevanten Bereichen Verwendung finden könnten. Das Landesamt für Verfassungsschutz setzt bei der Bekämpfung der Proliferation zusätzlich auf präventive Maßnahmen. Wie hilfreich diese Arbeit für potenziell betroffene Firmen sein kann, verdeutlicht der nachfolgende Sachverhalt: Ein weiteres mittelständisches baden-württembergisches Unternehmen aus dem Bereich Messtechnik sollte von einer Beschaffungsorganisation, die im Auftrag des iranischen Verteidigungsministeriums operiert, als deutscher Geschäftspartner gewonnen werden. Die Firma produziert Analysegeräte, die neben einer zivilen Verwendung auch in militärischen Forschungsprogrammen eingesetzt werden können. Aufgrund der Sensibilisierungsarbeit des Landesamts für Verfassungsschutz konnten die Repräsentanten der Firma rechtzeitig vor möglichen Nachteilen bewahrt werden. Bei der Aufklärung proliferationsrelevanter Sachverhalte arbeiten die Verfassungsschutzbehörden eng mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zollfahndungsdienst und dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zusammen. 3. Spionage mit technischen Mitteln Fast täglich lassen besorgniserregende Meldungen in den Medien über die Verwundbarkeit moderner Informationsund Kommunikationstechnik (IuK) mit enormen finanziellen Auswirkungen aufhorchen. Als besonders gravierend haben sich hier die Wirtschaftsspionage mit "Trojanischen Pferden"457, das Ausnutzen von Sicherheitslücken bei häufig ungenügend abgesicherten Wireless Local Area Networks (WLAN) und bei der Internettelefonie, die Ausspähung von Passwörtern und PINs458 mit gefälschten 457 Als "Trojanische Pferde" bezeichnet man in der Computersprache Programme, die sich als nützlich tarnen, aber in Wirklichkeit Malware (Schad-Software) einschleusen und im Verborgenen unerwünschte Aktionen ausführen. 458 Persönliche Identifikationsnummer (PIN-Code oder Geheimzahl). 270 E-Mails459, durch Keylogger-Systeme460 oder durch Spionagesoftware461, aber auch die Generierung von Abhörmöglichkeiten durch manipulierte Mobiltelefone und Telekommunikationsanlagen gezeigt. Studien zur Wirtschaftsspionage und zur IT-Sicherheit geben bislang noch kein klares Bild über den Umfang der Spionagetätigkeit. Danach waren zwischen 15 und über 50 Prozent der Unternehmen von solchen Angriffen betroffen, vorwiegend mittelständische und kleinere Firmen. Eine genaue Angabe über die Zahl der aus Sicht der Angreifer erfolgreich verlaufenen Attacken und der davon Betroffenen ist kaum möglich, da nur wenige Fälle erkannt werden und noch weniger zur Anzeige gelangen. Zusätzlich verschärft wird diese Situation durch eine enorme Zunahme erkannter Schwachstellen in komplexen Softwaresystemen. Dabei wird der Zeitraum zwischen dem Bekanntwerden einer neuen Sicherheitslücke und der Veröffentlichung eines so genannten Exploits462 immer kürzer. Diese Zeitspanne ist selbst bei einem funktionierenden Patchmanagement463 oft zu kurz, um notwendige Programmupdates zur Verfügung zu stellen oder andere geeignete Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Ein möglicher Grund für diese beschleunigte Entwicklung liegt darin, dass Computerkriminalität überaus profitabel geworden ist. Für Täter, die sich im Umfeld der Wirtschaftsspionage bewegen, lohnt es sich, in die Entwicklung von Exploits und das Aufspüren neuer Sicherheitslücken zu investieren. Insofern kann 2008 als das Jahr einer gefestigten, weltweit agierenden "IT-Angriffs-Industrie" bezeichnet weltweit werden. Die IT-Sicherheitslage insgesamt ist gekennzeichnet durch die agierende Gefahren einer "asymmetrischen IT-Auseinandersetzung", da der Aufwand "IT-Angriffszur Durchführung von elektronischen Angriffen sehr viel geringer ist als der Industrie" zu ihrer Abwehr. Die Schere zwischen Angriff und Verteidigung klafft also immer weiter auseinander. Typische Schwachstellen, zum Beispiel mangelhaftes Sicherheitsbewusstsein auch in Führungsetagen, Missachtung vor459 Phishing: Durch gefälschte E-Mails versuchen Betrüger Nutzerdaten auszuspähen und an Passworte, Daten für das Online-banking und Kreditkartennummern der Kunden zu gelangen. 460 Softwareprogramme oder Hardwarebausteine, die heimlich alle Tastatureingaben eines PC-Anwenders aufzeichnen. 461 Programme (Spyware und Adware), die ohne Wissen des PC-Anwenders Daten sammeln und verdeckt weitergeben. 462 Eine Software oder eine Sequenz von Befehlen, welche spezifische Schwächen beziehungsweise Fehlfunktionen eines anderen Computerprogramms zur Erlangung von Privilegien oder mit dem Ziel einer Denial of Service (DoS)-Attacke ausnutzt. "Denial of Service" bezeichnet einen Angriff auf einen Server oder sonstigen PC in einem Datennetz mit dem Ziel, einen oder mehrere Dienste durch Überlastung arbeitsunfähig zu machen. Erfolgen solche Angriffe koordiniert über eine größere Zahl von Angriffssystemen, spricht man von einer verteilten Attacke (Distributed Denial of Service - DDoS). 463 Ein in der Regel kleineres Softwareupdate beziehungsweise eine kleinere Softwarekorrektur. 271 handener Sicherheitseinrichtungen aus Bequemlichkeit oder Unkenntnis, das Fehlen firmeninterner Regeln für den Umgang mit Betriebsgeheimnissen sowie ein sorgloser Umgang mit Passwörtern sind regelmäßig Ursache für die Erfolge dieser Spionagevariante. Leider ist der Irrglaube, dass moderne Kommunikationsmittel vertrauliche Informationen automatisch schützten, noch viel zu weit verbreitet. rt Internet Angriffe über das Medium Internet sind aufgrund ihrer relativ einfachen Realisierbarkeit, einer nachgewiesen guten Erfolgswahrscheinlichkeit und des geringen persönlichen Risikos für den Angreifer eine besondere Gefahr. Urheber solcher Angriffe können Einzelpersonen, Konkurrenten, politische oder kriminelle Vereinigungen und auch fremde Staaten beziehungsweise deren Nachrichtendienste sein. Die im Februar 2007 erstmals von den Sicherheitsbehörden öffentlich angesprochenen elektronischen Angriffe auf Datennetze der Behörden und von Wirtschaftsunternehmen haben in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland für einige Aufregung gesorgt. Auf breiter Basis werden bis heute Behörden und Regierungsstellen, aber auch Universitäten, Forschungseinrichtungen und die Wirtschaft attackiert - auch in Baden-Württemberg. Aufgrund des großen Aufwands zur Durchführung der Angriffe, der anhaltenden Intensität und der Beschaffung von Informationen mit China-Bezug aus strategisch bedeutsamen Bereichen ist davon auszugehen, dass sie im staatlichen chinesischen Interesse liegen. Die elektronischen Attacken basieren vorwiegend auf massenhaftem E-Mail-Versand mit korrumpierten Anhängen (hauptsächlich MS-Word-Dateien). Charakteristisch für diese Angriffsmethode ist, dass ihr in der Regel ein feinsinniges "Social Engineering" 464 vorausgeht, um den Adressaten zum Öffnen von E-Mail und Anhang zu "verführen". Durch den Öffnungsvorgang installiert sich unbemerkt ein Trojaner, der dann verdeckt versucht, Kontakt mit einem ihm vorgegebenen Computer im Internet aufzunehmen. Bei erfolgreicher Kontaktaufnahme werden weitere Befehle übertragen, die den eigentlichen "Auftrag" enthalten. Nach bisherigen Analysen erscheint der Trojaner aufgrund seiner Programmstrukturen und Funktionen sowohl zur Spionage (zum Beispiel unbemerkter Datenabfluss) als auch zur Sabotage (zum Beispiel Manipulation infizierter Systeme) geeignet. In Anbetracht des Umstands, dass die eingesetzte Schadsoftware in besonderer Weise signaturarm ist, wird sie von aktuellen, marktgängigen Schutzprogrammen kaum entdeckt. Soweit die bisherige Aufarbeitung des Komplexes durch die Sicherheitsbehörden konkrete Zielobjekte in Staat und Wirtschaft 464 "Social Engineering" beschreibt die Methodik, berechtigte Nutzer eines Informationsund Kommunikationssystems durch Täuschung über die Identität des Angreifers oder andere Tatsachen dazu zu verleiten, dem Angreifer sensible oder geheim zu haltende Daten (zum Beispiel Passworte und/oder Benutzerberechtigungen) für einen Systemeinbruch mitzuteilen oder gar unmittelbar Daten aus dem IuK-System unberechtigt weiterzugeben. 272 erkennen ließ, sind die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder momentan damit befasst, im Zusammenwirken mit Betroffenen eingedrungene Trojaner zu lokalisieren und unschädlich zu machen. Insgesamt ist jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Mit zunehmendem Bedarf an kostengünstigen Multimedia-Kommunikationslösungen wird die Implementierung internetbasierter Verfahren weiter zunehmen. Der ungesicherte Einsatz von VoIP465-Technologien birgt aus dem Blickwinkel der IT-Sicherheit ein hohes Bedrohungspotenzial. Zu den Gefährdungen der "klassischen" Telekommunikation, beispielsweise der Manipulation durch aktivierte Fernwartungszugänge, kommen die der IPWelt, unter anderem DoS-Angriffe466 oder der Befall durch Schadprogramme, hinzu. Die Methoden entsprechender Angriffs-Tools sind umfassend und zum Teil denkbar einfach. Damit ist nahezu jeder Interessierte in der Lage, eine ungeschützte Sprachkommunikation über IP "abzugreifen", aufzuzeichnen und auszuwerten oder die entsprechenden Systeme zu manipulieren. Das als Web 2.0467 bezeichnete interaktive Internet erfreut sich in Form von Risiken sozialen Netzwerken zunehmender Beliebtheit. Unabhängig davon, ob sich des Web 2.0 die Nutzer mit Worten oder Fotos vorstellen, in Foren diskutieren oder aufzeigen, wen sie alles kennen - alle diese Daten sind fortan auf dem Server des Betreibers gespeichert und grundsätzlich von jedermann weltweit abrufbar. Die Nutzer dieser Plattformen gehen dabei häufig recht sorglos vor und geben eine Vielzahl persönlicher, aber auch beruflicher Daten preis. Vielen ist allerdings nicht bewusst, welche Konsequenzen das Entblößen der eigenen Identität nach sich ziehen kann und wie viele Spuren sie im Netz hinterlassen. Riskant für Wirtschaftsunternehmen wird es spätestens dann, wenn Mitarbeiter mit ausführlichen Beschreibungen ihre Firmenzugehörigkeit oder gar noch Firmeninterna offenbaren. Wird überdies der firmeninterne Internetzugang für den Kontakt mit der Plattform genutzt, werden Spuren im Netz hinterlassen, die auch ohne Namensnennung eine Identifizierung ermöglichen. Auch Angehörige fremder Geheimdienste, Konkurrenten oder Nachrichtenhändler sammeln erfahrungsgemäß Informationen über Firmenmitarbeiter. Bereits der Einsatz gängiger Personensuchmaschinen ermöglicht die unkomplizierte Zusammenstellung umfassender Per465 "Voice over Internet Protocol" (auch IP-Telefonie) bezeichnet die Telefonie über Internet oder Computernetzwerke. 466 Vgl. Fußnote 462, S. 271. 467 Web 2.0 ist ein 2004 vom O'Reilly-Verlag geschaffener Begriff, der eine neue Generation von interaktiven Internetund Webanwendungsmöglichkeiten beschreibt, die ihren Nutzern ermöglicht, gemeinsam eigene Inhalte auf einfache Art und Weise im World Wide Web (WWW) zu publizieren (zum Beispiel Webblogs, Wikis, Chatrooms, Instant Messaging, Podcasts, Tags, Video-/Foto-Sharing etc.). 273 Tatort Internet 274 sönlichkeitsprofile. Wie aktuelle Studien468 belegen, bieten darüber hinaus, die nach wie vor unzureichenden Sicherheitsstandards dieser Netzwerke keinen ausreichenden Schutz vor professionellen Angriffen und machen diese Internetseiten anfällig für das Eindringen von Hackern und anderen Angreifern. In geschützten Bereichen abgelegte personenbezogene Daten der Nutzer können also ohne großen technischen Aufwand ausspioniert und anschließend missbräuchlich verwendet werden. Die zunehmende Dynamik auf dem Telekommunikationsmarkt und im Bereich der mobilen Technologien bietet Unternehmen vielfältige Einsatzmöglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Prozessoptimierung, geht aber mit einer Fülle neuer Bedrohungen einher. Die in Unternehmensnetzen Schutz mobiler heute gebräuchlichsten Sicherheitsmaßnahmen wie zum Beispiel VirenTechnologien schutz, Verschlüsselung und Firewalls, werden nur in sehr begrenztem notwendig Umfang zum Schutz mobiler Geräte genutzt, obwohl nach Expertenmeinung mehr als die Hälfte der unternehmenskritischen und sensiblen Daten darauf gespeichert ist. Nach Erfahrungen des Landesamts für Verfassungsschutz steht das Verhalten von Mitarbeitern, die mit mobiler IuK-Technik ausgestattet sind, teilweise in krassem Widerspruch zu ihrem Wissen. Zwar kennen sie die Risiken und sind auch über entsprechende Sicherheitsanforderungen informiert, setzen aber dennoch mobiles Firmen-Equipment privat ein, stellen es Dritten für den Privatgebrauch zur Verfügung, öffnen E-Mails unbekannter Absender, nutzen ungesicherte, drahtlose Kommunikationsverbindungen469 oder installieren selbst ungeprüfte Software. Besonders Handys, WLANs, Bluetooth-Technologien und mobile Speichermedien470 aller Art erweisen sich in der Praxis häufig als die Achillesferse einer ansonsten gut gesicherten IT-Infrastruktur. Da diese Geräte und Verfahren oftmals in integrierten Systemen gleichzeitig genutzt werden, kumulieren sich dort auch die Risiken. Vor allem Handys können sowohl Spionagewerkzeug als auch Zielobjekt für Abhörund Manipulationsangriffe sein. Gestohlene Laptops, USB-Sticks und Festplatten, gehackte Notebooks und unbemerkt an das Firmennetz angedockte fremde Speichermedien sind weitere Beispiele für Spionage im Zusammenhang mit mobilen Endgeräten. 468 Andreas Poller, Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT, Studie "Privatsphärenschutz in Soziale-Netzwerk-Plattformen", veröffentlicht am 23. September 2008. 469 Wireless Local Area Network (WLAN), Hotspot, Bluetooth-Technologie etc. 470 Laptops, Notebooks, USB-Sticks, externe Festplatten, Speicherkarten etc. 275 4. Prävention Innovationen kosten Geld, binden Ressourcen und verschlingen unter Umständen immense Summen für die Forschung. Zur Erhaltung des vorhandenen Know-hows leistete das Landesamt für Verfassungsschutz auch im Jahr 2008 offensive Aufklärungsarbeit, um zu verhindern, dass badenwürttembergische Unternehmen, Forschungsund Wissenschaftseinrichtungen in den Strudel der Wirtschaftsspionage gelangen. Bei Sensibilisierungsgesprächen wurden hauptsächlich folgende Themen fokussiert: Was ist für fremde Nachrichtendienste von Interesse? Welche Ausspähungsmethoden kommen zur Anwendung? Welche Risiken birgt die Proliferation und wie werden sie vermieden? Wie kann Know-how geschützt werden? tensive Die an die Unternehmen und Institutionen ausgesprochenen Empfehluneuung der gen zur Steigerung der Sicherheit wurden durch zahlreiche Vortragsveranirtschaft staltungen bei Betrieben, Interessenverbänden, Arbeitskreisen, Kammern und anderen Vereinigungen ergänzt. Insgesamt konnten im vergangenen Jahr im Bereich der Wirtschaft rund 165 Beratungsgespräche geführt und circa 40 Vorträge gehalten werden. Beispielhaft für die weitere Tätigkeit des Arbeitsbereichs Wirtschaftsschutz sind folgende Projekte zu nennen: Auch im Jahr 2008 präsentierte sich das Landesamt für Verfassungsschutz gemeinsam mit anderen Verfassungsschutzbehörden auf der weltgrößten Sicherheitsfachmesse SECURITY in Essen, um dem Messepublikum kompetente Beratung und Information zu den Themen Wirtschaftsspionage und Wirtschaftsschutz anzubieten. Daneben ergaben sich vielfältige Kontakte zu Unternehmen aus Baden-Württemberg, mit denen Termine für vertiefte Beratungen im Anschluss an die Messe vereinbart werden konnten. Im November 2008 trafen sich auf der Neuen Messe Stuttgart die Dienstleister der Außenwirtschaft auf einem der modernsten Marktplätze Europas, der "GlobalConnect". Dieses Forum bot kleineren und mittelständischen Unternehmen eine hervorragende Möglichkeit, sich umfassend über aktuelle Entwicklungen auf den Welt276 märkten sowie über Unterstützungsangebote bei der Erschließung von Auslandsmärkten zu informieren. Auf einem Gemeinschaftsstand des weltweit für die Interessen der Wirtschaft und Wissenschaft des Landes Baden-Württemberg aktiven Dienstleisters "Baden-Württemberg International" war auch das Landesamt für Verfassungsschutz vertreten und konnte interessierten Messebesuchern aus erster Hand über Praxisbeispiele aus allen Arbeitsbereichen der Spionageabwehr berichten. Besonders gefragt waren Themen wie "Gefahren der Wirtschaftsspionage" und "Know-how-Schutz im Unternehmen". Um seine herausgehobene Stellung in der Netzwerkarbeit gegen Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage noch weiter auszubauen, hat das Landesamt für Verfassungsschutz eine enge Kooperation mit seiner bayerischen Prävention Partnerbehörde vereinbart. Dies betrifft neben der gemeinschaftlichen durch Beteiligung an Fachmessen besonders die Organisation und Durchführung Kooperation von Informationsveranstaltungen. Im September 2008 fand bereits die erste länderübergreifende Tagung für Sicherheitsbevollmächtigte aus bayerischen und baden-württembergischen Unternehmen in Neu-Ulm statt. Neben allgemeinen Informationen zur aktuellen Sicherheitslage wurde in ausgewählten Fachvorträgen auf weitere Aufgabenfelder des Verfassungsschutzes wie Linksextremismus, Scientology-Organisation und Organisierte Kriminalität eingegangen. 5. Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen Im Jahr 1999 ist in Baden-Württemberg die bundesweit erste Sicherheitspartnerschaft zum Schutz von Firmen-Know-how mit dem Landesamt für Verfassungsschutz als Gründungsmitglied ins Leben gerufen worden. Das Gremium setzt sich aus kompetenten Vertretern von Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Verbänden, Kammern und Behörden zusammen und soll mit einem Bündel sicherheitsbezogener Maßnahmen dazu beitragen, den Technologievorsprung der Wirtschaft und der Forschung des Landes vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs 277 zu sichern und weiter auszubauen. Dem Sicherheitsforum war seinerzeit vor allem die Aufgabe zugedacht worden, in Grundsatzfragen der Informationsrechpartner sicherheit eine Scharnierfunktion zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in einerseits sowie der Politik andererseits zu erfüllen. Mittlerweile hat es sich rheitsfragen zu einem anerkannten Ansprechpartner in Sicherheitsfragen entwickelt. Das Landesamt für Verfassungsschutz beteiligte sich auch im Jahr 2008 an diversen Informationsveranstaltungen für die Wirtschaft und brachte sein umfassendes Erfahrungswissen aus der Spionageabwehr bei Projekten des Forums auf den Feldern Informationsschutz und Unternehmenssicherheit ein. Im Internet sind unter www.sicherheitsforum-bw.de Informationen zu den Themenbereichen Wirtschaftsspionage und Prävention abrufbar. 6. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist die Spionageabwehr auch ganz wesentlich auf Hinweise aus der Öffentlichkeit angewiesen. Häufig ermöglichen erst Informationen von betroffenen Personen, Unternehmen oder anderen Stellen die Ermittlungen zur Klärung eines Spionageverdachts. Viele Betroffene unterschätzen jedoch die Tragweite des Falles oder fürchten Imageverluste und verzichten deshalb auf einen Kontakt der Spionageabwehr. Ihre nachteiligen Erfahrungen können insofern nicht in die Präventionsarbeit einfließen. Die Spionageabwehr kann - auch für Anregungen und weitere Informationen - wie folgt erreicht werden: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Abteilung 4 Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart Telefon 07 11 / 95 44 - 301 Telefax 07 11 / 95 44 - 444 E-Mail: info@verfassungsschutz-bw.de 278 Über die Anschlüsse 07 11 / 9 54 76 26 (Telefon) und 07 11 / 9 54 76 27 (Telefax) werden sensible Hinweise entgegengenommen und auf Wunsch vertraulich behandelt. 279 GESETZ ÜBER DEN V E R F A S S U N G S S C H U T Z I N B A D E N -W Ü R T T E M B E R G (L A N D E S V E R F A S S U N G S S C H U T Z G E S E T Z - L V S G ) VOM 5. D EZEMBER 2005 SS 1 nung, den Bestand und die Sicherheit der Zweck des Verfassungsschutzes Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder frühzeitig zu erkennen und den Der Verfassungsschutz dient dem Schutz zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese der freiheitlichen demokratischen GrundGefahren abzuwehren. ordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben samund ihrer Länder. melt das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen, insbesondere sachund SS 2 personenbezogene Auskünfte, NachrichOrganisation, Zuständigkeit ten und Unterlagen von Organisationen und Personen über (1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben 1. Bestrebungen, die gegen die freides Verfassungsschutzes unterhält das heitliche demokratische Grundordnung, Land ein Landesamt für Verfassungsden Bestand oder die Sicherheit des Bunschutz. Das Amt hat seinen Sitz in Stuttdes oder eines Landes gerichtet sind oder gart und untersteht dem Innenministeeine ungesetzliche Beeinträchtigung der rium. Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mit(2) Verfassungsschutzbehörden anderer glieder zum Ziele haben, Länder dürfen im Geltungsbereich dieses 2. sicherheitsgefährdende oder geGesetzes nur im Einvernehmen mit dem heimdienstliche Tätigkeiten im GeltungsLandesamt für Verfassungsschutz tätig bereich des Grundgesetzes für eine fremwerden. de Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich (3) Das Landesamt für Verfassungsdes Grundgesetzes, die durch die Anwenschutz darf einer Polizeidienststelle nicht dung von Gewalt oder darauf gerichtete angegliedert werden. Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland SS 3 gefährden, Aufgaben des Landesamtes für Verfas - 4. Bestrebungen im Geltungsbereich sungsschutz, Voraussetzungen für die dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken Mitwirkung an Überprüfungsverfahren der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen (1) Das Landesamt für Verfassungsdas friedliche Zusammenleben der Völker schutz hat die Aufgabe, Gefahren für die (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), freiheitliche demokratische Grundordgerichtet sind, 280 und wertet sie aus. Sammlung und Aus7. bei der Überprüfung der Zuverläswertung von Informationen nach Satz 1 sigkeit von Personen nach dem Waffen-, setzen im Einzelfall voraus, dass für BeSprengstoffund Jagdrecht, strebungen oder Tätigkeiten nach Satz 1 8. bei der Überprüfung der Zuverlästatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. sigkeit von Personen nach SS 12 b des Atomgesetzes, (3) Das Landesamt für Verfassungs9. bei der sicherheitsmäßigen Überschutz wirkt mit prüfung von Personen, die zu sicherheits1. bei der Sicherheitsüberprüfung von empfindlichen Bereichen von Flughäfen Personen, denen im öffentlichen Interesse Zutritt haben, nach SS 29 c des Luftvergeheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gekehrsgesetzes, genstände oder Erkenntnisse anvertraut 10. bei sonstigen Überprüfungen, sowerden, die Zugang dazu erhalten sollen weit dies im Einzelfall zum Schutz der oder ihn sich verschaffen können, freiheitlichen demokratischen Grundord2. bei der Sicherheitsüberprüfung von nung oder für Zwecke der öffentlichen Personen, die an sicherheitsempfindSicherheit erforderlich ist. Näheres wird lichen Stellen von lebensoder verteididurch Verwaltungsvorschrift des Innenmigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt nisteriums bestimmt. sind oder werden sollen, Die Mitwirkung des Landesamtes für Ver3. bei technischen oder organisatorifassungsschutz nach Satz 1 erfolgt in der schen Sicherheitsmaßnahmen zum SchutWeise, dass es eigenes Wissen oder beze von im öffentlichen Interesse geheimreits vorhandenes Wissen der für die haltungsbedürftigen Tatsachen, GegenÜberprüfung zuständigen Behörde oder ständen oder Erkenntnissen gegen die sonstiger öffentlicher Stellen auswertet. In Kenntnisnahme durch Unbefugte sowie den Fällen des Satzes 1 Nummern 1 und bei Maßnahmen des vorbeugenden Sabo- 2 führt das Landesamt für Verfassungstageschutzes, schutz weitergehende Ermittlungen 4. auf Anforderungen der Einsteldurch, wenn die für die Überprüfung zulungsbehörde bei der Überprüfung von ständige Behörde dies beantragt. Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, sowie auf (4) Die Mitwirkung des Landesamtes Anforderung der Beschäftigungsbehörde für Verfassungsschutz nach Absatz 3 setzt bei der Überprüfung von Beschäftigten im Einzelfall voraus, dass der Betroffene im öffentlichen Dienst, bei denen der auf und andere in die Überprüfung einbezoTatsachen beruhende Verdacht besteht, gene Personen über Zweck und Verfahren dass sie gegen die Pflicht zur Verfassungsder Überprüfung einschließlich der Verartreue verstoßen, beitung der erhobenen Daten durch die 5. bei der sicherheitsmäßigen Überbeteiligten Dienststellen unterrichtet prüfung von Einbürgerungsbewerbern, werden. Darüber hinaus ist im Falle der 6. bei der sicherheitsmäßigen ÜberEinbeziehung anderer Personen in die prüfung von Ausländern im Rahmen der Überprüfung deren Einwilligung und im Bestimmungen des Ausländerrechts, Falle weitergehender Ermittlungen nach 281 Absatz 3 Satz 3 die Einwilligung des deln, sind Bestrebungen im Sinne dieses Betroffenen erforderlich. Die Sätze 1 und Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von 2 gelten nur, soweit gesetzlich nichts Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer anderes bestimmt ist. Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschäSS 4 digen. Begriffsbestimmungen (2) Zur freiheitlichen demokratischen (1) Im Sinne des Gesetzes sind Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes 1. Bestrebungen gegen den Bestand zählen: des Bundes oder eines Landes solche 1. das Recht des Volkes, die Staatsgepolitisch bestimmten, zielund zweckgewalt in Wahlen und Abstimmungen und richteten Verhaltensweisen in einem oder durch besondere Organe der Gesetzgefür einen Personenzusammenschluss, der bung, der vollziehenden Gewalt und der darauf gerichtet ist, die Freiheit des BunRechtsprechung auszuüben und die des oder eines Landes von fremder HerrVolksvertretung in allgemeiner unmittelschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit barer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes zu wählen, Gebiet abzutrennen; 2. die Bindung der Gesetzgebung an 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit die verfassungsmäßige Ordnung und die des Bundes oder eines Landes solche Bindung der vollziehenden Gewalt und politisch bestimmten, zielund zweckgeder Rechtsprechung an Gesetz und Recht, richteten Verhaltensweisen in einem oder 3. das Recht auf Bildung und Ausfür einen Personenzusammenschluss, der übung einer parlamentarischen Opposidarauf gerichtet ist, den Bund, Ländern tion, oder deren Einrichtungen in ihrer Funk4. die Ablösbarkeit der Regierung und tionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtiihre Verantwortlichkeit gegenüber der gen; Volksvertretung, 3. Bestrebungen gegen die freiheitli5. die Unabhängigkeit der Gerichte, che demokratische Grundordnung solche 6. der Ausschluss jeder Gewaltund politisch bestimmten, zielund zweckgeWillkürherrschaft und richteten Verhaltensweisen in einem oder 7. die im Grundgesetz konkretisierten für einen Personenzusammenschluss, der Menschenrechte. darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beSS 5 seitigen oder außer Geltung zu setzen. Befugnisse des Für einen Personenzusammenschluss Landesamtes für Verfassungsschutz handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen aktiv sowie zielund zweckgerichtet (1) Das Landesamt für Verfassungsunterstützt. Verhaltensweisen von Einzelschutz kann die zur Erfüllung seiner Aufpersonen, die nicht in einem oder für gaben nach SS 3 erforderlichen Informatioeinen Personenzusammenschluss hannen verarbeiten. Soweit dieses Gesetz 282 keine Regelungen trifft, richtet sich die SS 5a Verarbeitung personenbezogener Daten Einholen von Auskünften nach den Vorschriften des Landesdatenbei nicht-öffentlichen Stellen schutzgesetzes mit Ausnahme der SSSS 8 und 13 Abs. 2 bis 4 sowie SSSS 14 bis 24 des (1) Wenn es zur Erfüllung seiner AufgaLandesdatenschutzgesetzes. ben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 erforderlich ist und tatsächliche Anhalts(2) Werden personenbezogene Daten punkte für schwerwiegende Gefahren für beim Betroffenen mit seiner Kenntnis erdie dort genannten Schutzgüter vorliegen, hoben, so ist der Erhebungszweck anzudarf das Landesamt für Verfassungsschutz geben. Der Betroffene ist auf die Freiwilim Einzelfall unentgeltlich Auskünfte zu ligkeit seiner Angaben und bei einer 1. Konten, Konteninhabern und sonsSicherheitsüberprüfung nach SS 3 Abs. 3 tigen Berechtigten sowie weiteren am auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder Zahlungsverkehr Beteiligten und zu sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht Geldbewegungen und Geldanlagen bei hinzuweisen. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, (3) Polizeiliche Befugnisse oder Wei2. Namen, Anschriften und zur Inansungsbefugnisse stehen dem Landesamt spruchnahme von Transportleistungen für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die und sonstigen Umständen des LuftPolizei auch nicht im Wege der Amtshilfe verkehrs bei Luftfahrtunternehmen einum Maßnahmen ersuchen, zu denen es holen. selbst nicht befugt ist. Abweichend hiervon ist es jedoch berechtigt, die Polizei in (2) Das Landesamt für Verfassungseilbedürftigen Fällen außerhalb der reguschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seilären Dienstzeiten des Kraftfahrtbundesner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 amtes um eine Abfrage aus dem Fahrbis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 zeugregister beim Kraftfahrtbundesamt Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes vom im automatisierten Verfahren zu ersu26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, ber. chen. S. 2298) bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen (4) Von mehreren geeigneten Maßnaherbringen, sowie bei denjenigen, die an men hat das Landesamt für Verfassungsder Erbringung dieser Dienstleistungen schutz diejenige zu wählen, die den Bemitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu troffenen voraussichtlich am wenigsten Namen, Anschriften, Postfächern und beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keisonstigen Umständen des Postverkehrs nen Nachteil herbeiführen, der erkennbar einholen. außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung sei283 ner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 scheidung auch bereits vor der Unterrichbis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 tung der Kommission anordnen; in dieAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei denjesem Fall ist die Kommission unverzüglich nigen, die geschäftsmäßig Telekommunizu unterrichten. Die Kommission prüft kationsdienste und Teledienste erbringen von Amts wegen oder aufgrund von Beoder daran mitwirken, unentgeltlich Ausschwerden die Zulässigkeit und Notwenkünfte über Telekommunikationsverbindigkeit der Einholung von Auskünften dungsdaten und Teledienstenutzungsdanach den Absätzen 1 bis 3. SS 15 Abs. 5 des ten einholen. Die Auskunft kann auch in Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe Bezug auf zukünftige Telekommunikation entsprechend anzuwenden, dass die Konund zukünftige Nutzung von Teledientrollbefugnis der Kommission sich auf die sten verlangt werden. Telekommunikagesamte Erhebung, Verarbeitung und tionsverbindungsdaten und TelediensteNutzung der nach den Absätzen 1 bis 3 nutzungsdaten sind: erlangten Informationen und personenbe1. Berechtigungskennungen, Kartenzogenen Daten erstreckt. Entscheidungen nummern, Standortkennungen sowie Rufüber Auskünfte, die die Kommission für nummer oder Kennung des anrufenden unzulässig oder nicht notwendig erklärt, und angerufenen Anschlusses oder der hat das Innenministerium unverzüglich Endeinrichtung, aufzuheben. 2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum und Uhrzeit, (6) Für die Verarbeitung der nach den 3. Angaben über die Art der vom Absätzen 1 bis 3 erhobenen Daten ist SS 4 Kunden in Anspruch genommenen Teledes Artikel 10-Gesetzes entsprechend kommunikationsund Teledienst-Dienstanzuwenden. leistungen, 4. Endpunkte festgeschalteter Verbin(7) Das Auskunftsersuchen und die dungen, ihr Beginn und ihr Ende nach übermittelten Daten dürfen dem BetrofDatum und Uhrzeit. fenen oder Dritten vom Auskunftsgeber nicht mitgeteilt werden. (4) Auskünfte nach den Absätzen 1 bis 3 dürfen nur auf Antrag eingeholt werden. (8) Für die Mitteilung an den BetroffeDer Antrag ist durch den Leiter des Lannen findet SS 12 Abs. 1 und 3 des Artikel desamtes für Verfassungsschutz oder sei10-Gesetzes entsprechende Anwendung. nen Vertreter schriftlich zu stellen und zu begründen. Über den Antrag entscheidet (9) Das Innenministerium unterrichtet das Innenministerium. im Abstand von höchstens sechs Monaten das Gremium nach SS 2 Abs. 1 des Aus5) Das Innenministerium unterrichtet führungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz die Kommission nach SS 2 Abs. 2 des Ausüber die Durchführung von Maßnahmen führungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz nach den Absätzen 1 bis 3. Dabei ist insüber die beschiedenen Anträge vor deren besondere ein Überblick über Anlass, Vollzug. Bei Gefahr in Verzug kann das Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der Innenministerium den Vollzug der Entim Berichtszeitraum durchgeführten Maß284 nahmen zu geben. (10) Das Innenministerium unterrichtet (3) Das in einer Wohnung nicht öffentdas Parlamentarische Kontrollgremium lich gesprochene Wort darf mit technides Bundes jährlich über die nach den schen Mitteln nur dann heimlich mitgeAbsätzen 1 bis 3 durchgeführten Maßnahhört oder aufgezeichnet werden, wenn es men. Absatz 9 Satz 2 gilt entsprechend. im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenSS 6 wärtigen Lebensgefahr für einzelne PersoErhebung personenbezogener Daten mit nen unerlässlich ist und geeignete polizeinachrichtendienstlichen Mitteln liche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. (1) Das Landesamt für VerfassungsSatz 1 gilt entsprechend für den verdeckschutz kann Methoden, Gegenstände und ten Einsatz technischer Mittel zur AnfertiInstrumente zur heimlichen Informationsgung von Bildaufnahmen und Bildaufbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen ensleuten und Gewährspersonen, Obsernach Satz 1 und 2 bedürfen der Anordvationen, Bildund Tonaufzeichnungen, nung durch das Amtsgericht, in dessen Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenBezirk sie durchgeführt werden sollen. den (nachrichtendienstliche Mittel). SS 31 Abs. 5 Satz 2 bis 4 des PolizeigesetDiese sind in einer Dienstvorschrift zu zes sind entsprechend anzuwenden. Bei benennen, die auch die Zuständigkeit für Gefahr im Verzug können die Maßnahdie Anordnung solcher Informationsbemen nach Satz 1 und 2 vom Leiter des schaffung regelt. Die Dienstvorschrift beLandesamtes für Verfassungsschutz angedarf der Zustimmung des Innenministeriordnet werden; diese Anordnung bedarf ums, das den Ständigen Ausschuss des der Bestätigung durch das Amtsgericht. Landtags unterrichtet. Sie ist unverzüglich herbeizuführen. Einer Anordnung durch das Amtsgericht bedarf (2) Das Landesamt für Verfassungses nicht, wenn technische Mittel ausschutz kann personenbezogene Daten schließlich zum Schutz der bei einem Einund sonstige Informationen mit nachrichsatz in Wohnungen tätigen Personen vortendienstlichen Mitteln erheben, wenn gesehen sind; die Maßnahme ist in diesem tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanFall durch den Leiter des Landesamtes für den sind, dass Verfassungsschutz anzuordnen. Eine 1. auf diese Weise Erkenntnisse über anderweitige Verwertung der hierbei Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 erlangten Erkenntnisse zum Zweck der Abs. 2 oder die zur Erforschung solcher Gefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn Erkenntnisse erforderlichen Quellen gezuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme wonnen werden können oder durch das Amtsgericht festgestellt worden 2. dies zur Abschirmung der Mitarbeiist; bei Gefahr im Verzug ist die richterliter, Einrichtungen, Gegenstände und che Entscheidung unverzüglich nachzuQuellen des Landesamtes für Verfassungsholen. Die Landesregierung unterrichtet schutz gegen sicherheitsgefährdende oder den Landtag jährlich über den nach diegeheimdienstliche Tätigkeiten erfordersem Absatz erfolgten Einsatz technischer lich ist. 285 Mittel. Die parlamentarische Kontrolle nen durch Auskunft nach SS 9 Abs. 3 gewird auf der Grundlage dieses Berichtes wonnen werden können. Die Anwendung durch das Gremium nach Artikel 10 des des nachrichtendienstlichen Mittels darf Grundgesetzes ausgeübt. nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachver(4) Das Landesamt für Verfassungshalts stehen. Die Maßnahme ist unverzügschutz darf zur Erfüllung seiner Aufgaben lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, sofern die ist oder sich Anhaltspunkte dafür ergedort genannten Bestrebungen durch Anben, dass er nicht oder nicht auf diese wendung von Gewalt oder darauf ausgeWeise erreicht werden kann. richtete Vorbereitungshandlungen verfolgt werden, sowie zur Erfüllung seiner (6) Bei Erhebungen nach den Absätzen Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 3 und 4 und solchen nach Absatz 2, die in 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. ihrer Art und Schwere einer Beschrän- 1 des Artikel 10-Gesetzes auch technische kung des Brief-, Postund FernmeldegeMittel zur Ermittlung des Standortes heimnisses (Artikel 10 des Grundgeseteines aktiv geschalteten Mobilfunkgerätes zes) gleichkommen, ist der Eingriff nach und zur Ermittlung der Geräteund Karseiner Beendigung der betroffenen Person tennummern einsetzen. Die Maßnahme mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des ist nur zulässig, wenn ohne die Ermittlung Zweckes der Maßnahme ausgeschlossen die Erreichung des Zwecks der Überwerden kann. SS 12 des Artikel 10-Gesetzes wachungsmaßnahme aussichtslos oder gilt entsprechend. Die durch solche Maßwesentlich erschwert wäre. Für die Verargabe erhobenen Informationen dürfen beitung der Daten gilt SS 4 des Artikel 10nur nach Maßgabe von SS 4 des Artikel 10Gesetzes entsprechend. PersonenbezogeGesetzes verwendet werden. SS 2 Abs. 1 ne Daten eines Dritten dürfen anlässlich des Ausführungsgesetzes zum Artikel 10solcher Maßnahmen nur erhoben werden, Gesetz findet entsprechende Anwendung. wenn dies aus technischen Gründen zur Erreichung des Zwecks nach Satz 1 unver(7) Die Befugnisse des Landesamtes für meidbar ist. Sie unterliegen einem absoluVerfassungsschutz nach dem Artikel 10 ten Verwertungsverbot und sind nach Gesetz bleiben unberührt. Beendigung der Maßnahme unverzüglich zu löschen. SS 5a Abs. 4 bis 9 gilt entspreSS 7 chend. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten (5) Die Erhebung nach den Vorschriften der Absätze 2 bis 4 ist unzulässig, (1) Das Landesamt für Verfassungswenn die Erforschung des Sachverhalts schutz kann zur Erfüllung seiner Aufgaauf andere, den Betroffenen weniger ben personenbezogene Daten speichern, beeinträchtigende Weise möglich ist; eine verändern und nutzen, wenn geringere Beeinträchtigung ist in der 1. tatsächliche Anhaltspunkte für BeRegel anzunehmen, wenn die Informatiostrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 2 vorliegen, 286 2. dies für die Erforschung und Bewerstehende Maßnahmen gegenüber Betung von Bestrebungen oder Tätigkeiten diensteten genutzt werden. nach SS 3 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt für VerfassungsSS 8 schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener (2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 3 Daten von Minderjährigen Abs. 3 dürfen vorbehaltlich des Satzes 2 in automatisierten Dateien nur Daten über (1) Das Landesamt für Verfassungsdie Personen gespeichert werden, die der schutz darf unter den Voraussetzungen Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder des SS 7 personenbezogene Daten über in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen Minderjährige, die das 14. Lebensjahr werden. Zur Erledigung von Aufgaben noch nicht vollendet haben, in zu ihrer nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 dürfen in Person geführten Akten nur speichern, automatisierten Dateien nur Daten solverändern und nutzen, wenn tatsächliche cher Personen erfasst werden, über die Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der bereits Erkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 vorMinderjährige eine der in SS 3 Abs. 1 des liegen. Bei der Speicherung in Dateien Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten muss erkennbar sein, welcher der in SS 3 plant, begeht oder begangen hat. In Abs. 2 und 3 genannten Personengruppen Dateien ist eine Speicherung von Daten der Betroffene zuzuordnen ist. Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht zuläs(3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und sig. Absatz 2 gespeicherten personenbezogenen Daten dürfen nur für die dort ge(2) Sind Daten über Minderjährige in nannten Zwecke sowie für Zwecke verDateien oder in Akten, die zu ihrer Perwendet werden, die für die Wahrnehson geführt werden, gespeichert, ist nach mung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 erforzwei Jahren die Erforderlichkeit der Speiderlich sind. cherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren die Löschung vorzuneh(4) Das Landesamt für Verfassungsmen, es sei denn, dass nach Eintritt der schutz hat die Speicherungsdauer auf das Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach für seine Aufgabenerfüllung erforderliche SS 3 Abs. 2 angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, Maß zu beschränken. wenn das Landesamt für Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. (5) Personenbezogene Daten, die ausschließlich zu Zwecken der DatenschutzSS 9 kontrolle, der Datensicherung oder zur Übermittlung personenbezogener Daten Sicherstellung eines ordnungsgemäßen an das Landesamt für Verfassungsschutz Betriebs einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese (1) Die Behörden des Landes und die lanZwecke und hiermit in Zusammenhang desunmittelbaren juristischen Personen 287 des öffentlichen Rechts sowie die Gerichbegründen, soweit dies dem Schutz des te des Landes, die Staatsanwaltschaften Betroffenen dient oder eine Begründung und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftden Zweck der Maßnahme gefährden lichen Sachleitungsbefugnis, die Polizeiwürde. Die Ersuchen sind aktenkundig zu dienststellen übermitteln von sich aus machen. dem Landesamt für Verfassungsschutz die ihnen bekannt gewordenen personenbe(4) Das Landesamt für Verfassungsschutz zogenen Daten und sonstigen Informatiodarf Akten anderer öffentlicher Stellen nen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte und amtliche Register unter den Vorausdafür bestehen, dass diese Informationen setzungen des Absatzes 3 und vorbehaltzur Wahrnehmung von Aufgaben nach SS 3 lich der in SS 11 getroffenen Regelung einAbs. 2 erforderlich sind. sehen, soweit dies 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 3 (2) Soweit nicht schon bundesrechtlich Abs. 2 oder 3 oder geregelt, können die zuständigen Stellen 2. zum Schutz der Mitarbeiter und in den Fällen des SS 3 Abs. 3 das LandesQuellen des Landesamtes für Verfassungsamt für Verfassungsschutz um Auskunft schutz gegen Gefahren für Leib und ersuchen, ob Erkenntnisse über den BeLeben troffenen oder über eine Person, die in erforderlich ist und die sonstige Überdie Überprüfung mit einbezogen werden mittlung von Informationen aus den darf, vorliegen. Dabei dürfen die erforderAkten oder den Registern den Zweck der lichen personenbezogenen Daten und Maßnahmen gefährden oder das Persönsonstigen Informationen an das Landeslichkeitsrecht des Betroffenen unverhältamt für Verfassungsschutz übermittelt nismäßig beeinträchtigen würde. Dazu werden. Im Falle einer Überprüfung nach gehören auch personenbezogene Daten SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 ist das Ersuchen und sonstige Informationen aus Strafverüber das Innenministerium zu leiten. fahren wegen einer Steuerstraftat. Das Landesamt für Verfassungsschutz braucht (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Ersuchen nicht zu begründen, soweit dies kann vorbehaltlich der in SS 11 getroffenen dem Schutz des Betroffenen dient oder Regelung von jeder öffentlichen Stelle eine Begründung den Zweck der Maßnach Absatz 1 verlangen, dass sie ihm die nahme gefährden würde. Über die Einzur Erfüllung seiner Aufgaben erfordersichtnahme nach Satz 1 hat das Landeslichen personenbezogenen Daten und amt für Verfassungsschutz einen Nachsonstigen Informationen übermittelt, weis zu führen, aus dem der Zweck und wenn die Daten und Informationen nicht die Veranlassung, die ersuchte Behörde aus allgemein zugänglichen Quellen oder und die Aktenfundstelle hervorgehen. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand Die Nachweise sind gesondert aufzubeoder nur durch eine den Betroffenen stärwahren, gegen unberechtigten Zugriff zu ker belastende Maßnahme erhoben wersichern und am Ende des Kalenderjahres, den können. Das Landesamt für Verfasdas dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu versungsschutz braucht Ersuchen nicht zu nichten. 288 (5) Die Übermittlung personenbezogener ist oder der Empfänger die Daten zum Daten und sonstiger Informationen, die Schutz der freiheitlichen demokratischen aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a Grundordnung oder sonst für Zwecke der Strafprozessordnung bekanntgeworder öffentlichen Sicherheit einschließlich den sind, ist nach den Vorschriften der der Strafverfolgung benötigt. Der EmpAbsätze 1 und 3 nur zulässig, wenn tatfänger darf die übermittelten Daten, sächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, soweit gesetzlich nichts anderes bedass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 des stimmt ist, nur zu dem Zweck verwenArtikel 10-Gesetzes genannten Straftaten den, zu dem sie ihm übermittelt wurden. plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt für Verfassungsschutz (2) Das Landesamt für Verfassungsschutz nach Satz 1 übermittelten Unterlagen übermittelt den Staatsanwaltschaften findet SS 4 des Artikel 10 Gesetzes entund, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftsprechende Anwendung. lichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeidienststellen des Landes von sich aus die (6) Das Landesamt für Verfassungsschutz ihm bekannt gewordenen personenbezoprüft unverzüglich, ob die ihm übergenen Daten, wenn tatsächliche Anhaltsmittelten personenbezogenen Daten für punkte dafür bestehen, dass die Überdie Erfüllung seiner Aufgaben erfordermittlung zur Verhinderung oder Verfollich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie gung von Straftaten erforderlich ist, die nicht erforderlich sind, hat es die Unterin SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder lagen zu vernichten oder, sofern diese in den SSSS 74a oder 120 des Gerichtsverelektronisch gespeichert sind, zu löschen. fassungsgesetzes genannt sind oder bei Die Vernichtung oder Löschung kann denen aufgrund ihrer Zielsetzung, des unterbleiben, wenn die Trennung von Motivs des Täters oder dessen Verbinanderen Informationen, die zur Erfüllung dung zu einer Organisation tatsächliche der Aufgaben erforderlich sind, nicht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie oder nur mit unvertretbarem Aufwand gegen die in Artikel 73 Nr. 10 Buchst. b möglich ist; in diesem Fall sind die Daten oder c des Grundgesetzes genannten zu sperren. Schutzgüter gerichtet sind. SS 10 (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Übermittlung personenbezogener kann personenbezogene Daten an Daten durch das Dienststellen der StationierungsstreitLandesamt für Verfassungsschutz kräfte im Rahmen von Artikel 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz zwischen den Parteien des Nordatlantikkann personenbezogene Daten an Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Behörden und juristische Personen des Truppen hinsichtlich der in der Bundesöffentlichen Rechts sowie an die Gerichrepublik Deutschland stationierten auste des Landes übermitteln, wenn dies zur ländischen Streitkräfte vom 3. August Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) übermitteln. 289 Die Übermittlung ist aktenkundig zu Landesamt für Verfassungsschutz hat die machen. Der Empfänger ist darauf hinzuÜbermittlung aktenkundig zu machen. weisen, dass die übermittelten Daten nur Für Übermittlungen nach Satz 2 gilt SS 9 zu dem Zweck verwendet werden dürfen, Abs. 4 Sätze 4 und 5 entsprechend. Der zu dem sie ihm übermittelt wurden und Empfänger darf die übermittelten Daten das Landesamt für Verfassungsschutz sich nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie vorbehält, um Auskunft über die vorgeihm übermittelt wurden. Der Empfänger nommene Verwendung der Daten zu bitist auf die Verwendungsbeschränkung ten. und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt für Verfassungsschutz sich vorbehält, (4) Die Übermittlung personenbezogener um Auskunft über die vorgenommene Daten an andere als öffentliche Stellen ist Verwendung der Daten zu bitten. Die nur zulässig, soweit dies zum Zwecke Übermittlung der personenbezogenen einer erforderlichen und zulässigen Daten ist dem Betroffenen durch das Datenerhebung durch das Landesamt für Landesamt für Verfassungsschutz mitzuVerfassungsschutz unabdingbar ist und teilen, sobald eine Gefährdung seiner dadurch keine überwiegenden schutzwürAufgabenerfüllung durch die Mitteilung digen Interessen der Person, deren Daten nicht mehr zu besorgen ist. Einer Mitteiübermittelt werden, beeinträchtigt werlung bedarf es nicht, wenn das Innenmiden. Personenbezogene Daten dürfen nisterium feststellt, dass diese Voraussetdarüber hinaus an andere als öffentliche zung auch fünf Jahre nach der erfolgten Stellen nur übermittelt werden, wenn Übermittlung noch nicht eingetreten ist dies zur Abwehr von Gefahren für die in und mit an Sicherheit grenzender WahrSS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 genannten scheinlichkeit auch in absehbarer Zukunft Schutzgüter oder zur Gewährleistung der nicht eintreten wird. Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen oder besonders gefahrenträchti(5) Das Landesamt für Verfassungsschutz gen Einrichtungen im Sinne des SS 1 Abs. kann personenbezogene Daten an öffent- 3 des Landessicherheitsüberprüfungsgeliche Stellen außerhalb des Geltungsbesetzes erforderlich ist. Die Übermittlung reichs des Grundgesetzes sowie an überpersonenbezogener Daten an eine sonstiund zwischenstaatliche Stellen übermitge Einrichtung oder Unternehmung, insteln, wenn die Übermittlung zur Erfülbesondere der Wissenschaft und Forlung seiner Aufgaben oder zur Wahrung schung, des Sicherheitsgewerbes oder der erheblicher Sicherheitsinteressen des Kreditund Finanzwirtschaft, ist nur Empfängers erforderlich ist. Die Überzulässig, wenn dies zur Abwehr schwermittlung unterbleibt, wenn auswärtige wiegender Gefahren für die Einrichtung Belange der Bundesrepublik Deutschoder Unternehmung erforderlich ist. Die land, Belange der Länder oder überwieÜbermittlung nach den Sätzen 2 und 3 gende schutzwürdige Interessen des Bebedarf der vorherigen Zustimmung durch troffenen entgegenstehen. Die Übermittden Innenminister oder im Verhindelung ist aktenkundig zu machen. Der rungsfall durch seinen Vertreter. Das Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass 290 die übermittelten Daten nur zu dem (2) Informationen über Minderjährige Zweck verwendet werden dürfen, zu vor Vollendung des 14. Lebensjahres dürdem sie ihm übermittelt wurden und das fen nach den Vorschriften dieses GesetLandesamt für Verfassungsschutz sich zes nicht an ausländische oder überoder vorbehält, um Auskunft über die vorgezwischenstaatliche Stellen übermittelt nommene Verwendung der Daten zu bitwerden. ten. SS 12 (6) Erweisen sich personenbezogene Unterrichtung der Öffentlichkeit Daten, nachdem sie durch das Landesamt für Verfassungsschutz übermittelt Das Innenministerium und das Landesworden sind, als unvollständig oder unamt für Verfassungsschutz unterrichten richtig, sind sie unverzüglich gegenüber die Öffentlichkeit periodisch oder aus dem Empfänger zu berichtigen oder zu gegebenem Anlass im Einzelfall über Beergänzen, es sei denn, dass dies für die strebungen und Tätigkeiten nach SS 3 Beurteilung eines Sachverhaltes ohne Abs. 2. Dabei dürfen auch personenbeBedeutung ist. zogene Daten bekanntgegeben werden, wenn die Bekanntgabe für das VerständSS 11 nis des Zusammenhangs oder der DarÜbermittlungsverbote stellung von Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen erforderlich (1) Die Übermittlung von Informationen ist und die Informationsinteressen der nach den SSSS 5, 9 und 10 unterbleibt, Allgemeinheit das schutzwürdige Interwenn esse des Betroffenen überwiegen. 1. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung SS 13 der Art der Informationen und ihrer Auskunft an den Betroffenen Erhebung die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen das Allgemeininteresse (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz an der Übermittlung überwiegen, erteilt dem Betroffenen über zu seiner 2. überwiegende SicherheitsinteresPerson gespeicherte Daten auf Antrag sen oder überwiegende Belange der unentgeltlich Auskunft, soweit er hierzu Strafverfolgung dies erfordern oder auf einen konkreten Sachverhalt hinweist 3. besondere gesetzliche Übermittund ein besonderes Interesse an einer lungsregelungen entgegenstehen; die Auskunft darlegt. Es ist nicht verpflichVerpflichtung zur Wahrung gesetzlicher tet, über die Herkunft der Daten, die Geheimhaltungspflichten oder von Empfänger von Übermittlungen und den Berufsoder besonderen AmtsgeheimZweck der Speicherung Auskunft zu nissen, die nicht auf gesetzlichen Vorerteilen. schriften beruhen, bleibt unberührt. 291 (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, cherten personenbezogenen Daten zu soweit berichtigen, wenn sie unrichtig sind; in 1. eine Gefährdung der AufgabenerfülAkten ist dies zu vermerken. Wird die lung durch die Auskunftserteilung zu Richtigkeit der Daten von dem Betroffebesorgen ist, nen bestritten, so ist dies in der Akte zu 2. durch die Auskunftserteilung Quelvermerken oder auf sonstige Weise festzulen gefährdet sein können oder die Aushalten. forschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfas(2) Das Landesamt für Verfassungsschutz sungsschutz zu befürchten ist, hat die in Dateien gespeicherten perso3. die Auskunft die öffentliche Sichernenbezogenen Daten zu löschen, wenn heit gefährden oder sonst dem Wohl des ihre Speicherung unzulässig war oder Bundes oder eines Landes Nachteile ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung bereiten würde oder nicht mehr erforderlich ist. Die Löschung 4. die Daten oder die Tatsache der unterbleibt, wenn Grund zu der AnnahSpeicherung nach einer Rechtsvorschrift me besteht, dass durch sie schutzwürdige oder ihrem Wesen nach, insbesondere Belange des Betroffenen beeinträchtigt wegen der überwiegenden berechtigten würden. In diesem Fall sind die Daten Interessen eines Dritten, geheimgehalten zu sperren. Sie dürfen nur noch mit Einwerden müssen. willigung des Betroffenen übermittelt Die Entscheidung trifft der Behördenleiwerden. ter oder ein von ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz prüft bei der Einzelfallbearbeitung und (3) Die Ablehnung der Auskunftserteinach festgesetzten Fristen, spätestens lung bedarf keiner Begründung, soweit nach fünf Jahren, ob in Dateien gespeidadurch der Zweck der Auskunftsverweicherte personenbezogene Daten zu gerung gefährdet würde. Die Gründe der berichtigen oder zu löschen sind. GespeiAuskunftsverweigerung sind aktenkundig cherte personenbezogene Daten über zu machen. Wird die Auskunftserteilung Bestrebungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. abgelehnt, ist der Betroffene auf die 1, die ihre Ziele durch Gewalt oder darauf Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begerichtete Vorbereitungshandlungen vergründung und darauf hinzuweisen, dass er folgen, sowie über Bestrebungen nach SS 3 sich an den Landesbeauftragten für den Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 oder 4 sind spätestens Datenschutz wenden kann. nach fünfzehn Jahren, im Übrigen spätestens nach zehn Jahren zu löschen, es sei SS 14 denn, der Behördenleiter oder sein VerBerichtigung, Löschung und Sperrung treter stellt im Einzelfall fest, dass die weipersonenbezogener Daten tere Speicherung zur Aufgabenerfüllung oder aus den in Absatz 2 Satz 2 genannten (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz Gründen erforderlich ist. SS 8 Abs. 2 bleibt hat die in Akten oder Dateien gespeiunberührt. Der Lauf der Frist nach Satz 1 292 oder 2 beginnt mit der letzten gespeicher(3) Die Mitglieder des Ständigen Austen relevanten Information. schusses sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen (4) Das Landesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der Berichterstathat die in Akten gespeicherten personentung über die Tätigkeit des Verfassungsbezogenen Daten zu sperren, wenn es im schutzes im Ständigen Ausschuss beEinzelfall feststellt, dass die Speicherung kanntgeworden sind. Dies gilt auch für unzulässig war. Dasselbe gilt, wenn es im die Zeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Einzelfall feststellt, dass ohne die SperStändigen Ausschuss oder aus dem Landrung schutzwürdige Interessen des Betroftag. fenen beeinträchtigt würden und die Daten für seine künftige Aufgabenerfüllung (4) Die Unterrichtung umfasst nicht voraussichtlich nicht mehr erforderlich Angelegenheiten, über die das Innenmisind. Gesperrte Daten sind mit einem nisterium das Gremium nach dem Artikel entsprechenden Vermerk zu versehen; sie 10-Gesetz zu unterrichten hat. dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. Die Sperrung kann wieSS 16 der aufgehoben werden, wenn ihre VorEinschränkung von Grundrechten aussetzungen nachträglich entfallen sind. Akten, in denen personenbezogene Aufgrund dieses Gesetzes können das Daten gespeichert sind, sind zu vernichGrundrecht des Brief-, Postund Fernten, wenn die gesamte Akte zur Aufmeldegeheimnisses (Artikel 10 des gabenerfüllung nicht mehr benötigt wird. Grundgesetzes) und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel SS 15 13 des Grundgesetzes) eingeschränkt werParlamentarische Kontrolle den. (1) Das Innenministerium unterrichtet SS 17 den Ständigen Ausschuss des Landtags Erlass von Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes halbjährlich sowie auf Verlangen des Das Innenministerium kann zur AusfühAusschusses und aus besonderem Anlass. rung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. (2) Art und Umfang der Unterrichtung des Ständigen Ausschusses werden unter SS 18 Beachtung des notwendigen Schutzes des Inkrafttreten Nachrichtenzuganges durch die politische Verantwortung der Landesregierung beDieses Gesetz tritt am Tag nach seiner stimmt. Verkündung in Kraft. 293 Gruppen-, Organisationsund Sachregister Bezeichnung Seite/n Act of Violence 134 Aktionsbündnis Südbaden (AG Südbaden) 153 Aktionsbüro Rhein-Neckar 144 Aktionsgruppe Rheinland 154 Aktionsgruppe Sankt Leon (AG Sankt Leon) 156 Aktionsgruppe Württemberg 153 Al-Djamaa al-Islamiya (Islamische Gruppe) 32ff. Al-Djihad al-Islami (Islamischer Djihad) 32ff. Al-Aqsa TV 55 Al-Aqusa e.V. 54 Al-Fajir 37 Al-Furqan 37 Al-Jama'a al-Islamiya (Islamische Gemeinschaft) 32ff. Al-Jihad al-Islami (Islamischer Jihad) 32ff. Al-Manar (Leuchtturm) 64ff. Al-Muqawama al-Islamiya 60f. Al-Qaida 19, 30, 33f., 36, 38f., 45 Al-Qassam-Brigaden 56 Al-Quds-Tag 62f. Albanische Nationalarmee (AKSH) 115 Anadolu Genclik Dernegi (AGD, Verband der Anatolischen Jugend) 70 An-Nahda (Bewegung der Erneuerung) 57 Ansar al-Islam 19 Antiamerikanismus 128, 155 Antifa Gruppe 76 Murgtal 235 antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur 216 AntiFa Nachrichten 216 Antifaschismus 199, 202, 213, 234ff. Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) 203 Antifaschistisches Aktionsbündnis Karlsruhe (AAKA) 237 Antikapitalistische Linke (AKL) 207 Antisemitismus 128 Antimilitarismus 227ff. Applied Scholastics (ApS) 243 Antirepression 231ff. Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) As-Sahab-Media 38 294 Auditor 240 Aufbruch 134 Autonome 201, 203, 205, 230, 237 Autonome Nationalisten 124, 132, 145, 152, 153ff., 156, 162 Autonome Antifa Freiburg 204 Autoritarismus 129 Babbar Khalsa Germany (B.K.G.) 118 Babbar Khalsa International (BK) 116ff. Befreiungsarmee von Kosovo (UCK) 115 Befreiungseinheiten Kurdistans (HRK) 88 Bewaffnete Einheiten der Armen und Unterdrückten (FESK) 111 Bewegung des Islamischen Widerstands siehe HAMAS Blue Max 134 break-out. Monatsschrift der AIHD 203 Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) 164 Carpe Diem 134 Clara 206 Class V Org 243 Church of Scientology International (CSI) 240, 256 Das Freie Forum 179 Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 84f. Deutsche Geschichte - Europa und die Welt (DG) 181f. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 199ff., 207, 214ff., 217f., 220, 228, 230 Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 164 Deutsche Stimme (DS) 137, 157f., 164, 167, 169 Deutsche Volksunion (DVU) 124, 126f., 160f., 165, 172ff. Deutschland in Geschichte und Gegenwart (DGG) 176ff. Deutschland-Pakt 165f., 173, 175 Devrimci Sol 102f. Dianetik 249 Dianetik-Post 240 DIE LINKE. 199, 200f., 206ff., 209f., 213, 215, 217f., 220, 222, 226ff., 230 Die Muslimbruderschaft (MB) 32, 42ff., 47f. Die Republikaner (REP) 125 Disput 206 Dissent 226 Dissent! Frankreich 229 Druffel & Vowinckel-Verlag 181 295 Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten 178 Europäische Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft (EMUG) 48, 67f. European Council for Fatwa and Research (ECFR) 48, 51, 74 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Förderaler Sicherheitsdienst) 264 Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) 47, 68 Feldauditorengruppen 243, 249 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) 109 Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V. (AGIF) 112 Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) 73, 99ff. Föderation für demokratische Rechte in Deutschland (ADHF) 109 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) 96 Foundation for a Drug-free-World 247 Forum of European Muslim Youth and Student Organisations (FEMYSO) 68 Free Mind 240 Freiheit 240, 252f., 254 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) "Freundeskreis ,Ein Herz für Deutschland' Pforzheim e.V." (FHD) 151 Front für die Albanische Nationale Vereinigung (FBKSH) 113, 115 Fünf Gifte 263 Funkenflug 188 Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog (GD/SD) 207f. Geheimschutz 13, 266 Gesellschaft für Freie Publizistik (GfP) 164, 179, 182 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) 265 Global Islamic Media Front (GIMF) 39 GRABERT-Verlag 176ff. Graue Wölfe 73, 100 Geschichtsrevisionismus 129, 179ff. Harakat Al-Muqawama Al-Islamiya siehe HAMAS HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 54ff. Heimattreue Deutsche Jugend e.V. (HDJ) 182, 188ff. hier & jetzt 182 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 150f. Hizb Allah (Partei Gottes) 60ff. Hizb ut-Tahrir (HuT) 57ff. 296 Hohenrain-Verlag 176 Hubbard College of Administration International (HCAI) 259 Ideale Org 241, 244 Impact 240, 247f., 251f. Infoladen Karlsruhe 229 Institut Europeen des Sciences Humaines (I.E.S.H.) 48 International Scientology News 242, 244, 250 International Sikh Youth Federation (ISYF) 116ff. Islamische Bewaffnete Gruppe siehe Groupe Islamique Arme (GIA) Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 47ff. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) 48, 57, 67ff. Islamische Heilsfront siehe Front Islamique du Salut (FIS) Islamische Kulturgemeinschaft Stuttgart e.V. 67 Islamisches Zentrum Aachen - Bilal Moschee e.V. 51 Islamisches Zentrum Stuttgart (IZS) 47, 52 Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 68 Jagdstaffel 134, 138, 141, 142 Jihad 19, 25, 43 Jihadismus 18, 24ff. Jugend für Menschenrechte 243, 247 Junge Nationaldemokraten (JN) 124, 132, 147, 149, 151, 160, 170, 182ff., 191f. junge Welt 210, 226, 231 Kalifatsstaat siehe Der Kalifatsstaat Kamagata Maru Dal International (KMDI) 117 Kameradschaft Karlsruhe 144 Kameradschaft Rastatt 144 K-Gruppen 211 Khalistan 117 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) 243, 249, 254 Koma Civaken Kurdistan (KCK) 93, 96f. Koma Komalen Kurdistan (KKK) 93 Kommando Skin 134 Kommunistische Jugendorganisation (KGÖ) 111f. Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands (KABD) 221 Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 95, 107ff., 113 Kommunistische Partei-Aufbauorganisation (KP-IÖ) 111 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 200, 214, 224 Kommunistische Plattform (KPF) 206, 213 297 Kommunistischer Bund Westdeutschland 211 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) 96, 109 Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa (AvEG-KON) 96, 112 Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) 96, 109 Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa (CDK) 89 Konvertiten 25 Kurzschluss 134 Landesinfo Baden-Württemberg 206, 212 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) 280ff. Lernen und Kämpfen (LuK) 221, 223 Legalresidentur 265 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 118ff. Linksjugend ['solid] 208, 212f., 226f., 230 Linkspartei.PDS siehe DIE LINKE. Linksruck 210, 212, 226f. Maoistische Kommunistische Partei (MKP) 108ff. marx21 - Netzwerk für internationalen Sozialismus (ehemals "Linksruck") 210, 212, 226f. Marxistisches Forum (MF) 207 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 110ff. Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 199, 201, 221ff., 230 militante Gruppe (mg) 230f., 233 Milli Gazete 67, 71ff. Milli Görüs 69, 75 Modjahedin-e Khalq Organisation Mouvement de la Tendance Islamique (Bewegung der islamischen Ausrichtung) 57 Mujamma al-Islami (Islamisches Zentrum) 54 Mujahedin-e Khalq Organisation (MEK oder MKO) 121f. Muslim Iranian Student's Society (Islamisch-Iranischer Studentenverband) 121 Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) 51 Muslimische Studentenvereinigung (MSV) 49, 53 NATO-Gipfel 198, 218, 227ff. Narconon 247 National Liberation Army of Iran (NLA) 121ff. Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue (B.K.D.SH.) 113, 116 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 124, 126f., 137, 143f., 147, 148, 150f., 153, 157ff., 179, 182f., 196f. Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 88f. 298 Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) 121f. Nation & Europa - Deutsche Monatshefte 164 National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 172, 174 Neonazis 130, 136, 140, 143ff., 162, 185 Noie Werte 134 Office of Special Affairs (OSA) 253ff. Organisation der Volksmodjahedin Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) siehe Maoistische Kommunistische Partei (MKP) Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 100f. People's Mojahidin of Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin Professionelles Lerncenter 243 Proliferation 261, 266, 269f., 276 Rebell 221 Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) 76 Religious Technology Center (RTC) 240f., 256 Revisionismus 129 Revolutionäre Aktion Stuttgart (RAS) 229 Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) 103 Revolutionäre Volksbefreiungspartei (DHKP) 103 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 102ff., 110 Revolutionär-Sozialistischer Bund/ IV. Internationale (RSB/IV. Internationale) 227f. Ring Nationaler Frauen (RNF) 171 Roj-TV 90, 93, 96f., 99 Rote Armee Fraktion (RAF) 233 Rote Fahne (RF) 212 Rote Hilfe e.V. (RH) 208, 224ff. Rote Fahne News 222 Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 148 Saadet-Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 69, 76 Sag NEIN zu Drogen sag JA zum Leben 247 Salafismus 19ff. Schulhof-CDs 133 Schwarzer Block 154 Scientology-Organisation (SO) 240ff. Sea Organization (Sea Org) 241 Sicherheitsforum Baden-Württemberg 262, 277f. 299 Sikh Federation Germany (S.F.G) 118 Skinheads 126, 130ff., 144, 161, 194 Slushba Wneschnej Raswedkij (SWR) 265 [solid] siehe Linksjugend [solid] Sozialistische Alternative (SAV) 226 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Sozialistische Linke (SL) 207f., 226f. "Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband" (DIE LINKE.SDS) 199, 212 Spionage/Spionageabwehr 270, 272, 275, 277f. Tabligh-i Jama'at (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) 40ff. Taliban 34 Tamil Coordinating Committee (TCC) 120 Tamil Eelam 119 Therik-i-Taliban 35 Trojaner 270, 272f. Trotzkisten 210, 211f., 226 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) 107f. Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung (TKIH) 110 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML-Hareketi) 110 Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke (THKP-C) 102f. TV 5 70 Unsere Zeit (UZ) 214f. Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) siehe Der Kalifatsstaat Verband der stolzen Frauen (KJB) 95 Verein für Dialog und Völkerverständigung 47 Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans (Komalen Ciwan) 89, 91 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. (VVN-BdA) 201, 216ff., 228, 230, 237 Verlagsgesellschaft Berg mbH 182 Versammlungsgesetz, neues 198, 204, 213, 231, 233 Volk in Bewegung (ViB) 125, 162 Volksbefreiungsarmee (HKO) 108 Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) 88f. Volksbewegung von Kosovo (LPK) 113, 115 Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 87ff. Volksmodjahedin 121ff. Volksverteidigungskräfte (HPG) 89, 91, 95, 97 Way to Happiness Foundation 247 300 White Voice 134 Wirtschaftsschutz 276 Wirtschaftsspionage 260f., 270f., 276 WISE Charter Committee (WCC) 243 World Assembly of Muslim Youth (WAMY) 48, 53, 68 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 242, 245, 259 Wortergreifungsstrategie 171f. YJA STAR 95, 108 Zentrale Kontrollkommission 223 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 47 Zentrum für Lebensfragen 243 Zentrum für Wirtschaftsund Sozialforschung (ESAM) 70 301 Personenverzeichnis Name Seite/n Abd ar-Rahman, Umar 33 Akif, Muhammad Mahdi 44ff. Al-Albani, Muhammad Nasiruddin 26 Al-Astal, Yunis 56 Al-Awlaki, Anwar 28, 30 Al-Ayiri, Yusuf 28 Al-Banna, Hassan 42, 47, 49, 57 Al-Bashir, Issam, Dr. 48 Al-Ghannoushi, Rashid 57 Al-Hdhaifi, Ali Abdur-Rahman 21, 24 Al-Maududi, Sayyid Abul Ala 57 An-Nabhani, Taqi ad-Din 57 Al-Omar, Abdul Rahman ben hammad 21 Al-Qaradawi, Yusuf, Dr. 51 Al-Qassam, Izz ad-Din 56 Atak, Hikmet 80 Azzam, Abdallah 28 Az-Zawahiri, Aiman 33, 38 Baur, Walter 176 Bin Ladin, Usama 28, 33, 45 Bisky, Lothar 213 Borgfeldt, Wolfgang (alias Siddiq, Muhammad) 51 Borgwardt, Peter 223 Busse, Friedhelm 163 Ceric, Mustafa, Prof. Dr. 74 Dogruyol, Sentürk 101 El-Zayat, Amena 49 El-Zayat, Ibrahim Faruk 44, 47f., 68 Engel, Stefan 222ff. Erbakan, Necmettin, Prof. Dr. 69ff., 70f., 84 Ersoy, Arif, Prof. Dr. 72f. Farrag, Abd al-Salam 33 Faust, Matthias 173 302 Fink, Heinrich 220 Frey, Gerhard, Dr. 173ff. Gansel, Jürgen W. 167, 169 Gold, Lars 187f. Grabert, Herbert, Dr. 176 Grabert, Wigbert 176f. Günesdogdu, Mustafa Özcan 83 Hager, Nina 215, 220 Heise, Thorsten 161 Heß, Rudolf 145ff., 185 Hubbard, Lafayette Ronald 240ff. Ilgaz, Afet 72 Iliyas, Muhammad 40 Isik, Yusuf, Dr. 70, 72 Islambuli, Khalid 33 Islamoglu, Mustafa 51f., 78 Jelpke, Ulla 219 Kalkan, Duran 96 Kaplan, Cemaleddin 84f. Karadzic, Radovan 114f. Karahan, Yavuz Celik 71, 74, 79 Karatas, Dursun 102ff. Karayilan, Murat 93, 98 Kaya, Adem 68 Kaypakkaya, Ibrahim 108f., 113 Kazan, Sevket 73 Kemna, Erwin 164f. Khomeini, Ayatollah Ruhollah 62 Kizilkaya, Ali 68, 74 Kiziltas, Ekrem 72 Klar, Christian 226 Kosiek, Rolf, Dr. 177f. Kurtulmus, Numan, Prof. Dr. 71 Kutan, Recai 71 Mashal, Khaled 55 Mazyek, Aiman 48 303 Miscavige, David 240, 248, 251 Molau, Andreas 164f., 179, 182 Müller, Ursula 151 Nasrallah, Hassan 61, 63f. Noyan, Münib Engin 78 Öcalan, Abdullah 88ff. Prabhakaran, Vellupillai 120 Qasir, Abdallah 65 Radjavi, Maryam 122 Ramadan, Said, Dr. 43, 48, 50f., 53 Ramadan, Tariq, Dr. 48ff. Richter, Karl 164 Rieger, Jürgen 148, 150, 161 Rose, Olaf, Dr. 150 Roßmüller, Sascha 170 Sander, Ulrich 217 Schäfer, Michael 184 Schützinger, Jürgen 164, 166, 179 Stehr, Heinz 215 Stolz, Sylvia 180 Taraji, Houaida, Dr. 48 Thierry, Andreas 150, 161 Töben Fredrick, Dr. 181 Toptas, Mahmut 77f. Türkes, Alparslan 100 Ücüncü, Oguz 48, 74, 81f. Ustaosmanoglu, Mahmut 76 Voigt, Udo 157f., 160, 163f. Wagenknecht, Sarah 210 Wulff, Thomas 150, 163 Yagan, Bedri 102 Yahya, Harun 53 304 Yassin, Ahmad 54 Yoldas, Mustafa 73 Yumakogullari, Osman 70 Qutb, Sayyid 28, 43, 57 Zaidan, Amir 52f. 305 VERTEILERHINWEIS Diese Informationsschrift wird von der Landesregierung Baden-Württemberg im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentlichkeit herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von deren Kandidaten oder Helfern während eines Wahlkampfs zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist auch die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so verwendet werden, dass dies als Parteinahme der Herausgeberin zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Diese Beschränkungen gelten unabhängig vom Vertriebsweg, also unabhängig davon, auf welchem Wege und in welcher Anzahl diese Informationsschrift dem Empfänger zugegangen ist. Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Informationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.