VERFASSUNGSSC BADEN-WÜRTT CHUTZBERICHT TEMBERG 2007 Herausgeber: Innenministerium Baden-Württemberg Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart Gestaltung und Satz: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85A, 70372 Stuttgart Umschlag: Orel & Unger GmbH, Stuttgart Druck: KONKORDIA GmbH Eisenbahnstraße 31, 77815 Bühl Auflage: 11.000 Zitate: Alle Zitate sind in Kursivschrift gesetzt. Zitate aus Texten in alter Rechtschreibung wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Redaktionsschluss: März 2008 Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers - ISSN 0720-3381 VORWORT Im September 2007 wurden im Sauerland drei islamistische Aktivisten festgenommen, die kurz davor standen, verheerende Terroranschläge zu begehen. Polizei und Verfassungsschutz ist es gelungen, die Anschlagsplanungen aufzudecken und ihre Ausführung, die für viele Menschen den Tod bedeutet hätten, zu verhindern. Dies und die fehlgeschlagenen Sprengstoffanschläge auf zwei Regionalzüge im Sommer 2006 zeigen deutlich, dass der islamistische Terrorismus nach wie vor die größte Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland und in Baden-Württemberg ist. Eine Garantie, dass Deutschland auch in Zukunft vor Terroranschlägen verschont bleiben wird, kann niemand abgeben. Aber die Sicherheitsbehörden haben sich auf diese Bedrohung eingestellt. So hat das Landesamt für Verfassungsschutz ein Internet-Kompetenzzentrum eingerichtet, in dem die Aktivitäten islamistischer Extremisten beobachtet und ausgewertet werden. Gefahren für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung drohen aber nicht nur von islamistischen Terroristen, sondern auch von Extremisten aus dem rechten oder linken Spektrum, von extremistischen Ausländern oder von der "Scientology-Organisation". Die rechtsextremistische Szene ist nach wie vor aktiv. Sie versucht, Zulauf zu gewinnen, indem sie Ängste vor Arbeitslosigkeit oder Überfremdung schürt. Vor allem die NPD konnte damit im Bund Erfolge erzielen und als nun stärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland ihren Einfluss in der rechtsextremistischen Szene ausbauen. Der Beitritt der WASG zur "Linkspartei.PDS" hat an der linksextremistischen Ausrichtung der umbenannten Partei "DIE LINKE." nichts geändert. Sie wird daher weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet. Gruppierungen, die das Ziel haben, die Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzuschaffen, dürfen wir nicht gewähren lassen. Wir können es nicht hinnehmen, dass in unserem Land Parallelgesellschaften mit eigenen Normen entstehen, die mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Eine funktionierende Demokratie braucht daher ein funktionierendes Frühwarnsystem gegenüber solchen Bestrebungen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Frühwarnsystems und hat die Aufgabe, verfassungsfeindliche Bestrebungen jeglicher Art frühzeitig zu erkennen, zu beobachten und zu entlarven. Der Schutz des demokratischen Rechtsstaats ist aber nicht allein Aufgabe staatlicher Behörden. Wir alle stehen in der Pflicht, für unser freiheitliches Gemeinwesen einzustehen und es zu schützen. Ohne Kenntnis der Ziele und Aktivitäten extremistischer Gruppen ist eine Auseinandersetzung mit den Gegnern unserer Demokratie aber nicht möglich. Der vorliegende Verfassungsschutzbericht 2007 mit seinem umfassenden Überblick über extremistische Gruppierungen und über Gefahren, die durch die Spionage ausländischer Nachrichtendienste oder die Aktivitäten der "Scientology-Organisation" drohen, ist eine wertvolle Orientierungshilfe für staatliche Stellen, für die Politik und für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz leisten mit ihrer Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung unserer Demokratie. Mit ihrer engagierten und fundierten Arbeit sind sie Garanten für die effektive Erfüllung der verantwortungsvollen und oft schwierigen Aufgabe des Verfassungsschutzes. Für diesen Einsatz bedanke ich mich ausdrücklich. Heribert Rech MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg INHALTSVERZEICHNIS A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG .................................12 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes ........................................................12 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei ..................................13 3. Methoden des Verfassungsschutzes.......................................................13 4. Kontrolle .........................................................................................................14 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes...................................15 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS ...............................18 1. Überblick.........................................................................................................18 1.1 Aktuelle Situationen, Tendenzen............................................................18 1.2 Das Personenpotenzial im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus.............................19 2. Salafitische Bestrebungen in Deutschland ..........................................21 3. Islamistischer Terrorismus.........................................................................26 3.1 Djihadismus, "al Qaida" .............................................................................26 3.2 "Al-Djama'a al-Islamiya" und "al-Djihad al-Islami" ...........................31 3.3 Die Chronologie der Gewalt....................................................................33 3.4 Islamistische Propaganda im Internet ...................................................35 3.5 Erstellung und Verbreitungswege islamistischer Internetpropaganda ..........................................................37 4. Islamistischer Extremismus .......................................................................39 4.1 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission")................................39 4.2 "Islamisches Informationszentrum Ulm" (IIZ) ..................................42 4.3 "Die Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger ...45 4.3.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)..................47 4.3.2 "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS) .................................54 4.3.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") .......................................56 4.3.4 "Front Islamique du Salut" (FIS), "Groupe Islamique Arme" (GIA) und "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC).....57 4.3.5 "Hizb ut-Tahrir" (HuT)...............................................................................58 4.4 Organisation aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" ("Partei Gottes").................................................................60 4.5 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG)......................63 4.6 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) .........................79 5. Weitere Informationen...............................................................................81 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN .......82 1. Allgemeiner Überblick ...............................................................................82 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL).................................84 3. Türkische Vereinigungen ..........................................................................93 3.1 Extrem nationalistische Organisationen...............................................93 3.1.1 "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF)/ "Türkische Föderation Deutschland" (ATF) .......................................93 3.2 Linksextremisten...........................................................................................96 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol)..............................................................96 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte................................................................................96 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C)..............97 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/ Marxisten-Leninisten" (TKP/ML).........................................................102 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ....104 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner ......................................................................................107 4.1 "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) ..................................................................................................107 4.2 "Volksbewegung von Kosovo" (LPK)..................................................108 4.3 "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) ....109 5. Sikh-Organisationen ..................................................................................109 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE).....................................110 7. Iranische Gruppe: Die "Volksmodjahedin" ......................................114 8. Weitere Informationen ............................................................................115 D. RECHTSEXTREMISMUS ..................................................................................116 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen ..............................................116 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale...............117 1.2 Strafund Gewalttaten..............................................................................118 1.3 Ideologie.........................................................................................................119 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus.....................................................120 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt..............................................120 2.2 Tendenzen in der rechtsextremistische Skinhead(musik)szene.....................................122 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit............................127 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? .127 2.3.2 Sind rechtsextremistische Skinheads Neonazis?..............................130 2.3.3 Rechtsextremistischen Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt........131 3. Neonazismus................................................................................................134 3.1 Allgemeines ..................................................................................................134 3.2 Bundesweite Aktivitäten .........................................................................136 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene .....................................................136 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ..................................................140 3.3 Abnehmende Demonstrationstätigkeit der Neonaziszene ..........141 3.4 "Autonome Nationalisten" - Eine militante Randerscheinung mit Zulauf ....................................147 4. Rechtsextremistische Parteien...............................................................152 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) .................152 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) .............................................................166 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten ........................................169 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag"...169 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e. V." (GfP)..................................172 6. Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus ..............................................................173 7. Aktionsfeld Geschichtsrevisionismus: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus .......................175 8. Das rechtsextremistisches Aktionsfeld "Wortergreifungsstrategie" ......................................................................179 8.1 Die rechtsextremistische "Wortergreifungsstrategie" als Versuch, der gesellschaftlichen Isolation zu entkommen......180 8.2 "Wortergreifung" zur Beschädigung des politischen Gegners.....182 9. Weitere Informationen ............................................................................184 E. LINKSEXTREMISMUS ......................................................................................186 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................186 2. Übersicht in Zahlen ..................................................................................188 2.1 Personenpotenzial ......................................................................................188 2.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................189 3. Gewaltbereiter Linksextremismus........................................................190 4. Parteien und Organisationen .................................................................193 4.1 "DIE LINKE."..............................................................................................193 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) .....................................197 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA)..200 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) ..........203 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH)..............................................................................207 4.6 Sonstige Vereinigungen............................................................................209 5. Aktionsfelder ...............................................................................................210 5.1 Antiglobalisierung.......................................................................................210 5.2 "Repression" .................................................................................................213 5.3 "Antifaschismus" .........................................................................................216 5.4 "Deutscher Herbst"....................................................................................218 6. Weitere Informationen ............................................................................221 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO).......................................................222 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................222 2. Verfassungsfeindliche Programmatik ..................................................223 3. Scientology und Religion ........................................................................226 4. Organisation und Mitgliederbestand...................................................227 5. Werbemethoden und Propaganda.......................................................229 6. Kampagnen und Aktionen gegen Kritiker .......................................232 7. Diffamierung des staatlichen Gesundheitswesens .........................233 8. WISE - Speerspitze in Wirtschaft und Politik.................................235 9. Eröffnung "Idealer Orgs" .........................................................................237 10. Neuauflage der Grundlagenbücher .....................................................239 11. Ausblick .........................................................................................................240 12. Vertrauliches Telefon/Weitere Informationen ................................241 G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ ........................242 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................242 2. Daten, Fakten, Hintergründe.................................................................243 2.1 Volksrepublik China..................................................................................243 2.2 Russische Föderation ................................................................................246 2.3 Proliferation..................................................................................................248 3. Prävention.....................................................................................................249 3.1 Wirtschaftsschutz - eine Schwerpunktaufgabe der Spionageabwehr ..................................................................................250 3.2 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen.......................................................252 4. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr.....................................................253 ANHANG ..........................................................................................................................256 Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 5. Dezember 2005 ...........................................................................256 Gruppen-, Organisationsund Sachregister......................................270 Personenverzeichnis .................................................................................278 A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu informieren. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Struktur Der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich derzeit in sechs Abteilungen. Haushalt Die Personalstellen sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2007 insgesamt 336 Personalstellen (2006: 323), davon 250,5 für Beamte, 84,5 für Angestellte und eine Stelle für Arbeiter zugewiesen. Für Personalausgaben standen etwa 12,6 Millionen Euro (2006: 12,7 Millionen Euro), für Sachausgaben rund drei Millionen Euro (2006: 2,3 Millionen Euro) zur Verfügung. 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz sammelt Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, sobald ihm tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden. 12 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Als derartige Bestrebungen sind Verhaltensweisen von Personen oder Organisationen zu verstehen, deren Ziel es ist, die obersten Werte und Prinzipien des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksoder rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland beziehungsweise dessen Regierung von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch Deutschland in außenpolitische Konflikte bringen könnten oder sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zu den weiteren Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt die Spionageabwehr. Sie ist darauf gerichtet, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und zu analysieren. Schließlich hat das Landesamt für Verfassungsschutz umfangreiche Aufgaben beim personellen und materiellen Geheimschutz. Beispielsweise wirkt der Verfassungsschutz bei der Sicherheitsüberprüfung von Einbürgerungsbewerbern mit, überprüft Geheimnisträger und andere Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig werden wollen, und unterstützt beratend Behörden und Unternehmen bei der Einrichtung technischer Vorkehrungen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Die Arbeit einer Verfassungsschutzbehörde unterscheidet sich wesentlich von der einer Polizeibehörde. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeikeine polizeilichen lichen Befugnisse zu. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürBefugnisse fen also keine Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbständig und nach eigenem Ermessen, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Im Gegensatz zur Polizei ist der Verfassungsschutz nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen und muss daher keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn er Kenntnis von einer Straftat erlangt. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen erlangt das Landesamt für Verfassungsschutz auf offenem Weg. Allerdings dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im baden-württembergischen Landesverfassungs13 schutzgesetz (LVSG) genannten nachrichtendienstlichen Hilfsmittel angewendet werden. Gerade die auf letztgenanntem Wege erlangten hochwertigen Erkenntnisse ermöglichen erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Methoden der Erkenntnisgewinnung OFFENE BESCHAFFUNG VERDECKTE BESCHAFFUNG Grundsatz der Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, Verhältnisgesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldevermäßigkeit kehr überwachen. Alle diese Möglichkeiten stehen jedoch laut LVSG unter dem Vorbehalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, das heißt, von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten in seinen Grundrechten beeinträchtigt. Aufgabe der mit der Auswertung befassten Mitarbeiter ist es dann, den Aussagewert und die Bedeutung der beschafften Informationen zu analysieren und Lagebilder sowie Trendaussagen zu erstellen. 4. Kontrolle vielschichtige Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen Kontrolle rechtsstaatlichen Kontrolle. Im Zentrum stehen innerbehördliche Maßnahmen wie zum Beispiel Kontrollen durch den internen Datenschutzbeauf14 Verfassungsschutz Baden-Württemberg tragten. Daneben stellen die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 15 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Postund Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen nach dem Artikel 10-Gesetz unterliegen der Kontrolle der G 10-Kommission und des G 10-Gremiums. Die grundgesetzliche Rechtsweggarantie gewährleistet die Überprüfung von Einzelmaßnahmen des Verfassungsschutzes durch die unabhängige Justiz. Schließlich unterliegt die Arbeit des Verfassungsschutzes der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann Informationsdauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geiangebote stig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Zahlreiche Informationsmöglichkeiten stehen dabei zur Auswahl. So können Broschüren zu verschiedenen Themen des Verfassungsschutzes angefordert oder im Inter15 net abgerufen werden. Referenten des Landesamts für Verfassungsschutz stehen für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung. Anfragen von Medienvertretern werden so umfassend wie möglich beantwortet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahre 2007 263 Vorträge (2006: 133) gehalten. Daneben gab es zahlreiche Anfragen von Medienvertretern. Über 11.000 Exemplare des Verfassungsschutzberichts 2006 und 14.000 Broschüren wurden im Berichtszeitraum auf Anforderung verteilt. Derzeit sind neben den in den Fachkapiteln genannten folgende allgemeine Informationsschriften verfügbar: Verfassungsschutz Baden-Württemberg (Kurzbroschüre - 2005) Extremisten im Internet - Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden (Broschüre - 2001; gedruckte Auflage vergriffen, Download als PDF-Datei auf der Homepage des Verfassungsschutzes) 16 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg unter www.verfassungsschutz-bw.de mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 500 700 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/9544-181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/9544-444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.verfassungsschutz-bw.de E-Mail: info@verfassungsschutz-bw.de Vertrauliche Telefone zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 "Islamistische Extremisten": 0711/95 61 984 (deutsch/englisch) 0711/95 44 320 (türkisch) 0711/95 44 399 (arabisch) 17 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS 1. Überblick 1.1 Aktuelle Situationen, Tendenzen Im Jahr 2007 blieben die bekannten Konfliktherde unverändert brisant, an denen in islamisch geprägten Gesellschaften islamistische Strömungen zum Teil äußerst gewaltsam nach Veränderungen streben. Die Konfliktlinie verläuft aber nicht nur in bestimmten regionalen Zusammenhängen. Sie wurde im Jahr 2007 immer wieder in Europa und Deutschland sichtbar, wenn islamistisch motivierte Gewalt zum Ausbruch kam oder deren Planung aufgedeckt werden konnte. Islamistische Bewegungen verfolgen ebenso wie islamistische Organisationen und Vereinigungen sehr ähnliche Ziele: die Etablierung einer als "authentisch islamisch" verstandenen Gesellschaft. In der jeweiligen Propaganda tauchen demnach immer wieder die gleichen Stereotypen und Motive auf. Bei der Wahl der Methode und Mittel gibt es aber erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen islamistischen Gruppen. Nach wie vor reicht das Spektrum von terroristischen Strukturen, denen nahezu jedes gewaltsame Mittel recht ist, bis zu jenen Gruppen, die sich schwerpunktmäßig einer zum Teil lautstarken Propaganda mit unterschiedlichsten Mitteln verschrieben haben. Die Quellen aller islamistischen Vorstellungen sind religiöse Schriften und Werke, die von den Verfassern als einzig wahr und authentisch definiert wurden. Häufig wird die Interpretationshoheit so weit in Anspruch genommen, dass abweichende Auslegungen und Vorstellungen als unislamisch diffamiert und in den extremsten Fällen gewaltsam bekämpft werden. globaler DjihaWie weit die Indoktrination und die Rezeption islamistischer Schriften dismus in Badengehen können, wurde in Deutschland im Herbst 2007 deutlich. Schriften, Württemberg die salafitisch-djihadistische Ideen propagieren, motivierten auch in BadenWürttemberg einzelne Personen zu gewaltsamen Aktionen oder zu deren Unterstützung. Am 4. September 2007 konnte durch die Verhaftung von drei mutmaßlich islamistisch motivierten Terroristen ein großer Anschlag in Deutschland verhindert werden. Die Vorbereitungen der drei Tatverdächtigen waren so weit gediehen, dass ein Anschlag unmittelbar bevor gestanden haben konn18 Islamismus te. Einer der Tatverdächtigen bewegte sich als Konvertit in jenen Ulmer Kreisen, die bereits in den letzten Jahren immer wieder im Fokus der Beobachtung standen. Das Beispiel dieses jungen Mannes zeigt, wie weit hier djihadistische Ideen aufgenommen und als konkrete Handlungsanweisungen verstanden wurden. Die Hinwendung zu Gewalt propagierendem Islamismus und die Neigung, militant politische Ziele zu verfolgen, haben im Jahr 2007 nicht nachgelassen. In Afghanistan hat die Zahl der Anschläge erheblich zugenommen. Im Irak kam es immer wieder zu folgenschweren Anschlägen. In Pakistan bekämpften die Sicherheitskräfte über Wochen in blutigen Auseinandersetzungen die Anhänger aus dem Umfeld der "Roten Moschee" in Islamabad. Pakistan wurde 2007 im Zusammenhang mit terroristischen Ausbildungslagern zu einem Reiseziel von mehreren jungen Männern aus Deutschland. Terrorausbildung Auch aus Baden-Württemberg machten sich einige dorthin auf. Im iranischin Pakistan pakistanischen Grenzgebiet wurden immer wieder Reisende verhaftet, die im Verdacht stehen, Kontakte zu den Mudjahidin in Afghanistan zu unterhalten und sich deren Kampf anschließen zu wollen oder dort militärisches Training mit religiöser Unterweisung zu verbinden. Die Bedeutung der Internetpropaganda nahm erneut zu. Es fiel auf, dass nun verstärkt in weiteren Sprachen wie Türkisch oder Deutsch djihadistische Schriften und Filme verbreitet wurden. 1.2 Das Personenpotenzial im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus Aus der großen Zahl (etwa 3,5 Millionen, davon mehr als 0,5 Millionen in Baden-Württemberg) der Muslime, die in Deutschland leben, engagiert sich eine Minderheit in extremistischen Organisationen oder Gruppen, die islamistischen Ideen anhängen. Von diesen kann ein geringer Bruchteil dem gewaltbereiten Spektrum zugeordnet werden. Die Zahl der tatsächlich gewaltbereiten, in terroristischen Gruppen eingebundenen Personen lässt sich aber nicht mit letzter Sicherheit ermitteln. So fallen etwa Einzeltäter ohne strukturelle Anbindung aus einem an Organisationen ausgerichteten Raster.1 1 Da eine Differenzierung der Strafund Gewalttatenzahlen nach islamistischen beziehungsweise sonstigen ausländerextremistischen Taten nicht möglich ist, wurde die Grafik mit den Gesamtzahlen der ausländerextremistischen Strafund Gewalttaten im Kap. C Ziff. 1. "Sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern" abgedruckt. 19 Das Personenpotenzial jener islamistischen extremistischen Gruppierungen, die ihre Ziele ohne direkte Gewaltanwendung verfolgen, kann nach regionaler Herkunft der Personen gewichtet werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Zahlen den manifesten Teil der Mitglieder umfassen. Diese Zahlenangaben enthalten Schätzungen, sind gerundet und können nur einer groben Orientierung dienen, da das Potenzial an Sympathisanten und Anhängern etwa bei Demonstrationen erheblich höher sein kann. Die Zahl derjenigen, die tatsächlich mit extremistischem Gedankengut sympathisieren oder diesem zustimmen, spiegelt sich nur zum geringsten Teil in den hier erhobenen Zahlen wider.2 Eine im Dezember 2007 vom Bundesministerium des Innern veröffentlichte Studie, die auf einer repräsentativen Befragung basiert, hat ergeben, dass eine Minderheit in der muslimischen Allgemeinbevölkerung von etwa acht bis zwölf Prozent eine deutlich problematische Einstellung in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufweist.3 Darüber hinaus heißt es dort: "Mit Blick auf die Umschreibung von Radikalisierungspotenzialen wurden zusätzlich zu den Einstellungen bezüglich Demokratie und Rechtsstaat auch Einstellungen zu Formen religiös-politisch motivierter Gewalt erhoben. Hier lässt sich ein Potenzial von knapp 6% der Muslime erkennen, die als gewaltaffin im Sinne einer Akzeptanz massiver Formen politisch-religiös motivierter Gewalt zu kennzeichnen sind (...)." 4 großes gewaltIn absoluten Zahlen heißt dies, dass in Deutschland etwa 200.000 Personen befürwortendes Gewalt als Mittel akzeptieren. Diese Zahl spiegelt jenen Personenkreis Spektrum in wider, der von charismatischen Persönlichkeiten oder islamistischen IdeoDeutschland logen sowie entsprechender djihadistischer Propaganda angesprochen werden kann. Mit türkischem Ursprung blieb auch 2007 die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) mit 3.600 Mitgliedern in Baden-Württemberg die mitgliederstärkste extremistische Organisation im islamistischen Spektrum. Der verbotene "Kalifatsstaat" (ICCB) verfügt auch nach dem Verbot über 2 Eine Gesamtübersicht über die Anhänger extremistischer Ausländerorganisationen ist im Kap. C Ziff. 1 "Sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern" abgedruckt. 3 Katrin Brettfeld und Peter Wetzels, Muslime in Deutschland - Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg, Juli 2007, S. 493. 4 Ebd. S. 494. 20 Islamismus 300 Anhänger in Baden-Württemberg. In Organisationen, die ihre Wurzeln in arabischen Staaten (wie Ägypten, Palästina, Libanon, Algerien oder dem Irak) haben, engagierten sich 2007 circa 450 Mitglieder in Baden-Württemberg. Hier sind die wichtigsten Gruppierungen die "Muslimbruderschaft" (MB) mit 180 Mitgliedern und die libanesische "Hizb Allah", die von etwa 85 Mitgliedern unterstützt wurde. Aus weiteren Herkunftsländern werden Gruppierungen beobachtet, die etwa Bezüge nach Bosnien-Herzegowina, in den Iran, Tschetschenien, Indonesien oder Pakistan aufweisen. 2. Salafitische Bestrebungen in Deutschland Eine zunehmend virulent werdende Richtung innerhalb der islamistischen Strömungen stellt der so genannte Salafismus dar. Das hierin vermittelte Islamverständnis basiert auf einer rigorosen und eng gefassten Interpretation der islamischen Quellentexte und geht mit einer strikten "Buchstabengläubigkeit" einher. In einer angenommenen Anlehnung an das Vorbild der "edlen Vorfahren" (as-Salaf as-Salih) ist der Salafismus bestrebt, den Islam und die Muslime von als unislamisch betrachteten Auslegungen und Verhaltensweisen reinigen zu wollen. Hierbei wird das Ziel verfolgt, das gesamte Glaubensverständnis auf einen, exklusive Authentizität beanspruAttraktivität chenden Kernbestand von Bestimmungen, Gesetzen und Praktiken zurückbedingt Zunahme zuführen, der angeblich dem Vorbild des Religionsstifters Muhammad und seiner frühen Gefolgsleute entsprechen soll. Die Anhänger des Salafismus gehen ideologisch von der Annahme aus, dass der Islam im Lauf der Zeit durch "unerlaubte Neuerungen" und Zusätze, die nicht den ursprünglichen, von Allah intendierten Zwecken entsprächen, korrumpiert worden sei. Diese Entwicklung sei auch maßgeblich für den allerorts zu beobachtenden Verfall und Niedergang der islamischen Zivilisation verantwortlich. Dieser Trend sei folglich wieder rückgängig zu machen, indem man sich auf eine "wahre Glaubenspraxis" zurückbesinne, damit der Islam seine einstige Größe und Stärke zurückerlangen könne. Als zeitlicher Bezugsrahmen wird hier in der Regel das "goldene Zeitalter" herangezogen, in dem der Islam unter den frühen Kalifen (632 bis 661) die Grundlagen für die Herrschaft in weiten Teilen der damals bekannten Welt legte und infolge dessen zu globaler Bedeutung aufsteigen sollte. Die bei weitem einflussreichste Richtung innerhalb des salafitischen Glaubensspektrums ist der Wahhabismus, der im 18. Jahrhundert in Verbindung mit dem Rechtsgelehrten Muhammad Ibn Abd al-WAHHAB im heutigen Saudi-Arabien als eine islamische Reformbewegung entstanden ist. Ein 21 Hauptwesensmerkmal der wahhabitischen Lehre basiert auf der Vorstellung von einem strikten Monotheismus (Tawhid), demzufolge alle als islamisch betrachteten Gesetze und Bestimmungen auch im praktischen Leben akribisch einzuhalten seien. Diese kompromisslose Haltung wahhabitischer Gelehrter hat schon in der Vergangenheit innerislamische Konfliktfelder eröffnet, da andere Auslegungen und Verhaltensweisen als unislamisch und damit "ketzerisch" diffamiert wurden (takfir). Die Marginalisierung und Ausgrenzung konkurrierender islamischer Glaubensüberzeugungen haben in der geschichtlichen Entwicklung des Wahhabismus immer wieder gewaltsame Züge angenommen, da die eigene Doktrin durch bewaffneten Kampf (Djihad) verbindlich durchgesetzt wurde. Das hier zugrunde liegende Islamverenges ständnis ist bestrebt, den Islam zu Ungunsten individueller GlaubensforIslamverständnis men auf seine normativen Aspekte zu reduzieren, die im islamischen Recht ihren deutlichsten Ausdruck finden. Immer werden in diesem Zusammenhang Texte als Belegstellen angeführt, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen sollen, dass die Muslime schon zu Zeiten des Propheten Personen bekämpft haben, denen vorgeworfen wurde, dem Islam nur nominell anzugehören: "Die Aussagen der Gelehrten sind in Bezug auf die 'Murtaddin' (Abtrünnige)5 eindeutig. Sie haben viele Muslime als ungläubig bezeichnet, sobald sie feststellten, dass sie einige religiöse Pflichten nicht erfüllt oder verletzt hatten, gleich in welcher Form dies auch geschah. Selbst das Aussprechen eines Wortes (des Unglaubens), ohne daran wirklich fest zu glauben, macht die Menschen zu Ungläubigen. (....) Es ist wohl bekannt, dass der Prophet Mohammad die Juden, die schon 'La Ilaha Ila Allah' 6 sprachen, bekämpft und gefangen genommen hat und dass die Gefährten des Propheten Muhammad Bani Hanifa7, die sich zum islamischen Grundsatz 'Es gibt keine Gottheit außer den einzigen Gott und Muhammad ist sein Gesandter' bekannten und das 5 Von der Religion Abgefallene, d.h. Apostaten. 6 Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: Es gibt keinen Gott außer Allah. 7 Ein Stamm auf der arabischen Halbinsel. 8 Das heißt, sie haben das islamische Glaubensbekenntnis gesprochen und gelten nach vorherrschender Auffassung der Gelehrten als Muslime. Der Wahhabismus grenzt sich hier bewusst von dieser Meinung ab. 22 Islamismus Gebet verrichteten und zum Islam aufriefen8, bekämpft haben, (...)." 9 Ohne den Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung religiöser Bestimmungen prinzipiell abzulehnen, hat sich der Wahhabismus in der Moderne eine andere Strategie zur Verbreitung seiner Ideologie zu eigen gemacht. Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich der Wahhabismus durch eine Propagandatätigkeit, die von Saudi-Arabien gefördert wird, global verbreitet. Dieser "Aufruf" (Da'wa) wird auf zwei Ebenen betrieben. Primär wendet sich der Wahhabismus als Zielgruppe an Muslime historisch unterschiedlich gewachsener islamischer Strömungen und Denkrichtungen, deren islamische Identität in Zweifel gezogen wird. Ihre Handlungen und Glaubensauffassungen sollen in einer Art "innerislamischer Mission" berichtigt werden. Sekundär betreibt der Wahhabismus auch eine "äußere Mission", indem er versucht, Konvertiten der unterschiedlichsten Herkunft außerhalb des islamischen Spektrums zu gewinnen. In jüngster Zeit ist hier unter anderem auch in Deutschland eine taktische Professionalisierung festzustellen, da für die jeweils unterschiedlichen Personenkreise zielgruppenspezifisches Propagandamaterial erstellt wird.10 Mittlerweile haben sich in Deutschland salafitische Netzwerke etabliert, die sich ideologisch zwar stark an Gelehrte im Ausland anlehnen, jedoch auf lokaler Ebene autonom agieren. In der Regel spielen hier auch Konvertiten Etablierung eine zentrale Rolle, welche die Ideologie adaptiert haben und in ihrem pereiner salafitischen sönlichen Umfeld geschickt an andere weitervermitteln können. Diese TenDa'wa-Szene denz kann nicht nur an den immer zahlreicher in Umlauf gebrachten Übersetzungen einschlägiger Rechtsgelehrter gemessen werden, sondern lässt sich auch an der verstärkten Zunahme salafitisch geprägter Internetseiten in deutscher Sprache ablesen. Aufgrund der Tatsache, dass sich gemäß der salafitischen Glaubensdoktrin der islamische Glaube in konkreten Handlungen niederschlagen muss, wird zunächst rein äußerlich beispielsweise auf die akribische Nachahmung von Kleiderund Hygienevorschriften Wert gelegt, die den frühen Muslimen im Umfeld Muhammads zugeschrieben werden. Männer hätten Bärte zu tragen, Frauen müssten sich verschleiern und statt der Zahnbürste sollte ein Stück Holz benutzt werden. Neben solchen Praktiken, die auch dazu die- 9 Zitiert nach Muhammad Ibn Abd al-WAHHAB, die Offenlegung der Scheinargumente gegen den Monotheismus (übersetzt von Dr. Ghazi Shanneik), S. 12f. Hierbei handelt es sich um eines der Hauptwerke von Muhammad Ibn Abd al-WAHHAB, das in deutscher Übersetzung in salafitischen Kreisen zirkuliert. 10 Zum Beispiel Tevhid - Kalblerden Sirk ve Küfür Temizligi (Monotheismus - Reinigung der Herzen von Vielgötterei und Unglauben). Eine Schrift, die sich an türkischsprachige Personen wendet. 23 nen sollen, sich von der als "ungläubig" und "unislamisch" betrachteten Umwelt abzugrenzen, umfassen salafitisch gefärbte Islamauslegungen aber auch Konzepte, die eine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Kontext das Glaubenskonzept "die Treue und der Bruch" (al-Wala wa al-Bara), von dem Salafiten behaupten, dass es unmittelbar mit der Verpflichtung zur Einhaltung des strikten Monotheismus verbunden sei. Für den "wahren Muslim" sei es verpflichtend, sich auf allen Ebenen von den "Ungläubigen" abzutrennen. Durch die bloße Anerkennung anderer Religionen oder Lebensauffassungen als "wahre Muslime" gleichwertig würde ein Muslim schon der Häresie anheim fallen, was unweimüssen gerlich nicht nur seinen Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft zur Folge "Ungläubige" hätte, sondern auch soziale Ächtung und gegebenenfalls physische Sanktiohassen nen nach sich ziehen würde: "Wer auch immer die Polytheisten nicht als Ungläubige betrachtet, oder an ihrem Unglauben zweifelt, oder ihre Wege und Glaubensformen als richtig ansieht, der hat (selber) Unglauben begangen. (....) Dies ist die Hanafiyya (aufrechte Religion), die Religion Ibrahims - dass du Allah aufrichtig dienst, die Religion für Ihn alleine machst, dich von allem los sprichst, was neben Allah angebetet wird, sie ablehnst und hasst, während du ihre Leute verabscheust und Feindschaft für sie empfindest." 11 Durch derartige Positionen, die sich in polarisierender Weise in einem Freund-Feind-Denken niederschlagen, können nicht nur ohnehin schon latent vorhandene soziale Spannungen verschärft werden; vielmehr werden ganz bewusst laufende Dialogbemühungen, die eine bessere Integration von ethnischen und religiösen Minderheiten zum Ziel haben, durch intolerante Botschaften untergraben. Letztendlich sollen hier durch den Alleinvertretungsanspruch, den salafitische Richtungen für sich reklamieren, Mas11 PDF-Dokument einer deutschsprachigen salafitischen Internetseite vom 3. April 2007. 24 Islamismus sen für die Beseitigung der pluralistischen Gesellschaftsordnung und interkulturellen Solidarität mobilisiert werden: "Walah bedeutet Liebe, Zuneigung und Nähe, Barah dagegen heißt Hassen, Ablehnung, Distanz. 'Walah und Barah' sind grundsätzlich Eigenschaften des Herzens, aber sie äußern sich in dem, was der Mensch sagt und wie er handelt. Walah darf es nur für Allah, den Propheten und die Muminin [sc. die Gläubigen] geben. (...) Barah dagegen entspringt dem Hassen um der Religion willen. Hierzu gehört, dass man nicht mit dem Friedensgruß grüßt, dass man den Kufar [sc. die Ungläubigen] gegenüber nicht unterwürfig ist und sie nicht bewundert und dass ein Muminin acht gibt, sich von den Kufar zu unterscheiden und dies auf der Grundlage der Scharia verwirklicht, dass man Dschihad macht mit dem Geld, der Zunge und mit Waffen und dass man die Länder der Kufar verlässt und zu den Ländern der Muslimin geht." 12 Dies ist umso gravierender, als die salafitische Propaganda in der Regel auf der Grundlage religiöser Texte einen Bezug zu aktuellen politischen und sozialen Fragen herstellt und Gefühle von tatsächlicher oder empfundener Deprivation einer Schwäche in Glaubensfragen zuschreibt, wobei hierfür einseitig die westliche Werteund Gesellschaftsordnung verantwortlich gemacht werden: "Liebe Muslime! Keine vernünftige Person wird an der Tatsache zweifeln, dass Muslime heutzutage rückständig sind. Ihre Unterordnung, ihr ständiger Kummer und ihre Trauer sind Ergebnisse dessen, dass sie die Lehren der Religion und das Einhalten der Gesetze Allahs verlassen und den Bund gebrochen haben. (....) Liebe Brüder! Es gibt zwei Ursachen für die Schwäche der Umma. Diese sind: Das Nachahmen der westlichen Tendenzen, die auf Materialismus und unbeschränkten Gedanken beruhen (....). Das Folgen dieser Neigungen hat viele Muslime dazu gebracht, dass sie Förderer der west12 PDF-Dokument einer deutschsprachigen slafitischen Internetseite vom 5. März 2007. 25 lichen Kultur und ihres politischen Systems geworden sind. Dadurch verursachen sie moralische Seuchen und einen Rückgang ihrer reinen Gesellschaft (...)." 13 Das mit einem antidemokratischen Aktivismus einhergehende Isolationsstreben mündet in der Regel auch in die Forderung nach eigenen gesellschaftlichen Räumen, in denen dann idealerweise die als islamisch betrachteten Gesetze und Regeln zu Ungunsten anderer Rechtsnormen zu gelten hätten. Die Diffamierung des säkularen Staates wird im salafitischen Kontext mit dem Postulat einer uneingeschränkten Anwendung des islamischen Gesetzes (Scharia) begründet. In der Art eines religiösen Etatismus wird Gott als die einzig zulässige legislative Autorität betrachtet. Einer von Menschen bestimmten Rechtsschöpfung wird dabei prinzipiell keine Gestaltungsmöglichkeit mehr beigemessen: "Unter den Verpflichtungen, die das Bekenntnis [sc. zum islamischen Monotheismus] zur Folge hat, ist auch das Recht Allahs darauf, allein Gesetze und Anordnungen zu erlassen, die sich mit Gottesdienst, Behandlung der einzelnen Personen oder der Gemeinschaft, mit Erlaubtem und Verbotenem befassen, und die auch dem Propheten gezeigt wurden." 14 "Das islamische Gesetz [sc. Scharia] betrachtet den Herrscher im islamischen Staat als Verantwortlichen für die Durchführung der göttlichen Befehle (...). So darf kein Mensch, so hoch er sein mag, diesen Regelungen entgegenwirken, oder ein Gesetz erlassen, das gegen sie verstoßen kann." 15 3. Islamistischer Terrorismus 3.1 Djihadismus, "al-Qaida" Beim Djihadismus handelt es sich um eine islamistische Richtung, die eine enge ideologische Nähe zum Salafismus aufweist und daher auch als SalafiDjihadi-Strömung bezeichnet wird. Anhänger des Djihadismus vertreten 13 Internetauswertung vom 4. Juni 2007. 14 Abdur-Rahman Al-Sheha, Botschaft des Islam, Riyadh 2004, S. 54. 15 Ebd. S. 128f. 26 Islamismus die Ansicht, dass von einem strategischen Blickwinkel aus betrachtet die Islamisierung der Gesellschaften einhergehend mit der Etablierung eines transnational übergreifenden Staatswesens nicht mehr nur mit friedlichen Mitteln erfolgen könne. Das Weltbild der Djihadisten basiert in Anlehnung an mittelalterliche Schriften auf einer Zweiteilung der Welt. Einerseits gäbe es Gebiete, wo die Scharia praktiziert würde und daher Gerechtigkeit und Frieden vorherrschen würden (Dar al-Islam). Andererseits würden weite Teile der Welt Gebiete umfassen, in denen "Ungläubige" lebten, die als Feinde gelten und denen auf Grund ihrer unislamischen Lebensweise prinzipielle Verachtung entgegen zu bringen sei (Dar al-Harb oder Dar al-Kufr). Von dieser GrundKampf gegen die haltung ausgehend könne zwischen "Ungläubigen" und den "wahren Mus"Ungläubigen" limen", d.h. Anhängern der eigenen Glaubensauslegung, keine gleichberechtigte Koexistenz herrschen. Andersdenkende werden zu Menschen zweiter Klasse degradiert, wobei sie allenfalls als ein Objekt gezielter Missionsarbeit betrachtet werden, was als Djihad angesehen wird. Dieser Djihad wird gemäß der Salafi-Djihadi-Interpretation, die im bewaffneten Kampf das einzige Mittel sieht, islamische Maßstäbe und Bestimmungen verbindlich durchzusetzen, mit maximaler Gewalt geführt. Hierin unterscheidet sich der Djihadismus geringfügig von anderen salafitischen Strömungen, die mit diesem zwar die Zielsetzung und damit die Islamisierung der Menschheit wie auch die Feindbilder, nämlich den Westen und seine Verbündeten, teilen, jedoch in Fragen der Gewaltanwendung Differenzen aufweisen. Ebenso wie Djihadisten betrachten alle anderen salafitischen Richtungen den Djihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes als integrativen Bestandteil der Religion des Islam. Unterschiede erwachsen weniger aus exegetischen Kontroversen als vielmehr auf Grund von taktischen Erwägungen bei der Beurteilung der jeweiligen Situation.16 Die Übergänge können hier sehr fließend sein. Die Salafi-Djihadi-Strömungen sind als ein Produkt des Krieges gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan (1979 bis 1989) entstanden. Damals hatte ein Rechtsgelehrter palästinensischer Abstammung, Abdallah AZZAM (1941 bis 1989), eine Internationalisierung des Djihad herbeigeführt, indem er den bewaffneten Kampf zu einer persönlichen und individuellen Glaubenspflicht eines jeden Muslims erklärte, um alle Feinde aus der islamischen Welt (Dar al-Islam) zu vertreiben: "Wenn der Feind [sc. die Ungläubigen] die Grenzen 16 Internetauswertung vom 3. Mai 2007. 27 zu islamischen Ländern attackiert oder in muslimische Gebiete eindringt (....), dann wird der Djihad eine religiöse individuelle Pflicht (....)".17 Diese Sichtweise hat dann schließlich Usama BIN LADIN als Schüler von AZZAM aufgegriffen und um eine Stufe erweitert. Der Feind sollte jetzt nicht mehr nur in der islamischen Welt selbst angegriffen, sondern auch auf eigenem Boden attackiert werden. Somit hat sich das ursprünglich defensiv ausgerichtete Konzept in ein Abdallah AZZAM offensives gewandelt, das globale Wirkung regionaler und entfaltet (transnationaler Djihadismus). globaler Djihadismus Schon während des Afghanistankrieges wurde unter ägyptischem Einfluss diese Ausrichtung auf den "äußeren Feind" mit einer weiteren Komponente auch auf den "inneren Feind" ausgedehnt. Damit waren die Herrscher der islamischen Welt gemeint, die als Glaubensabtrünnige betrachtet wurden, da sie nach Meinung der Djihadisten dem islamischen Gesetz in ihrem Wirkungsbereich keine Geltung verschaffen und daher dem Islam nur nominell angehören würden (interner Djihadismus). Zurück geht diese Sichtweise auf Sayyid QUTB (1906 bis 1966), der seinerzeit dem lokalen Kampf auf nationalstaatlicher Ebene Priorität einräumte: "Sie [sc. die Religion] bedeutet die Ablehnung aller Arten und Formen von Systemen, die auf dem Konzept der Souveränität des Menschen basieren; (...) Jedes System, in dem die letzte Entscheidung auf Menschen zurückgeführt wird, und in dem die Quellen aller Autorität menschlich sind, in dem der Mensch vergöttlicht wird durch die Bestimmungen von anderen außer Allah als Herren über die Menschen, ist abzulehnen. (...) Kurz gesagt: Die Autorität und Souveränität von Allah zu proklamieren bedeutet, alle menschlichen Herrschaften zu beseitigen und das Gesetz des Erhalters des Universums über die ganze Erde bekannt zu geben." 18 17 Abdallah Azzam, Die Verteidigung der muslimischen Länder ist die wichtigste individuelle Glaubenspflicht, Fatwa von 1984. 18 Zitiert nach Muhammad Rassul, Zeichen auf dem Weg, S. 102f. 28 Islamismus Zusammengeflossen sind beide Richtungen in der "al-Qaida", so wie sie sich in den 1990er Jahren herauskristallisiert hatte. Im Zuge der Entwicklungen nach den Ereignissen um den 11. September hat die Salafi-Djihadi-Ideologie auch auf europäischem und deutschem Boden Fuß gefasst. Ausgehend von persönlichen Verbindungen zu Mudjahidin, die in Afghanistan in den 1990er Jahren gekämpft haben, bestehen bis heute persönliche Kontakte von hier in Europa aktiven Djihadisten und Anhängern der "al-Qaida"-Ideologie zu verschiedenen militanten Gruppierungen und Organisationen, die besonders seit dem Ende der Talibanherrschaft in Wiedererstarken Afghanistan in den westlichen Stammesterritorien in Pakistan aktiv sind der Taliban und dort militärische Ausbildungslager unterhalten sollen. In die Schlagzeilen geriet dieses schwer zugängliche Grenzgebiet besonders im Zusammenhang mit den in Deutschland verhinderten Anschlägen im September 2007. Die "Islamische Jihad Union" (IJU) ist derzeit Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens der Generalbundesanwaltschaft. In Südund Nord-Waziristan, den so genannten Federally Administrated Tribal Areas, FATA, scheint ein breites Spektrum von djihadistischen Netzwerken unterschiedlicher regionaler Herkunft aktiv zu sein und wirbt teilweise auch mittels entsprechender Internetseiten für ihre Ziele. Wie beweglich salfitisch-djihadistische Gruppen mit ihren unterschiedlichen Feldkommandanten agieren, wurde im Jahr 2007 besonders bei den sich aus den lokalen Stämmen rekrutierenden Gruppierungen deutlich. Im Oktober 2007 sollen sich in diesen umkämpften Stammesgebieten fünf militante Gruppen zu einer Organisation mit dem Namen "Tehrik-i Taliban" ("Bewegung der pakistanischen Taliban") unter der Führung von Baitullah MEHSUD aus dem südwazirischen Stamm der Mehsud zusammengeschlossen haben.19 Die salafitisch-djihadistische Ideologie hat sich mittlerweile aber verselbständigt, sie benötigt nicht notwendigerweise einen strukturellen Rahmen in Form einer festen Organisation. Beispielhaft für diese Entwicklung ist ein Beitrag mit dem Titel "Wie wirst du deine eigne Terrorzelle", der in einem Internetforum eingestellt war. Der Autor, eigenen Angaben zufolge ein 19 Hassan Abbas, A Profile of Tehrike-i-Taliban Pakistan, in: CTC Sentinel Janaur 2008, vol. 1 Issue 2, S. 1-4. 29 erfahrener Djihad-Kämpfer, legt hier dar, dass es nicht notwenig sei, sich in ein Krisengebiet wie Tschetschenien, Afghanistan oder den Irak zu begeben, um ein Mudjahid und damit ein Glaubenskämpfer zu werden. Auch die formale Anerkennung durch eine Organisation wie die "al-Qaida" oder die Befürwortung eines BIN LADIN sei keine Voraussetzung dafür. Alles, was dabei von Interesse wäre, sei die Entschlossenheit, etwas für den Islam und die Muslime zu tun: "Bilde deinen eigenen Kampftrupp und sei dadurch ein Mitglied in dieser Mission, ein Kampftrupp von vielen Kampftruppen der al-Qaida, die es überall gibt. (....) Ist es aber notwendig, dass die al-Qaida dich als einer der ihren anerkennt, damit du ein Mudjahid wirst? Wenn die Führung der al-Qaida getötet würde, wäre dann der Djihad zu Ende? Die Antwort auf diese Fragen ist, dass es nicht notwen"Baue deine dig ist Bin Laden zu treffen (....) und dass eine Anereigene kennung durch die al-Qaida nicht erfolgen muss (...) djihadistische Wie wirst du also ein Mudjahid dort, wo du lebst? Zelle" (...) Versuche deine eigene djihadistische Zelle aufzubauen. Versuche andere Aufrichtige und zum Djihad Entschlossene wie du selbst in deiner Gegend oder deiner Moschee zu finden. Verständige dich mit ihnen egal, wie viele ihr seid, einer, zwei, drei oder mehr. Bildet eine Zelle (...) Dann kauft Waffen und plant, beobachtet wichtige Ziele des Feindes und studiert sie. Wählt euch eine Ziel aus, z.B. die Tötung eines amerikanischen Botschafters (...)." 20 Neuere Untersuchungen21 weisen darauf hin, dass die meisten islamistischen Terroristen in Europa überwiegend weder über Kontakte zur "alQaida" noch zu anderen namhaften djihadistischen Organisationen oder Akteuren aus deren Umfeld verfügten. Vielmehr handelte es sich bei den Gruppen, die in Europa Anschläge verübt oder aber geplant haben, stets um Personen mit derselben Gesinnung, die sich auf der Basis zuvor etablierter sozialer Netzwerke zusammengeschlossen haben. Die treibende Kraft war hier die Salafi-Djihadi-Ideologie, die zu einer Radikalisierung der betreffenden Personen führte und somit einen Katalysator darstellte, der schließlich in konkrete Anschlagsplanungen mündete. 20 Internetauswertung vom 3. September 2007; Übernahme wie im Original. 21 Zum Beispiel Edwin Bakker, Jihadi terrorists in Europe, Netherlands Institute of International Relations Clingendael, 2006. 30 Islamismus Bei dieser, sich überwiegend autonom vollziehenden "Selbstradikalisierung", bei der zusätzlich gruppendynamische Prozesse von Bedeutung sind, spielt auch die Verfügbarkeit von entsprechendem Propagandamaterial eine entscheidende Rolle. Mittlerweile verbreiten nicht nur einschlägige Terrorgruppen, die in der islamischen Welt operieren, Videofilme oder e-Books über das Internet, sondern auch so genannte Unterstützer sind auf lokaler Ebene sehr aktiv. Diese greifen djihadistisches Material auf und verarbeiten es in eigenständigen Produktionen. Darüber hinaus wird auch eine Flut von Schriften in europäische Sprachen übersetzt oder auf andere Weise aufbereitet, um es in einem lokalen Kontext anzubringen. Auf derartige Internetressourcen können dann Anhänger der salafitischen Lehre zurückgreifen. In einer Propagandaschrift, die in deutscher Sprache in Umlauf gebracht wurde, wird beispielsweise dazu aufgefordert, die eigene Familie zu indoktrinieren: "Erzieht eure Kinder dazu, den Djihad und diejenigen, die sich auf seinem Weg befinden zu lieben. Zu den Methoden, die eigene Familie zu Djihad zu erziehen, gehören: Lehre sie die Geschichte des Propheten (...) und die Schlachten, an denen der teilgenommen hat (...). Gebe ihnen Djihad-Cassetten/DVD's über die Mudjahedin, so dass ihre Liebe und ihre Verbundenheit zu ihnen noch größer wird. Erzähle ihnen die Nachrichten und berichte "Erziehe deine ihnen über das Leben der Mudjahedin aus der VerKinder zum gangenheit und Gegenwart. Höre mit ihnen Djihad" Audio's, die davor warnen, den Djihad zu unterlassen und von Themen handeln, die mit dem Djihad zu tun haben (Märtyrertum, Fatwas)." 22 3.2 "Al-Djama'a al-Islamiya" und "al-Djihad al-Islami" Die "al-Djihad al-Islami" ("Der Islamische Djihad") und die "al-Djama'a alIslamiya" oder "al-Gama'a al-Islamiya" ("Die islamische Gemeinschaft") haben sich Ende der 1970er Jahre als militante Strömungen von der Bewegung der "Muslimbruderschaft" (MB) in Ägypten abgespalten. In zahlreichen, zum Teil nur lose verbundenen Gruppen (Djama'at) und Zellen sammelten sich jene Anhänger der MB, die sich zum Großteil in ägyptischen 22 "39 Möglichkeiten den Jihad zu unterstützen"; Übernahme wie im Original. 31 Gefängnissen radikalisierten und die mit der Politik der Bewegung, die sich von Gewalt distanzierte, nicht länger einverstanden waren. Sie wollten gewaltsam die Machtverhältnisse in Ägypten verändern. Einer ihrer wichtigsten spirituellen Führer ist der zu lebenslanger Haft in den Vereinigten Staaten verurteilte Scheich Umar Abd ar-RAHMAN. Er soll maßgeblich an den Anschlägen 1993 auf das World Trade Center in New York beteiligt gewesen sein. In den 1990er Jahren kam es zu einer Vielzahl von blutigen Anschlägen, denen viele Menschen, darunter prominente ägyptische Politiker und Schriftsteller sowie Touristen zum Opfer fielen. 1997 und 1999 rief ein Teil der zwischenzeitlich inhaftierten Anhänger der "Al-Djama'a al-Islamiya" einen Waffenstillstand aus. Die Gegner dieser Vereinbarung waren für die schrecklichen Anschläge gegen Touristen in Luxor im November 1997 verantwortlich, bei denen 62 Menschen getötet wurden. Sie standen in enger Verbindung zur ägyptischen Gruppe "al-Djihad al-Islami", deren führende Mitglieder im Februar 1998 die Kriegserklärung von Usama BIN LADIN gegen die Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichneten. Unter ihnen befand sich auch Ayman az-ZAWAHIRI, der heute als Stellvertreter BIN LADINs in der "al-Qaida" gilt. Mit diesem Zusammenschluss machte die zunächst regional in Ägypten aktive Gruppe jenen Schritt, der zu einer Internationalisierung der DjihadIdeologie und deren weltweiten Verbreitung führen sollte. Gilt der ägyptische Zweig auch aufgrund des öffentlich verlautbarten Gewaltverzichts als nicht mehr besonders schlagkräftig, so haben die militanten Anhänger der Gruppe in den global agierenden Djihad-Gruppierungen neue Betätigungsmöglichkeiten gefunden. Zuletzt trat in der Internetpropaganda unter seinem "Kampfnamen" Abu Djihad al-MASRI ein vermeintlicher Führer des besonders militanten Zweigs auf. Als Muhammad Khalil al-HAKAYMAH hat er sich 2006 zum Zusammenschluss mit "al-Qaida" bekannt. Er gilt auch als Autor eines Djihadhandbuchs, das besonders auf die Kommunikation zwischen den Kämpfern eingeht. 2007 hat er sich unter anderem im Mai zu Wort gemeldet und für die Unterstützung der "Fatah alIslam", einer militanten islamistischen Gruppierung, in palästinensischen Flüchtlingslagern in Libanon geworben. Die Kämpfer dieser Gruppe lieferten sich über Wochen blutige Auseinandersetzungen mit libanesi32 Islamismus schen Sicherheitskräften. Diese djihadistische Propaganda wies Dr. Nageh IBRAHIM, ein prominenter Sprecher der "Djama'a Islamiya", zurück. Er bezeichnete in einem Fernsehinterview im September 2006 al-HAKAYMAH als niederrangiges Mitglied und machte die Unterschiede zwischen den Vorstellungen der "alQaida" und denjenigen seiner Organisation deutlich, die der Gewalt abgeschworen haben will. In Baden-Württemberg sind die "al-Djihad al-islami" und die "al-Djamaa alislamiya" durch Einzelpersonen vertreten. 3.3 Die Chronologie der Gewalt Die Bereitschaft zu islamistisch motivierten Anschlägen und Gewalttaten Anschläge war im Jahr 2007 in djihadistischen Kreisen unverändert stark ausgeprägt. weltweit So fielen im ersten Halbjahr in Algerien, im Irak, in Afghanistan, in Somalia und anderen Krisengebieten Hunderte von Menschen terroristischen Gewalttaten zum Opfer. Im Jahr 2007 war in Afghanistan ein Wiedererstarken der Talibankräfte zu verzeichnen, was sich in Anschlägen und in sich über mehrere Wochen und Monate hinziehenden Kämpfen niederschlug, die nicht mehr nur auf die südlichen und südöstlichen Landesteile beschränkt blieben. Im Norden und in der Hauptstadt gerieten ab März 2007 verstärkt deutsche Polizisten, Soldaten und zivile Aufbauhelfer ins Visier terroristischer Gruppen. Am 8. März wurde ein Bauingenieur aus Baden-Württemberg in der Provinz Sar-i-Pul erschossen. Am 19. Mai starben bei einem Selbstmordanschlag auf einem Markt in Kundus drei deutsche Soldaten. Am 18. Juli wurden zwei Deutsche entführt. Einer wurde von den Kidnappern getötet, der andere kam nach wochenlanger Gefangenschaft am 11. Oktober frei. Am 15. August wurden drei deutsche Polizisten, einer von ihnen aus Karlsruhe, Opfer einer Sprengfalle. Ein weiterer Beamter kam aus Baden-Baden. Im Irak starben Tausende von Menschen infolge schwerer Anschläge. In den ersten neun Monaten sollen über 20.000 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen sein.23 Erst in der zweiten Jahreshälfte ging die Intensität der Anschläge zurück. Die Lage besonders für die Zivilbevölkerung blieb aber prekär. Beispielhaft wird im Folgenden auf besonders schwere terroristische 23 URL: http://www.iraqbodycount.org vom 31. Oktober 2007. 33 Anschläge mit islamistischem Hintergrund hingewiesen: In der algerischen Hauptstadt Algier kam es am 11. April zu den seit langem folgenschwersten Anschlägen. Bei der Explosion von zwei Autobomben im Regierungsviertel kamen 24 Menschen ums Leben, 160 wurden verletzt. In Großbritannien wurden in der Nacht zum und am Nachmittag des 29. Juni in London zwei mit Gasflaschen, Benzin und Nägeln zu Autobomben umgebaute Autos entdeckt. Am 30. Juni rasten zwei Attentäter mit ihrem Fahrzeug, das ähnlich präpariert war, in das Flughafengebäude in Glasgow. Dabei verletzte sich einer der beiden so schwer, dass er seinen Verbrennungen einen Monat später erlag. In der jemenitischen Provinz Marib starben am 2. Juli acht spanische Touristen und zwei jemenitische Begleiter bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe einer bekannten Ausgrabungsstätte. In Pakistan kam es Anfang Juli rund um die Rote Moschee in Islamabad zu bewaffneten Auseinandersetzungen und der Besetzung der Moschee sowie der angegliederten Schule. In den Tagen vom 3. Juli bis zur Stürmung durch pakistanische Sicherheitskräfte starben beinahe 200 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Unter den Toten befand sich auch der Anführer des Aufstands, Abdul Rashid GHAZI. Nach der Erstürmung meldete sich az-ZAWAHIRI mit einer Videobotschaft und rief zur Rache auf. In der Folge kam es zu weiteren Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der pakistanischen Sicherheitskräfte. Aus der Serie von Gewalttaten, die im Irak begangen wurden, fällt der Anschlag mit mehreren Fahrzeugen, darunter auch mindestens einem Lkw, am 14. August auf zwei Dörfer im Nordirak auf Grund seiner hohen Opferzahl von über 500 Toten und der perfiden Durchführung besonders auf. Die koordinierten Selbstmordanschläge richteten sich gegen die religiöse Minderheit der Jeziden. Terrorpläne auch in Deutschland In Deutschland konnte ein Anschlag verhindert werden. In Oberschledorn/Nordrhein-Westfalen wurden am 4. September drei Verdächtige festgenommen, denen vorgeworfen wird, mit Sprengstoff auf Wasserstoffperoxydbasis einen Anschlag oder mehrere Attentate im Bundesgebiet geplant zu haben. 34 Islamismus In Karachi/Pakistan starben am 19. Oktober bei einem der schwersten Anschläge in der pakistanischen Geschichte über 140 Menschen und mehr als 450 Personen wurden verletzt. Der Selbstmordanschlag galt dem Konvoi von Anhängern Benazir Bhuttos, die die Rückkehr der Politikerin aus dem Exil feierten. Am 27. Dezember wurde Benazir Bhutto in Rawalpindi/Pakistan Opfer eines tödlichen Anschlags nach einer Wahlveranstaltung. Dieses Attentat forderte über 20 weitere Todesopfer und unzählige Verletzte. Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen stürzte dieser Mord Pakistan in eine seiner schwersten innenpolitischen Krisen. Im Jahr 2007 ist aufgrund der Entwicklungen in den bekannten Kriegsund Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Tschetschenien, Palästina und Nordafrika die Gefahr islamistischer Terroranschläge nicht gesunken. Im Gegenteil zeigten die verhinderten und missglückten Planungen in Deutschland und Großbritannien sowie die Verhaftungen hier und in anderen europäischen Ländern, dass die Gefahr, die von islamistisch motivierten Täterkreisen ausgeht, unvermindert sehr hoch bleibt. 3.4 Islamistische Propaganda im Internet ProfessionalisieDie Ausbreitung islamistischer Angebote in allen Bereichen des Internets rung der hat sich weiterhin massiv fortgesetzt. Neben der gestiegenen Anzahl und Propaganda der medialen Qualität islamistischer Seiten hat sich inzwischen auch der deutschund türkischsprachige Anteil an islamistischen Internetdokumenten wie Propagandaschriften, Flash-Animationen und Videos deutlich erhöht. Insbesondere Informationen aus dem Bereich der "al-Qaida" und aus den weltweiten Djihadregionen wie Tschetschenien haben dabei einen großen Anteil. Dabei steht vor allem die Verehrung türkischer "Märtyrer" und Mudjahedin in den entsprechenden Kampfgebieten im Zentrum der türkischsprachigen Propaganda. Angesichts der großen in Deutschland lebenden türkisch sprechenden Bevölkerungsgruppe stellt dies mittlerweile einen ernst zu nehmenden aktuellen Faktor der Verbreitung islamistischer Inhalte insbesondere bei türkischen Jugendlichen in der Bundesrepublik dar. Transnational agierende Djihadisten wie die der Ideologie der "al-Qaida" anhängigen Gruppierungen stellen weiterhin den Großteil der Produzenten islamistischer Internetpublikationen und beeinflussen somit stark die islamistische Szene im virtuellen Raum. Auf einschlägigen Webseiten, Foren 35 und neuerdings in großem Maßstab auf so genannten Blogger-Angeboten dieser Szene finden sich vor allem die Downloadmöglichkeiten für Videound Audiodokumente, antiwestliche sowie antisemitische Hetzschriften GSPC wird sowie umfangreiche dogmatische und religiöse Texte. Derartige grundleZweigstelle gende Texte sind nicht minder gefährlich als kurzzeitig medial beachtete von "al-Qaida" audiovisuelle Produktionen, da sie viel länger unauffällig wirken und weit umfangreicher und längerfristiger im Internet präsent sind. Der Schwerpunkt der Video-Propaganda liegt hier weiterhin in der Darstellung von Erfolgen der Mudjahedin im Irak und in Afghanistan gegenüber den USStreitkräften und ihren regionalen Verbündeten. Eine neue Entwicklung ist das qualitativ hochwertige audiovisuelle Angebot der in Algerien agierenden früheren "Salafitischen Gruppe für Mission und Kampf" (GSPC24), die sich seit Anfang 2007 "alQaida im islamischen Maghreb" nennt. Hier werden neben Verlautbarungen des Führers der Gruppe Anschläge in allen Stufen, das heißt Auskundschaften des Anschlagsziels, Anschlagsvorbereitung beziehungsweise das Vorbereiten des Sprengsatzes, der Anschlag selbst und im Nachgang die so genannten Testamente der Attentäter (= Stellungnahmen zu ihren Motiven) im Detail aufgezeigt. Intensivierung Bei der visuellen Dokumentation von Anschlägen und Tötungen wird die der Propaganda mediale Wirkung durch den Einsatz oft mehrerer moderner und fest fixierter Digitalkameras beziehungsweise Fotohandys aus mehreren Blickwinkeln mit hoch auflösenden Bildern weiter verbessert. Besonders so genannte sniper (d.h. Scharfschützen)-Videos, bei denen amerikanische Soldaten vor laufender Kamera erschossen werden, sind weiterhin ein Element zur Verbreitung von Angst und Schrecken bei westlichen Betrachtern und besonders bei den amerikanischen Truppen im Irak. Seit 2006 hat sich ein deutschsprachiger Ableger der seit Jahren im Internet bis heute weitgehend unerkannt agierenden "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF) besonders hervorgetan. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, wesentliche Texte und Videos von Djihadisten auf Deutsch zu übersetzen oder mit deutschen Untertiteln zu versehen. Neben der Bereitstellung von ideologischen Abhandlungen und Indoktrinationsschriften haben es sich die Autoren dieser Web-Blogs zur Aufgabe gemacht, bereits 24 "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat". 36 Islamismus vorhandenes Video-, Bildund Audiomaterial in aufwändig gestalteten Flash-Animationen zu verarbeiten. Sehr häufig wird auch digitales Material, das aus anderen Quellen stammt, aus seinem ursprünglichen BedeutungsInternetbanner der GIMF zusammenhang herausgerissen und für propagandistische Zwecke der Djihadisten verwendet. Im März 2007 konnte die Propaganda-Zelle durch ein selbst produziertes Video große Aufmerksamkeit erzielen. Darin wurden die deutsche und österreichische Bundesregierung aufgrund ihres jeweiligen Engagements in Afghanistan zum ersten Mal unmittelbar bedroht. Mehrere Personen dieser Propagandazelle konnten am 12. September 2007 in Wien verhaftet werden. Jedoch selbst danach wurden Webangebote der deutschen GIMF sporadisch im Internet platziert. Ein weiteres Video der Gruppe vom November 2007 konnte jedoch nicht an die mediale Beachtung des Vorläufers anknüpfen. 3.5 Erstellung und Verbreitungswege islamistischer Internetpropaganda Neben der quantitativen Zunahme des Propagandamaterials ist auch weiterhin ein hohes Maß an Professionalität bei der Erstellung des Materials selbst festzustellen. Die Gruppen im Irak, in Afghanistan und in weiteren Regionen unterhalten jeweils eigene "Medienabteilungen", wie "al-Fajir" und "alFurqan", die sie als alternative Informationskanäle und somit als Gegengewicht zu der von ihnen als zensiert und einseitig wahrgenommenen Berichterstattung westlicher und insbesondere amerikanischer Nachrichtenagenturen betrachten. Durch die Nutzung einer Vielzahl kostenloser Filesharing-Angebote25 werden entsprechende Dokumente vielfach redundant im Internet zum Download platziert und über eine Vielzahl von Schnittstellen und Kontaktpersonen in anderen Sektionen des Internets gestreut, um sie Propaganda auch einem größtmöglichen Zuschauerkreis zugänglich zu machen. Über bekannin bekannten te Videoportale wird inzwischen islamistische Propaganda in unüberschauVideoportalen barer Menge unbehindert verbreitet. 25 Hierbei werden weitestgehend anonym größere Audio-, Videooder Text-Dokumente kostenlos zum Download bereitgestellt. 37 Aufgrund von massiven Hinweis-Kampagnen diverser Internetaktivisten konnte in der zweiten Jahreshälfte die Verbreitung islamistischer Internetpropaganda über US-Anbieter zumindest teilweise erschwert werden, da einige Filesharing-Anbieter bei Bekanntwerden einer Download-Adresse auf ihren Servern diese sofort sperrten. Aufgrund der erwähnten Redundanz gelangen aber weiterhin alle wesentlichen Verlautbarungen an ihren Adressatenkreis. Mittlerweile gelang es dem Führungskader der "al-Qaida" sein eigenes "Medienlabel" "AsSahab-Media" dauerhaft in den djihadistischen Informationskanälen zu etablieren. "As-SahabMedia" produzierte 2007 eine ganze Anzahl Propagandavideos mit "al-Qaida"-Führern sowie über die Kämpfe gegen die internationalen Einsatztruppen in Afghanistan und den angrenzenden pakistanischen Provinzen. Tendenziell schien "As-Sahab-Media" und damit auch "alQaida" zunehmend darauf bedacht zu sein, ein internationales nichtmuslimisches Publikum anzusprechen, da ein Großteil des neuen Videomaterials "al-Qaida" mit englischsprachigen Untertiteln in Umlauf gebracht wurde. Besonderes unterhält eigenes Aufsehen be-wirkte man mit der Verbreitung eines Videos und weiterer "Medienlabel" Audio-Botschaften von BIN LADIN im Umfeld des 6. Jahrestages zu den Anschlägen in New York und Washington (11. September 2001), die nach fast zweijähriger medialer Abstinenz keinen Zweifel an dessen Existenz aufkommen ließen. Inzwischen ist eine Vielzahl von eindeutig extremistischen, aber auch islamistisch unterwanderten, teilweise passwortgeschützten Foren entstanden, über die weltweit angesiedelte Sympathisanten miteinander kommunizieren. Die einschlägigen islamistischen arabischsprachigen Internetforen sind dabei das zentrale Austauschmedium für Fundstellen von Gewaltfilmen und Tondokumenten. Zusätzlich wird täglich eine große Anzahl von Verlautbarungen djihadistischer Gruppierungen aus allen regionalen Djihad-Kampfgebieten wie dem "Islamischen Emirat Afghanistan" der Taliban auch in europäischen Sprachen veröffentlicht und in diversen bekannten Foren gestreut. Zusätzlich versuchen einzelne Gruppierungen, ihre eigenen Websites im Netz zu etablieren. Neu hinzugekommen sind dabei so genannte Web-Blogs, bei denen tagebuchartig Verlautbarungen aus allen Bereichen des Islamismus aktuell verbreitet werden. Darüber hinaus gibt es eine mittlerweile unüberschaubare Anzahl von so 38 Islamismus genannten Unterstützerseiten für die Sache der Mudjahedin. Auf ihnen wird im Internet kursierendes Material systematisch gesammelt und geordnet. Auf diese Weise kann sich beispielsweise jeder Interessierte über das Leben der im Djihad gefallenen "Märtyrer" und deren Motivation informieren. Die Rekrutierung von potenziellen Mudjahedin erfolgt in der Regel über bestimmte Internetseiten, die für den weltweiten Djihad Werbung betreiben. Hierbei spielt die Verehrung und Pflege des Märtyrerwesens eine herausragende Rolle. Hunderte von Märtyrerlebensläufen finden in der islamistischen Szene Verbreitung und sollen dazu dienen, die Schrecken des Todes herunterzuspielen und andere dazu zu animieren, es ihren Vorgängern gleich zu tun. 4. Islamistischer Extremismus Neben den salafitischen Strömungen und den davon abgeleiteten djihadistisch-terroristischen Formen des Islamismus gibt es viele weitere Organisationen und Bewegungen, in denen islamistische Vorstellungen akzeptiert und verbreitet werden. Das Spektrum reicht von Bewegungen bis hin zu konkreten Vereinen oder Parteien, die spezifische Ziele regional oder auch weltweit verfolgen. Dabei schwören die im Folgenden beschriebenen Strukturen zwar im öffentlichen Diskurs der Gewaltanwendung ab. Sie verfolgen aber Ziele, die sich bei genauerer Analyse als antidemokratisch herausstellen. Problematisch ist bei einigen der Organisationen, dass sie zum Teil über bewaffnete Milizen verfügen und Gewaltanwendung in der politischen Auseinandersetzung nicht grundsätzlich ausschließen. Islamistischer Extremismus artikuliert sich zunehmend in deutscher Sprache und wird von deutschsprachige Deutschen gestützt. Dies macht die immer noch steigende Zahl und VerPropaganda breitung von deutschsprachigem Propagandamaterial deutlich. 4.1 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission") Die von Maulana Muhammad ILIYAS (1885 bis 1944) 1927 in Indien ins Leben gerufene Bewegung verfolgte seinerzeit das Ziel, den Islam als gesellschaftliche Größe wieder im Leben der dortigen Muslime zu verankern, die in einem hinduistisch geprägten Umfeld in Indien eine Minderheit darstellten. Diesem Schritt war eine kritisch anmutende Bestandsaufnahme der damaligen Lage der Muslime voraus gegangen. Ihnen hatte man zur Last gelegt, ihre islamische Identität in einem hinduistisch und westlich beein39 flussten Milieu verloren zu haben. Daher müsse man sich, so die Argumentation der Bewegung von ILIYAS, wieder auf die Vorbilder der frühen Muslime zurückbesinnen, die für eine korrekte islamische Lebensführung Maßstäbe verbindlich festgelegt hätten. Insbesondere die Scharia, das islamische Gesetz, soll dabei erneut zu einer bestimmenden Kraft in allen Lebensbereichen des Menschen erhoben werden: "Über Jahrhunderte hindurch haben sie [sc. die Muslime] auf dieser Erde mit solcher Erhabenheit und Stärke geherrscht, dass keine zeitgenössische Macht den Mut hatte, sie herauszufordern, und wenn sie es dennoch taten, dann unter dem Risiko Rückkehr zur der völligen Auslöschung (...) Aber leider wurde ursprünglichen diese historische Tatsache ein Mythos, eine alte Größe Geschichte, die man sich erzählt und die bedeutungslos und lächerlich erscheinen mag, ganz besonders im Zusammenhang mit dem aktuellen Leben der Muslime (...) Die muslimische Jugend der neuen Generation, die von den so genannten modernen Trends der westlichen Lebensart beeinflusst wurde, macht sich eine Freude daraus, die Ideale des Islams zu verspotten und das heilige Gesetz der Scharia als unmodern und unpraktikabel offen zu kritisieren." 26 Um als islamisch betrachtete Werteund Ordnungsvorstellungen erfolgreich zu revitalisieren, bedienen sich die Anhänger der "Tabligh-i Jama'at" einer Strategie der "inneren Mission" (da'wa/Tabligh). Hierbei wird jedoch im Gegensatz zu anderen islamistischen Strömungen dem einzelnen Individuum sehr viel mehr Eigenverantwortung abverlangt. Denn um den oben skizzierten Glaubensmaßstäben entsprechen zu können, sei es analog den Verkündungen der Propheten für alle Gläubigen eine Verpflichtung, in einer Art "kollektiver Mission" den "wahren Islam" zu verbreiten. Für das konkrete Vorgehen bei der Missionsarbeit wurde schon früh in der Geschichte der Bewegung ein Phasenmodell für die beteiligten Missionare entworfen, das bis heute Gültigkeit beansprucht und wie vor siebzig Jahren mittlerweile auch in Deutschland praktiziert wird. Zunächst sollen kleine Gruppen gebildet werden, die dann in ihrer jeweiligen Umgebung im Einzugsgebiet einer Moschee zu gemeinsamen Gebeten und religiöser Unter26 Ehtesam-ul-Hasan Kandhalvi, Muslim degeneration and its only remedy, S. 4f.; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 40 Islamismus weisung aufrufen sollen. Ziel ist es, weitere Aktivisten zu rekrutieren, die dann ihrerseits wieder Gruppen bilden sollen. Auf diese Weise wird eine graduell voranschreitende Bewegung ins Leben gerufen, die im Idealfall alle gesellschaftlichen Kreise erfassen soll. Von großer Bedeutung ist hierbei, dass die einzelnen Aktivisten im Rahmen ihrer Missionstätigkeit nicht ihrem normalen Leben entsagen sollen. Vielmehr wird in der Regel nur an einigen Tagen im Monat ein persönlicher Einsatz bei der Mission erwartet. Mit zunehmender Einbindung der Aktivisten werden dann auch längere Missionsreisen am Stück empfohlen. Man könnte hier durchaus von einer Islamisierung von unten sprechen, da letztendlich der Erfolg vom persönlichen Aktivismus Einzelner abhängig gemacht wird. Analog zu ihrer Tätigkeit im asiatischen Teil der Erde betreibt die "Tabligh- i Jama' a t" in Europa und Deutschland überwiegend eine "innere Mission". Weltweit hat sie mittlerweile mehrere Millionen Anhänger, wenn auch ihre nur schwach ausgebildeten Strukturen eine feste Zuschreibung von Personen an die Bewegung erheblich erschweren. In Deutschland sind umherziehende Gruppen bekannt, die mit der Unterstützung lokaler Vereine und Organisationen von Moschee zu Moschee wandern. Dortige Muslime sollen zum einen aufgerufen werden, den "wahren Islam" gemäß den schariatischen Vorgaben zu praktizieren; zum anderen sollen sie mobilisiert werden, sich selbst aktiv am Missionierungsprozess zu beteiligen. Doktrinäre Unschärfen und konfessionelle Differenzen der Beteiligten treten hier zunächst in den Hintergrund, da die Bewegung ihrem strategischen Ziel entsprechend jedermann offen stehen soll. Wenn auch bisweilen nur schemenhaft angedeutet, handelt es sich bei den Tablighis ideologisch betrachtet um eine salafitische Bewegung, da hier beim Islamverständnis ganz bewusst ein zeitlicher Bezugsrahmen gewählt wird, der auf einer fiktiven Anlehnung an die "edlen Vorfahren" (al-Salaf alSalih) d.h. die ersten Muslime basiert. Darüber hinaus spielen bei der damit einhergehenden Weltsicht antiwestliche Feindbilder eine gewisse Rolle, da indirekt als unislamisch angesehene Werte für die empfundene Degeneration der Muslime verantwortlich gemacht werden. Als problematisch für eine definitive Einschätzung der Bewegung erweisen sich allerdings die nur spärlich vorhanden Schriften der "Tabligh-i Jama'at". Die Organisation verzichtet auch gänzlich auf eine mediale Präsenz im Internet. Deshalb werden Tablighi-Anhänger immer wieder mit Anfeindungen konkurrierender salafitischer Richtungen konfrontiert. Ihnen wird zur Last gelegt, keine richtige Glaubensdoktrin zu haben, was schließlich zu fehlerhaftem und damit unislamischem Verhalten führen würde. Die "Tabligh-i Jama'at" verfügt als Bewegung auch über kein Netzwerk anerkannter religiöser Autoritäten, die 41 sich über öffentliche Kanäle zu religiösen Fragen äußern. Diese Kritik wird jedoch von den Tablighis ganz bewusst in Kauf genommen, da die Bewegung betont apolitisch in Erscheinung tritt und - soweit ersichtlich - im Rahmen ihrer Missionsarbeit innerislamische Reibungen vermeiden will. Das strategische Ziel besteht darin, weitreichende Veränderungen in der Gesellschaft zu erreichen, indem man möglichst breit gefächerte islamisch geprägte Personenkreise mit einbindet. 4.2 "Islamisches Informationszentrum Ulm" (IIZ) Beim "Islamischen Informationszentrum Ulm" (IIZ), das früher enge Verbindungen zu dem zwischenzeitlich verbotenen "Multikulturhaus" (MKH) in Neu-Ulm unterhalten hatte, handelte es sich um einen eigenständigen Sammelbecken Verein. Im Zuge der Vereitelung der Terroranschläge der im Sauerland festvon salafistischen genommenen Gruppe27, die auch personelle Bezüge zum IIZ aufwies, hat Aktivisten sich der Verein im Oktober 2007 selbst aufgelöst und kam damit einem Verbotsverfahren zuvor. Das IIZ verfolgte seit seiner Gründung im Jahre 1999 nach eigenen Bekundungen das Ziel, den Islam in seiner unverfälschten Form zu vermitteln. Im Zentrum seines Betätigungsfeldes stand eine Propagandaarbeit (Da'wa), die insbesondere auf die Konvertierung von NichtMuslimen ausgerichtet war. Der Verein entfaltete im Laufe der Zeit einen regen Aktivismus, wodurch sein Wirkungskreis auch weit über den regionalen Raum hinausreichte. Hierbei agierte er zwar weitestgehend autonom, lehnte sich aber in seiner ideologischen Grundhaltung an ein salafitisch gefärbtes Islamverständnis an, das an aus Saudi-Arabien kommende Islamauslegungen anknüpfte. IIZ-Aktivisten verteilten regelmäßig ins Deutsche übersetzte Propagandaschriften, die offensichtlich in Zusammenarbeit mit einem auf der arabischen Halbinsel ansässigen Propagandabüro erstellt worden waren. Denn in intensive diesen Publikationen wurde auf zwei einschlägige, damals noch aktive InterPropagandaarbeit netadressen des IIZ verwiesen. In für salafitische Kreise typischer Manier wird in einer dieser Schriften eine integralistische Islamauslegung kolportiert, die den Islam weder auf den privaten Bereich beschränkt noch anderen Glaubensund Gesellschaftssystemen einen gleichberechtigten Handlungsund Entfaltungsspielraum beimisst. Vielmehr soll der Islam explizit alle Lebensbereiche des menschlichen Daseins auf individueller, staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Ebene durchdringen und als bestimmende Kraft dominieren: "Die islamische Religion umfasst alle Angelegenhei27 Siehe Kap. B Ziff. 3.3. 42 Islamismus ten des Lebens. Sie enthält Systeme und Gesetzgebungen in vielen Bereichen, wie: Leben und arbeiten in der Gesellschaft, Krieg, Heirat, Wirtschaft, Politik, Ibadat 28 usw. Die gesamte Menschheit ist nicht in der Lage, solch eine vorbildliche und ideale islamische Gesellschaft zustande zu bringen. Und je weiter die Gesellschaften von diesen Gesetzgebungen und Systemen entfernt sind, desto mehr versinken sie in unmoralischen Verhaltensweisen." 29 Ein Hauptmerkmal der hier vertretenen Islamauslegung enthält auch die Forderung nach der uneingeschränkten Anwendung des islamischen Gesetzes (Scharia). In Form eines religiösen Etatismus wird Gott als der einzig zulässige Souverän erachtet, dem jegliche legislative Autorität zustünde: "Unter den Verpflichtungen, die das Bekenntnis (zum islamischen Monotheismus) zur Folge hat, ist auch das Recht Allahs darauf, allein Gesetze und Anordnungen zu erlassen, die sich mit Gottesdienst, Behandlung der einzelnen Personen oder der Gemeinschaft, mit Erlaubtem und Verbotenem befassen, und die auch dem Propheten gezeigt wurden." 30 Dass die hier anvisierte Implementierung islamischer Ordnungsvorstellungen auch Gesetze und Bestimmungen enthalten, die in keiner Weise mit Menschenrechten wie der Menschwürde oder der körperlichen Unversehrtheit in Einklang gebracht werden können, zeigt folgende Textpassage: "Die Strafe für Diebstahl ist das Abtrennen der Hand (...) Die islamische Gesetzgebung (Scharia) hat einen allgemeinen fundamentalen Grundsatz als Maß für die Strafarten vorgeschrieben. Allah sagt: Die Vergeltung für eine böse Tat ist etwas gleich Böses. (...) In diesem Zusammenhang darf sich jeder fragen: sind die Strafen, die der Islam bestimmt, bei der Realisierung des beabsichtigten Ziels erfolgreicher als die anderen, welche die Menschen bestim28 Gemeint sind rituelle Pflichten gegenüber Gott. 29 Abdur-Rahman A. Al-Sheha, Botschaft des Islam, Riyadh 2004, S. 112. 30 Ebd., S. 54. 43 men, oder nicht? Letztere, kann man leicht merken, helfen nur bei der weiteren Verbreitung der Verbrechen. Das defekte Körperglied muss amputiert werden, damit der Rest des Körpers gesund bleibt!" 31 Neben derartigen Aufforderungen zu einer Strukturierung der geltenden sozio-politischen Ordnung nach islamischen Maßgaben, die sich bestenfalls noch als Aufruf zur Schaffung paralleler Rechtsstrukturen beschreiben lassen, fanden sich bis zuletzt in dem vereinseigenen Sprachrohr des IIZ immer wieder Beiträge, die, wie in salafitischen Kreisen üblich, auf die Schaffung konkreter Freund-Feind-Denkmuster hinweisen. In einer Ausgabe der Zeitschrift "Denk mal islamisch" (DmiZ)32 stellt ein anonym schreibender Verfasser fest, dass es wohl nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sich "die Muslime in Deutschland öffentlich durch Merkmale wie ein gelbes Zeichen auf einer Armbinde kennzeichnen müssen." An anderer Stelle spricht der Autor sogar von einer "versteckten Rassenverfolgung" und von "ethnischen Säuberungen". Die Behörden (in Deutschland), so wird weiter ausgeführt, würden "Ängste und Hass unter der Bevölkerung schüren". Nur weil Deutschland keine Truppen in den Irak gesandt habe, heiße das nicht, dass dieses Land nicht in diesen Kampf eingetreten sei. Deutschland sei Teil "im Kampf gegen den Islam". Die "deutsche Regierung sei Diener der Kriegsherren". Das geschürte Feinbild "Westen" wird mit gegenwärtigen Krisenregionen in der islamischen Welt in Verbindung gebracht. Die westlichen Länder brächten weder dem Irak noch Afghanistan noch sonst einem Land Freiheit und Gerechtigkeit, da sie nämlich selber keine hätten. Als Beleg dafür wird ein beliebter Vers aus dem Koran angeführt, der beweisen soll, dass die Muslime schon zur Zeit des Propheten vor den Juden und Christen gewarnt wurden: "Mit dir werden weder die Juden noch die Christen zufrieden sein, bis du ihrem Bekenntnis folgst." Kann diese religiös unterlegte "Dämonisierung des Feindes", die sich in der einseitigen Darstellung des Leides der islamischen Welt als vom Westen verursacht niederschlägt, schon auf internationaler Ebene zu schweren Zerwürfnissen im Rahmen der Völkerverständigung führen, so richten sie auf gesellschaftlicher Ebene umso größeren Schaden an. Die Stigmatisierung breiter gesellschaftlicher Gruppen als "feindselig", weil unislamisch, geht fast immer mit isolationistischen Tendenzen einher. Daraus resultiert nicht nur das Infragestellen des politischen Systems, sondern auch die Ächtung der eigenen Bevölkerung, die zu hassen als eine gottesgefällige Tat erschei31 Ebd., S. 120ff.; Übernahme wie im Original. 32 DmiZ, Ausgabe 22, S. 1ff. 44 Islamismus nen muss. Neuere empirische Studien33 weisen explizit darauf hin, dass insbesondere Vereine und Moscheen, in denen salafitische Glaubensauslegungen vorherrschend sind, "religiöse Brutstätten" für Radikalisierungsprozesse darstellen. Die extreme Intoleranz und Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden und anderen Religionsgemeinschaften sei nicht nur eine Kerndoktrin des Wahhabismus, wie sie von zeitgenössischen Rechtsgelehrten aus Saudi-Arabien vertreten wird, sondern bilde auch, indem sie die Schwelle zur Gewalt herabsetzt, die religiöse Grundlage der Salafi-Djihadi-Ideologie, die zum gewaltsamen Vorgehen gegen die "Feinde des Islam" aufruft. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch in Retroperspektive im IIZ ausmachen, wo einzelne Aktivisten immer wieder ins djihadistische Spektrum abgeglitten waren. Auch die Radikalisierung der mit dem IIZ in Verbindung stehenden Beteiligten der zuletzt vereitelten Terroranschläge kann nicht losgelöst von dem sie umgebenden ideologischen Umfeld betrachtet werden. 4.3 "Die Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger Untrennbar von der Entwicklung des modernen Islamismus im letzten Jahrhundert ist bis heute die "Muslimbruderschaft" (MB). Ursprünglich eine vom Grundschullehrer Hassan al-BANNA34 1928 in Ägypten ins Leben gerufene Laienbewegung, die sich primär gegen die damalige britische Kolonialmacht richtete, wurde das ideologische Konzept über Jahrzehnte hinweg ergänzt und verfeinert. Die MB hatte damit maßgeblichen Einfluss Vordenker auf viele später auftretende islamistische Organisationen und Bewegungen. der MB waren Sowohl in Algerien und Tunesien als auch in Palästina und weiteren arabiVäter des schen Staaten des Vorderen Orients sind in den 1980er Jahren regionale Islamismus Ableger der ägyptischen MB entstanden. Als Reaktion auf lokale Gegebenheiten entwickelten sie dabei regionale Eigenheiten. So entstand beim palästinensischen Zweig ein eigener militanter Arm, der für zahlreiche Anschläge auf israelische Ziele verantwortlich ist. In Baden-Württemberg engagieren sich Einzelpersonen mit entsprechendem regionalem Hintergrund für die Ziele der Organisationen. Der aktuelle Entwicklungsstand in der ideologischen Ausprägung der heutigen ägyptischen MB wird durch deren Entwurf aus dem Jahr 2007 für ein 33 Zum Beispiel New York Police Department Intelligence Division, Redicalization in the West: The homegrown threat, 2007. 34 1906-1949. 45 Internetbanner der "Muslimbruderschaft" Parteiprogramm transparent. Der Entwurf ist ganz auf die Gründung eines Staatswesens, in dem Gott als oberster Souverän betrachtet wird, und die Abkehr vom zivilrechtlichen Staat ausgerichtet. So heißt es darin, "dass die Prinzipien der Scharia die Hauptquelle für die Gesetzgebung" (al-Masdar arra'isi lit-tashri') darstellten und "als vollkommener Weg (minhadj mutakamil), der alle Lebensbereiche ordnet", erachtet würden.35 Ein Rat von islamischen Rechtsgelehrten (Madjlis al-'Ulama) soll gebildet werden, der jedes Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht der Scharia hin überprüft, was zu einer drastischen Einschränkung der Legislative führen würde. Oberste Verpflichtung des Präsidenten sei es, die "Islamische Nation" (Umma) zu verteidigen. Frauen und Christen werden von der Kandidatur für das Präsidentschaftsamt ausgeschlossen. Christen sei es unmöglich, die Religion zu verstehen, mit welcher sie regieren müssten. Die Frauenfrage wird unter der Rubrik "Rechtsverfahren und Probleme" abgehandelt: "Frauen sollen keine Pflichten aufgebürdet werden, die ihrer natürlichen Rolle in der Familie widersprechen". Im Abschnitt zum Thema Wirtschaft wird die Abschaffung der Börse und aller verzinslicher Bankkonten gefordert, ohne dabei alternative Anlagemöglichkeiten zu erörtern. Die Veröffentlichung des Entwurfs für ein neues Parteiprogramm der MB löste in Ägypten heftige Kontroversen aus. Auch mit der MB sympathisierende Kommentatoren fügten zahlreiche Kritikpunkte an, besonders zur uneingeschränkten Machtstellung des "Rates der Rechtsgelehrten". Im Februar 2007 wurden etwa 80 Mitglieder der MB von ägyptischen Sicherheitskräften festgenommen. Fast 40 mutmaßliche Financiers der MB mussten sich vor einem Militärgericht verantworten, darunter auch Vertreter des internationalen Zweigs der MB wie der Präsident der "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Ibrahim el-ZAYAT.36 Den Angeklagten wird vorgeworfen, zur Durchsetzung ihrer Ziele 35 Parteiprogramm der MB 2007, hier und im Folgenden der Website der ägyptischen Zeitung al-Masry alYoum entnommen, Internetauswertung vom 18. Oktober 2007. 36 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 2007; Website der "Muslimbruderschaft" vom 12. Februar 2007. 46 Islamismus terroristische Methoden zu nutzen. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. 4.3.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Gründung: 1982 Hauptsitz: München Mitglieder: ca. 180 Baden-Württemberg (2005: ca. 190) ca. 1.300 Bund (2005: ca. 1.300) Publikation: "Al-Islam", (bis 2003 in gedruckter Version), seither Veröffentlichungen in unregelmäßigen Abständen auf eigener Homepage. Seit März/April 2006 erscheint sie viermal im Jahr online für Abonnenten. deutscher Ableger der MB Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) ist eine einflussreiche sunnitische Organisation arabischer Islamisten in Deutschland, die seit 1960 besteht. Ihr Hauptsitz ist München. Ein in Stuttgart bestehendes "Islamisches Zentrum" (IZ) wurde auf der IGD-eigenen Homepage unter "Islamische Zentren der IGD" aufgeführt (Stand: 10. Januar 2006).37 Seit Mitte 2006 wird das IZ Stuttgart unter derselben Rubrik als "Kooperationspartner der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." bezeichnet.38 Eigenen Angaben der IGD zufolge steht darüber hinaus in BadenWürttemberg noch der "Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V." in Karlsruhe in Koordination mit der IGD. Seit 2002 wurden juristische und organisatorische Umstrukturierungen getätigt. In Baden-Württemberg ist die IGD im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg" vertreten. Der sich als "unabhängig" bezeichnende Dachverband "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) vertritt auch die Interessen der IGD, die Mitglied im ZMD ist. Auf europäischer Ebene ist die IGD in der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) vertreten. Die IGD ist Gründungsmitglied der FIOE. Diese pflegt als internationaler Dachverband die Auslandsbeziehungen und vertritt offiziell die Position, die zentrale Anlaufstelle im sunnitisch-islamischen Bereich zu sein. Ihre politische Linie ist darauf ausgerichtet, sich eine zunehmend stärkere Position zu sichern, um andere islamische Organisationen und Vereine kontrollieren zu können. Ideologisch sieht sich die FIOE dem Erbe des Gründers der "Muslimbruderschaft" (MB) Hassan al-BANNA verpflichtet. Der seit 2002 amtierende Präsident der IGD Ibrahim el-ZAYAT, der 2006 für weitere vier Jahre in seinem Amt bestätigt wurde, hat gleichzeitig die Stellung eines Vorstandsmitglieds und Vertreters der FIOE in Deutschland inne. El-ZAYAT ist Mitglied 37 IGD-Website vom 10. November 2005. 38 IGD-Website vom 13. November 2006. 39 WAMY-Website vom 20. August 2007. 47 im Generalsekretariat der saudisch-wahhabitischen Jugendorganisation "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY)39. Aufgrund seiner Funktion als Generalbevollmächtigter der "Europäischen Moscheebauund Unterstützungsgesellschaft" (EMUG) ist el-ZAYAT zudem Verwalter von Moscheen der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG). Der 1997 von der FIOE gegründete "European Council for Fatwa and Research" (ECFR), also "Europäischer Rat für Rechtsguteuropaweiter achten und wissenschaftliche Studien", widmet sich primär rechtlichen ProZusammenschluss blemen von Muslimen in der europäischen Diaspora. Eine zentrale Stellung nimmt dabei die Scharia ein, die dem ECFR zufolge einen allumfassenden Charakter besitzt. Vorsitzender des ECFR ist der ägyptisch-stämmige Predi- g e r Dr. Yusuf al-QARADAWI. Dieser hat eine Position in der Lehrakademie der saudisch-wahhabitisch dominierten "Islamischen Weltliga" (gegründet 1962) inne und wirkt in zahlreichen Lehrinstitutionen und Aufsichtsgremien beratend. Seine auf Al-Jazeera ausgestrahlte Fernsehsendung "Das islamische Gesetz und das Leben" (ash-Shari'ah wa 'l-Hayat) zieht ein Millionenpublikum an. In seiner Publikation "Al-Halal wa al-Haram fi'-l-Islam" (Erlaubtes und Verbotenes im Islam)40, die 2007 im IZ Stuttgart verkauft wurde, bezieht alQARADAWI Stellung zur Homosexualität. Diese erachtet er als geschlechtliche Perversion, die zu den größten Sünden zähle. Zum Zwecke der Reinhaltung der islamischen Gesellschaften befürwortet al-QARADAWI in dieBefürwortung sem Zusammenhang die Todesstrafe: der Todesstrafe "Die islamischen Rechtsgelehrten haben über die Strafe für diese Schandtat (al-Fahisha) verschiedene Meinungen. Sollte es die gleiche Strafe wie für Hurerei sein, oder sollten beide, der aktive und der passive Teil getötet werden? Mit welchem Mittel sollten sie beide getötet werden? Mit dem Schwert? Oder durch Feuer? Oder indem sie von einer Mauer gestürzt werden? Zwar scheinen solche Strafen grausam, doch wurden sie empfohlen, um die Reinheit der islamischen Gesellschaft zu erhalten und sie von derartigen Elementen rein zu halten." 41 40 Die deutsche Ausgabe erschien 1960 im Bavaria-Verlag in München. 41 "Al-Halal wa'l-Haram fi 'l-Islam", Kairo 2004, S. 152; Übersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 48 Islamismus Im Juli 2007 trat al-QARADAWI gemeinsam mit dem HAMAS-Führungsfunktionär Khaled MASHAL in einer Sendung des Satellitensenders al-Jazeera auf. MASHAL lobte QARADAWI wegen seiner Unterstützung von Selbstmordoperationen: "Die Unterstützung, die wir von Scheich Qaradawi erhalten, ist etwas [sc. ganz] anderes als die Unterstützung von irgendjemand anderem, wegen seines religiösen Status, seines Status in moralischer Hinsicht, und seiner Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Nation und Welt auf die Probleme der Nation zu erregen (...). Vom ersten Tag an bis zum heutigen Tag zögerte der Scheich, Gott möge es ihm entgelten, nicht, den Djihad und den Widerstand, sowie die Kämpfer und die Widerstandsgruppen zu unterstützen." 42 Al-QARADAWI selbst bestätigte dies ausdrücklich und verdeutlichte, für wen er eintritt: "Ich unterstütze die palästinensische Sache. Ich unterstütze den Widerstand und den Djihad. Ich unterstütze die Hamas, den islamischen Djihad und die Hizb Allah. Ich bin gegen den Frieden, den Israel und Amerika zu diktieren wünschen. Dieser Friede ist eine Illusion. Ich unterstütze Märtyreroperationen." Vom 17. bis 20. Mai 2007 war das IZ Stuttgart Schauplatz der Ausstellung "Der Islam & die Wissenschaft". Diese Ausstellung war einer "islamischen" Position zur Evolutionstheorie gewidmet, allerdings auf einem niedrigen Niveau. Auffallend war, dass bei der Präsentation auch Materialien des Autors Harun YAHYA alias Adnan OKTAR Verwendung fanden. Dieser Autor ist der Öffentlichkeit zumeist als so genannter Kreationist bekannt. In den 1990er Jahren fiel er mit einem Werk auf, in dem er den Holocaust leugnete. In jüngster Zeit hat er davon Abstand genommen und räumt die 42 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 16. Juli 2007; Übersetzung aus dem Englischen durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 49 Tatsache des Völkermordes ein, ohne auf seine Feindbilder zu verzichten: "Die Informationen, die wir hier kurz zusammenfassten, sind ausreichend um aufzuzeigen, dass der Holocaust, der Völkermord an den Juden, eine der größten Grausamkeiten der Geschichte waren. Doch muss an diesem Punkt vorsichtig umgegangen werden. Denn manche bemühten sich den Holocaust für ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Zwecke zu instrumentalisieren. Sie haben jedoch kein Recht dies zu tun, denn es sind dieselben, die während der 1930er Jahre durch ihre Zusammenarbeit mit den Nazis den Antisemitismus anfachten, und die europäischen Juden links liegenließen, als der Holocaust begann: die radikalen Zionisten. Sie haben die Absicht den Holocaust zu benutzen um die Grundlage für einen neuen Holocaust (die ethnische Säuberung, die die Israeli in Palästina durchführen) zu finden." 43 Zeitgleich wurden im Geschäft des IZ Stuttgart Werke des Gründers der MB wie die "Sammlung - Sendschreiben des Imams (und) Märtyrers Hassan al-BANNA"44 sowie weiterer Ideologen der MB und ihres ehemaligen obersten Leiters, Mustafa MASHUR, angeboten. Das Buchsortiment umfasste darüber hinaus auch salafitisch-wahhabitische Publikationen des ehemaligen saudi-arabischen Großmuftis Abd al-Aziz Abdallah bin BAZ und von Muhammad Bin Salih al-UTHEIMIN, einem hochrangigen, 2001 verstorbenen wahhabitischen Rechtsgelehrten. In der Sammlung der Sendschreiben al-BANNAs ist auch eine Abhandlung zum Djihad enthalten.45 Dem MBGründer geht es um den bewaffneten Kampf, den er als eine Pflicht für jeden Muslim beschreibt. Nicht persönliche oder materielle Interessen legitimierten diesen Kampf, sondern ausschließlich der Einsatz für das "Wort Gottes". Sterben sei, so al-BANNA, für jeden unumgänglich. In diesem Zusammenhang hebt er das besondere Verdienst des "Selbstopfers auf dem Wege Gottes" hervor. Eindeutig spricht er sich dafür aus, dass der Einsatz mit der Waffe Vorrang vor einer anderen Form des Djihad hat, dem "Einsatz der Seele" (oder des Herzens). Hier geht er konform mit Sayyid QUTB, der in seinen "Wegzeichen" den "inneren Kampf" und den Djihad als defensives Konzept verworfen hatte. 43 YAHYA, Harun: Die Grauen des Holocaust, ohne Jahr und Paginierung; Übernahme wie im Original. 44 "Majmu' a - Rasa'il al-Imam ash-Shahid Hasan al-Banna". 45 Ebd., S. 421ff. 50 Islamismus In der vom "Islamischen Zentrum München" herausgegebenen und im Jahr 2007 weiter verbreiteten Publikation "Die Ehe im Islam: Das Wichtigste im Überblick", heißt es: "Die von Menschen gemachte Gesetzgebung bewährt sich nicht, sie ist in jeder Hinsicht ungenügend und beschränkt. Wie auch die wohl nützliche Wissenschaft ihre Grenzen hat, denn erschaffen hat rechtliche sie noch nichts, keinen Tropfen Wasser." 46 Benachteiligung von Frauen Das in einem säkularen Rechtsstaat verankerte Grundrecht der Frau auf freie Wahl des Ehepartners wird ihr mit der Begründung aberkannt, dass die jüdische und die christliche Religion die religionsbezogenen Rechte einer Muslimin nicht wahrten.47 Die damit verbundene Ablehnung eherechtlicher Gesetze wird in der Ablehnung der standesamtlichen Trauung deutlich, die nach islamischem Recht nicht rechtskräftig sei. Der Frau wird eine permanente sexuelle Verfügbarkeit im Dienste ihres Gatten abverlangt. Einer Berufstätigkeit darf sie nur mit Erlaubnis ihres Gatten nachgehen. Somit ist sie in vielen Lebensbereichen vom Wohlwollen und der Entscheidungsgewalt des Ehemannes abhängig. Eine Überlegenheit des Islam und die damit einhergehende Ablehnung "unislamischer" Gesetzgebung werden zudem in dem Hinweis deutlich, dass "Atheisten" und "vom Islam Abtrünnige" nicht erben dürften.48 In einer weiteren Publikation des "Islamischen Zentrums München" wird betont, dass das Gesetz, dem beide Ehepartner verpflichtet seien, die Scharia darstelle.49 Die Verfasserin plädiert zudem für eine Wiedereinführung der Haddstrafen (Körperstrafen): "(...) Fünftens werden geschlechtliche Beziehungen außerhalb der Ehe nach islamischem Recht nicht nur als Sünde, sondern auch als Vergehen betrachtet, das nach dem Gesetz auf die gleiche Weise wie Diebstahl oder Mord bestraft wird. Die Strafe dafür wird auf Männer und Frauen gleichermaßen angewandt und ist in ihrer Auswirkung hart und abschreckend." 50 46 UMM-YUSUF, Iman: Die Ehe im Islam: Das Wichtigste im Überblick. Islamisches Zentrum, München 1998, S. 11f. 47 Ebd., S. 15. 48 Ebd., S. 36. 49 LEMU, Aisha B. und GRIMM, Fatima: "Frau und Familienleben im Islam." Islamisches Zentrum München 1999, S. 12f. 50 Ebd., S. 22f. 51 Die hier nicht genannten, doch vorgesehenen Strafen widersprechen nicht nur der prinzipiellen Abschaffung der Todesstrafe, sondern richten sich auch gegen Art. 1 Grundgesetz, den Grundsatz der Menschenwürde. Leverkusen (17. November 2007) und Berlin (18. November 2007) waren die Schauplätze für die 29. Jahreskonferenz der IGD. Das Motto der Veranstaltung hieß einem Veranstaltungsplakat51 zufolge: "(...) und so haben wir euch zu einer 'Gemeinschaft der Mitte' gemacht".52 Der Ausdruck "Gemeinschaft der Mitte" wurde durch die neo-islamistische Strömung "Wasatiyya" aufgegriffen, die eine integristische Islamauffassung vertritt, bei der Religion und Politik als untrennbar erachtet werden. Die IGD verwendet den Wasatiyya-Begriff unter Punkt 3 ihrer Zielsetzung53, Referenten aus dem Inund Ausland wirkten bei der Veranstaltung mit. Neben Ibrahim el-ZAYAT, dem Präsidenten der IGD, nahmen Dr. Ayyub KÖHLER, der Vorsitzende des ZMD, Oguz ÜCÜNCÜ, der Generalsekretär der türkisch-islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG), Ali KIZILKAYA, der Vorsitzende des "Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland", Chakib Ben MAKHLOUF, der Präsident der FIOE, sowie der deutsche Konvertit Dr. Murad HOFMANN teil. Auch im Jahr 2007 führte die IGD ihr Konzept fort, vor allem das jugendliche Publikum anzusprechen. Dies wird an den geladenen Gästen AMMAR 114 und Mesut KURTIS deutlich. Bei AMMAR 114 handelt es sich um einen zum Islam konvertierten Rapper aus Äthiopien. Sein Song "Gib niemals auf" ist eine Durchhalteparole für all jene Frauen, die sich für das Kopftuch entschieden haben. Der mazedonisch-türkische Musiker KURTIS interpretiert Salawat-Musik54 in arabischer, türkischer und englischer Sprache. KURTIS hat am "European Institute of Human Sciences" in Llanybydder Wales den Studiengang "Shari'ah Studies" absolviert. Die University of Wales/Lampeter hatte die Angliederung des 1997 gegründeten Instituts wieder aufgekündigt, nachdem Verbindungen der Einrichtung zu Yusuf alQARADAWI bekannt geworden waren. 51 IGD-Website vom 12. November 2007. 52 Koran, Sure 2, Vers 143. 53 IGD-Website vom 13. Oktober 2005. 54 Von Salat (Gebet), Salawat (Pluralform), Zusammenstellung von religiösen Liedern. 52 Islamismus Die Jugendarbeit hat bei der IGD einen hohen Stellenwert. Ein wichtiger Kooperationspartner ist hier die 1964 gegründete "Muslimische Studentenvereinigung e.V." (MSV) mit Sitz in Köln. Zur bevorzugten Zielgruppe gehören Jugendliche, die in der zweiten und dritten Generation in der Diaspora leben. Die MSV ist mit über 35 Mitgliedsvereinen an fast allen größeren Universitäten in Deutschland zu finden. Im Jahr 2007 jährte sich die von der MSV organisierte "Islamwoche" in Stuttgart das 13. Mal. Zum Thema der Veranstaltung vom 21. Juni 2007 "Ist der Quran zeitabhängig?" referierte Amir ZAIDAN55 aus Wien. Eigenen Angaben zufolge hat ZAIDAN eine Ausbildung am "Institut Europeen des Sciences Humaines" (I.E.S.H.) in Chateau-Chinon/Frankreich absolviert, einer Bildungseinrichtung mit starkem Bezug zu MB-Organisationen in "Kamel-Fatwa" Frankreich. Auf der Webseite des Lehrinstitutes wird unter der Rubrik "Theologie et Fatwa" der ECFR unter der Führung von al-QARADAWI als Quelle von Rechtsgutachten für die sozialen Probleme in Europa genannt.56 ZAIDAN hatte 1998 mit seiner "Kamel-Fatwa" Aufsehen erregt. Sie veranschlagte als Maßstab für eine Wegstrecke, die eine Frau ohne männliche Begleitung (Mahram57) zurücklegen dürfe, 81 Kilometer und damit genau die Entfernung, welche ein Kamel an einem Tag zurücklegen könne. ZAIDAN spricht Mädchen und Frauen somit das fundamentale Recht der Freizügigkeit ab. Im Jahre 2006 erklärte Zaidan, dass er die umstrittene "KamelFatwa" heute unter denselben Umständen wieder unterschreiben werde.58 Die MSV war auch Herausgeber von ZAIDANs Publikation "al-Aqida" (Glaubenslehre): Hier betont ZAIDAN, dass die "islamische Lebensweise" "alle Bereiche und Ebenen der Lebensgestaltung, nämlich die religiöse(n), kulturelle(n), politische(n), wirtschaftliche(n), soziale(n), wissenschaftliche(n)" umfasse.59 Die der IGD nahe stehende "Muslimische Jugend in Deutschland e.V." (MJD), gegründet im Jahre 1994, ist Mitglied der pan-europäisch agierenden Plattform "Forum of European Muslim and Youth Organisations" (FEMYSO). El-ZAYAT hatte bei der Gründung der FEMYSO Mitte der 1990er Jahre aktiv mitgewirkt. Neben der FIOE war auch die "Islamic Foundation" in Leicester/Großbritannien, in den Entstehungsprozess der FEMYSO ein55 ZAIDAN ist Direktor des "Islamischen Religionspädagogischen Instituts" (IRPI) in Wien und Dozent an der dortigen "Religionspädagogischen Akademie" (IRPA). 56 Internetauswertung vom 8. August 2006. 57 Mahram: "Verbotene, unantastbare Sache". Als Mahram kann entweder der Ehemann fungieren oder ein Mann, dessen Verwandtschaftsgrad eine Ehe ausschließt. 58 Internetauswertung vom 3. Dezember 2007. 59 "Al-Aqida - Einführung in die zu verinnerlichenden Inhalte des Islam", Muslimische Studentenvereinigung in Deutschland e.V., Marburg 1997, 1. Auflage, S. 29. 53 gebunden. Bei der "Islamic Foundation" handelt es sich um eine Lehrund Forschungseinrichtung, die sich ideologisch am Gedankengut von Sayyid Abu al A'la MAUDUDI (1903 bis 1979) orientiert. In seiner ideologischen Ausarbeitung wurde der wohl für die MB wichtige geistige Führer Sayyid QUTB (1906 bis 1966) nachhaltig von MAUDUDI, dem Führer und Begründer der 1941 in Britisch-Indien entstandenen "Jamaat-e Islami" geprägt, dessen "Hakimiyya-Konzept" der absoluten Souveränität Gottes Einzug in QUTBs Lehrwerke hielt. Der Gründer der MJD, Muhammad Siddiq BORGFELDT, verdeutlicht seine ideologische Ausprägung wie folgt: "Muslim sein (werden) bedeutet auch, Gott als einzige Quelle aller Gesetze anzuerkennen. Auch die von 90 % der Bevölkerung gewählte Regierung hat nie das Recht, auch nicht mit absoluter oder Zweidrittelmehrheit, etwas zu verbieten, was Gott erlaubt hat beziehungsweise etwas zu erlauben, was Gott verboten hat. Jeder Herrscher, jede Regierung, jeder Einzelne ist immer nur ausführende Gewalt, denn Gesetze zu geben steht allein Gott zu." 60 BORGFELDT ist in der Mitgliedsliste des ECFR aufgeführt. Die MJD ist in Stuttgart und zahlreichen anderen deutschen Städten aufgrund ihrer administrativen Gliederung in "Lokalkreise" präsent. 4.3.2 "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS) Die "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS) ging aus dem 1978 von Scheich Ahmad YASSIN gegründeten "Mudjamma al-Islami" ("Islamisches Zentrum") hervor. Im Zuge der ersten Intifada (Aufstand der Palästinenser) Ende 1987 bildete sich die HAMAS als deren militanter Ableger heraus. Ihre wachsende Popularität lässt sich einerseits durch die Frustration der Bevölkerung wegen Korruption und Stagnation des palästinensischen politischen Establishments erklären, andererseits aber auch aufgrund der sozialen Rolle, die die HAMAS erfüllt. Insbesondere im Gaza-Streifen unterhält sie ein dichtes Netz sozialer Einrichtungen wie Krankenstationen und Schulen. In ihrer Charta (Mithaq al-Haraka al-muqawama al-islamiyya) bezieht die 60 Internetauswertung vom 20. August 2007. 54 Islamismus HAMAS Stellung zu Friedenslösungen und politischen Initiativen: "Politische Initiativen und so genannte friedliche Lösungen und internationale Konferenzen zur Lösung der Palästinafrage stehen alle im Widerspruch zur Glaubensüberzeugung der Islamischen Widerstandsbewegung. (...) Jene Konferenzen stellen nichts anderes als ein Mittel dar, die Ungläubigen zu Schiedsrichtern über das Land der Muslime zu ernennen. (...) Es gibt keine andere Lösung der Palästinafrage als durch den Dschihad. Die Initiativen, Friedensangebote und internationalen Konferenzen sind Zeitverschwendung und sinnlose Spielereien. (...)." 61 Ahmad BAHR, Sprecher des Palästinensischen Legislativrates betonte in diesem Zusammenhang auf "al-Aqsa TV" die Notwendigkeit einer Befreiung Jerusalems (Al-Quds): "Al-Quds, das zunächst von Omar erobert und dann "Schlacht gegen von Saladin befreit worden war, war für die Muslime die Söhne der verloren, die weg vom Pfade Allahs in die Irre ginAffen und gen. Dies war der Grund dafür, warum die Brüder Schweine" der Affen und Schweine [sc. Christen und Juden] die Verwegenheit besaßen, es zu entweihen und zu besetzen und dann in vollständiger Gleichgültigkeit von jedermann seine Kanzel zu verbrennen. (...) Die Befreiung von Al-Quds wird nicht durch funkelnde Slogans, minderwertige Arroganz und entwürdigende Zugeständnisse erreicht werden. Sie wird dadurch erreicht werden, den göttlichen Weg in den Seelen der Muslime zu erkennen, und dadurch, eine Generation des kommenden Sieges aufzuziehen, die die Schlacht gegen die Söhne der Affen und Schweine anführen wird. Bei Allah, Al-Quds wird nur durch den Dschihad wieder zurückgebracht werden." 62 61 Islamistische Website vom 16. Oktober 2007; Übersetzung aus dem Englischen durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 62 "Al-Aqsa TV" vom 21. August 2007. Dieser Fernsehsender und Satellitenkanal wurde von der HAMAS gegründet. Die HAMAS startete den TV-Kanal am 7. Januar 2006. 63 Benannt nach dem Syrer Izz ad-Din al-QASSAM, der in den 1930er-Jahren im Kampf gegen die britische Mandatsmacht gefallen ist. 55 Internetbanner der "al-QASSAM-Brigaden" Neben dem politischen Flügel der HAMAS existiert mit den "al-QASSAMBrigaden" 63 ein militärischer Flügel. Ein Sprecher ließ im Oktober 2007 verlauten, dass der Anführer des bewaffneten Armes im Gazastreifen Muhammad DEIF die defensive Kampftaktik zugunsten einer offensiven aufzugeben gedenkt. DEIF soll bereits in der Vergangenheit Selbstmordattentate geplant haben. Der Parlamentsabgeordnete der HAMAS und Direktor von geplante "al-Aqsa TV" Fathi HAMMAD gab die folgende Erklärung ab: Entführungen "(...) Deshalb planen Eure Brüder in all den Brigaden der Mudjahidin und besonders der 'Izz Al-Din AlQassam Brigaden' weitere Entführungsoperationen an verschiedenen Orten. Sie planen die Operationen nicht nur in Gaza, sondern auch in der West Bank, in den Gebieten von 1948 sowie im Ausland." 64 Im Juni 2007 kam es in Gaza zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zwischen Anhängern der HAMAS und FATAH-Kräften. Einmal mehr wurde deutlich, dass man zum Erreichen politischer Ziele vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschreckte. Besonders repressiv gingen von HAMAS beeinflusste Sicherheitskräfte auch gegen Journalisten und Frauen vor. 4.3.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") Die tunesische Partei "an-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung"), die auch in Baden-Württemberg von einzelnen Personen unterstützt wird, ist im Jahr 1989 aus dem 1979 gegründeten "Mouvement de la Tendence Islamique" ("Bewegung der islamischen Ausrichtung") hervorgegangen. Gründer waren drei Sympathisanten, darunter Rashid al-GHANNOUSHI, der aus Pakistan stammenden "Jama'at-e Tabligh", die in den 1960er Jahren ihre Missionierungstätigkeiten in Tunesien aufgenommen hatten. Der Philosophieprofessor und Landwirt GHANNOUSHI, Jahrgang 1941, hatte zunächst in Kairo und später in Damaskus studiert, wobei er Kontak64 "Al-Aqsa TV" am 24. Oktober 2007. 56 Islamismus te zu den "Muslimbrüdern" knüpfte. 1992 ging er ins Exil nach London. Seiner Auffassung zufolge ist der Säkularismus als westliches Konzept zu sehen, das den Islam in einem Staatswesen an den Rand drängt, zersetzend auf die Zivilgesellschaft wirkt und der Entwicklung einer islamischen Demokratie somit abträglich ist. Dabei lässt GHANNOUSHI die Problematik des teilweisen Machtmissbrauches seitens religiöser Funktionäre in der islamischen Welt gänzlich außer Acht und spricht sich gegen eine Trennung von Religion und Staat aus.65 In den letzten Jahren wurde GHANNOUSHI zunehmend von Seiten anderer "an-Nahda"-Funktionäre kritisiert, die ihm die Fähigkeit absprechen, die "Bewegung aus ihrem gegenwärtigen Dilemma zu führen und in eine moderne, schlagkräftige Partei zu verwandeln".66 Wegen strenger Sicherheitsauflagen, welche die Bewegungsfreiheit der Parteimitglieder stark einschränken, sind der Handlungsfähigkeit von "an-Nahda" in Tunesien enge Grenzen gesetzt. 4.3.4 "Front Islamique du Salut" (FIS), "Groupe Islamique Arme" (GIA) und "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) Die algerische "Front Islamique du Salut" (FIS) ("Islamische Heilsfront") wurde 1988 von Abassi MADANI und Ali BENHADJ gegründet. 1989 erfolgte die offizielle Eintragung der Abassi MADANI FIS als Partei. Bei den Parlamentswahlen 1991 in Algerien war die FIS als Wahlsieger hervorgegangen, woraufhin das Militär das Parlament auflöste und den Notstand ausrief. Nach dem Parteiverbot 1992 wanderten viele Funktionäre der FIS ins Ausland ab. So lebte der ehemalige Vorsitzende des "Exekutivkomitees der FIS im Ausland" Rabah KEBIR in Deutschland. Nach 14 Jahren Aufenthalt in Köln und Aachen war KEBIR 2006 nach Algerien zurückgekehrt. In den frühen 1990er Jahren hatte sich die "Groupe Islamique Arme" (GIA - "Islamische Bewaffnete Gruppe") herausgebildet. Ihr Kern bestand aus Veteranen, die bereits in Afghanistan gekämpft hatten. Die ideologischen Vorstellungen der GIA enthielten das Ziel der Vertreibung aller Juden und Christen sowie "Ungläubiger" aus Algerien, den Sturz des algerischen Regimes mit Hilfe des Djihad. Ab etwa 1997 wurde die Ideologie der GIA durch 65 "Zoon politikon" Nr. 3 vom Oktober 2006, S. 15f. 66 Artikel des "an-Nahda"-Politikers Salah ad-Din al-JOURCHI, Internetauswertung vom 22. Oktober 2007. 57 das Takfir-Konzept (Anklage zum Unglauben) ergänzt. All diejenigen algerischen Muslime, die sich weder der GIA anschlossen noch sie unterstützten, wurden zu Kuffar (Ungläubigen) erklärt. Mehrere Tausend Algerier fielen den terroristischen Aktivitäten der GIA zum Opfer. Zu ihren Hauptangriffszielen gehörte das algerische Schulsystem: Annähernd 1.000 Schulen wurden niedergebrannt und mehr als 200 Lehrer getötet. Musiker, Sportler und unverschleierte Frauen fielen Attentaten zum Opfer. Die "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC - "Salafitische Gruppe für Mission und Kampf") wurde 1998 von dem ehemaligen GIA-Mitglied Hasan HATTAB gegründet. Die Organisation trägt starke djihadistische Züge. Im Januar 2007 benannte sich die GSPC in "Organisation al-Qaida au Maghreb islamique" ("Organisation al-Qaida des Islamischen Maghreb") um. Am 11. April 2007 verübte sie ein Selbstmordattentat auf den Amtssitz des algerischen Ministerpräsidenten und eine Polizeidienststelle in Algier. Dabei kamen über 30 Menschen um und eine vielfache Zahl von Personen wurde verletzt. trotz Verbots 4.3.5 "Hizb ut-Tahrir" (HuT) aktiv Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ging 1953 aus der jordanischen "Muslimbruderschaft" hervor. Gründer war der palästinensische Schariatsrichter und Rechtsgelehrte Taqi ad-Din an-NABHANI. Als Grundlage der Organisation dient an-NABHANIs Werk "Die Lebensordnung des Islam" ("Nizam alIslam"). Zentraler Drehund Angelpunkt der Lehre bildet die Kalifatsideodeutschsprachige Internetseite der "Hizb ut-Tahrir" logie: Die Gemeinschaft aller Muslime der Erde (Umma) soll unter der Führung eines Kalifen vereint werden. Danach sind säkular-demokratische Staatsmodelle abzulehnen, denn sie sind gemäß der Vorstellung der HuT unvereinbar mit der "Islamischen Ordnung". Anhänger der HuT sind in zahlreichen Ländern aktiv. Die Europazentrale der Organisation befindet sich in London. In Großbritannien hat die HuT eine engagierte Anhängerschaft, deren Aktivitäten sich von der Organisa58 tion öffentlicher Veranstaltungen bis hin zur Verbreitung von Schriften des Islamismus Parteigründers im Internet erstrecken. Im Januar 2007 fand in Sydney die erste "Kalifats-Konferenz" der HuT statt. Im August 2007 folgten weitere Tagungen im indonesischen Jakarta und in London. In Deutschland wurde die Betätigung der Organisation am 15. Januar 2003 verboten. Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig dieses Verbot. Dennoch ist ein deutschsprachiger Internetauftritt nach wie vor aktiv und wird kontinuierlich aktualisiert. Zahlreiche Artikel und Abhandlungen der HuT rund um das Thema "Kalifatsideologie" und deren zentrale Stellung sind in den Publikationen oder, wie folgendes Beispiel zeigt, im Internet zu finden: "Brüder, die Wahrheit der Sache liegt darin, dass das Kalifat ein einzigartiges System ist, anders als jedes andere hinsichtlich seiner politischen Philosophie, der Regierungsform und seiner festgelegten Ziele. Aus dem einfachen Grund, weil seine Quelle göttlichen Ursprungs ist und nicht von Menschen gemacht, ganz gleich, ob durch westliche freigeistige Denker der Aufklärung oder deren intellektueller Unterwürfiger, von den so genannten muslimischen freigeistigen Denkern (...) Shaikh an-Nabhani definierte das Kalifat wie folgt: Der Islamische Staat (adDaula al-islamiya) ist ein Kalifat, welches das Gesetz in Kraft setzt. Es beinhaltet ein politsches (siyasi) und exekutives (tanfidhi) Wesen aus dem Grund, weil es die göttlichen Gesetze des Islam erfüllt." 67 Aus Anlass der Islamkonferenz am 2. Mai 2007 verfasste der Repräsentant der HuT für den deutschsprachigen Raum Shaker ASSEM eine Stellungnahme, in welcher er betont, dass die "Hizb ut-Tahrir durch die Gründung des rechtgeleiteten Kalifats eine grundlegende Veränderung" in den Ländern der islamischen Welt herbeiführen möchte. Die Muslime in Deutschland sollten "Träger der unverfälschten islamischen Botschaft sein, die Gott seinem Gesandten offenbart" habe, "um die Menschen von den Finsternissen der Irreleitung zum Lichte der Wahrheit hinzuführen". Was die Forderung nach einem "deutschen Islam" anbelange, so sei "dieser seitens der Muslime eine klare Absage" zu erteilen: "Islam" gebe es nur einen.68 Aussagen des weltweiten Führers der HuT und palästinensisch-jordani67 HuT-Website vom 16. Oktober 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 68 HuT-Website vom 4. Dezember 2007. 59 schen Rechtsgelehrten Ata Abu al-RISHTA spiegeln ebenfalls eine auf Konfrontation ausgerichtete Vorgehensweise wider. So soll al-RISHTA die "Vernichtung" der Hindus in Kaschmir, der Russen in Tschetschenien und der Juden in Israel gefordert haben: "Das Kalifat wird die Länder und die Völker vom Einfluss der Kuffar (Ungläubigen) und ihrer Verbündeten sowie von der Tyrannei ihrer Menschen und Anhänger befreien." 69 4.4 Organisation aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" ("Partei Gottes") wichtige Die "Hizb Allah" ist die bedeutendste libanesische schiitisch-islamistische politische Größe Partei. Seit ihrer Gründung im Jahr 1982 unterhält sie sehr enge Verbindungen zu iranischen staatlichen und religiösen Institutionen. Besonders Internetbanner der "Hizb Allah" nach den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Israel im Sommer 2006 hat sie sich als eine wichtige innenpolitische Größe im Libanon etabliert. Aber auch international hat die Organisation vor allem in schiitischen Kreisen an Prestige gewonnen. Jedes Jahr demonstrieren "Hizb Allah"-Anhänger und Sympathisanten am "al-Quds-Tag", den Ayatollah Khomeini 1979 ausgerufen hatte. Am letzten Freitag im Monat Ramadan sollten alle Muslime weltweit für die Zerstörung Israels auf die Straße gehen. In Deutschland fanden diese Protestzüge in den vergangenen Jahren zentral in Berlin statt. Am 6. Oktober 2007 kamen dort erneut einige Hundert Demonstranten zusammen und zogen über den Kurfürstendamm in Berlin. Sie zeigten zum Teil Transparente mit Aufschriften wie "Zionisten raus aus Jerusalem, Meinungsfreiheit für Zionismusforscher und Gegner Israels, Zionismus ist der moderne Rassismus". In "Hizb Allah"-nahen Vereinen, die sich auch in Baden-Württemberg befinden, wird der Rückzug israelischer Militäreinheiten aus dem Südlibanon am 25. Mai 2000 alljährlich als großer Sieg gefeiert und ebenso wie im Libanon mit Veranstaltungen begangen. Im "Hizb Allah"-nahen Fernseh69 Internetauswertung vom 31. Oktober 2007; Übersetzung aus dem Englischen durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 60 Islamismus sender "al-Manar" werden an diesen Tagen spezielle Propagandaberichte ausgestrahlt. Zu den Feierlichkeiten reisen regelmäßig "Hizb Allah"-Mitglieder, darunter Scheichs und Funktionsträger oder Parlamentsabgeordnete, aus dem Libanon ein. eigener In den frühen 1980er Jahren entstand eine schiitische Miliz im libanesischen bewaffneter Bürgerkrieg und formierte sich nach dem Einmarsch israelischer Truppen in Arm den Südlibanon als paramilitärische Widerstandsarmee. Dadurch besitzt die "Hizb Allah" mit der "al-Muqawama al-Islamiya" ("Islamischer Widerstand") einen bewaffneten Arm, dessen Entwaffnung trotz entsprechender UNResolutionen bis heute nicht vollzogen wurde. Am 11. November 2007 verkündete "Hizb Allah"-Führer Hassan NASRALLAH in seiner Rede zum "Märtyrertag", die von "al-Manar" übertragen wurde, folgendes: "Niemand in der Welt kann die Hizb Allah entwaffnen. Die gesamte Welt wird nicht in der Lage sein die UN-Resolution 1559 70 zu implementieren. Der Widerstand ist bereit, Tag und Nacht den Süden Libanons zu verteidigen." 71 Im schiitischen Islam hat der Märtyrerkult eine ganz besondere Bedeutung, da der Prophetenenkel und von den Schiiten als heilig betrachtete Imam alHussein im Jahr 680 im Kampf gegen seine Gegner gewaltsam zu Tode gekommen war. Dieses Ereignis wurde später in den Aschurafeierlichkeiten ritualisiert, die heutzutage von schiitischen Gläubigen jährlich in Form von Geißlerprozessionen und Passionsspielen begangen werden. Auf diese Weise wurde ein Märtyrermythos institutionalisiert, der je nach historischen und politischen Umständen eine unterschiedliche Ausprägung erfuhr. Insbesondere während des von 1980 bis 1988 dauernden Krieges gegen den Irak wurde dem Märtyrerkult in der islamischen Republik Iran durch Ayatollah Khomeini große Bedeutung beigemessen. Er instrumentalisierte den Märtyrertod für militärische und politische Ziele und legitimierte damit religiös die Verübung von Verbrechen und Gewalttaten, welche die islamische Welt heutzutage fast täglich erschüttern. Der Rückgriff auf Terror und Gewalt wird auch von der "Hizb Allah" islamisch begründet und damit religiös autorisiert. Am 19. April 2007 äußerte sich Scheich Naim QASSEM, der Stellvertreter von Hassan NASRALLAH, in einem Fernsehinterview zum Märtyrertum wie folgt: 70 In dieser Resolution wurden unter anderem der Rückzug aller ausländischen Truppen aus dem Libanon und die Entwaffnung und Auflösung aller dort aktiven Milizen gefordert. 71 Internetauswertung vom 11. November 2007. 72 Arabischsprachiger iranischer Fernsehsender al Kawthar TV vom 19. April 2007. 61 "Märtyrertum ist etwas Wertvolles, Heiliges, Respektables und Großartiges, nichts, das man als Anklage verwenden könnte. Es ist eine Ehre für uns, angeklagt zu werden, an einen Kult der Märtyrer zu glauben." 72 Märtyreroperationen gelten daher in Kreisen der "Hizb Allah" als eine legitime Form des Djihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes für die Sache Gottes und die Religion des Islam. Sie werden sogar als obligatorisch betrachtet, wenn sie die einzige Möglichkeit darstellen, den Hauptfeind Israel und den ihn unterstützenden Westen zu vertreiben und zu besiegen. Diese Praxis kulminierte im ersten islamisch legitimierten Selbstmordattentat, das 1983 von einem Aktivisten der schiitischen "Hizb Allah" verübt wurde. Diese Suizidattentate sind mittlerweile auch bei anderen islamistischen Gruppierungen zum festen Bestandteil der militärischen Taktik im Djihad avanciert. Obgleich im Islam ein Selbsttötungsverbot besteht, werden diese Suizide nicht als Selbstmord angesehen, sondern von islamischen Rechtsgelehrten als Märtyreroperationen beschrieben, die als Terrormittel eine hohe Märtyrerkonzept Effektivität bei der Bekämpfung des Feindes aufweisen. Daher führt die "Hizb Allah" auch den Abzug der israelischen Truppen aus dem Süden Libanons im Jahr 2000 auf die zahlreichen Opfertode der "Märtyrer" zurück. Diese Darstellung des Märtyrerwesens als ein effektives politisches Mittel steigerte unter der Bevölkerung die soziale Akzeptanz des Märtyrerkonzepts und konsolidierte es sogar so weit, dass der "Opferstatus" als "Märtyrer" ein konstitutives Merkmal der Identität der schiitischen Bevölkerung im Libanon geworden ist. In unterschiedlich inszenierten Gedenkveranstaltungen wird der "Märtyrer" gedacht. Sie werden als Opfer des "zionistischen Feindes" Israel dargestellt. Diese systematische Verankerung einer "Erinnerungskultur" an die "Märtyrer" in der Gesellschaft hat zur Folge, dass den Getöteten ein hohes Maß an sozialem Prestige zuteil wird, das sich auch auf die Märtyrerfamilien und deren Angehörige überträgt. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass in einschlägigen Presseorganen der "Hizb Allah" bei der Darstellung der Lebensläufe hoher Parteifunktionäre die "Märtyrer" in der Familie noch vor schulischen und akademischen Referenzen Erwähnung finden. Somit gilt schon allein der Begriff des "Märtyrers" als Ehrenbezeichnung, der sowohl den Akteuren von Märtyreraktionen und Selbstmordattentaten als auch deren Verwandten das heroische Ansehen verleiht, das Leben für Vaterland und Religion geopfert zu haben. Die Pflege und Tradierung dieses Märtyrerkonzepts an jüngere Generationen ist eine gefährliche Ideologisierung und Instrumentalisierung der Religion des Islam für politische Zwecke, die im Wesentlichen dazu dienen, 62 Islamismus menschliche Ressourcen für den Djihad zu mobilisieren. Am 14. August 2006 trat ein Waffenstillstand mit Israel in Kraft, den die "Hizb Allah" als Sieg gegen Israel feiert. In die mit großem Aufwand begangene Reihe von Gedenktagen wurde daher 2007 mit dem 14. August erstmals neben der Veranstaltung zum 25. Mai eine weitere Siegesfeier abgehalten. NASRALLAH nutzte den Jahrestag 2007 für weitere Drohungen gegen Israel. Im September 2007 zeigte er sich zum ersten Mal seit Kriegsende 2006 öffentlich einer großen Menge und verkündete einen "historischen Sieg" gegen Israel. In dieser Rede griff er auch die Bundeskanzlerin an: "Sie sagt, ihr Ziel sei es, Israel zu schützen, aber ich sage ihr: Selbst wenn sie die See, den Luftraum und das Land überwachen - wir haben mehr als 20.000 Raketen und sind stärker als je zuvor." 73 4.5 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Kerpen Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2006: ca. 3.600) ca. 27.000 Bund (2006: ca. 26.500) Publikation: "IGMG Perspektive" (zweisprachig); als Sprachrohr dient auch die türkischsprachige Tageszeitung "Milli Gazete" (EuropaAusgabe) Unter den im Bereich des politischen Islam agierenden Organisationen nimmt die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) aufgrund ihrer Mitgliederstärke, ihrer weit reichenden Vernetzung wie auch aufgrund des Einflusses, den sie kraft ihrer Mitgliedschaft in übergeordneten Verbänden ausübt, eine herausgehobene Stellung ein. Bei ihren Anhängern handelt es sich zum größten Teil um auf Dauer in Deutschland lebende, teilweise eingebürgerte Zuwanderer. Die IGMG ist die dominierende Kraft im in Köln ansässigen "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", dessen 73 Internetauswertung vom 22. September 2007. 63 Vorsitzender Ali KIZILKAYA 2001 und 2002 das Amt des Generalsekretärs der IGMG bekleidete. Die Jugendorganisation der IGMG ist Vorstandsmitglied in der von der "Muslimbruderschaft" dominierten, von saudischen Sponsoren geförderten "Forum of European Muslim Youth and Student Organisations" (FEMYSO).74 Mit begründet wurde diese Institution durch Ibrahim el-ZAYAT, der bis 2002 auch ihr Vorsitzender war. El-ZAYAT ist IGMGaußerdem Generalbevollmächtigter der "Europäischen Moscheebauund Regionen Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG), welche für die Verwaltung des umin Badenfangreichen Immobilienbesitzes der IGMG in Europa zuständig ist. Württemberg Die regionalen Aktivitäten in Baden-Württemberg erstrecken sich auf die so genannten "Bölge" (Regionen) Stuttgart, Freiburg-Donau, Schwaben (einschließlich einiger bayerischer Ortsvereine) sowie Rhein-Neckar-Saar (hierzu gehören auch mehrere Ortsvereine in Rheinland-Pfalz). Seit April 2005 ist Adem KAYA Vorsitzender des Landesverbands Baden-Württemberg. Auf Bundesebene unterhält die Organisation Kommissionen für besondere Aufgabenfelder wie Religiöse Rechtleitung (irsad) sowie eine Fatwa-Kommission, auf Bundeswie auf Regionalebene Kommissionen für Gemeindeentwicklung (teskilatlanma), Public Relations (tanitma) sowie weitere Fachkommissionen, Frauenund Jugendabteilungen. Die politische Ideologie der "Milli Görüs" basiert auf der 1975 veröffentlichten gleichnamigen programmatischen Schrift Prof. Dr. Necmettin ERBAKANs75, in welcher "Milli Görüs" (wörtlich die "nationale Sicht [weise]") insbesondere gegen die "linke" (sol) und die "liberale Sicht" (liberal görüs) abgegrenzt wird. Gemäß dieser politischen Programmatik soll langfristig die "göttliche Ordnung" ("hak düzen") die "nichtige Ordnung" ("batil düzen") ablösen, wobei letztere sämtliche nicht auf der koranischen Offenbarung basierenden Ordnungen einschließt. Eine zweite Komponente stellt das Konzept "Gerechte Ordnung" ("adil düzen") dar, das bereits in den 1970er Jahren entwickelt76 und von ERBAKAN in den 1980er Jahren für das Parteiprogramm der "Refah Partisi" (RP, "Wohlfahrtspartei") aufgegriffen wurde.77 Weitere Leitideen der "Milli Görüs" sind eine Führungsrol74 Hinter der 1996 erfolgten Gründung der FEMYSO standen neben muslimischen Jugendorganisationen verschiedener europäischer Länder die "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) sowie die saudische "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY). Gemeinsam organisierten beide Vereinigungen im April und Mai 2007 "Jugendfeste" in Deutschland, Österreich und Frankreich ("Milli Gazete" vom 10. April 2007). 75 Geboren 1926, in Deutschland ausgebildeter Maschinenbau-Ingenieur (Promotion 1953, TH Aachen). 76 Geistiger Vater dieses Konzepts war Süleyman KARAGÜLLE, der in den 1960er Jahren in Izmir die so genannte Akevler-Kooperative gründete, in der den Bewohnern ein an den Geboten des Islam ausgerichtetes Leben ermöglicht werden sollte. 77 1991 erschien das hierauf basierende und von ERBAKAN ausformulierte Wirtschaftsprogramm "Adil Ekonomik Düzen" ("Gerechte Wirtschaftsordnung"). 64 Islamismus le der Türkei in der Region und in der Welt, wie sie im von ERBAKAN geprägten Slogan "Lebenswerte Türkei - Neue Groß-Türkei - Neue Welt" zum Ausdruck kommt, die Vorreiterrolle von [islamischer] "Moral und spirituellen Werten", eine dezidierte Anti-Haltung gegenüber dem "rassistischen Imperialismus" und dem "Zionismus" sowie der Anspruch, mit "Milli Görüs" der gesamten Welt zur "Glückseligkeit" (saadet) zu verhelfen. Trägerin der politischen Ideologie der Bewegung, die einem in der Person Necmettin ERBAKANs verkörperten Führerprinzip folgt, ist die "Saadet Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") als bislang letzte der von ERBAKAN jeweils in Folge gegründeten "Milli Görüs"-Parteien.78 Die SP und die derzeitige Regierungspartei der Türkei, die "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP, "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") sind beide aus den rivalisierenden Flügeln der Vorgängerpartei "Fazilet Partisi" (FP, "Tugendpartei") hervorgegangen. Der essenzielle Gehalt der "Milli Görüs" wurde von einem Kolumnisten der als Sprachrohr der Bewegung fungierenden "Milli Gazete" folgendermaßen definiert: "Es ist eine Diskussion, die bis auf Adam zurückreicht, ob man 'Milli Görüs'-Anhänger ist oder in der 'Milli Görüs'-Tradition steht (...) Durch die Geschichte hindurch haben diejenigen, die sich aufideologischer grund der in ihren Händen befindlichen Stärke der Gehalt der Wirtschaft, der Presse und der Kollaboration im "Milli Görüs" Recht fühlen, gegen die Anhänger der Milli Görüs (...) Krieg geführt, sie angegriffen (...) Schließlich wird dieser Krieg in der Menschheitsgeschichte bis zum Jüngsten Tag anhalten. Man kann es den Kampf des Richtigen (hak) gegen das Nichtige (batil) nennen oder den Kampf des Glaubens (iman) gegen das Leugnen (inkar), auch den Kampf des Gebotenen (maruf) gegen das Verwerfliche (münker); jedenfalls dauert diese Sache zwischen Milli Görüs-Anhängern und Nicht-Milli GörüsAnhängern an, und sie wird weiter andauern (...) 78 "Milli Nizam Partisi" (MNP, 1970-1971), "Milli Selamet Partisi" (MSP, 1973-1981), "Refah Partisi" (RP, 1983-1998), "Fazilet Partisi" (FP, 1997-2001); außer der MSP, die nach dem Putsch von 1981 infolge des Gesetzes zur Schließung der politischen Parteien geschlossen wurde, wurden die vorgenannten "Milli Görüs"-Parteien jeweils wegen Verstoßes gegen die Prinzipien der laizistischen Republik verboten. 79 "Milli Gazete" vom 22. Oktober 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 65 Milli Görüs selbst hat die Menschheit die Zivilisation gelehrt (...) Es ist kein Makel, Milli GörüsAnhänger zu sein, aber es ist ein Makel, es nicht zu sein." 79 Im Vorfeld der Parlamentswahlen in der Türkei im Juli 2007 wiederholte ERBAKAN bei der Wahlkampagne für die SP in einem Fernsehinterview80 seine bekannten antisemitischen Positionen, indem er die "ungläubigen Nationen" als vom "rassistischen imperialistischen Zionismus" gesteuert bezeichnete. Ohne diese "korrekte Diagnose der Krankheit", so ERBAKAN, könne es keine Heilung geben. Die IGMG-Führung in Deutschland nimmt zwar der Öffentlichkeit gegenüber eine Haltung ein, die Antisemitismus ablehnt, vermag sich jedoch nicht dezidiert von den entsprechenden Inhalten der Ideologie ERBAKANs zu distanzieren. So räumte der Generalsekretär der IGMG, Oguz ÜCÜNCÜ, bei einem Symposium an der Universität Frankfurt/Oder im Oktober 2007 ein, dass sich die meisten Imame der Organisation, angesprochen auf den Holocaust, "nicht vorstellen können, dass es ein solches Verbrechen gab." 81 Diese Bemerkung ergänzte ÜCÜNCÜ um den Hinweis, in solchen Fällen auf das Verbot der Leugnung des Holocaust in Deutschland zu verweisen. Die Betrachtung des Themas in anderen Zusammenhängen lässt die Einschätzung in maßgeblichen "Milli Görüs"-Kreisen in anderem Licht erscheinen. So war in der Online-Ausgabe der "Milli Gazete", deren Verbreitung in IGMG-Kreisen maßgeblich gefördert wird, im Dezember 2006 ein Artikel des "Milli Görüs"-Ideologen Prof. Dr. Arif ERSOY82 erschienen83, welcher die zu jener Zeit vom iranischen Präsidenten Ahmadinedjad anberaumte "Holocaust-Konferenz" in weitere Träger Teheran äußerst positiv, gleichsam als "Meilenstein" für ein neues Verständder "Milli Görüs"nis der Geschichte wertete. Der Autor ist häufig als Gastredner auf VeranIdeologie staltungen der IGMG präsent. Träger der "Milli Görüs"-Ideologie sind neben der SP weitere Institutionen wie das "Zentrum für Wirtschaftsund Sozialforschung", ("Ekonomik ve Sosyal Arastirmalar Merkezi", ESAM) in Ankara, welches im Oktober 2006 Veranstalter des "1. Internationalen Milli Görüs-Symposiums" war, auf welchem der universelle Anspruch der "Milli Görüs" wie auch die Gegnerschaft gegenüber dem "rassistischen Imperialismus" bekräftigt wurde. Der 1998 gegründete "Anadolu Genclik Dernegi" (AGD, "Verband der Anatolischen 80 Flash-TV-Interview vom 1. Juli 2007. 81 URL: http://tagesspiegel.de/politik/div/;art771,2407195 vom 26. Oktober 2007. 82 Mitglied des SP-Vorstands, Mitentwickler der "Adil Düzen"-Theorie; Generalsekretär der "Milli Görüs"Institution "Zentrum für Wirtschaftsund Sozialforschung" (ESAM) in Ankara. 83 Online-Ausgabe der "Milli Gazete" vom 15. und 16. Dezember 2006. 84 Vorläufer war die "Stiftung Nationale Jugend" ("Milli Genclik Vakfi"). Die Website der AGD ist unter anderem verlinkt mit der SP, IGMG, mit TV 5 und der "Milli Gazete". 85 Mahlzeit vor Tagesanbruch im Fastenmonat Ramadan. 66 Islamismus Jugend")84 erfüllt gleichsam die Funktion einer Jugendorganisation der "Milli Görüs". Im Ramadan 2007 nahm ERBAKAN an einer Sahur85-Veranstaltung der AGD teil, bei der er in einer Grußrede die Vorzüge der AGD herausstellte: "Wir sind hier bei den bewussten Milli GörüsAnhängern des 'Anadolu Genclik Dernegi' zu Gast (...) Der 'Anadolu Genclik Dernegi' nimmt als Motor der 'Milli Görüs' eine Ausnahmestellung ein, und ein AGD-Mitglied zu sein ist wichtiger, als zehn Fakultäten absolviert zu haben." 86 Jugendgruppen der IGMG kommen bei von Türkeiaufenthalten mit Vertretern der AGD zusammen und nutzen deren Räumlichkeiten, so eine Gruppe des IGMG-Jugendverbands Schwaben beim Aufenthalt in Bursa87 oder die Teilnehmer des Sommerkurses der IGMG Backnang und Waiblingen beim Aufenthalt in Gaziantep und Konya.88 Im Bereich der Medien erfüllen die zwar formal unabhängige, jedoch vielfältig in personeller und struktureller Hinsicht mit der IGMG verbundene Tageszeitung "Milli Gazete"89 und der TV-Sender "TV 5" die Funktion, die Ideologie der "Milli Görüs" zu transportieren und zu verbreiten. In "Milli Gazete" erscheinen Kolumnen, verfasst von Protagonisten der "Milli Görüs"-Bewegung, die diese Ideologie ausführlich darlegen90 und die Verdienste des "Milli Görüs"-Führers ERBAKAN preisen.91 Die "Milli Gazete" ist auf Veranstaltungen der IGMG häufig mit Verkaufsständen zur Abonnentenwerbung präsent. Dies war 86 "Milli Gazete" vom 25. September 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 87 "Milli Gazete" vom 9. Mai 2007. 88 "Milli Gazete" vom 17. Oktober 2007. 89 Die früheren Generalsekretäre der IGMG, Osman YUMAKOGULLARI und Dr. Yusuf ISIK, sind ehemalige Geschäftsführer der "Milli Gazete". 90 So erschienen in der "Milli Gazete" vom 6. Juli 2007 gleich zwei grundlegende Kolumnen: "Warum Milli Görüs" (Autor: Prof. Dr. Arif ERSOY, einer der geistigen Urheber der Ideologie) und "Was ist Milli Görüs" (Autor: Mevlüt ÖZCAN); beide Autoren sind auch als Referenten bei Veranstaltungen der IGMG in Deutschland bekannt geworden. 91 Beispielhaft genannt seien hier die Kolumnen "'Savunan Adam' [Verteidiger]: Necmettin Erbakan" in der "Milli Gazete" vom 8. März 2007 sowie "Ingenieur Erbakan" in der "Milli Gazete" vom 15. Februar 2007. 92 "Milli Gazete" vom 7. Mai 2007. 93 "Milli Gazete" vom 7. Juli 2007. 94 Auf derartigen Veranstaltungen trat der Kolumnist Sakir TARIM in Baden-Württemberg auf; "Milli Gazete" vom 28. September 2007. 67 unter anderem bei der IGMG Stuttgart92 und der IGMG Rastatt93 der Fall. Mit demselben Ziel veranstaltet die Zeitung auch Zusammenkünfte mit den Lesern, bei denen auch aus der Türkei angereiste Kolumnisten aufgeboten werden, die für die Zeitung werben.94 "Milli Gazete" zu lesen, so wird hier argumentiert, sei eine "Auszeichnung".95 Die Repräsentanten der "Milli Gazete" in den IGMG-Regionen kommen regelmäßig in Kerpen zu Bildungsseminaren zusammen. Hier werden Interna wie Strategien zur Steigerung der Auflage und der Qualität "unserer Zeitung Milli Gazete" diskutiert.96 Was die Reichweite der Rezeption der für "Milli Gazete" tätigen Autoren betrifft, so wurde festgestellt, dass Artikel von Kolumnisten dieser Zeitung auch in Kreisen mit djihadistischem Bestreben rezipiert werden. Das zeigt sich an deren Präsenz auf einschlägigen türkischsprachigen Websites.97 Am Austausch in den Internetforen der "Milli Görüs"-Bewegung sind Anhänger der IGMG maßgeblich beteiligt. Sie bekennen sich zum Teil durch Offenlegen ihrer Funktion oder ihrer Zugehörigkeit zu einem Regionaloder Ortsverband ausdrücklich zu ihrer IGMG-Zugehörigkeit. Hier wird sichtbar, dass die ideologischen Grundpositionen ERBAKANs von der Basis rezipiert, verbreitet und uneingeschränkt geteilt werden. Der wesentliche Kern dessen, was unter "Milli Görüs" zu verstehen sei, kommt in einer Zuschrift eines Forumteilnehmers, der sich als "Pädagoge aus Mannheim" zu erkennen gibt, folgendermaßen zum Ausdruck: "Ein Milli Görüs-Mann ist derjenige, der jegliche, den göttlichen Bestimmungen zuwider laufende Form von Ideologie, Doktrin, System, Gedanken oder Regierung ablehnt und von den Bestimmungen Allahs regiert werden will (...) Er kennt seine Pflicht, gegen jede Art von Unglauben (küfür) mit Hand, Zunge und Herz zu kämpfen (...)." 98 eigener TV-Kanal Der Fernsehkanal TV 5, der mit der Ankündigung, innerhalb der Medienlandschaft eine "neue Sichtweise" einführen, der "Verschmutzung" und 95 "Milli Gazete" vom 28. September 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 96 "Milli Gazete" vom 14. November 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 97 Internetauswertung vom 6. November 2007. 98 Internetauswertung vom 9. März 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 99 "Milli Gazete" vom 16. Februar 2004; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 100 "Milli Gazete" vom 21. Juni 2007. 68 Islamismus "Verwilderung" entgegentreten und als "treibende Kraft" dafür sorgen zu wollen, dass "das Anliegen von Milli Görüs in der Türkei wieder den verdienten Platz einnehmen" werde99, Anfang 2004 auf Sendung ging, plant die Erweiterung seiner Aktivitäten auf internationaler Ebene.100 In der Sendung "Milli Kurtulus" ("Nationale Rettung") vertrat der stellvertretende SP-Vorsitzende Mete GÜNDOGAN, der bereits mehrfach bei Veranstaltungen der IGMG in Europa aufgetreten war101, im Juni 2007 folgende Auffassung: "Die Imperialisten und die Kollaborateure repräsentieren die Zivilisation des Feuers. Aufgrund der Aktivitäten der Repräsentanten dieser Zivilisation befinden sich die islamischen Territorien in großer Gefahr (...) Das Modell des 'Gemäßigten Islam' ist ein Teil des 'Großen Nahostprojekts' (BOP, "Büyük Ortadogu Projesi") (...) Die AKP ist der Grund für die nationale und spirituelle Zerstörung unseres Volkes, und sie ist der Handlanger der Imperialisten, die uns ins geistiger Hinsicht besetzt haben." 102 Dieser SP-Funktionär publizierte 2006 eine Schrift mit dem Titel "Stratejik Hedef" ("Strategisches Ziel") - weniger eine zukunftsgerichtete Strategie als vielmehr ein Abriss der Geschichte in der von ERBAKAN geprägten Sichtweise. Die herangezogene Literatur offenbart den Rückgriff auf verschwörungstheoretische Literatur; so sind in den Quellenangaben für ihre antisemitische Haltung bekannte Autoren wie Mustafa AKGÜN103, Mehmet Sevket EYGI104, der Konvertit und Holocaustleugner Roger GARAUDY105 sowie der in der Vergangenheit ebenfalls mit Holocaust-leugnenden Schriften sowie pseudowissenschaftlichen Publikationen gegen Aufklärung und Säkularismus hervorgetretene Autor Harun YAHYA106 alias Adnan OKTAR vertreten. In Gestalt der Sendereihe "Vuslat" verfügt "TV 5" über ein Format, in welchem regelmäßig über "Milli Görüs"-Vereine in Europa berichtet wird. In einem Beitrag über die IGMG-Jugend München äußerte sich der dortige 101 So beim "Milli Görüs"-Verband (CIMG) Lyon im Juni 2005 und bei der IGMG Ruhr-A in Dortmund im Mai 2007. 102 "Milli Gazete" vom 28. Juni 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 103 Yahudinin Tahta Kilici (Das Holzschwert des Juden), Ankara 1992. 104 Genannt als Kolumnist der "Milli Gazete". 105 The Case of Israel. A Study of Political Zionism. London 1983. 106 Yeni Masonik Düzen (Die Neue Freimaurerische Ordnung). O.O.u.J. 69 Jugendvorsitzende zuversichtlich im Hinblick auf eine erhoffte Islamisierung Europas. Diese Hoffnung gründe sich auf die wertebewusste türkische Jugend in Europa: "Und wenn Europa schrittweise zum Islam kommt, dann ist das der Erfolg der hier lebenden jugendlichen Muslime (...) Dafür leisten wir Grundlagenarbeit." 107 Heilbronn war im Januar 2007 Veranstaltungsort der "TV 5-Europa-Tage". Der baden-württembergische IGMG-Regionalvorsitzende Adem KAYA beschrieb den Sender in seiner Begrüßungsrede: "TV 5 ist ein Fernsehkanal, der für Gott [sc. Hak - auch: das Recht/das Richtige] sowie für das Recht der Armen und derer, die im Recht sind, eintritt. TV 5 muss ein Medium sein, das von der richtigen Linie, die von unserem Propheten und seinen Gefährten verkörpert wird, nicht abweicht, das nicht den Teufel, sondern Gott [sc. das Recht] verteidigt. Solch einen Fernsehkanal brauchen wir." 108 Verflechtungen Die vielfältige Interaktion der IGMG mit den türkischen Komponenten der mit dem Bewegung zeigt sich an Auftritten türkischer Protagonisten der Bewegung Mutterland bei Veranstaltungen der IGMG in Deutschland und an wechselseitigen Besuchen. Bei einem Besuch des Frauenexekutivrats der IGMG-Zentrale Kerpen sowie der Vorsitzenden der regionalen IGMG-Frauenverbände bei der Redaktion der "Milli Gazete" in Istanbul bezeichnete der dortige Verantwortliche der Zeitung, Necdet KUTSAL, den Frauen gegenüber die "Milli Gazete" "im Hinblick auf ihren Einfluss und ihre Mission" als "die bedeutendste Zeitung der Türkei." Die Frauen ihrerseits bewerteten "Milli Gazete" als "die meistgelesene Zeitung in Europa." Die Ereignisse in der Welt und in der Türkei, so berichtete die Frauengruppe, verfolge man in der "Milli Gazete", die gleichsam die "Stimme des gesunden Menschenverstands" sei.109 Auch besuchten die Frauen bei dieser Reise "Milli Görüs"-Führer ERBAKAN sowie die Frauenvorsitzende der SP.110 Im Vorfeld der Parla107 "TV 5"-Sendung vom 6. Juni 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 108 "Milli Gazete" vom 24. Januar 2007. 109 "Milli Gazete" vom 5. April 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 110 "Milli Gazete" vom 10. April 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 111 "Milli Gazete" vom 16. April 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 70 Islamismus mentswahlen 2007 leisteten Funktionäre der IGMG Wahlhilfe für die SP. So nahm Hasan DAMAR, Gründungsmitglied der IGMG und Mitglied des IGMG-Exekutivrats, an einer Provinzratssitzung der SP Istanbul im Stadtteil Bakirköy teil und stellte bei der Wahlvorbereitung die Unterstützung der SP "mit tausend Fahrzeugen und tausend Predigern" in Aussicht, handle es sich bei dieser Mission doch um eine "heilige Reise".111 Auch bei einer späteren SP-Wahlveranstaltung im Istanbuler Stadtteil Beykoz trat DAMAR als Redner auf. Hier ging dieser auf die Bedeutung der "Milli Görüs" für die Türkei und die gesamte Welt ein und forderte die einzelnen Verbände der SP auf, für die Wahl am 22. Juli mit höchstem Einsatz tätig zu werden. Der Morgen des 23. Juli 2007, so DAMAR weiter, werde "im Licht des Siegs der 'Saadet Partisi' erglänzen".112 Auch an den jährlich von der "Milli Görüs" begangenen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Eroberung Istanbuls nahm DAMAR Ende Mai 2007 in Ankara teil und sprach dort über die Dienstleistungen der "Milli Görüs" als der "mächtigsten zivilgesellschaftlichen Organisation in Europa".113 Um die Bindung des Nachwuchses an die Bewegung zu gewährleisten, organisiert die IGMG für Mitglieder ihrer Jugendverbände Reisen in die Türkei mit ausgewähltem Besuchsprogramm. Die IGMG-Jugend der Region Schwaben besuchte im Mai 2007 in der Türkei nicht nur die Redaktion der "Milli Gazete", sondern auch den Sender "TV 5".114 Eine IGMG-Jugendgruppe der Region Ruhr-A traf außer mit Prof. Dr. ERBAKAN mit weiteren führenden Persönlichkeiten der SP wie Sevket KAZAN115 und Yasin HATIBOGLU116 zusammen.117 Eliteanspruch Das innerhalb der "Milli Görüs" gepflegte Verständnis des Islam lässt keinen Zweifel am Selbstverständnis als der besten aller Gemeinschaften, die sich gleichzeitig mit einem Führungsauftrag versehen sieht. In einer Rede des baden-württembergischen IGMG-Regionalvorsitzenden Adem KAYA in Stuttgart auf einer Versammlung von Führungsfunktionären aus BadenWürttemberg kam dies wie folgt zum Ausdruck: "Ihr seid die Mannschaften, die vollkommene Menschen hervorbringen, das heißt Ihr, die Milli Görüs112 "Milli Gazete" vom 6. Juni 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 113 "Milli Gazete" vom 29. Mai 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 114 "Milli Gazete" vom 9. Mai 2007. 115 Ehemaliger Justizminister zur Zeit der Ministerpräsidentschaft ERBAKANs, Mitglied des SP-Präsidiums. 116 Mitglied des SP-Vorstands. 117 "Milli Gazete" vom 9. Juni 2007. 118 "Milli Gazete" vom 12. September 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 71 Leute (...) Wir müssen die Menschen aus dem Zustand der Dunkelheit erretten. Ein Muslim muss aktiv sein (...) Die Muslime kennen keinerlei Furcht außer der Furcht vor Allah. Hauptsache, man marschiert und hinterlässt Spuren (...) Der Sieg gehört den Gläubigen, und der Sieg ist nah." 118 Auch die Kommission für Rechtleitung der IGMG-Zentrale in Kerpen stützt die Auffassung, allein die Muslime seien durch den Auftrag des "Gebietens des Guten und des Verbietens des Schlechten" 119, das heißt mit dem Einfordern der Übereinstimmung des Handelns mit den Geboten von Koran und Sunna und dem Verwehren der von der Religion untersagten Handlungen für das Wohl der Gesellschaft verantwortlich: "Wir (...) als Anhänger des Islams, der mit dem Ziel gesandt wurde, das Gute in der Welt zu etablieren und das Schlechte von der Menschheit fernzuhalten, [sc. müssen] uns entsprechend unseren Möglichkeiten gegen alles stellen, was der Gesellschaft schaden könnte, fördern, was der Menschheit von Vorteil ist und uns auf diesem Weg gegenseitig ermahnen. Denn [sc. ansonsten] wird sich das Schlechte allmählich zur Regel, zu einer Lebensweise entwickeln (...) Aus diesem Grund sind die Muslime mit der Verbesserung der Situation beauftragt. Sie müssen der Motor des Guten und die Bremse des Schlechten sein (...)." 120 In welchem Maß die Prinzipien der "Milli Görüs" die Erziehungsund Bildungsarbeit der IGMG prägen, lässt sich anhand der in den Seminaren behandelten Themen belegen. Bei den hier praktizierten Ideologietransfers werden die postulierte Vorbildfunktion und die Vorrangstellung der "Milli Görüs" auf breiter Basis weitergegeben; so werden im entsprechenden Unterricht "Mission und Vision der Milli Görüs"121 ebenso thematisiert wie die Frage der "Besonderheit des Milli Görüs-Muslims"122 oder die Bedeutung der Begriffe "Milli Görüs" und "Organisation".123 119 Arabisch "al-amr bi'l ma'ruf wa al-nahy an al-munkar". 120 Freitagspredigt der IGMG-Zentrale; IGMG-Homepage vom 29. Juni 2007, gleich lautend in "Milli Gazete" vom 28. Juni 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 121 Prof. Dr. Arif ERSOY in Walldorf ("Milli Gazete" vom 2. März 2007) und Rabia KIRDAS in Stuttgart ("Milli Gazete" vom 8. März 2007). 122 Ibrahim GÜMÜSOGLU in Mainz ("Milli Gazete" vom 26. Juni 2007). 123 Sabahaddin UCAR in Hüfingen ("Milli Gazete" vom 3. März 2007). 72 Islamismus Bei einem Ende Februar 2007 in Walldorf durchgeführten Bildungsseminar der IGMG-Regionalvorstände, an dem Mitglieder der Regionalvorstände aus Deutschland und dem benachbarten Ausland teilnahmen, bekräftigte Prof. Dr. Arif ERSOY in seinem Vortrag "Mission und Vision der Milli Görüs" die Einschätzung der "Milli Görüs", es sei an der Zeit, "Fundamente für eine neue Zivilisation"124 zu legen. Damit führte ERSOY den auf dem "1. Internationalen Milli Görüs-Symposium" Ende Oktober 2006 in Istanbul propagierten Leitgedanken vom Aufbau einer "neuen Weltordnung" auf intensive Grundlage der "Milli Görüs", die die "rassistische unterdrückerische, koloBildungsarbeit nialistische Ordnung" 125 ablösen soll, in Anwesenheit von maßgeblichen Funktionären der IGMG in Deutschland fort. Auf einer Versammlung der Vorsitzenden für Bildung der Vereine in der Region Stuttgart definierte der Vorsitzende der regionalen Bildungskommission das Ziel der Bildungsarbeit mit der "Beseitigung von Unwissenheit" im Sinne einer islamischen Unterweisung.126 In diesem Zusammenhang wurde auf Fragen eingegangen wie diejenigen, wie man sich eines "Dieners Allahs würdig erweisen", eine "des Propheten würdige Umma" sein oder "zu vollkommenen Menschen werden" könne. In ähnlicher Weise äußerte sich der Jugendvorsitzende der Region Stuttgart, Ünal ÜNALAN, auf einer Veranstaltung des Vereins in Esslingen: "Der wahre Grund, warum ihr auf dieser Welt seid, ist der, dass ihr Euch für den Frieden und die Glückseligkeit der Menschheit mobilisieren müsst (...) Unsere erhabene Religion ist voll dieser schönen Dinge, und wir müssen ihren Wert gut kennen. Erwartet keinen Beistand von anderswo! Solange wir das Gute, Schöne und Wahre verfolgen, ist die Menschheit mit uns zufrieden, und auf der Welt wird ein Klima von Frieden und Ruhe verwirklicht." 127 124 "Milli Gazete vom 2. März 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 125 Ankündigung auf "Milli Görüs"-naher Website vom 27. Oktober 2006. 126 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 8. Oktober 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 127 "Milli Gazete" vom 14. März 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 73 Auf einem Seminar der IGMG-Region Hessen wurde deutlich, dass der Aspekt der Mission (dava) und das Führerprinzip konstitutive Elemente der Organisation darstellen. Mustafa MULLAOGLU, Mitglied der Kommission für Rechtleitung und der Fatwa-Kommission der IGMG-Zentrale, stellte hier vor den anwesenden Jugendlichen klar: "Es gibt keine Jugendlichen ohne Mission und keine Mission ohne Führer." 128 Bei diesem Seminar wurde den Teilnehmern vom ehemaligen Regionalvorsitzenden der IGMG Hessen auch das Buch "Politische Begriffe im Koran" als Lektüre empfohlen. Erstmals brachte die IGMG im Sommer 2007 Jugendliche zu Ferienkursen in die Türkei, so aus den Vereinen Heilbronn129, Backnang und Waiblingen130. Die Bildungsinitiativen der IGMG erstrecken sich auch auf Ausbildungsangebote für den eigenen Nachwuchs an Lehrkräften. So besteht in der Region Freiburg seit Februar 2007 ein auf vier Jahre angelegter Predigerinnenkurs, der im Verein in Aldingen abgehalten wird. Eine weitere Form basisorientierter Bildung besteht in Gesprächsveranstaltungen (sohbet), die in Moscheen und Privatwohnungen abgehalten werden. Wie im Vorjahr führte die IGMG Anfang Dezember 2007 europaweit "Hausgespräche" durch131, bei denen besonders die Identität muslimischer Jugendlicher, muslimische Lebensführung sowie die Person des Propheten und dessen Botschaft thematisiert wurden. In Stuttgart wurden die Jugendbildungskurse 2006/2007 des IGMGFrauenjugendverbands Baden-Württemberg mit einer Diplomfeier abgeschlossen, bei der die Jugendvorsitzende Canan BÜLBÜL betonte, die hier ausgebildeten jungen Frauen würden "künftig bei der Formung der 128 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 8. November 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 129 Anzeige in der "Milli Gazete" vom 30. Mai 2007. 130 "Milli Gazete" vom 17. Oktober 2007. 131 Die Zielvorgabe lag bei 2.000 Hausgesprächen (IGMGWebsite vom 26. November 2007). 132 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 5. Juli 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 74 Islamismus Gesellschaft und der kommenden Generation eine wichtige Rolle spielen." 132 "Führer" Erbakan war zu dieser Veranstaltung live zugeschaltet und erläuterte, warum die Welt "der 'Milli Görüs' bedürfe". Angehende Akademiker sind eine wichtige Zielgruppe im Rahmen der Aktivitäten der IGMG. Insbesondere nimmt sich die IGMG kopftuchtragenden Studentinnen an, die aufgrund des Kopftuchverbots in der Türkei133 zum Studium an europäische Universitäten ausweichen. Hier leistet die Organisation auch finanzielle Unterstützung in Form der Vergabe von Stipendien. Am 31. März 2007 veranstaltete die IGMG in der Stadthalle Hagen einen internationalen Studententag, für den außer Studententag in den IGMG-eigenen Medien auch auf einer eigens eingerichteten türkischsprachigen Internetseite geworben wurde. Zu der unter dem Motto "Zukunft in der Tradition" abgehaltenen Veranstaltung reisten rund 1.700 Studierende aus ganz Europa an. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildete die Frage der Bewahrung der islamischen Identität in den europäischen Gesellschaften. Abermals wies hier Generalsekretär ÜCÜNCÜ das Konzept eines "Euro-Islam" entschieden zurück.134 Nach dessen Konzeption wäre eine moderate Anpassung bestimmter islamischer Vorschriften an die Erfordernisse der Moderne vorstellbar. Das Festhalten an Koran und Sunna als Leitlinien bezeichnete ÜCÜNCÜ als elementar. Auch werde man sich die Definitionshoheit in Glaubensfragen "nicht von anderen wegnehmen lassen". Einer der Gastredner auf der Veranstaltung war SP-Gründungsmitglied Prof. Dr. Numan KURTULMUS, der in seinem Beitrag die historische Rolle des Osmanischen Reiches als "Symbol der Vereinigung von Ost und West", einer "Globalisierung im positiven Sinne", hervorhob. Bei ihren innerorganisatorischen Fortbildungsseminaren führte die IGMGZentrale einen so genannten Erweckungsunterricht (dirilis dersleri) für weibliche Führungskräfte der "Milli Görüs" in Holland durch. Mit dieser Art des Unterrichts soll neben der Schaffung eines Da'wa135-Bewusstseins 133 Am 9. Februar 2008 verabschiedete die regierende "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) mit Unterstützung der "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) eine Gesetzesvorlage zur Aufhebung des Kopftuchverbots. 134 Hier und im Folgenden: Online Ausgabe der "Islamischen Zeitung" vom 18. April 2007. 135 Aktivitäten, die geeignet sind, für den Islam zu werben und diesen zu verbreiten. 136 "Milli Gazete" vom 10. Juli 2007. 137 Publikation des Imams des Vereins Pleidelsheim, Edip GÖKBAKAN: "Neden Hristiyanlik Degil De Islam?" ("Warum nicht Christentum, sondern Islam?"), Istanbul 2006. 75 das Erkennen der Bedeutung der Organisierung, die Stärkung des Tag der Offenen Zusammenhalts unter den Jugendfunktionären und die Förderung ihrer Moschee Aktivitäten erreicht werden. Im Juli 2007 erfolgte im Verein der IGMG Pleidelsheim eine als "Hinwendung zur Wahrheit"136 beschriebene Konversion, die auf die Lektüre entsprechender Da'wa-Literatur137 zurückgeführt wurde. Veranstaltungen zum "Tag der Offenen Moschee" können in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht ganz losgelöst vom Aspekt der Da'wa betrachtet werden. Im Verein Walldorf hielt IGMG-Generalsekretär ÜCÜNCÜ am 3. Oktober 2007 eine Ansprache an die Gäste, in welcher er "Botschaften des Friedens, des Vertrauens und des Rechts" ausgesandt habe. Die deutschen Gäste seien angesichts des "Vergleichs dieser Ausführungen mit den Behauptungen aus den Medien geradezu berauscht und gleichzeitig schockiert" gewesen.138 Derartige Äußerungen im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit kontrastieren jedoch mit Vorfällen wie dem Auffinden einer der verbotenen "Hizb ut-Tahrir"139 zuzuordnenden Publikation zum Thema "Kalifat" ebenfalls am "Tag der Offenen Moschee" im Verein in Nürtingen, in welcher der "von langer Hand vorbereitete Plan, der politischen Einrichtung des Islam den Todesstoß zu versetzen", beklagt wird. Auch die vorhandenen Verbindungen von Funktionären der IGMG Region Schwaben zum 1999 gegründeten Ulmer Verein "Islamisches Informationszentrum e.V." (IIZ) - mehrere Personen bekleideten sowohl im IGMG-Verband Schwaben als auch im IIZ eine Funktion -, welcher nach dem Verbot des "Multi-Kulturhauses Ulm e.V." (MKH) dessen Strukturen weiterführte und sich am 2. Oktober 2007 selbst auflöste, um einem drohenden Verbot zuvorzukommen, konterkarieren die von der IGMG-Führung angestrebte Vertrauensbildung. In welch starkem Maß die innere Befindlichkeit der Gemeinschaft mit den Integrationserwartungen der Mehrheitsgesellschaft kontrastiert, gibt ein am 14. Februar 2007 in der "Milli Gazete"140 erschienener Artikel aus Anlass einer Koran-Festveranstaltung in Dortmund wieder. Ge-mäß diesen Ausführungen erleben sich die muslimischen Einwanderer als Träger und Überbringer eines "Heilsweges für die Menschheit": Die muslimischen "Auswanderer" (muhacir) in Deutschland setzten ihre Unterschrift unter "glänzende Aktionen". Im "Kampf um Selbstbehauptung oder Verschwinden" 138 "Milli Gazete" vom 17. Oktober 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 139 Siehe Kap. B Ziff. 4.3.5. 140 "Milli Gazete" vom 14. Februar 2007; im Folgenden Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 141 Mit diesem Begriff wird eine Parallele gezogen zwischen der heutigen Situation der Muslime in der Migration und der "Auswanderung" (hidjra) des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina 622 n.Chr. 76 Islamismus trügen sie die Eigenschaft des Ausgewandertseins (muhacirlik)141 stolz im Bedeutung Herzen und im Gedächtnis. Als "Milli Görüs" sowie unter anderen Namen der Jugendund habe man zivilgesellschaftliche Organisationen gegründet und mit segensFrauenarbeit reicher Arbeit begonnen, die nun Früchte trage, wobei die "segensreichen Auswanderer" (kutlu muhacirler) einen "gleichsam heldenhaften Kampf" führten. Im Blick auf die Jugend, die in Europa den Geist der Zeit vor Hunderten von Jahren wieder auferstehen lasse, wird formuliert n: "Diese werden es sein, die in Zukunft (...) zum Heilmittel für die Menschheit werden und auf den Stirnen der Menschen die Rosen der Niederwerfung erblühen lassen werden." Auch die bedeutsame Rolle der Frauen wird gewürdigt: "Sie errichten eine Sperrmauer gegen die Assimilierung der Generationen." Als Fazit heißt es: "Um die schlimme Entwicklung im Westen zu stoppen, bemühen sich unsere im Westen lebenden Menschen unermüdlich und unablässig, den universellen Glauben des Islam wie einen Heiltrank, eine Medizin in die Herzen und Gemüter der eigenen wie auch der übrigen Menschen einzuflößen." Diese Betrachtungsweise lässt keinen Zweifel am Fernziel der Gesundung der gesamten Menschheit durch den Heiltrank des Islam in der Interpretation der "Milli Görüs". Noch deutlicher formuliert dies ein Kolumnist der "Milli Gazete", der 2007 mehrfach als Gastredner bei Veranstaltungen der IGMG, auch in der Region Stuttgart142, auftrat, wie folgt: "'Eroberung' (fetih) heißt, sämtliche nicht mit dem Islam vereinbaren Formen von Gebräuchen und Sitten niederzureißen und die Menschen aus der Umzingelung dieser Gebräuche zu befreien (...) 'Erobe142 Veranstaltungsankündigung in der "Milli Gazete" vom 23. März 2007. 143 "Milli Gazete" vom 29. Mai 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 77 rung' heißt, ausschließlich Diener Allahs zu sein und Generationen heranzuziehen, die nicht Dienern dienen. 'Eroberung' heißt, das Nichtige (batil) mit dem Wahrhaften (hak; auch: Gott) zu überdecken und das Nichtige auszumerzen." 143 Derselbe Autor lässt ein Rechtsempfinden erkennen, das eine deutliche Distanz zu "menschengemachten Gesetzen" offenbar werden lässt: "Bei Gesetzen, die das Parlament gebilligt hat, kann der Staatspräsident ein Veto einlegen. Aber sämtliche Staatspräsidenten, Könige, Kaiser und Sultane können nicht einen einzigen Vers des Buches Allahs blockieren (...) Das Recht (hukuk) kann nur dann 'Recht' genannt werden, wenn es von "Hak" (Wahrheit/Gott) kommt. Wenn es vom Volk kommt, heißt es 'kanun' (Gesetz)." 144 Furcht vor Assimilation Das von der IGMG gebotene, mit den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft konkurrierende Bezugssystem bildet gleichzeitig eine Barriere für eine gelingende Integration ihrer Anhänger in die Gesellschaft des Aufnahmelandes. Aus der Binnensicht heraus ist dieses Abschirmen nur folgerichtig, weil damit der befürchteten "Assimilation" ein Schutzwall entgegengesetzt werden soll. Ein aus der Türkei angereister Kolumnist beschreibt diesen Umstand anlässlich eines Basars der IGMG in Schorndorf im Hinblick auf die Rolle der Mütter in den Familien: "Damit ihre Kinder nicht assimiliert werden, beschützen sie sie mit bemerkenswertem Eifer unter dem kulturellen Schirm der Milli Görüs-Organisationen." 145 Dieses Bedürfnis nach Abgrenzung kommt auch in Überlegungen zur Gestaltung der Beziehungen in der Gesellschaft zum Ausdruck, die unter dem Aspekt der Religionszugehörigkeit der Beteiligten betrachtet werden. Mustafa MULLAOGLU, stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Rechtleitung der IGMG-Zentrale, referierte bei einem Seminar der IGMG 144 "Milli Gazete" vom 24. März 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 145 "Milli Gazete" vom 18. Juni 2007; Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 146 "Milli Gazete" vom 6. Juni 2007. 78 Islamismus Holland-Nord zur Frage der Lebensführung eines Muslims in einem nichtmuslimischen Land, wobei das Thema auf der Basis der Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zur Zeit des Propheten diskutiert wurde.146 4.6 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) Gründung: 1984 (ICCB), 1994 Umbenennung in "Kalifatsstaat" Sitz: Köln Mitglieder: ca. 250 Baden-Württemberg (2006: ca. 300) ca. 750 Bund (2006: ca. 750) Verbot: Nach dem Wegfall des Religionsprivilegs durch Änderung des Vereinsgesetzes wurden am 8. Dezember 2001 durch den Bundesminister des Innern 19 Ortsvereine als Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" verboten; am 19. September 2002 wurde das Verbot auf 16 weitere Cemaleddin KAPLAN Teilorganisationen ausgedehnt.147 Die Gründung des "Verbands der Islamischen Vereine und Gemeinden" ("Islami Cemiyet ve Cemaatler Birligi", ICCB) im November 1984 durch Cemaleddin KAPLAN, ehemals Beamter des türkischen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi), geht auf interne Auseinandersetzungen zwischen KAPLAN und der von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN geführten "Milli Görüs" zurück, in deren Namen KAPLAN Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland entsandt worden war. Im Unterschied zur "Milli Görüs" sah KAPLAN in der Methode der "Verkündigung" (teblig)148 des Islam und dem anschließenden revolutionären Umsturz den Köln als einzig gangbaren Weg zur Macht. KAPLAN verließ die damalige "Avrupa fiktives Kalifat Milli Görüs Teskilatlari" (AMGT), gefolgt von etwa der Hälfte der dieser zugehörigen Moscheevereine und gründete den ICCB. 1992 erfolgte die 147 Bestätigung des Verbots durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002. 148 KAPLAN orientierte sich hier am Vorbild Ayatollah Khomeinis, der während der Jahre seines Exils in Frankreich die permanente "Verkündigung" seiner Reden und Predigten als das geeignete Mittel ansah, damit das Volk als "Empfänger" dieser "Verkündigung" schließlich zu den Waffen greife und die Revolution vollziehe. 79 Umbenennung der Organisation in "Föderativer Islamischer Staat Anatolien" ("Anadolu Federe Islam Devleti", AFID) und 1994 in "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"). Köln als Sitz der Zentrale sollte bis zur angestrebten "Befreiung Istanbuls" als Hauptstadt des "exterritorialen 'Kalifatsstaats'" fungieren. Die örtlichen Mitgliedsvereine des Verbandes unterstanden so genannten Gebietsemiren (bölge emiri), die ihrerseits an die Weisungen des "Kalifen" gebunden waren. Die Mitglieder waren KAPLAN zu einem "Treueschwur" (biat) und zu unbedingweiter in Haft tem Gehorsam dem "Kalifen" gegenüber verpflichtet. Nach dem Tod Cemalettin KAPLANs im Mai Metin KAPLAN 1995 wurde seinem Sohn Metin KAPLAN die Nachfolge im Amt des "Kalifen" übertragen. Im November 2000 hat das Oberlandesgericht Düsseldorf Metin KAPLAN aufgrund einer von ihm erlassenen Fatwa, die zur Tötung des "Gegenkalifen" Dr. Halil Ibrahim SOFU geführt hatte, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Im Herbst 2004 wurde KAPLAN in einem Internetcafe in Köln festgenommen und nach Istanbul ausgeflogen, wo ihm wegen Hochverrats der Prozess gemacht wurde. Am 20. Juni 2005 wurde KAPLAN zu lebenslanger Haft verurteilt; ein Berufungsgericht in Ankara hob jedoch dieses Urteil durch seine Entscheidung vom 30. November 2005 aufgrund von Verfahrensfehlern auf. Der Prozess wird derzeit fortgesetzt. KAPLAN befindet sich noch immer in Haft. Die Verbreitung von Publikationen des "Kalifatsstaats", die zum Teil auch nach dem Verbot der Organisation noch beobachtet wurde und aufgrund derer verschiedentlich Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, konnte im Jahr 2007 nicht mehr festgestellt werden. Die offizielle Internetseite des "Kalifatsstaats", die über einen Server in den Niederlanden betrieben wird, ist weiterhin abrufbar.149 Neben Schriften und 149 Internetauswertung vom 15. November 2007. 150 Ausgaben aus den Jahren 2002 und 2003; Internetauswertung vom 15. November 2007. 151 Internetauswertung vom 15. November 2007. 80 Islamismus Büchern Cemalettin und Metin KAPLANs, Videound Audiodokumenten sind hier Ausgaben der deutschsprachigen Publikation "Der Islam als Alternative" in Volltext eingestellt.150 Eine Internetseite des Fernsehkanals "Hakk TV" unter dem Motto "Der Islam ist sowohl Religion als auch Staat, sowohl Gottesverehrung als auch Politik" ist ebenfalls geschaltet.151 Das Verbot und die Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur zwar geschwächt, gleichwohl sind die Anhänger weiterhin in Deutschland präsent. Wie sich diese längerfristig orientieren werden und ob es zu einer Neustrukturierung kommen wird, ist ungewiss. 5. Weitere Informationen Im Jahr 2006 erschien die Broschüre "Islamistischer Extremismus und Terrorismus" des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Aktuelle Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage: http://www.verfassungsschutz-bw.de/kgi/kgi_start.htm. 81 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Organisationen von Ausländern werden als extremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Der gesetzlich vorgesehenen Beobachtung unterliegen neben islamistischen Gruppierungen152 auch BestreBeobachtungsbungen, die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorumfang bereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im jeweiligen Heimatland angestrebt wird. Daneben fallen Bestrebungen unter den Beobachtungsauftrag, wenn diese gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Deshalb sind die Entwicklungen im Bereich Ausländerextremismus vor allem von den Ereignissen in den jeweiligen Heimatländern geprägt und können sich anlassbezogen kurzfristig ändern. Ausländersextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2005 - 2007 152 Vgl. das Kap. B "Islamistischer Extremismus und Terrorismus". 82 Ausländerextremismus In Baden-Württemberg waren 8.440 (2006: 8.405) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder terroristischer Zielsetzung aktiv. Die Gesamtzahl der politisch motivierten Straftaten im Phänomenbereich Ausländer Zunahme der stieg in Baden-Württemberg sprunghaft von 59 auf 135 (+120 Prozent). Straftaten Hiervon entfielen 123 (2006: 45) auf Straftaten mit extremistischem Hintergrund. Die Anzahl der Gewaltdelikte verdoppelte sich von 7 auf 14 Fälle.153 Diese Zahlen spiegeln vor allem die Aktionstätigkeit im Zusammenhang mit dem "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) wider. Ein großer Teil der 39 Verstöße gegen das Vereinsgesetz resultierten aus dem Abschluss eines Sammelverfahrens des Landeskriminalamts Stuttgart gegen Angehörige die Organisation. Außerdem wurden vier Brandanschläge im Sachzusammenhang mit dem KONGRA-GEL verzeichnet. Auch die unfriedlichen Aktionen als Reaktion auf die Ermächtigung des türkischen Parlaments im Oktober 2007, in den Nordirak einzumarschieren, fanden ihren Niederschlag in der Statistik. Im türkischen linksextremistischen Bereich fielen vermehrt Farbschmierereien auf. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer sowie ausländerextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2007 153 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führt keine eigene Strafund Gewalttatenstatistik. Alle in diesem Jahresbericht aufgeführten statistischen Angaben zu politisch motivierten Straftaten beruhen auf Zahlenangaben des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. 83 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) KONGRA-GELGründung: 1978 (in der Türkei) Logo Betätigungsverbot in Deutschland vom 22. November 1993 (bestandskräftig seit 26. März 1994) Umbenennung in KONGRA-GEL seit November 2003. Sitz: Grenzgebiet Türkei / Nord-Irak Vorsitzender: Zübeyir AYDAR, dennoch gilt Abdullah ÖCALAN weiterhin als Leitund Identifikationsfigur. Anhänger: ca. 700 Baden-Württemberg (2006: ca. 700) ca. 11.500 Bund (2006: ca. 11.500) Publikation: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), die sich zwischenzeitlich zweimal umbenannt hat, ist eine mitgliederstarke Organisation von überwiegend aus der Türkei stammenden Kurden. Ihr ursprüngliches Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". Deshalb begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Befreiungseinheiten Kurdistans" (HRK), der im Oktober 1986 in "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) umbenannt wurde, einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. In Deutschland versuchte die Organisation, den Kampf im Heimatland durch politische und gewalttätige Aktionen zu unterstützen. Deshalb wurde der PKK und ihrer im März 1985 gegründeten Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet durch den Bundesminister des Innern untersagt. Dieses Verbot umfasst auch den "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und den "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL). Unter jeder dieser drei Bezeichnungen ist die Organisation auf Beschluss des Rats der ERNK-Logo "Europäischen Union" (EU) vom 2. April 2004154 auch in der "EU-Terrorliste" genannt. Außerdem entschied der Bundesgerichtshof 154 Amtsblatt der Europäischen Union L 99 vom 3. April 2004, S. 28f. 84 Ausländerextremismus (BGH) am 21. Oktober 2004155, dass die Führungsebene der PKK in Deutschland nach wie vor eine kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 Abs. 1 Strafgesetzbuch ist. Nach der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und den anschließenden Gewaltphasen verkündete die PKK im September 1999 ihre so genannte Friedensstrategie, deren konkrete Ausgestaltung auf dem 7. Parteikongress im Januar 2000 beschlossen wurde. Vorgeblich auf politischem Weg und ohne Anwendung von Gewalt fordern die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen seitdem die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr Rechte und kulturelle Autonomie. Als übergeordnetes Ziel wird eine Einheit aller Kurden unter Wahrung der bestehenden Staatsgrenzen angestrebt. Dabei versteht sich die PKK selbst als einzig legitimer Vertreter und Ansprechpartner dieser Volksgruppe und reklamiert den alleinigen Führungsanspruch für sich. Um die politische Neuausrichtung nach außen zu dokumentieren und um sich von dem über viele Jahre hinweg geprägten Makel einer Terrororganisation zu befreien, nahm die Organisation verschiedene Veränderungen vor. Insbesondere wurden die PKK selbst und mehrere Teilorganisationen umbenannt beziehungsweise HPG-Logo formal aufgelöst und unter neuen Namen wieder gegründet. Der militärische Arm ARGK erhielt zum Beispiel die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Die ehemalige Propagandaorganisation ERNK firmiert seit Sommer 2004 als "Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa" (CDK). Die KONGRA-GEL-Jugendorganisation tritt als Komalen Ciwan"Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans" (Komalen Logo Ciwan) auf. Unabhängig von ihrer Bezeichnung ist die Organisation nach wie vor trotz der nach außen propagierten "Friedenslinie" und der vielen Veränderungen seit Herbst 1999 eine Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands. Denn eine grundsätzliche Wandlung ist nicht festzustellen: An dem strikt hierarkeine wirkliche chischen Aufbau und an der autoritären Führung haben sich bis heute Wandlung weder substanziell noch personell nennenswerte Veränderungen ergeben. Eine zumindest teilweise Demokratisierung der Strukturen ist bislang trotz mehrerer Versuche, wenigstens einzelne demokratische Elemente einzuführen und die Basis bei Entscheidungen mit einzubeziehen, nicht erfolgt. Auch wird Gewalt nach wie vor als ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung der Ziele und zum eigenen Schutz angesehen. Die Organisation verfolgt derzeit eine Doppelstrategie: einerseits bewaffnete Auseinandersetzung in der Türkei und andererseits gewaltfreie Protestaktionen in Deutschland. 155 Urteil des BGH vom 21. Oktober 2004, 3 StR 94/04. 85 Dennoch behält sie sich auch hier die Anwendung von Gewalt zumindest vor. Anlassbezogen kann sie einen großen Teil der Mitglieder und Anhänger auch in Baden-Württemberg für gewalttätige Aktionen mobilisieren. Mobilisierung in Baden-Württemberg - besonders kurdischer Jugendlicher Das Jahr 2007 war von mehreren Aktionswellen geprägt, die durch exekutive Maßnahmen, die Meldung über die angebliche Vergiftung ÖCALANs und Ereignisse in der Türkei ausgelöst wurden. Die Aktionsschwerpunkte in Baden-Württemberg waren dabei Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Ulm landesweit gleichund Freiburg im Breisgau. Landesweit engagieren sich etwa 700 Personen bleibendes Persoaktiv für den KONGRA-GEL oder die ihm nahe stehenden Organisationen. nenpotenzial Für besondere Anlässe lassen sich in Baden-Württemberg mehrere Tausend Kurden mobilisieren. 2007 konnte erneut eine Unterstützung durch türkische linksextremistische Organisationen festgestellt werden. Das Kurdenproblem wurde auch in der deutschen linksextremistischen Szene aufgegriffen. Dabei handelt es sich nach den vorliegenden Erkenntnissen weniger um eine Zusammenarbeit mit dem verbotenen KONGRA-GEL als um eine Solidarisierung mit den türkischen Kurden im Allgemeinen. Mobilisierung Die KONGRA-GEL-Anhänger werden vorwiegend über die dem KONerfolgt über GRA-GEL nahe stehenden örtlichen Kurdenvereine erreicht. ÖffentlichVereine keitswirksame Aktionen werden grundsätzlich in ihrem Namen angemeldet und verlaufen weitgehend friedlich. Immer öfter wurden diese Veranstaltungen aber von Rangeleien am Rand begleitet. Diese entstanden meist nach Provokationen national eingestellter türkischer Personen. Seit dem Frühjahr 2007 werden die kurdischen Jugendlichen mit Nachdruck in einschlägigen Medien wie zum Beispiel in der Zeitschrift "Ciwanen Azad" ("Freie Jugend") oder auf der Internetseite der KONGRA-GEL-Jugendorganisation in allgemeiner Form zu Aktionen aufgerufen und dazu ermutigt, sich der Guerilla in den Bergen anzuschließen. Bundesweit, unter anderem auch in Baden-Württemberg, ereigneten sich 2007 einzelne unfriedliche Aktionen, die aufgrund des zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs mit Ereignissen und Aufrufen mutmaßlich von Angehörigen der KONGRA-GELJugendorganisation verübt wurden. Besonders emotionali86 Ausländerextremismus siert und aggressiv reagierten sie auf Provokationen national eingestellter beziehungsweise staatstreuer Türken bei Protestaktionen im Spätherbst 2007. Anlass war der in der Türkei zugespitzte Konflikt zwischen den Kämpfern der HPG und dem türkischen Militär, der sich bis nach Deutschland auswirkte. Aufgeheizte Stimmung Anfang 2007 Die länderübergreifende Durchsuchung von über 20 Objekten in BadenWürttemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und im Saarland unter Federführung Reaktionen des Landeskriminalamts Stuttgart am 10. Januar 2007 rief unter den Anhänauf Polizeigern bundesweit große Aufregung, Wut und Empörung hervor. Dabei wurmaßnahmen den umfangreiches Beweismaterial und Bargeld sichergestellt sowie ein Funktionär festgenommen, der zunächst das KONGRA-GEL-Gebiet Stuttgart geleitet hatte und später zusätzlich für den gesamten süddeutschen Raum verantwortlich war. Wegen dieser Funktionärstätigkeit verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart am 10. Juli 2007 zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung156. Gegen die Maßnahme des Landeskriminalamts protestierte vor allem die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)157. In den Medien wurde der Verhaftete als eines der Vorstandsmitglieder angegeben. YEK-KOM bezeichnete die Hausdurchsuchungen als einen "Teil des schmutzigen Krieges158". Es sei offensichtlich, dass die von der Polizei angegebene Suche nach zwei Personen nur ein Vorwand gewesen sei, um nach neuen Gründen für eine Schließung der Vereine suchen zu können. Bei einer Pressekonferenz am 12. Januar 2007 in Stuttgart forderten Vorstandsmitglieder der YEK-KOM und des örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereins, der ebenfalls durchsucht worden war, ein Ende der ständigen Repressionen gegen die Kurden. Aus Protest traten in einem gleichfalls von der Maßnahme betroffenen Verein in Esslingen mehrere Personen in einen dreitägigen "Hungerstreik". An einer zentralen Demonstration am 20. Januar 2007 in Stuttgart beteiligten sich rund 500 Personen. Die Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" berichtete am 27. Januar 2007 über einen Boykottaufruf der KONGRA-GEL-Propagandaorganisation für deutsche Produkte. Anfang Februar 2007 wurden im Raum Paris und in Brüssel mehrere Kurden vorübergehend festgenommen. Diese sollen mutmaßlich in die Finanzierung des KONGRA-GEL eingebunden gewesen sein. Nachdem die 156 Das Urteil ist zwischenzeitlich rechtskräftig. 157 Dachverband mit Sitz in Düsseldorf, in dem überwiegend die örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereine in Deutschland zusammengeschlossen sind. 158 Hier und im Folgenden: Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" vom 11. Januar 2007, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 87 KONGRA-GEL-Jugendorganisation daraufhin an die Ehre der kurdischen Jugendlichen appelliert und sie zum "radikalen, legalen und demokratischen Widerstand"159 aufgerufen hatte, entzündeten Jugendliche am Abend des 7. Februar 2007 Benzin auf einem Autobahnzubringer bei Freiburg im Breisgau. Die Polizei fand ein Stofftransparent mit der Aufschrift "Europa fordere unsere Geduld nicht heraus kurdische Jugend Initiative". Die alljährliche Demonstration anlässlich des Jahrestags der Verhaftung ÖCALANs verlief am 10. Februar 2007 in Straßburg mit rund 12.000 Personen, die vor allem aus Deutschland angereist waren, ohne besondere Vorkommnisse. In einem KONGRA-GELnahen Verein in Heilbronn fand ein dreitägiger Hungerstreik statt, der mit einem Aufzug und anschließender Kundgebung am 16. Februar 2007 mit über 400 Teilnehmern endete. Das Motto der Veranstaltung lautete: "Protest gegen die Angriffe, Unterdrückung und Kriminalisierung der Kurden und ihre Vereine durch die europäischen Regierungen, insbesondere Deutschland, Holland und Frankreich und den internationalen Komplott vom 15.02.1999 gegen Herr Abdullah Öcalan".160 Angesichts der beschriebenen und weiterer Maßnahmen - darunter die Entscheidung des Ministerkomitees des Europarats vom 13./14. Februar 2007, dass eine Neuaufnahme des Strafprozesses gegen ÖCALAN entbehrlich sei - ging der KONGRA-GEL von einem neuen "Angriffskonzept gegen die Kurden"161 und von einem Bündnis aus, das von den USA entwickelt und nun von der Europäischen Union umgesetzt werde. Ausdrücklich wurde ein Treffen der so genannten PKK-Koordinatoren der USA und der Türkei genannt, das am 11. Dezember 2006 in Stuttgart stattgefunden haben soll. Mit jeder Maßnahme verschärfte sich die Wortwahl der Protesterklärungen, auch gegenüber Deutschland. Angebliche Vergiftung ÖCALANs Kaum hatte sich die Stimmung der KONGRA-GEL-Anhänger wieder etwas beruhigt, erklärten die Anwälte ÖCALANs auf einer Pressekonferenz am 159 "Yeni Özgür Politika" vom 7. Februar 2007, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 160 Laut Anmeldung bei der Versammlungsbehörde, Übernahme wie im Original. 161 "Yeni Özgür Politika" vom 8. Februar 2007, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 88 Ausländerextremismus 1. März 2007 in Rom, dass ihr Mandant in türkischer Haft langsam vergiftet werde. Eine Haaranalyse habe eine weit über den Normalwerten liegende Konzentration von Strontium und Chrom ergeben. Die Anwälte gingen davon aus, dass das Leben ÖCALANs hochgradig gefährdet sei. Später wurde bekannt, dass angeblich ein Unternehmen, das Kreisen der Mutterpartei der "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF)162 in der Türkei zuzuordnen sei, ÖCALANs Zelle renoviert und dabei die Wände mit einer Farbe gestrichen habe, der Gift beigemischt gewesen sei. Dies habe die beschriebenen Vergiftungserscheinungen hervorgerufen. Bei den Anhängern löste diese Meldung wiederum Bestürzung und Wut aus. ÖCALANs Gesundheitszustand war seit seiner Verhaftung immer wieReaktionen der Thema und Anlass demonstrativer Aktionen. Die Verantwortung für in Badenden angeblich schleichenden Tod ÖCALANs wurde nicht nur der Türkei, Württemberg sondern auch den europäischen Staaten angelastet. Bereits am 3. März 2007 fanden bundesweit Aufzüge und Kundgebungen statt. Ein Schwerpunkt lag mit jeweils mehreren hundert Teilnehmern in Baden-Württemberg. Die Stimmung bei den Veranstaltungen in Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Freiburg im Breisgau und Ulm war stark emotionalisiert. Auf drei Mitgliedsvereine der extrem nationalistischen ADÜTDF wurden am 2. März 2007 in Esslingen, am 21. März 2007 in Göppingen und am 14. Juni 2007 in Sindelfingen Brandanschläge verübt. Es entstand jeweils Sachschaden. Die zwischen 20 und 28 Jahre alten Täter der Anschläge in Göppingen und Esslingen wurden vom Landgericht Ulm im September 2007 beziehungsweise vom Landgericht Stuttgart im Februar 2008 zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Proteste nach türkischem Mandat für eine Invasion in den Nordirak Unter dem Eindruck immer stärker werdender Verluste innerhalb der türkischen Armee im Kampf gegen die HPG kündigte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Anfang Oktober 2007 ein schärferes Vor162 Auch bekannt als "Graue Wölfe", siehe Kap. C Ziff. 3.1.1. 89 gehen gegen den KONGRA-GEL beziehungsweise die PKK an. Am 17. Oktober 2007 erteilte das türkische Parlament der Regierung das auf ein Jahr befristete Mandat, in den Nordirak einzumarschieren, um militärisch gegen die sich dort aufhaltenden GuerillaKämpfer des KONGRA-GEL vorzugehen. Erst nach umfangreichen internationalen diplomatischen Verhandlungen konnte eine kurzfristige Intervention abgewandt werden. Unterdessen wurden die blutigen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Kämpfern des KONGRA-GEL mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten im Krisengebiet fortgesetzt. Außerdem intensivierten sich die massiven Protestbekundungen von Türken und Kurden in der Türkei. Doch trotz markiger Worte einzelner Funktionäre in den Medien betonte KONGRA-GEL, dass man weiterhin an einer friedlichen und politischen Lösung des Kurdenproblems festhalte. ÖCALAN stellte fest, dass man "nicht kriegsbesessen" 163 sei. Wenn die militärischen Operationen eingestellt würden, entstünde die für eine Waffenruhe geeignete Atmosphäre.164 Reaktionen auf Die verschärfte Lage in der Türkei wirkte sich auch auf Deutschland aus. Lageverschärfung Die Vorgänge im Heimatland und im Nordirak wurden sowohl von den in der Türkei Türken als auch von den Kurden genau beobachtet. Die KONGRA-GELAnhänger sahen einem möglichen Einmarsch, der bereits fast das ganze Jahr über im Fokus der Medien stand, eher gelassen entgegen. Denn sie sind überzeugt, dass der KONGRA-GEL beziehungsweise die Guerilla militärisch nicht zu besiegen ist. Sie begrüßten die internationale Aufmerksamkeit für das Kurdenproblem und spekulierten auf einen Solidarisierungseffekt aller Kurden. Über mehrere Wochen hinweg fanden bundesweit mit relativ hohen Teilnehmerzahlen sowohl pro-kurdische Demonstrationen, die in Baden-Württemberg hauptsächlich von KONGRA-GEL-nahen Vereinen organisiert wurden, als auch pro-türkische Kundgebungen statt. Letztere richteten sich gegen die PKK beziehungsweise den KONGRA-GEL und wiesen eine große Beteiligung vorwiegend patriotisch gesinnter Türken ohne erkennbaren Bezug zu extremistischen Organisationen auf. Gemäß dem "Friedenskurs" war die Stimmung unter den KONGRA-GEL-Anhängern in Baden163 "Yeni Özgür Politika" vom 3. November 2007, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 164 "Yeni Özgür Politika" vom 10. November 2007, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 90 Ausländerextremismus Württemberg weitgehend von Besonnenheit geprägt, jedoch mit einer starken Tendenz zur Emotionalisierung bei direktem Zusammentreffen mit staatstreuen oder national eingestellten Türken. Dies galt besonders für die kurdischen Jugendlichen. Die Polizei konnte durch starke Präsenz und Eingreifen vor Ort jeweils eine Eskalation verhindern. Eine vom örtlichen KONGRA-GEL-nahen Verein in Freiburg im Breisgau angemeldete Demonstration am 27. Oktober 2007 verlief mit etwa 400 Teilnehmern ohne besondere Vorkommnisse. Zu einer ähnlichen Veranstaltung am gleichen Tag in Heilbronn fanden sich rund 500 Personen ein, woraufhin sich unvorhergesehen etwa 400 Türken zu einer spontanen Gegendemonstration formierten. Dabei kam es zu Provokationen und körperlichen Auseinandersetzungen, deren Ausweitung nur durch ein starkes Polizeiaufgebot verhindert werden konnte. Ein Polizist wurde bei diesem Einsatz verletzt. Weitgehend störungsfrei verlief dagegen die pro-kurdische Demonstration am 3. November 2007 in Stuttgart mit rund 1.200 Teilnehmern. Am 10. November 2007 fand sowohl eine türkische Demonstration in Freiburg im Breisgau mit etwa 500, als auch eine pro-kurdische in Pforzheim mit rund 500 Teilnehmern statt, davon mehr als die Hälfte Jugendliche. Beide Veranstaltungen verliefen friedlich, aber in sehr aufgeheizter und aggressiver Stimmung bei den kurdischen Jugendlichen. Weitere Demonstrationen wurden am 17. November 2007 in Mannheim mit etwa 1.000 und in Ulm mit rund 200 sowie am 24. November 2007 in Ludwigsburg mit circa 250 Teilnehmern durchgeführt. Die meisten dieser Veranstaltungen standen auch unter dem Motto "Edi Bese".165 Finanzierung Der KONGRA-GEL benötigt für seine Propagandatätigkeit, den Parteiapparat sowie für die Versorgung seiner Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition hohe Geldbeträge. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und über Gewinne 165 Zu Deutsch: "Jetzt reicht es". 91 aus Großveranstaltungen. Zusätzlich sollen die angesprochenen Landsleute bei der alljährlichen Spendenkampagne einen größeren Betrag abliefern, in Abhängigkeit von ihrem Einkommen bis zur Höhe von mehreren Hundert Euro. Dabei werden allein Spendenquittung in Deutschland mehrere Millionen Euro eingenommen. Diese Einnahmen sind seit Verkündung des "Friedenskurses" tendenziell rückläufig, weil sich zahlreiche Kurden nicht mehr ausreichend mit der Organisation identifizieren. Weitere Gründe für die Weigerung, den geforderten Beitrag ganz oder teilweise zu zahlen, dürften die restriktiven staatlichen Maßnahmen in Deutschland sowie die eigene wirtschaftliche Situation sein. Selbst das Argument, dass für die Kämpfer in der Heimat wesentlich höhere Gelder erforderlich seien, war entgegen allen Erwartungen nicht sehr zugkräftig. Ausblick Das weitere Verhalten des KONGRA-GEL und seiner Anhänger in BadenWürttemberg ist nach wie vor überwiegend von den Ereignissen in der Türkei abhängig. Sollte die Türkei tatsächlich eine breit angelegte Invasion in den Nordirak starten, dürfte dies gravierende Folgen für die Sicherheitslage in Deutschland haben. Denn die große Anzahl von Demonstrationen einschließlich der gewalttätigen Ausschreitungen im Herbst 2007 haben klar Konfliktgezeigt, welches Konfliktpotenzial auch hier zwischen staatstreuen und potenzial birgt national eingestellten Türken einerseits und dem KONGRA-GEL andererGefahren seits besteht. Das Verhalten der KONGRA-GEL-Anhänger wird außerdem von ÖCALAN und seinem Gesundheitszustand beeinflusst. Er wird unverändert als absolute Symbolund Führungsfigur verehrt. Mit seinem Schicksal lassen sich noch immer die Massen mobilisieren. Deshalb dürfte die Kampagne "Edi Bese" entsprechend dem "Friedenskurs" mit zunächst demonstrativ friedlichen Aktionen weiter fortgeführt und bei Bedarf intensiviert werden. Die Grundstimmung unter den KONGRA-GEL-Anhängern in Baden-Württemberg hat sich im Lauf des Jahres 2007 merklich weiter verschlechtert und konnte zeitweise sogar als aggressiv bezeichnet werden. Neben den polizeilichen Maßnahmen trug auch das entschiedene und nachdrückliche Vorgehen der Behörden, beispielsweise bei Einbürgerungen, ausländerrechtlichen Fragen und Sicherheitsgesprächen, zur weiteren Verunsicherung und Frustration innerhalb der Organisation in Baden-Württemberg bei. 92 Ausländerextremismus Dadurch fühlten sich ihre Anhänger in ihrer negativen Meinung über den deutschen Staat bestätigt. Dennoch gibt es bislang keine Anzeichen für ein Ende des "Friedenskurses" in Deutschland. 3. Türkische Vereinigungen 3.1 Extrem nationalistische Organisationen 3.1.1 "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) / "Türkische Föderation Deutschland" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 Baden-Württemberg (2006: ca. 2.100) ca. 7.500 Bund (2006: ca. 8.750) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" ("Bulletin der Türkischen Föderation") Die "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." ("Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF), deren Anhänger auch unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" (Bozkurt)166 bekannt sind, ist eine extrem nationalistische Organisation mit pantürkischen Idealen. In Baden-Württemberg befinden sich die bedeutendsten Ortsvereine der in Deutschland in 13 "Bölge" (Regionen) aufgeteilten Organisation in Stuttgart, Ulm und Mannheim. Die ADÜTDF wird als Auslandsorganisation der 1969 gegründeten türkischen Mutterpartei "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci Hareket Partisi", MHP) betrachtet, deren politische Ziele sie teilt und unterstützt. Als oberstes Ziel gilt den extremen Nationalisten, ihrem Selbstverständnis nach "Idealisten" (ülkücü) und die wahren türkischen Patrioten, eine von äußeren Einflüssen unabhängige, starke, selbstbewusste türkische Nation. Dem ethnisch definierten Türkentum wird in Gestalt der "türkischislamischen Synthese"167 die sunnitische Variante des Islam als untrennbarer kultureller Aspekt zugeordnet. Symbolisch ist diese Komponente, die sich 166 Der Legende nach führen die Türken ihren Ursprung auf den Wolf als Ahnherrn zurück, der zum nationalen Symbol des Türkentums stilisiert wurde. In der Symbolik der Nationalisten spielen der mit den Fingern der rechten Hand geformte "Wolfsgruß" und die Fahne mit den drei nach unten geöffneten Halbmonden (osmanische Kriegsflagge) eine Rolle. 167 Bereits in den 1960er Jahren in akademischen Kreisen entwickeltes Konzept einer Verknüpfung vorislamischer türkischer mit islamischen und nationalen Elementen, wobei die nationale Komponente vorherrscht. 93 auch in entsprechenden religiösen Unterrichtsinhalten in den Mitgliedsvereinen manifestiert, im Emblem der Organisation - Silhouette einer Moschee mit Halbmond und Stern - zu erkennen. Rechtsextremistische und antisemitische Tendenzen sowie eine dogmatische Feindschaft in Bezug auf die "Linke" und nicht-türkische Minderheiten prägen unverändert ihre Ideologie. Im Zentrum der "Ülkücü"-Bewegung stehen der als "Führer" (basbug) verehrte Gründer der MHP und ehemalige Oberst Alparslan TÜRKES sowie die von ihm formulierte "Neun-Lichter-Doktrin" mit den wesentlichen Komponenten "Nationalismus" (milliyetcilik), "Idealismus" (ülkücülük) und "Ethik" (ahlakcilik). Diese Weiterentwicklung einer Doktrin des als maßgeblicher Ideologe der Bewegung geltenden, 1975 verstorbenen Nihal ATSIZ stellt die programmatische Basis für die Nationalisten dar. Von der Verherrlichung des "Führers" TÜRKES über die "Neun-Lichter-Doktrin" bis hin zu detaillierten Ausführungen zur "türkischen Heimat" und zur "türkischen Rasse" sind die wesentlichen ideologischen Inhalte auch auf badenwürttembergischen Webseiten der ADÜTDF festzustellen. Diese Vereine verfolgen das Ziel, auch die in Deutschland geborene Jugend gänzlich im Bewusstsein der Zugehörigkeit zur erhabenen türkischen Nation sowie der Verantwortung und der Pflichten gegenüber dieser Nation zu erziehen. Vermittelt werden hier auch die für die "Idealisten" prägenden Grundlagen wie Heldentum, Moral, Opferbereitschaft, Pflichtbewusstsein. In einer Ansprache des 2. Vorsitzenden des Jugendverbands des "Idealistenvereins" Stuttgart aus Anlass des 554. Jahrestags der Eroberung Istanbuls sowie einem gleichzeitig stattfindenden Gedenken an die "Märtyrer" der "Idealisten" kommen diese Werte zum Ausdruck: "Bei diesem Kampf handelte es sich nicht, wie manche materialistischen Funktionäre meinen, um einen Kampf zwischen Rechten und Linken. Es war der Kampf zwischen Türken und Nicht-Türken. Es war der Kampf zwischen denen, die mit Bewusstsein, Kultur, Geist und Herz Türken sind, und denen, die durch überhaupt nichts Türken sind und die den wahren Glauben auch nicht in ihrem Herzen fühlen." 168 168 "Ocak" Nr. 8 vom Juni 2007. 94 Ausländerextremismus Im Mai 2007 veranstaltete die ADÜTDF, die sich selbst als die "bedeutendste und einflussreichste Organisation des europäischen Türkentums" 169 versteht, ihre 25. Große Generalversammlung im nordrhein-westfälischen Oberhausen. Per Beschluss wurde dort die Organisationsbezeichnung "Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu" ("Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa") in "Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu" ("Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Deutschland") umbenannt. Neuer Vorsitzender der Föderation ist Sentürk DOGRUYOL. Dr. Devlet BAHCELI, Parteivorsitzender der MHP, hielt in Oberhausen eine Rede, in der er das "Fortbestehen des europäischen Türkentums bis in alle Ewigkeit" beschwor und seinen Stolz darüber zum Ausdruck brachte, dass die Anhänger "unter dem Druck einer fremden Kultur" ihre eigene Identität bewahrten. Als Dachverband auf europäischer Ebene wurde am 29. Oktober 2007 in Frankfurt am Main die "Avrupa Türk Konfederasyon" gegründet und zu deren Generalvorsitzendem der langjährige Vorsitzende der ADÜTDF, Cemal CETIN, bestellt. Die auf die eigene ethnisch-nationale Gemeinschaft zentrierten Aktivitäten der "Idealisten" mit ihrer stark ideologisch geprägten Ausrichtung wirken gesellschaftlich desintegrativ. Dass die ideologische Indoktrinierung gerade bei in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen in Konfliktsituationen die entsprechenden Handlungsmuster in Erscheinung treten lässt, zeigte sich im Herbst 2007. Im Zusammenhang mit dem wieder aufgeflammten Konflikt in der türkisch-irakischen Grenzregion kam es in mehreren deutschen Städten zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und kurdischen Kontrahenten. Im Bewusstsein der Mobilisierungsbereitschaft ihrer Anhänger gab die Organisation auf einer Versammlung der Vorsitzenden ihrer süddeutschen Vereine in Heilbronn am 4. November 2007 bekannt, sich bisher an organisierten Demonstrationen nicht beteiligt zu haben und dies auch künftig nicht zu tun. Sie rief die Mitglieder dazu auf, besonnen zu handeln, nicht auf Provokationen einzugehen und von der Teilnahme an Demonstrationen, die zu Provokationen führen könnten, Abstand zu nehmen. 169 Hier und im Folgenden: Homepage der ADÜTDF vom 24. September und 14. November 2007. 95 3.2 Linksextremisten 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol) 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte Der Ursprung der heutigen "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und der "Türkischen Volksbefreiungspartei-Front-Revolutionäre Linke" (THKP-C) liegt im weltweiten revolutionären Aufbruch von 1968. Das im Lauf der Jahre aus verschiedenen linksextremistischen türkischen Organisationen hervorgegangene revolutionäre Potenzial gründete 1978 mit der "Devrimci Sol" eine neue politisch-militärische Organisation. Diese verfolgte insbesondere das Ziel, in der Türkei einen Umsturz der dortigen politischen Verhältnisse herbeizuführen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Die "Devrimci Sol" war seit ihrer Gründung im Jahr 1978 in der Türkei terroristisch aktiv. Vor allem Anfang der 80er Jahre verübte sie zahlreiche Bombenanschläge gegen militärische und staatliche Einrichtungen, organisierte illegale Massendemonstrationen und Straßenkämpfe und beging Terroranschläge gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Seit ihrer Gründung 1978 wird die "Devrimci Sol" für weit über 200 Tötungsdelikte verantwortlich gemacht, zu denen sie sich in der Regel auch bekannte. Als terroristisch-linksextremistische Organisation wurde sie bereits zwei Jahre später in der Türkei und am 27. Januar 1983 (bestandskräftig seit 1989) durch den Bundesminister des Innern in der Bundesrepublik Deutschland verboten, nachdem von ihr massive und äußerst gewalttätige Ausschreitungen ausgegangen waren. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und persönliche Zwistigkeiten führender Funktionäre spalteten die konspirativ agierende "Devrimci Sol" Ende 1992 in zwei konkurrierende, alsbald verfeindete Flügel, obwohl beide bis heute die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele aufweisen. Fortan bezeichneten sich die beiden rivalisierenden Fraktionen nach ihren Führungsfunktionären Dursun KARATAS und dem im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften erschossenen Bedri YAGAN als "KARATAS"beziehungsweise "YAGAN"-Flügel. Mit dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" hat der 96 Ausländerextremismus "KARATAS"-Flügel, der sich seitdem DHKP-C nennt, organisatorisch endgültig die Trennung vollzogen. Der "YAGAN"-Flügel verwendet seit Mitte 1994 die Bezeichnung THKP-C. Die DHKP-C und die THKP-C sehen sich in der Erbfolge nach wie vor jeweils als die wahre Nachfolgerin der "Devrimci Sol" und halten an deren ideologischen Leitgedanken fest. Insbesondere von März 1993 bis Anfang des Jahres 1999 kam es zu massiven Flügelkämpfen, die mit hoher krimineller Energie bis hin zum Mord ausgetragen wurden. Am 13. August 1998 erließ daher der Bundesminister des Innern gegen die THKP-C ein BetätiBetätigungsgungsverbot. Die DHKP-C bewertete er zeitgleich als Ersatzorganisation verbot der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" und bezog sie in das frühere Verbot mit ein. Die Anfechtungsklage der DHKP-C hiergegen wies das Bundesverwaltungsgericht am 1. Februar 2000 in letzter Instanz ab. Die in Baden-Württemberg inaktive THKP-C entwickelte nach dem Jahr 1998 kaum noch öffentliche Aktivitäten und verlor weiter an Bedeutung. Daher wird im Folgenden ausschließlich auf die DHKP-C eingegangen. 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung: 30. März 1994 in Damaskus/Syrien nach Spaltung der 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke), verboten in Deutschland seit 13. August 1998 Leitung: Funktionärsgruppe um den Vorsitzenden Generalsekretär Dursun KARATAS Mitglieder: ca. 75 Baden-Württemberg (2006: ca. 80) ca. 650 Bund (2006: ca. 650) Publikationen: "DEVRIMCI SOL" (Revolutionäre Linke) Revolutionäre Zielsetzung Die DHKP-C gliedert sich in einen politischen Flügel, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP), und in einen militärischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). In den Satzungen von DHKP und DHKC wird jeweils in Absatz 1 bestimmt, dass sich die DHKP- C als unmittelbare Fortführung der "Devrimci Sol" versteht und deshalb deren Kennzeichen und damit Fahne und Embleme übernimmt. Ziel der DHKP-C ist die Beseitigung des türkischen Staats in seiner jetzigen Form. Dieser soll durch ein marxistisch-leninistisches Regime ersetzt werden, das schließlich in die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft 97 münden soll. Die Organisation versteht es als "heilige Pflicht", gegen die Zielerreichung "Tyrannei und Ausbeutung" in der Türkei zu kämpfen. Dazu bedient sich die auch durch beDHKP-C auch des bewaffneten Kampfes. Angriffsziele sind nicht nur der waffneten Kampf türkische Staat und dessen Organe, sondern auch andere "Feinde des Volkes", zu denen die DHKP-C in erster Linie den "US-Imperialismus" zählt. Struktur Das oberste Organ der DHKP-C ist das Zentralkomitee, das Generalsekretär KARATAS leitet. Neben ihm hat das Zentralkomitee zwar die formelle Leitungsfunktion, es kann jedoch jederzeit vom Generalsekretär in seinen Befugnissen und Entscheidungen eingeschränkt oder überstimmt werden. An der Spitze der Europaorganisation steht der von der Parteiführung eingesetzte Europaverantwortliche mit seinen Stellvertretern. Zur Führung in Organisation der Bundesrepublik Deutschland zählen neben dem Deutschlandverantin Deutschland wortlichen und dessen Vertretern die Regionsund Gebietsverantwortlichen sowie weitere mit Sonderaufgaben betraute Funktionäre, beispielsweise die Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit. Die Deutschlandorganisation ist zwar dem Zentralkomitee der DHKP-C gegenüber für die Ausführung der von dort geplanten und angeordneten Maßnahmen und Aktionen verantwortlich, durch die der "Kampf" in der Türkei unterstützt werden soll, die konkrete Umsetzung obliegt jedoch den Führungskadern der Deutschlandorganisation. In diesem Netzwerk von Kontrollund Verbindungsinstanzen wird die Organisation in den einzelnen Ebenen von ideologisch geschulten und äußerst konspirativ auftretenden Führungsfunktionären geleitet. Für die Umsetzung von Vorgaben der Führungsspitze und den Informationsfluss zur Basis bedient sich die DHKP-C der örtlichen DHKP-C-nahen Vereine, die den Anhängern zwar als Treffpunkte und Anlaufstellen dienen, deren Satzungen jedoch keinen Rückschluss auf die Organisation zulassen. Der Tätigkeitsschwerpunkt in Baden-Württemberg liegt neben Stuttgart in Ulm. Verlagerung von Zusammenkünfte von Aktivisten und Großveranstaltungen verlagert die Veranstaltungen Organisation zunehmend ins angrenzende Ausland, so zuletzt die traditioins Ausland nelle Veranstaltung zum Parteigründungstag am 14. April 2007 in Paris/ Frankreich, eine als Familienund Jugendcamp getarnte Veranstaltung vom 21. Juli bis 3. August 2007 in Marseille/Frankreich und ein Ferienlager vom 17. bis 26. August 2007 in Salzburg/Österreich. Der anhaltende Ermittlungsdruck der Sicherheitsbehörden hat die Organisation in Deutschland kontinuierlich geschwächt, weshalb es immer weni98 Ausländerextremismus ger gelingt, Anhänger zu DHKP-C-Veranstaltungen zu mobilisieren. Zwar versammelten sich mehrere hundert Personen zu großen Picknickveranstaltungen der DHKP-C wie am 21. Juli 2007 in Leinfelden-Echterdingen, jedoch ist davon auszugehen, dass der Großteil nicht aus politischen Gründen, sondern lediglich wegen des musikalischen Rahmenprogramms teilgenommen hat. Entsprechendes gilt auch für das DHKP-C-Kulturfestival am 24. November 2007 in der Messehalle in Sindelfingen. Finanzierung Deutschland ist für die DHKP-C aufgrund der vielen, hier in relativem Wohlstand lebenden türkischen Staatsbürger das wichtigste Finanzierungsland in Westeuropa. Einnahmen verschafft sich die Organisation hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge, Spendengeldsammlungen, den Verkauf von Publikationen sowie durch Einnahmen aus Musikund anderen Veranstaltungen. Wie in den vergangenen Jahren konnte die DHKP-C ihre Spendenkampagne für 2007 nicht befriedigend abschließen. Einsatz von Printund anderen Medien Die DHKP-C hat im Vergleich zu anderen türkischen linksextremistischen intensive Gruppierungen den qualitativ und quantitativ ausgereiftesten InternetaufNutzung des tritt. In den auf der Homepage eingestellten Erklärungen, die in einem Internets Archiv abgelegt und für jeden frei abzurufen sind, nimmt die DHKP-C zu aktuellen politischen Themen Stellung. Dabei unterzeichnet sie stets im Namen der Partei oder einer Frontorganisation.170 Die DHKP-C hat seit ihrem Bestehen regelmäßig türkischsprachige Publikationen veröffentlicht und dabei stets vermieden, als Herausgeber und Autor in Erscheinung zu treten. Die Inhalte dieser Zeitschriften spiegeln jedoch allesamt im Wesentlichen die politischen Aussagen und Einschätzungen der DHKP-C wider, weshalb alle bisher erschienen DHKP-C-Publikationen nach kurzer Zeit der Partei zugeordnet und daraus resultierend verboten wurden. So veröffentlicht die seit 22. Mai 2005 bis heute aktuell bestehende Publikation "Yüryüyüs" (Marsch) durchgängig politische Aussagen, die sich mit der Ideologie der DHKP-C decken. Bereits in der 1. Ausgabe gab sie in einer Erklärung bekannt: 170 Neben den Erklärungen der DHKC findet sich auf der Homepage eine Vielzahl von Erklärungen der "Front für Rechte und Freiheiten" (HÖC). 99 "Wir wollen eine revolutionäre Volksregierung und damit eine unabhängige, demokratische und sozialistische Türkei gründen." 171 Weitere inhaltliche Bezüge zur DHKP-C lassen sich aus den Berichten zu DHKP-C-Mitgliedern und -"Märtyrern", Artikeln zum Hungerstreik und "Todesfasten", der allgemeinen Berichterstattung über Aktivitäten der Gruppierung sowie den Erklärungen zu den von der DHKP-C verübten Anschlägen in der Türkei herauslesen. Wie bereits ihre Vorgängerpublikation "Ekmek ve Adalet"172 ist auch die "Yürüyüs" mit einem eigenen Portal im Internet vertreten. Auf ihrer in Türkisch verfassten Homepage findet der Nutzer neben einzelnen Artikeln ein lückenloses Archiv der bisher erschienenen Exemplare zur freien Verfügung. Redaktion, Druck und Vertrieb der Publikation "Yürüyüs" befinden sich seit Mitte 2005 in den Niederlanden. "Todesfasten" Beherrschendes Agitationsund Kampagnenthema der DHKP-C war der fast sieben Jahre andauernde "unbefristete Hungerstreik" beziehungsweise das "Todesfasten", das zunächst im Oktober 2000 in türkischen Haftanstalten begonnen hatte und sich später auch außerhalb der Gefängnismauern fortsetzte und insgesamt 122173 Menschenleben forderte. Mit dieser Aktion wollten die Anhänger gegen die Verlegung von Häftlingen in Vollzugsanstalten mit Einzelzellen und kleinen Gemeinschaftszellen, Gefängnissen des so genannten Typs F, protestieren. Ein vorläufiges Ende fand das "Todesfasten" am 22. Januar 2007, nachdem das türkische Justizministerium in einem Erlass zusicherte, 171 "Yürüyüs" Nr. 1 vom 22. Mai 2005, S. 3. 172 In einem Urteil des Landgerichts Bamberg vom 11. Januar 2005 wurde unter anderem rechtskräftig festgestellt, dass es sich bei der "Ekmek ve Adalet" um die Nachfolgepublikation der "Vatan" und somit um eine Publikation der DHKP-C handelt. Das Urteil wurde durch einen Beschluss des BGH vom 17. Mai 2005 bestätigt (Az.: 2 KLs 108 Js 1808/2004). 173 Einschließlich der fast 40 Personen, die bei der großen Gefängnisrevolte im Dezember 2000 ums Leben kamen. 100 Ausländerextremismus die Haftbedingungen in den F-Typ-Gefängnissen zu lockern. Danach ist es Häftlingen in Hochsicherheitsgefängnissen beziehungsweise in HochsicherBeendigung des heitstrakten anderer Haftanstalten künftig erlaubt, außerhalb der regulären "Todesfastens" Gruppenaktivitäten zusätzlich bis zu zehn Stunden (bisher fünf Stunden) pro Woche in Gruppen mit maximal zehn Personen zusammenzukommen. Mit Beendigung des "Todesfastens" führte das "TAYAD-Komitee"174 am 24. Februar 2007 in Köln eine Demonstration durch. Während der "Siegesfeier" wurden Handzettel verteilt, auf welchen die Organisation bekannt gab: "Schaut euch unsere Märtyrer an. Es wird ein Lächeln sichtbar sein. Es ist das Lächeln des Sieges, das in einer Frühlingsnacht mit Blut geschrieben wurde (...). Lasst uns gemeinsam den Sieg und die Freuden unseres großen Widerstandes erleben." Anschläge In den Jahren seit 2003 bis heute verübte die DHKP-C durch ihren militärischen Arm DHKP-C in der Türkei mehrere Sprengstoffanschläge. Ziele waren staatliche türkische Einrichtungen, hauptsächlich Gebäude, aber auch Mitarbeiter der türkischen Sicherheitsbehörden, der Armee und der Justiz. Auch im Jahr 2007 war die DHKP-C für Terroranschläge verantwortlich. So bekannte sie sich unter anderem auf der Internetseite des "Halkinsesi-TV" vom 9. Januar 2007 zum Angriff mit Molotowcocktails auf einen Polizeiwagen am 7. Januar 2007 in einem Stadtteil in Istanbul. Ferner kamen am 8. April 2007 in der Nähe von Hozat/Provinz Dersim bei Auseinandersetzungen mit der türkischen Armee vier DHKC-Guerillakämpfer ums Leben. Die DHKC äußerte sich in ihrer Erklärung Nr. 367 vom 11. April 2007 wie folgt: "Nur der bewaffnete Kampf kann den Imperialismus vertreiben, den Faschismus besiegen und der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende setzen. Wer etwas anderes sagt, der belügt das Volk und sich selbst." Bewertung Seit der Gewaltverzichtserklärung des DHKP-C-Führers KARATAS Anfang 1999 sind keine gewaltsamen Aktionen im Bundesgebiet mehr festzustellen. 174 Das "TAYAD-Komitee" ist eine thematisch der DHKP-C nahe stehende Organisation, die ausschließlich die Gefangenenproblematik der in der Türkei inhaftierten DHKP-C-Anhänger thematisiert. 101 eingeschränkter Der Gewaltverzicht bezieht sich jedoch nur auf Deutschland und Europa, Gewaltverzicht nicht aber auf die Türkei. Die intensiven Strafverfolgungsmaßnahmen deutscher Behörden mit Durchsuchungen, Festnahmen und Verurteilungen wichtiger Führungsfunktionäre haben die DHKP-C in Deutschland nachhaltig geschwächt. Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich diese Situation ändern wird. 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" Gründung: 1972 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 320 Baden-Württemberg (2006: ca. 320) ca. 1.300 Bund (2006: ca. 1.300) Die Organisation ist in die folgenden Flügel gespalten: "Partizan" (im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP/ML" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 120 Baden-Württemberg Militärische Teilorganisation: "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg der neuen Demokratie) und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) (bis Ende 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee" - DABK -; im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP(ML)" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 200 Baden-Württemberg Militärische Teilorganisation: "Volksbefreiungsarmee" (HKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) Die von Ibrahim KAYPAKKAYA im Jahr 1972 in der Türkei gegründete und dort verbotene TKP/ML ist seit 1994 in zwei miteinander konkurrierende Fraktionen gespalten, in den "Partizan"-Flügel und in die "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP). In der Schreibweise, die gelegentlich bis heute noch verwendet wird, unterschieden sich beide zunächst nur geringfügig: TKP/ML für den Partizanund TKP(ML) für den MKP-Flügel. 102 Ausländerextremismus Beide Organisationen berufen sich nach wie vor auf die von KAYPAKKAYA propagierte marxistisch-leninistisch-maoistische Ideologie. Um ihr erklärtes Ziel zu verwirklichen, die gegenwärtige Staatsstruktur in der Türkei zu beseitigen und statt dieser eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten, unterhalten beide Gruppierungen jeweils eigene Guerillaeinheiten, die in der Türkei Anschläge verüben. Die alljährlich unter den AnhänFinanzierung gern der beiden Flügel getrennt durchgeführten Spendenkampagnen sowie weitere Einnahmen aus Kulturveranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen dienen vorwiegend der Finanzierung der Organisationsstrukturen. Zusätzlich werden mit diesen Geldern offenbar weiterhin die bewaffnete Guerilla und die in der Türkei inhaftierten Gesinnungsgenossen unterstützt. Auch im Jahr 2007 wurden die Anhänger beider Organisationen bei der Durchführung von Veranstaltungen, Demonstrationen und sonstigen Aktionen von ihren Basisorganisationen propagandistisch unterstützt. Bei der TKP/ML-Partizan handelt es sich dabei in Deutschland um die "Föderation Basisorganider Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF) und deren Dachsationen in organisation auf Europaebene "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei Deutschland und in Europa" (ATIK); bei der MKP um die "Föderation für demokratische Europa Rechte in Deutschland" (ADHF) und die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK). Neben politischen Reizthemen wie dem Zuwanderungsgesetz, restriktiven Maßnahmen gegen Kurden in der Türkei und in Deutschland oder Festnahmen von linksextremistischen türkischen Funktionären in Deutschland mit eventueller Auslieferung an die Türkei haben die von den Anhängern beider Flügel durchgeführten Gedenkveranstaltungen zu Ehren KAYPAKKAYAs sowie der gefallenen "Märtyrer" einen hohen Stellenwert. Eine besondere Bedeutung ist auch kleineren dezentralen Versammlungen wie etwa von linksextremistischen Gruppierungen organisierten Picknick-Veranstaltungen beizumessen. Sie dienen der Bindung des Unterstützerkreises an diese Organisationen. In Deutschland traten die TKP/ML Partizan-Fraktion und die MKP mit ihren jeweiligen Basisorganisationen unter anderem mit folgenden Aktionen in der Öffentlichkeit in Erscheinung: In Ludwigshafen führte die TKP/ML-Partizan am 19. Mai 2007 unter dem Motto "Im 34. Jahr seiner Unsterblichkeit laden wir zu einer Kaypakkaya-Gedenkveranstaltung ein" 175 eine Saalveranstaltung durch. In dem Einladungsflugblatt heißt es unter anderem: "Wir befinden uns im 35. Gründungsjahr der unter der Führung des Genossen Kaypakkaya gegründeten Partei, welche als Bataillon im 175 Hier und im Folgenden: Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 103 Veranstaltungen globalen revolutionären Kampf des internationalen Proletariats fungiert". Wie auch im Jahr 2006 nahmen an dieser Veranstaltung etwa 3.000 Personen teil. Ebenfalls zum 34. Todestag von KAYPAKKAYA führte die MKP am 26. Mai 2007 ihre Gedenkveranstaltung in Leverkusen durch. Die unter dem Motto "Im 34. Jahr seiner Unsterblichkeit gedenken wir Ibrahim Kaypakkayas" stehende Saalveranstaltung wurde von circa 1.300 Teilnehmern besucht. In einem vom Politbüro des Zentralkomitees der TKP/ML im April 2007 herausgegebenen Flugblatt heißt es: "In unserem 35. Gründungsjahr ist unsere 8. Konferenz ein Manifest des Aufstands! Vertraut auf die Massen, rüstet euch zum Krieg, mit der Partei werden wir siegen! Es ist unvermeidlich, dass diejenigen, die für den Kommunismus das Leichentuch zuschneiden, bei sich selbst Maß nehmen!" 176 Das Flugblatt schließt unter anderem mit folgenden Parolen: "Es leben unsere Partei TKP/ML und die unter ihrer Führung stehenden Organisationen TIKKO und TMLGB 177!", "Es lebe der Internationalismus des Proletariats!" und "Es lebe der Volkskrieg!" Offensichtlich beflügelt von der 8. Konferenz der TKP/ML haben Sympathisanten der TKP/ML sowohl im Stadtgebiet als auch in den Randbereichen Stuttgarts von Mai 2007 an bis in den Herbst hinein Wände mit dem Politschriftzug "Yasasin 8. Konferansimiz TKP/ML TIKKO" 178 auf eine Länge von jeweils mehreren Metern besprüht. Der insgesamt entstandene Schaden im Zusammenhang mit den Beseitigungen der Farbschmierereien betrug mehrere tausend Euro. 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Anhänger: ca. 245 Baden-Württemberg (2006: ca. 245) ca. 600 Bund (2006: ca. 600) Publikation: "Partinin Sesi" (Stimme der Partei), zweimonatlich 176 Hier und im Folgenden: Flugblatt vom April 2007; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 177 TMLGB: "Marxistisch-leninistischer Jugendbund der Türkei". 178 Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 104 Ausländerextremismus Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) wurde im September 1994 auf einem Einheitskongress durch den Zusammenschluss der "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/MLHareketi) und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) gegründet. Ideologisch bekennt sie sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Erklärtes Ziel der Organisation ist es, das türkische Staatsgefüge durch eine gewaltsame Revolution zu beseitigen und auf dem Weg zum Kommunismus eine Diktatur des Proletariats zu errichten. Eigenen Angaben zufolge versteht sich die MLKP als die politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten. In der Türkei gilt die Bewegung als eine illegale Organisation, die den Straftatbestand der "bewaffneten Bande" erfüllt. Um ihre Anhänger und Sympathisanten mit Informationen zu versorgen, publizieren die MLKP und die ihr nahe stehenden Organisationen "Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa" (AvEG-KON) und "Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e. V." (AGIF) regelmäßig Artikel in der politischen Wochenzeitung "Atilim" (Angriff). Darüber hinaus veröffentlicht diese Zeitung auf ihrer Homepage Erklärungen der genannten Organisationen mit dem Zusatz: "Auf elektronischem Wege haben wir erhalten" (...)179. Parteiorgane zur Veröffentlichung von Botschaften sind die zweimonatlich erscheinende "Partinin Sesi" (Stimme der Partei) sowie eine eigene Website, auf der die Informationen in mehreren Sprachen veröffentlicht werden. Zu den wichtigsten Finanzierungsquellen der MLKP, der ihr nahe stehenden Basisorganisationen und der Guerillaeinheiten zählen die jährlich im Herbst beginnende Spendenaktion und die Erlöse aus Kulturveranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen. Die Gelder setzt die MLKP auch zur Unterstützung ihrer in der Türkei inhaftierten Gefangenen ein. In der Türkei werden die "Fakirlerin ve Ezilenlerin Silahli Kurvetleri" (F.E.S.K.)180 von den türkischen Sicherheitsbehörden als bewaffneter Arm der MLKP angesehen. Auch im Jahr 2007 bekannte sich diese paramilitärische Guerillaorganisation auf der Homepage der MLKP zu zahlreichen Anschlägen wie auf Polizeiwachen und Büros der "Partei der NationalistiAnschläge schen Bewegung" (MHP).181 179 Internetrecherche vom 28. November 2007; Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 180 Zu Deutsch: Bewaffnete Einheiten der Armen und Unterdrückten. 181 Siehe Kap. C Ziff. 3.1.1. 105 Die Anhänger der MLKP und der ihr nahe stehenden Basisorganisationen AGIF und AvEG-Kon traten in Deutschland gewaltfrei und vorwiegend publizistisch in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Dabei wurden Reizthemen wie das Zuwanderungsgesetz, Rassismus und die Auslieferung von Asylbewerbern aufgegriffen, in propagandistischer Form aufgearbeitet und bezogen auf die eigenen politisch-extremistischen Ziele bewertet. Schwerpunktthemen aus der Türkei waren die dortigen Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007, Gerichtsverfahren gegen inhaftierte "Volksrevolutionäre" vom September 2006 sowie ein möglicher Einmarsch türkischer Soldaten in den Nordirak.182 In Baden-Württemberg wurden im Jahr 2007 unter anderem folgende Aktionen Aktionen bekannt: in BadenWürttemberg Einem Bericht der "Atilim" vom 13. Januar 2007 mit der Überschrift "Noch mehr Freiheitsfeuer" ist zu entnehmen: "Die marxistischleninistischen Kommunisten, die die Angriffe, die auf dem "AntiTerrorgesetz" (TMY) basieren, mit der Kampagne 'Wir wollen Freiheit' beantworten, tragen das Feuer auch nach Europa (...)" 183. Eine der ersten Versammlungen dieser Kampagne wurde am 5. Januar 2007 im AGIF-Verein Ulm durchgeführt. Im Verlauf der Veranstaltung erläuterte der AGIF-Sprecher die Ziele der Kampagne. Die Versammlung soll unter anderem von Mitgliedern der MLPD sowie der Vereine "Tohum Kultur Verein e.V. in Ulm" und "ArbeiterJugendund Kulturverein e.V. Ulm" unterstützt worden sein. In einem weiteren Artikel der "Atilim" vom 5. Mai 2007 unter der Überschrift "Protest gegen den faschistischen Angriff" verurteilten die Mitglieder des Stuttgarter "Immigranten Arbeiter Kultur Vereins e.V.", der der MLKP nahe steht, die Parolen, die die Anhänger der "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP) an den Eingang des Vereinslokals gesprüht hatten. Die auf dem Schlossplatz abgegebene Presseerklärung wurde von den Mitgliedern der "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF), der "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e.V." (ADHF), der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM), des "Kulturzentrums Mesopotamien" und der Antifa Stuttgart unterstützt. Am Ende der Presseerklärung wurden Slogans wie "Hoch lebe die revolutionäre Solidarität!", "Hoch lebe die Brüderlichkeit der Völker!" und "Verdammt sei der Faschismus!" gerufen. 182 Vgl. S. 84ff. 183 Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 106 Ausländerextremismus Am 22. Juli 2007 führten die in Ulm angesiedelten Vereine der AGIF und der ATIF im Bereich Biberach eine Grillveranstaltung durch. Das Picknick stand unter dem Thema "Lasst uns zum 2. Picknick gegen Rassismus und Diskriminierung treffen!". Die dort festgestellten Plakate und Transparente wiesen auf die politischen Organisationen hin und stellten eindeutige politische Äußerungen dar. An der Veranstaltung nahmen über 100 Teilnehmer unter anderem aus Ulm, Stuttgart, Memmingen und Augsburg teil. Laut "Atilim" vom 28. Juli 2007 hat der Fernsehsender SU-TV das Picknick übertragen und die anwesenden Mitglieder der AGIF und der ATIF interviewt. 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner Die Frage des künftigen Status des Kosovo war zentrales Thema aller Diskussionen unter Vertretern extremistischer Organisationen bis hin zu unpolitischen Kreisen. Sowohl eine Teilautonomie als auch eine von Serbien favorisierte weitgehende Souveränität des Kosovo wird strikt abgelehnt. Alle ethnischen Albaner streben eine vollständige Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien an. Sollte dieses Ziel nicht erreicht werden, ließen Führungsfunktionäre extremistischer Organisationen wie auch gemäßigte Kosovo-Albaner mehrfach verlauten, habe man sich auf bewaffnete Auseinandersetzungen im Kosovo eingestellt und werde diese auch nicht scheuen. Folgende extremistische kosovo-albanische Emigrantenorganisationen sind in Baden-Württemberg aktiv: 4.1 "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) Diese extrem nationalistisch geprägte Organisation mit Sitz in Donzdorf/ Krs. Göppingen, die in Baden-Württemberg noch über zirka 20 und bundesweit über rund 50 Mitglieder verfügt, entfaltete im Jahr 2007 keine wahrnehmbaren öffentlichen Aktivitäten mehr. Der Präsident der B.K.D.SH. hielt sich auch 2007 wiederholt in Albanien und im Kosovo auf, um dort die Organisationsstrukturen zu stärken. Er ist dort außerdem als freier Journalist für eine schwedische Tageszeitung tätig. Bemühungen des Präsidenten, seine Organisation auch in Baden-Württemberg zu reaktivieren, scheiterten am politischen Desinteresse der hier lebenden Mitglieder. 107 Politisches Ziel der B.K.D.SH. ist die Schaffung eines unabhängigen Staates Kosovo in seinen ethnischen Grenzen (Großalbanien). 4.2 "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) Die LPK wurde im Frühjahr 1982 in der serbischen Provinz Kosovo unter dem Namen "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ) gegründet. Nach mehreren Umbenennungen führt sie seit 1993 die Bezeichnung "Volksbewegung von Kosovo" (LPK). Ihr Ziel ist die Errichtung eines großalbanischen Staates, der Albanien, Kosovo, von Albanern besiedelte Gebiete Südserbiens und an Albanien angrenzende Teile von Mazedonien, Montenegro und Griechenland umfassen soll. Bedingt durch die Rückkehr von Landsleuten und Kadern in die Heimat, aber auch wegen mangelnder Unterstützung ihrer Mitglieder, verfügt die LPK im Bundesgebiet nur noch über rudimentäre Strukturen. Versuche der Parteizentrale im Kosovo, wieder Organisationsstrukturen zu reaktivieren oder zu straffen, blieben aus den genannten Gründen erfolglos. Der Organisation gelang es im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Kosovo am 17. November 2007 nicht, einen starken Koalitionspartner zu gewinnen, um mehr Einfluss auf politische Entscheidungen im Kosovo nehmen zu können. Aktivisten der LPK beteiligten sich im Kosovo an mehreren, auch gewaltsamen Aktionen und Demonstrationen der "Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht" (Levizja Vetevendosje)184. In Baden-Württemberg beteiligten sich Anhänger der LPK im Jahr 2007 Veranstaltungen hauptsächlich an Gedenkveranstaltungen zu Ehren getöteter Gesinnungsin Badengenossen und der im Kosovo-Krieg (1999) gefallenen Kämpfer der "BefreiWürttemberg ungsarmee von Kosovo" (UCK), beispielsweise am 20. Januar 2007 in Bietigheim-Bissingen anlässlich des 25. Todestages von drei Funktionären185, die am 17. Januar 1982 in Untergruppenbach vermutlich von Angehörigen des damaligen jugoslawischen Geheimdienstes erschossen worden waren. Teilweise wurden Gedenkveranstaltungen aber auch eigenverantwortlich von der LPK organisiert, so am 10. März 2007 in Heidelberg und am 20. Mai 2007 in Stuttgart. An diesen Veranstaltungen nahmen bis zu 200 Personen teil. 184 Diese Organisation hat ihren Hauptsitz im Kosovo, dort bestehen 15 Ortsgruppen. Vor allem finanzielle Unterstützung erhält diese "Bewegung" von Aktivisten im Ausland. In der Diaspora wurden Zweigstellen in Dänemark, Großbritannien, Irland, Norwegen, Schweden, USA, in der Schweiz und in Deutschland etabliert. Die Deutsche Sektion wurde am 29. Oktober 2005 in Dortmund gegründet. 185 Die Getöteten waren Mitbegründer der LPK, die sich damals noch LRSSHJ nannte. 108 Ausländerextremismus 4.3 "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) In Baden-Württemberg sympathisieren sowohl Kosovo-Albaner als auch Mazedonier mit der als politische Plattform der "Albanischen Nationalarmee" (AKSH)186 bekannten "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH), deren erklärtes Ziel ebenfalls die Vereinigung aller albanischen Siedlungsgebiete ist. Einhergehend mit einer gewissen Verunsicherung über das konsequente Vorgehen der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren gegen Aktivisten der FBKSH auch in anderen Ländern wurden in Deutschland keine öffentlichen Veranstaltungen organisiert. Funktionäre trafen sich konspirakonspirative tiv in kleinen Zirkeln unter anderem auch im Raum Heidelberg und in Treffen Stuttgart. Die Organisation trat auch im Zusammenhang mit dem bisher für das albanische Volk unbefriedigenden Verlauf der Statusverhandlungen für das Kosovo durch entsprechende Verlautbarungen in Erscheinung, ferner werden die Aktionen der "Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht" (Levizja Vetevendosje) im Kosovo vorbehaltlos befürwortet. 5. Sikh-Organisationen "Babbar Khalsa International" (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz: Weil am Rhein Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (2006: 50) ca. 200 Bund (2006: 200) "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main; Juni 2007 Umbenennung in "Sikh Federation Germany" (SFG) Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 90 Baden-Württemberg (2006: ca. 100) ca. 550 Bund (2006: ca. 550) 186 Nach einem Sprengstoffanschlag auf eine Eisenbahnbrücke in der Nähe von Zvecan/Kosovo im April 2003 wurde sie von der Übergangsverwaltung des Kosovo UNMIK als terroristische Organisation eingestuft und verboten. 109 "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: ca. 15 Baden-Württemberg (2006: ca. 20) ca. 40 Bund (2006: ca. 40) Gemeinsames Ziel aller extremistischen Sikhgruppierungen ist die GrünZiel: dung eines unabhängigen Staates "Khalistan" (Land der Reinen). Über den Staat "Khalistan" Weg und die Mittel herrschen jedoch bei den Vereinigungen unterschiedliche Auffassungen. Die daraus entstehenden Differenzen zwischen den einzelnen Organisationen werden nicht nur im Heimatland, dem indischen Bundesstaat Pandschab, sondern auch im Bundesgebiet ausgetragen. Dabei wird auch Gewalt angewendet. Die mitgliederstärksten Organisationen, die "International Sikh Youth Federation" (ISYF) sowie die "Babbar Khalsa International (BK), die außerhalb Indiens am häufigsten im Zusammenhang mit terroristischen Aktionen hervorgetreten ist, sind von der Europäischen Union auf die Liste der terroristischen Organisationen aufgenommen worden. Im Juni 2007 wurde die ISYF in Frankfurt am Main in "Sikh Federation Germany" (SFG) umbenannt. Mitglieder dieser Gruppierungen wie Aktivisten der "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) sind auch in Baden-Württemberg aktiv. Zirkel dieser Organisationen konnten im Raum Albstadt, in Herrenberg, Stuttgart, Tübingen, Reutlingen, Heilbronn und Weil am Rhein lokalisiert werden. In Baden-Württemberg entwickelten Anhänger extremistischer Sikhorganisationen im Jahr 2007 hauptsächlich Aktivitäten im Zusammenhang mit der Organisation von Märtyrergedenkveranstaltungen, die in den Gurdwaras (Sikhtempeln) in Stuttgart, Mannheim oder Tübingen stattfanden. Darüber hinaus beteiligten sie sich an traditionellen Protestdemonstrationen anlässlich des indischen Nationalfeiertags (26. Januar 1950, Tag der Republik) und des Unabhängigkeitstags (15. August 1947) vor dem indischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main. 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 110 Baden-Württemberg (2006: ca. 110) ca. 800 Bund (2006: ca. 800) 110 Ausländerextremismus Die nunmehr seit 25 Jahren andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) und den srilankischen Regierungstruppen auf Sri Lanka wurden im Jahr 2007 mit unerbittlicher Härte fortgesetzt187. Im Frühsommer 2007 konnte die sri-lankische Regierung einen Sieg für sich verbuchen, als es den Armeetruppen gelang, die bis dahin von den LTTE kontrollierten Ostgebiete einzunehmen. Weltweites Aufsehen erregte der Angriff der sri-lankischen Luftwaffe am 2. November 2007 auf das im Norden Sri Lankas gelegene LTTE-Hauptquartier in Kilinochchi. Hierbei kamen der Führer des politischen Flügels der LTTE, Suppiah Paramu THAMILCHELVAN, sowie fünf weitere LTTEOffiziere ums Leben. Die von den LTTE-Spezialeinheiten 2007 auf Sri Lanka verübten Anschläge sind kennzeichnend für eine nicht nachlassende gewaltsame Vorgehensweise im Kampf um den geforderten eigenen unabhängigen Staat "Tamil Eelam". So verübten die tamilischen Rebellen am 27. Februar 2007 in der Nähe von Batticaloa einen Mörseranschlag auf eine diplomatische Delegation, die sich über humanitäre Maßnahmen der sri-lankischen Regierung im Osten des Landes informieren wollte. Es wurden unter anderem ein italienisches und ein amerikanisches Delegationsmitglied verletzt, der deutsche Botschafter blieb unverletzt.188 Durch weitere Angriffe der LTTE-Luftwaffe "Tamil Eelam Air Force" (TAF) im März und April 2007 starben mehrere Personen, zahlreiche wurden verletzt. Angriffsziele waren stets für die srilankische Regierung strategisch wichtige Militärstützpunkte und Öllager. Am 22. Oktober 2007 fand der erste kombinierte Bodenund Luftangriff der "Tamil Tigers" auf die Luftwaffenbasis in Anuradhapura/Sri Lanka statt. Die bei dem Anschlag beteiligten 21 "Black Tigers", so die Bezeichnung für diese LTTE-Selbstmordeinheit, kamen dabei ums Leben. Laut einem Armeesprecher wurden zwei Kampfhelikopter und ein Trainingsflugzeug beschädigt sowie 13 Soldaten getötet. Für eine anhaltend aggressive Kampfbereitschaft der LTTE sprachen außerAnschläge dem noch folgende Anschläge: 24. Mai 2007: Bei einem Angriff der "Sea-Tigers" mit 15 Booten auf einen Marinestützpunkt der im Norden gelegenen Insel Delft wurden circa 35 187 Die im Jahr 2006 erneut ausgebrochenen kriegerischen Auseinandersetzungen auf Sri Lanka forderten bisher über 5.000 Tote, circa 300.000 Personen befinden sich auf der Flucht. 188 Ein LTTE-Sprecher äußerte gegenüber der rebellennahen Internetzeitung "TamilNet" sein Bedauern, machte jedoch die Armee für den Vorfall verantwortlich. Colombo habe entgegen den Gepflogenheiten die Gegenseite nicht über den Besuch der Diplomaten informiert und so die Delegation "absichtlich" in Gefahr gebracht. 111 Marineangehörige getötet. Am gleichen Tag führten die LTTE einen Selbstmordanschlag mit einem Motorrad auf einen Armeebus in der Hauptstadt Colombo durch. Laut Polizeiangaben wurden dabei zwei Soldaten getötet und fünf weitere verletzt. 3. Juni 2007: Heftige Gefechte im Norden der Insel (Bezirke Vavuniya und Mannar) hinterließen eine blutige Spur mit mehr als 80 Toten, darunter circa 30 Armeeangehörige. Die LTTE zerstörten mehrere Armeestellungen und erbeuteten eigenen Angaben zufolge gepanzerte Fahrzeuge und Waffen. 8. Oktober 2007: Bei zwei Angriffen im südöstlichen Distrikt Ampara sollen LTTEAngaben zufolge zehn Elitesoldaten sri-lankischer Sondereinsatzkräfte getötet und zehn weitere verletzt worden sein. Finanzierung Für die Finanzierung der dringend benötigten Logistik zur Weiterführung ihres "Freiheitskampfes", aber auch zur Durchführung von humanitären Maßnahmen wie den Wiederaufbau zerstörter tamilischer Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser haben die LTTE ein ausgefeiltes System zur Abschöpfung der Exil-Tamilen entwickelt. Die Höhe der zu erzielenden Spendenbeiträge wird von der LTTE-Zentrale auf Sri Lanka festgesetzt und an die Verantwortlichen der im Ausland eingerichteten Exilorganisationen weitergegeben. Im Jahr 2007 waren dies monatlich 30 Euro für Einzelpersonen und 50 Euro für Familien. Regional zuständige Spendensammler forderten den zu zahlenden Betrag teilweise bei Hausbesuchen in bar ein. Dieses Vorgehen diente der "Überwachung" der in Baden-Württemberg lebenden Tamilen, förderte aber auch den Zusammenhalt innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Medien Für ihre Propagandaarbeit nutzen die LTTE professionell diverse Medien. So vertreiben sie eigene Bücher, Videos und CDs. Bis Anfang Mai 2007 informierte zudem der in Frankreich ansässige Nachrichtensender "Tamil Television Network" (TTN) die in der Diaspora lebenden Tamilen über aktuelle Ereignisse in ihrem Heimatland, allerdings meist einseitig aus Sicht der Organisation. Der Sendebetrieb wurde am 2. Mai 2007 eingestellt. Die verantwortlichen Betreiber des Senders wurden beschuldigt, während der vergangenen sechs Jahre illegal einen Kommunikationssatelliten genutzt zu haben. Ein besonders wichtiges Instrument zur Selbstdarstellung der Organisation und ihrer Vertreter ist nach wie vor das Internet. Auf mehreren offiziellen 112 Ausländerextremismus LTTE-Seiten konnten beispielsweise Erklärungen der Organisation nachgelesen werden. Die LTTE und ihre Nebenorganisationen initiierten auch im Jahr 2007 Veranstaltungen mehrere Veranstaltungen im Bundesgebiet. Auffällig war, dass in BadenWürttemberg keine der sonst üblichen "großen" "Märtyrer"-Gedenkveranstaltungen stattfanden. Zwei Beispiele für LTTE-beeinflusste Veranstaltungen in Baden-Württemberg sind: 9. Juni 2007: Durchführung eines "Tamilischen Studententags 2007" in Stuttgart, Hattingen/Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Im Internet hatte die "Tamil Youth Organisation" (TYO) für eine Teilnahme geworben. An der Veranstaltung in Stuttgart nahmen circa 200 Personen teil. Es wurden LTTE-DVDs und CDs verkauft. 25. Juli 2007: Das "Tamil Coordination Committee" organisierte anlässlich des Jahrestages der Massaker gegen die tamilische Bevölkerung auf Sri Lanka einen "Black July"-Gedenktag in 14 Städten, unter anderem in Mannheim und Stuttgart sowie Informationsveranstaltungen. Auf dem Schlossplatz in Stuttgart war eine Fahne mit "Tiger-Emblem" zu sehen. Die dortige Veranstaltung wurde von der "Kultur Vereinigung der Tamilen e.V." mit Sitz in Stuttgart angemeldet. Darüber hinaus initiiert die LTTE im europäischen Raum immer wieder Großdemonstrationen. So protestierten beispielsweise am 11. Juni 2007 rund 10.000 Exil-Tamilen aus ganz Europa vor dem UN-Gebäude in Genf/ Schweiz für das Recht der Tamilen auf Selbstbestimmung und für die Errichtung eines eigenen Tamilenstaates. Aus Baden-Württemberg folgten mehrere Hundert Tamilen dem Mobilisierungsaufruf, darunter zahlreiche LTTE-Sympathisanten. Auf Plakaten waren das "Tiger-Logo" mit der Unterschrift "Accept our de facto government" ("Akzeptiert unsere 'De-factoRegierung'") in wechselnden Designs sowie ein großformatiges Bild von LTTE-Führer Vellupillai PRABHAKARAN mit der Unterschrift "National Kader of Tamil Eelam" auf der Kehrseite zu sehen. Auf dem Demonstrationsweg skandierten die Teilnehmer Parolen wie "Wir wollen ein Tamil Eelam", "Unser Führer PRABHAKARAN" und "Unsere Heimat Tamil Eelam". 113 7. Iranische Gruppe: Die "Volksmodjahedin" Die "Volksmodjahedin" unter der Bezeichnung "Mujahedin-e Khalq Organisation" (MEK oder MKO) und "People's Mojahedin of Iran" (PMOI) gelten weiterhin in dem am 28. Juni 2007 veröffentlichten und überarbeiteten Beschluss des Rates der Europäischen Union (EU) vom 2. Mai 2002 als terroristische Organisation. Ihr militanter Flügel, die "National Liberation Army of Iran" (NLA), sowie die "Muslim Iranian Student's Society" werden ebenfalls als terroristische Gruppierungen genannt. Der "Nationale Widerstandsrat von Iran" (NWRI) beziehungsweise der "National Council of Resistance of Iran" (NCRI) werden von der Auflistung als Terrororganisation ausgenommen. Der international tätige NWRI wurde als scheinbar parteiübergreifende demokratische Sammlungsbewegung 1981 in Paris gegründet und versteht sich selbst als die wichtigste Oppositionsgruppe gegen das iranische Regime. Dominiert wird der NWRI allerdings von Anhängern und Mitgliedern der "Volksmodjahedin". In europaweiten Veranstaltungen richten sich seine Aktivitäten gegen das iranische Regime, dessen Präsidenten, die fortdauernden Menschenrechtsverletzungen und das iranische Atomprogramm. Wie bereits im Jahr zuvor fand am 30. Juni 2007 in Paris die größte Kundgebung statt. Tausende Anhänger versammelten sich, um ihre Unterstützung für den iranischen Widerstand zu demonstrieren und des Jahrestags der Exekutivmaßnahmen vom 17. Juni 2003 der französischen Sicherheitsbehörden gegen den NWRI und zahlreiche Mitglieder zu gedenken. Offiziell sind die "Volksmodjahedin" in Deutschland nicht vertreten. Sie werden seit 1994 durch den NWRI repräsentiert. In Baden-Württemberg unterstützen weiterhin etwa 70 Aktivisten und zahlreiche Sympathisanten die Organisation. politische Auch im Jahr 2007 zählten die Finanzierung der zahlreichen VeranstaltunAgitation gen und die politische Agitation zu den wichtigsten Betätigungsfeldern des NWRI. Durch Sammelvereine werden im gesamten Bundesgebiet Spendensammlungen durchgeführt. Der iranische Schriftsteller Bahman NirumSpendenand bezeichnet die Spendensammler des NWRI als "die mit den schwarzen sammlungen Mappen", die "grauenhafte Bilder von Hinrichtung und Folter in Iran" enthalten.189 Schockiert von diesen Bildern setzten viele Passanten ihre Unterschrift unter Erklärungen, die mehr Freiheit und Demokratie in Iran fordern, "und sie werfen Spenden in die Geldbüchsen, die ihnen die 'Samm189 Hier und im Folgenden: taz vom 13. Dezember 2006. 114 Ausländerextremismus ler für Freiheit und Demokratie' entgegenhalten." Mit diesen Unterschriften aber unterstützen die "ahnungslosen Passanten" den NWRI, um dessen Forderung nach Streichung der Volksmodjahedin von der "EU-Terrorliste" Nachdruck zu verleihen. Die Führungspositionen des NWRI werden fast ausnahmslos von Frauen dominiert. Dies wird als Gegengewicht zum männerdominierten "Mullah Regime" in Iran betrachtet. Seit dem ungeklärten Verbleib von Massoud RAJAVI, von dem zuletzt im März 2007 eine Videobotschaft erschienen war, hat seine Ehefrau Maryam die alleinige Führung der Organisation. 8. Weitere Informationen Weitere Informationen zum Thema Ausländerextremismus können der Broschüre "Ausländerextremismus" (2007) entnommen werden. Aktuelle Berichte zum Ausländerextremismus können Sie auf unserer Internetseite http://www.verfassungsschutz-bw.de/ausl/start_ausl.htm abrufen. 115 D. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen Die Beobachtung und geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist seit Jahren eine Schwerpunktaufgabe der deutschen Verfassungsschutzbehörden. Auch andere staatliche und zahlreiche zivilgesellschaftliche Institutionen messen dieser Auseinandersetzung zu Recht einen hohen Stellenwert bei. Der Rechtsextremismus trägt immer wieder - teils bewusst, teils eher unfreiwillig - selbst dazu bei, in den Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu geraten. So ging zwar die Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen in Baden-Württemberg im Vergleich zum Vorjahr erheblich zurück. Gleichzeitig aber setzten Rechtsextremisten 2007 deutlich häufiger als in früheren Jahren die so genannte Wortergreifungsstrategie190 von der Theorie in die Praxis um und sorgten so wiederholt für erhebliches Aufsehen. Jedoch auch rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten, deren Zahl allerdings ebenso wie diejenige rechtsextremistisch motivierter Straftaten insgesamt 2007 in Baden-Württemberg erstmals seit Jahren wieder rückläufig war, tragen dazu bei, den Rechtsextremismus im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu halten. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) hat sich in den letzten Jahren zur auffälligsten rechtsextremistischen Partei in Deutschland entwickelt und ist mittlerweile als eine der bedeutendsten, wenn nicht als die bedeutendste rechtsextremistische Organisation in der Bundesrepublik Konzentration Deutschland einzustufen. In den letzten Jahren hat sich sogar eine schrittauf die NPD weise Konzentration größerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD abgezeichnet. Dagegen setzte sich im Jahr 2007 der Weg der Partei "Die Republikaner" (REP) in die Bedeutungslosigkeit weiter fort. Nachdem sich auf dem letzten Bundesparteitag der REP am 9./10. Dezember 2006 im bayerischen Höchstadt erneut der Abgrenzungskurs gegenüber rechtsextremistischen Parteien durchgesetzt hat, haben auch 2007 weitere Rechtsextremisten die Partei verlassen. Mittlerweile ist aufgrund der fortschreitenden Marginalisierung der Partei der Anteil der Rechtsextremisten innerhalb der Organisation kaum noch quantifizierbar. Tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen sind dennoch vereinzelt weiterhin gegeben. 190 "Wortergreifungsstrategie": Erscheinen und Beteiligung an öffentlichen Veranstaltungen, die gerade nicht von Rechtsextremisten, sondern von Demokraten oder Linksextremisten organisiert wurden; vgl. auch Kap. D Ziff. 8. 116 Rechtsextremismus Immer wieder ist der Wandel kennzeichnend für die heterogene rechtsextremistische Szene. Dieser Wandel wird exemplarisch deutlich anhand des in den letzten Jahren entstandenen Phänomens der "Autonomen Nationalisten", aber auch anhand der jüngsten, zumindest vorerst noch rein äußerlichen Veränderungen innerhalb der rechtsextremistischen Skinheadszene. 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale Im Jahr 2007 ging das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial in Baden-Württemberg wie im Bund ein weiteres Mal zurück - sogar noch deutlicher als im Jahr 2006. Damit setzt sich ein seit Mitte der 1990er-Jahre fast bruchlos zu beobachtender Trend fort. Seit 1993 hat sich durch diese Entwicklung die Zahl der Rechtsextremisten im Bund um fast die Hälfte und in Baden-Württemberg sogar um gut die Hälfte verringert. Hinter diesem personellen Schrumpfungsprozess verbergen sich jedoch zwei gegenSchrumpfungsläufige Entwicklungen: Einerseits haben rechtsextremistische Personenzuprozess sammenschlüsse, deren Mitgliederstruktur - wie zum Beispiel bei der "Deutschen Volksunion" (DVU) - von einem hohen Altersdurchschnitt geprägt ist, seit Jahren teils drastische Rückgänge zu verkraften. Andererseits sind überdurchschnittlich junge rechtsextremistische Segmente, hier Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2005 - 2007 2005 2006 2007 Land Bund Land Bund Land Bund Rechtsextremistische Skinheads 10.400 10.000 1.080 10.400 900 850 und sonstige gewaltbereite Zirkel Neonazistische Organisationen und Einzelpersonen 310 4.100 320 4.200 340 4.400 nach Abzug der Doppelmitgliedschaften Rechtsextremistische Parteien 2.300 22.000 2.150 22.000 1.170 14.450 davon: DVU 900 9.000 800 8.500 700 7.000 NPD 390 6.000 400 7.000 440 7.200 REP 950 6.500 900 6.000 -1 -1 Sonstige rechtsextremistische 260 3.500 270 3.300 650 3.750 Organisationen Gesamtsumme 3.950 40.000 3.640 39.900 3.010 32.600 Tatsächliches Personenpotenzial nach 3.900 39.000 3.600 38.600 3.000 31.000 Abzug der Mehrfachmitgliedschaften 1 Für das Jahr 2007 werden die REP im Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg nicht mehr separat ausgewiesen. Grafik: LfV-BW 117 insbesondere die rechtsextremistische Skinhead-, aber auch die Neonaziszene, von quantitativ ehemals eher marginalen zu bedeutenden Faktoren herangewachsen und machen zusammen mittlerweile rund 40 Prozent der deutschen Rechtsextremisten aus. Allerdings lässt dieser bedenkliche VerVerjüngungsjüngungsprozess in jüngster Zeit partielle Stagnationstendenzen erkennen: prozess Zwar hatte die DVU auf Bundesund auf Landesebene auch im Jahr 2007 wieder mehr oder minder deutliche Mitgliederverluste hinzunehmen, während die um einen Schulterschluss mit Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads bemühte NPD auf beiden Ebenen Mitgliederzuwächse verbuchen konnte. Auch die Neonaziszene verzeichnete in Bund wie Land wieder Zuwächse. Jedoch verlor die rechtsextremistische Skinheadszene in Baden-Württemberg wie schon im Jahr 2006 Anhänger. Und auch auf Bundesebene ging die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die rechtsextremistischen Skinheads einen wesentlichen Teil ausmachen, im Jahr 2007 erstmals seit 2003 zurück. Bei der einzigen Landtagswahl des Jahres 2007, der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 13. Mai, konnte die "Deutsche Volksunion" (DVU) einen Wahlerfolg feiern. Zwar verfehlte sie mit landesweit 2,7 Prozent der Stimmen (2003: 2,3 Prozent) den Einzug in Fraktionsstärke relativ deutlich, konnte jedoch aufgrund ihres Teilergebnisses von 5,4 Prozent im Wahlbereich Bremerhaven (2003: 7,1 Prozent) zum wiederholten Male einen Abgeordneten in die Bürgerschaft entsenden.191 Doch schon im Juli 2007 erklärte dieser einzige Bremer DVU-Bürgerschaftsabgeordnete seinen Parteiaustritt. 1.2 Strafund Gewalttaten Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Strafwie auch der darin enthaltenen Gewalttaten ging 2007 in Baden-Württemberg erstmals seit 2003 Rückgang bzw. 2002 wieder zurück. Dabei fiel der Rückgang bei den rechtsextremistischen Gewalttaten von 99 im Jahr 2006 auf 78 im Jahr 2007 (minus 21,2 Prozent) prozentual sogar noch etwas deutlicher aus als derjenige bei den rechtsextremistischen Straftaten insgesamt (2006: 1.282; 2007: 1.062 = minus 17,2 Prozent). Ob der zuvor jahrelang anhaltende Trend einer steigenden Anzahl rechtsextremistisch motivierter Straf(2003: 806; 2004: 857; 2005: 1.071) bzw. Gewalttaten (2002: 51; 2003: 56; 2004: 67; 2005: 71) im Land auch langfristig umgekehrt werden kann, wird sich erst in den kommenden Jahren weisen. Die Entwicklung im Jahr 2007 dürfte unter anderem auf rückläufige so genannte "Rechts-Links-Auseinandersetzungen" zurückzuführen sein. Der Rückgang dieser Auseinandersetzungen steht in engem 191 Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft muss eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete, in Bremen oder Bremerhaven, die Fünf-Prozent-Hürde überwinden, um in das Parlament einzuziehen. 118 Rechtsextremismus Zusammenhang mit der im Berichtsjahr ebenfalls und sogar drastisch rückläufigen rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Demonstrationstätigkeit.192 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts sowie rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 2007 1.3 Ideologie Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ist in sich ideologisch zersplittert. Dennoch gibt es diverse Ideologiebestandteile, die bereits seit vielen Jahrzehnten (teils seit dem 19. Jahrhundert) im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielen und bis heute für viele oder gar für die meisten Rechtsextremisten im Grundsatz konsensfähig sind. Dabei haben einzelne dieser Bestandteile aufgrund wechselnder historisch-politischer Rahmenbedingungen an Bedeutung innerhalb des ideologischen Gesamtgefüges verloren (zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antikommunismus seit 1989), andere gewonnen (zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antiamerikanismus seit 1989): Die Ideologie der Ungleichheit, insbesondere der rechtsextremistische Nationalismus, Sozialdarwinismus193 und Rassismus. Der Rassismus erhält eine erhöhte Brisanz, wenn er zur Begründung des im rechtsextremistischen Lager allgegenwärtigen Antisemitismus herangezogen wird (Rassenantisemitismus). Die Ideologie der Volksgemeinschaft, die auch als Völkischer Kollektivismus bezeichnet wird. Rechtsextremistische Fremdenund 192 Vgl. dazu Kap. D Ziff. 3.3. 193 Sozialwissenschaftliche Theorie, die Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften überträgt. 119 Ausländerfeindlichkeit haben nicht zuletzt in diesem rassistischnationalistischen Konzept ihren Ursprung. Autoritarismus. Konkrete Ausformungen des rechtsextremistischen Autoritarismus sind Militarismus und Antiliberalismus194, aber auch ein auf das "Führerprinzip" reduziertes Staatsund Politikverständnis, das wiederum Demokratiefeindschaft und Antiparlamentarismus beinhaltet. Revisionismus. Von Geschichtsrevisionismus spricht man, wenn Rechtsextremisten die NS-Verbrechen - besonders den Holocaust und die nationalsozialistische Schuld am Ausbruch des 2. Weltkrieges - verschweigen, rechtfertigen, verharmlosen, durch Aufrechnung mit vermeintlichen und tatsächlichen Verbrechen anderer Nationen und politischer Systeme relativieren oder sogar leugnen. Von Gebietsrevisionismus ist die Rede, wenn Rechtsextremisten die Anerkennung der deutschen Gebietsverluste, wie sie sich aus den beiden Weltkriegen ergeben haben, verweigern oder noch weitere Gebiete entgegen den vertraglichen Verpflichtungen, die Deutschland seit 1918 beziehungsweise 1945 eingegangen ist, für Deutschland beanspruchen. Der rechtsextremistische Antimodernismus äußert sich in deutlich ablehnenden Reaktionen auf geistige, wissenschaftlich-technische, ökonomische, soziale und kulturelle Modernisierungsschübe und in der Verklärung vergangener Zustände. 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ging 2007 in Baden-Württemberg erstmals seit 2002 wieder zurück, und zwar von 99 (2006) auf 78. Ob der zuvor jahrelang anhaltende Trend einer steigenden Anzahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten (2002: 51; 2003: 56; 2004: 67; 2005: 71) im Land auch langfristig umgekehrt werden kann, wird sich erst in den folgenden Jahren weisen. Die Entwicklung im Jahr 2007 dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass aufgrund der im 194 Ablehnung einer Staatsund Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gewährt werden soll. 120 Rechtsextremismus Berichtsjahr drastisch rückläufigen rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Demonstrationstätigkeit die Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten ebenfalls abnahmen.195 Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit sind heutzutage im deutschen Rechtsextremismus zwar in der Regel fast ausschließlich auf die Skinheadszene und Teile der Neonaziszene begrenzt. Die Gewaltbereitschaft so genannter Autonomer Nationalisten196, eines Teilsegments der Neonaziszene, das erst seit Ende 2003 im Bund und seit Mitte 2005 auch im Land aufgetreten ist, richtet sich insbesondere bei rechtsextremistischen Demonstrationen gegen Polizeibeamte und Gegendemonstranten, insbesondere, wenn es sich bei letzteren um gewaltbereite Linksextremisten handelt. Doch greift zur Erklärung rechtsextremistisch motivierter Gewalt eine allzu Rolle einseitige Fokussierung auf gewaltbereite Skinheads und Neonazis zu kurz. der Gewalt Grundsätzlich bleibt dreierlei festzuhalten: 1. Auch diejenigen Rechtsextremisten, die nicht dem gewaltbereiten Spektrum zuzurechnen sind, dürfen in diesem Zusammenhang nicht aus der Verantwortung entlassen werden, sind doch aus ihren Reihen immer wieder Bejahung beziehungsweise mangelnde Distanzierung von Gewalt beziehungsweise von Gewalttätern zu registrieren. 2. Rechtsextremistische Gewaltbejahung, -bereitschaft und -tätigkeit stellen historische Konstanten dar. Sie sind nicht nur in der bundesdeutschen Gegenwart zu beklagen, sondern auch in der Geschichte des deutschen Rechtsextremismus bis ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Dimensionen nachweisbar. Mit den NS-Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 erfuhren sie ihre extremste Ausprägung. 3. Die Ursachen und Anlässe für rechtsextremistisch motivierte Gewalt mögen - zumal im jeweils konkreten Fall - vielfältig und komplex sein. Doch ist eine erhebliche Nähe zur Gewalt schon in den ideologischen Traditionsbeständen des Rechtsextremismus angelegt. Zu dieser traditionellen ideologischen Gewaltaffinität gesellen sich heutzutage weitere, der aktuellen rechtsextremistischen Szene immanente Faktoren, die aus Sicht des Verfassungsschutzes zur Entstehung rechtsextremistisch motivierter Gewalt beitragen. Dazu zählen besonders die - teils unpolitischen - gewaltbegünstigenden Eigenschaften der rechtsextremistischen Skinheadszene. 195 Vgl. dazu Kap. D Ziff. 3.3. 196 Zu den "Autonomen Nationalisten" siehe Kap. D Ziff. 3.4. 121 Fazit: Rechtsextremistisch motivierte Gewalt kommt nicht von ungefähr, war und ist keine von Zufälligkeiten abhängende Ausnahmeerscheinung, sondern eine dem Rechtsextremismus grundsätzlich innewohnende Konsequenz. 2.2 Tendenzen in der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene Die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads197 in Baden-Württemberg ging 2007 zum zweiten Mal in Folge nach 2006 zurück. Ihre Zahl beträgt jetzt noch rund 800198 (2006: circa 840; 2005: circa 1.040) und liegt damit wieder unter dem Wert des Jahres 2001 (circa 820). Da die rechtsextremistischen Skinheads nach wie vor den Löwenanteil der gewaltbereiten Rechtsextremisten insgesamt stellen, reduzierte sich auch wieder deren Anzahl (2007: circa 850; 2006: circa 900; 2005: circa 1.080). Und auch auf Bundeszahlenmäßiger ebene ging die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die Rückgang rechtsextremistischen Skinheads einen wesentlichen Teil ausmachen, 2007 erstmals seit 2003 zurück, und zwar von circa 10.400 (2006 und 2005) auf circa 10.000. In der öffentlich-medialen Wahrnehmung wird die rechtsextremistische Skinheadszene - und mit ihr nach der unzutreffenden Gleichung "Rechtsextremist = Skinhead" zuweilen die gesamte rechtsextremistische Szene - mit einem stereotypen, uniformen äußeren Erscheinungsbild assoziiert. In der Tat sind bis in die Gegenwart in weiten Teilen der rechtsextremistischen Skinheadszene typische Erkennungsmerkmale wie Kahlkopf, Springerstiefel und Bomberjacke anzutreffen. Doch ist in anderen Teilen der Szene seit relativ kurzer Zeit die Tendenz zu beobachten, sich von diesen szenetypischen Accessoires zu lösen. Stattdessen werden bei anderen jugendlichen Subkulturen Anleihen aufgenommen und längeren Haaren, modischer Kleidung und Turnschuhen der Vorzug gegeben, auch wenn häufig an der Selbstbezeichnung "Skinhead" festgehalten wird. Je nachdem aber, welcher Stellenwert diesen Äußerlichkeiten bei der Definition einer jugendlichen Subkultur eingeräumt wird, hat dieser Trend möglicherweise gravierende Folgen für die rechtsextremistische Skinheadszene. Denn wenn man dem äußeren Erscheinungsbild einen hohen Stellenwert beimisst, stellt sich in der Konsequenz die Frage, ob es sich bei einem "Skinhead" mit langen Haaren und von der bisherigen Norm abweichendem Outfit per definitionem überhaupt noch um einen Skinhead handelt oder um einen jungen Rechts197 Nicht alle Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. Neben rechtsextremistischen existieren auch linksorientierte, linksextremistische, aber auch unbis antipolitische Skinheads. 198 Der Anteil der weiblichen Skinheads, der so genannten Renees, lag auch 2007 wie schon in den Jahren 2003 bis 2006 konstant bei 19%. 122 Rechtsextremismus extremisten, den man zwar noch an seinen ideologischen Überzeugungen, nicht mehr aber ohne weiteres an seinem Äußeren als solchen erkennen kann. Dieser Wandel im Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Skinäußerlicher heads, der zum Teil vielleicht auch auf entsprechenden Druck von Seiten Wandel anderer Rechtsextremisten zurückgeht199, und die zumindest in BadenWürttemberg seit nunmehr zwei Jahren rückläufigen Skinheadzahlen, werfen abschließend die Frage auf, ob diese beiden Entwicklungen auf den Beginn einer Krise, vielleicht eines schleichenden Marginalisierungsoder gar Auflösungsprozesses der rechtsextremistischen Skinheadszene hindeuten. Diese Frage kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantwortet werden.200 Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in BadenWürttemberg nach Wohnund Veranstaltungsorten/Szeneaktivitäten Stand: 31.12.2007 Grafik: LfV BW 199 Siehe dazu S. 154f. 200 Siehe zum Wandel in der rechtsextremistischen Skinheadszene auch: Menhorn, Christian: Skinheads - eine aussterbende Subkultur? Eine Jugendbewegung im Wandel der Zeit, in: Pfahl-Traughber, Armin; Monika Rose-Stahl (Hrsg.): Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz und für Andreas Hübsch, Brühl/Rheinland 2007, S. 284-303. 123 Die weiteren Indikatoren, die über die Entwicklungen der rechtsextremistischen Skinheadszene und insbesondere der dazugehörigen Musikszene in Baden-Württemberg Aufschluss geben, wiesen 2007 im Vergleich zu 2006 stagnierende alles in allem stagnierende Tendenzen auf. So ging die Zahl der in BadenTendenzen Württemberg beheimateten rechtsextremistischen Skinheadbands leicht von 19 (2006) auf 17 zurück. Diese Entwicklung liegt exakt im Bundestrend, wo die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadbands von 153 (2006) auf 146 schrumpfte. Auch die Anzahl der im Land veranstalteten rechtsextremistischen Skinheadkonzerte sank minimal von 14 (2006) auf 13, womit jedoch der drastische Rückgang von 2005 (26 Konzerte) auf 2006 keine Fortsetzung fand. Dafür stieg die durchschnittliche Konzertbesucherzahl von rund 115 Personen (2006) auf circa 150 (2007) spürbar an. Auch bei diesen beiden Faktoren befindet sich Baden-Württemberg damit im Wesentlichen im Bundestrend: Im Bund verringerte sich die Zahl rechtsextremistischer Skinheadkonzerte sogar von 163 auf 138, während sich auch hier die durchschnittliche Besucherzahl von rund 135 Personen (2006) auf ebenfalls circa 150 Personen (2007) erhöhte. Bei den von baden-württembergischen Skinheadbands (mit)produzierten CDs zeigte sich 2007 ein ambivalentes Bild: Während die Anzahl der von jeweils einer Band aus dem Land veröffentlichten CDs von acht (2006) auf fünf abnahm, stieg diejenige der CD-Sampler, zu denen neben baden-württembergischen auch andere Skinheadbands Titel beisteuerten, von zwei (2006) auf sechs an. Es ist nicht auszuschließen, dass die Synergieeffekte, die mit einem von mehreren Bands verantworteten CD-Sampler verbunden sind, die Attraktivität eines solchen Gemeinschaftsprojekts gegenüber CDs, die nur von einer Band produziert werden, für die Verantwortlichen erhöhen. Rechtsextremistische so genannte Schulhof-CDs, mit denen speziell Jugendliche für den Rechtsextremismus interessiert und rekrutiert werden sollen und die nicht zuletzt deshalb unter anderem mit Titeln rechtsextremistischer Skinheadbands bestückt sind, spielten - zumindest in BadenWürttemberg - im Jahr 2007 in der rechtsextremistischen Szene nicht mehr dieselbe bedeutende Rolle wie noch 2006.201 Es wurden auch nur sehr vereinzelte Neuproduktionen auf diesem Gebiet bekannt, von denen keine aus Baden-Württemberg stammte. Dies dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass "Schulhof-CDs" von der Szene beziehungsweise konkret 201 Siehe ausführlich zur Rolle von "Schulhof-CDs" im Jahr 2006: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2006, S.140-145. 124 Rechtsextremismus von rechtsextremistischen Parteien nicht nur als speziell auf Jugendliche abzielende Rekrutierungsmittel, sondern auch als Wahlkampfmedium eingesetzt werden. 2007 fand jedoch - anders als 2006 - nur eine Landtagswahl "Schulhof-CDs" statt (die Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 13. Mai 2007). Dennoch wurden einzelne Verteilaktionen rechtsextremistischer "Schulhof-CDs" auch 2007 im Land bekannt, so am 8. Oktober 2007 vor zwei benachbarten Schulen in Eberbach im Rhein-Neckar-Kreis. Übersicht über rechtsextremistische Skinheadbands und Vertriebe in Baden-Württemberg Stand: 31.12.2007 Grafik: LfV BW Vertriebe Skinheadbands 125 Skinheadkonzerte in Baden-Württemberg 2007 Stand: 31.12.2007 Grafik: LfV BW Bei dieser Aktion in Eberbach wurden auch Exemplare einer rechtsextremistischen "Schülerzeitschrift" verteilt. Zum Hintergrund: Nachdem auch die NPD bereits seit einiger Zeit darum bemüht ist, Jugendliche - insbesondere Schüler - durch "Schulhof-CDs" an die rechtsextremistische Szene und damit an die Partei heranzuführen, erweiterte sie diese Kampagne seit dem Jahr 2006 und noch verstärkt seit dem Jahr 2007 durch Initiierung "Schülerzeitdiverser rechtsextremistischer "Schülerzeitschriften". Seit Sommer 2006, schriften" besonders aber seit Frühjahr und Herbst 2007 wurden verschiedene "Schülerzeitschrift"-Projekte von der NPD und deren Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) angekündigt und in verschiedenen Teilen Deutschlands auch schon umgesetzt. Der Begriff "Schülerzeitschrift" ist indes irreführend: Es handelt sich nicht um Zeitschriften, die von Schülern gemacht werden, sondern um reines NPD-Propagandamaterial. Bei den am 8. Oktober 2007 in Eberbach verteilten "Schülerzeitschriften" handelt es sich um Exemplare einer 16-seitigen Publikation mit dem Titel "perplex", die von den sächsischen JN herausgegeben wird. Exemplare von "perplex" 126 Rechtsextremismus wurden schon bei einer früheren Verteilung in Dresden am 20. September 2007 von der Polizei beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft Dresden leitete gegen die Verantwortlichen ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Jugendschutzgesetz ein. Auch in Eberbach schritt die Polizei gegen die Verteilung ein. Gegen die an der Aktion beteiligten Personen erließ das Amtsgericht Heidelberg Durchsuchungsbeschlüsse wegen des Verstoßes gegen das Jugendschutzgesetz. Zahlreiche Exemplare der Publikation konnten daraufhin sichergestellt werden. 2.3 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Rechtsextremistisch, neonazistisch, gewaltbereit 2.3.1 Wie rechtsextremistisch sind rechtsextremistische Skinheads? Mangelnde Intellektualität, ein verbreitetes Desinteresse an ideologischpolitischen Fragen, Oberflächlichkeit, Widersprüchlichkeit und Unreflektiertheit entsprechender "Überzeugungen", primitiv-proletenhaftes Auftreten (zum Beispiel verbunden mit exzessivem Alkoholgenuss), Disziplinlosigkeit, Unfähigkeit und mangelnder Wille zu konkreter Organisierung (zum Beispiel in rechtsextremistischen Parteien und Vereinen), der hohe identitätsstiftende und nicht zuletzt freizeitorientierte Stellenwert von szeneeigener Musik und Konzerten sind zentrale Charakteristika der rechtsextremistischen Skinheadszene. Dieses Erscheinungsbild verleitet Teile der Öffentlichkeit bis heute zu der Einschätzung, dass es sich bei rechtsextremistischen Skinheads gar nicht um "richtige", ernstzunehmende Rechtsextremisten handle, da sie nicht fähig oder willens seien, eine vermeintlich komplexe Ideologie wie den Rechtsextremismus zu verstehen, zu verinnerlichen und zur Richtschnur ihres täglichen Handelns zu machen. Ein solcher Einwand unterstellt, dass ein bestimmtes Mindestmaß an Intellektualität nötig sei, um eine extremistische Ideologie zu begreifen und zu vertreten. Gerade das Gegenteil ist jedoch häufig der Fall: Denn extremistische Ideologien reduzieren die komplexen Realitäten des modernen Lebens auf wenige ideologische Leitsätze, präsentieren zur Erklärung zahlreicher (vermeintlicher und tatsächlicher) gesellschaftlicher Missstände wenige Feindbildgruppen (zum Beispiel "Juden" oder "Ausländer") als "Alleinschuldige" und bieten vermeintlich einfache Lösungen für tatsächlich schwierige gesellschaftspolitische Zusammenhänge an. Einfache Erklärungsmuster und die Verheißung sim127 pler Problemlösungen können gerade auf tendenziell weniger gebildete und "intellektuell limitierte" Menschen, aber auch auf Jugendliche, die sich noch suchend und ungefestigt in ihrer persönlichen Selbstfindungsphase befinden, eine hohe Anziehungskraft ausüben. Wird ihnen doch durch Übernahme eines ideologischen Weltbildes die fatale Illusion vermittelt, diese Welt vollständig verstanden zu haben und Andersdenkenden damit überlegen zu sein. Von gesellschaftlichen Missständen (zum Beispiel von Arbeitslosigkeit) Betroffenen werden die Selbstzweifel genommen, für ihre Situation selbst (mit)verantwortlich zu sein (zum Beispiel aufgrund schulischen oder beruflichen Versagens). Die "Schuld" daran wird stattdessen auf ideologische Feindbilder projiziert, wie beispielsweise die Parole "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!" deutlich macht. Vor allem aber liefert die rechtsextremistische Skinheadszene selbst zahlreiche Belege für ihre Gesinnung: 1. Ein erstes wichtiges Indiz für die grundsätzliche ideologische Ausrichtung der rechtsextremistischen Skinheadszene liefert ein Blick auf die Opfer der Gewalttaten, die aus dieser Szene heraus begangen werden. Bei diesen Opfern handelt es sich überdurchschnittlich häufig um klassische Feindbilder des Rechtsextremismus wie Ausländer, Farbige oder Homosexuelle. 2. Rechtsextremistische Skinheadbands produzieren immer wieder Liedtexte, in denen sie ihre rechtsextremistische Gesinnung entweder offen oder mehr oder minder subtil zu erkennen geben. So steuerte die Band "White Voice" aus Villingen-Schwenningen zu dem 2007 erschienenen CD-Sampler "Drei für Deutschland" mit ihrem Lied "Staatsfeind" ein eher allgemein gehaltenes, aber unumwundenes Bekenntnis zu (Rechts-)Radikalismus, (Rechts-)Extremismus und Staatsbeziehungsweise Verfassungsfeindlichkeit bei, ohne dieses Bekenntnis jedoch - zumindest in diesem Lied - mit der Darbietung konkreter rechtsextremistischer Inhalte zu verbinden. Hier Ausschnitte, insbesondere der Refraintext: "White Voice": "Staatsfeind" von dem CD-Sampler "Drei für Deutschland" "(...) Eure Regeln und Gesetze haben uns nie interessiert. 128 Rechtsextremismus Diesen Staat haben wir immer gehasst und ständig rebelliert. (...) Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, extrem, radikal. Ob's euch passt oder nicht, ist uns doch scheißegal. [Refrain:] Wir gingen schon immer unseren eigenen Weg, ganz egal um welchen Preis. Ihr nennt uns total bekloppte Psychopathen. Ja wir stehen auf diesen Scheiß! National, radikal, Feinde des Systems, zielstrebig, geradeaus. Ja ich bin Staatsfeind! Ja ich bin Staatsfeind! Ich hasse diesen Staat! (...)" 202 Auf ihrer eigenen, ebenfalls im Berichtsjahr veröffentlichten CD "Narrenkabinett" lieferte "White Voice" weitere Belege für ihre erklärte, rechtsextremistisch motivierte Verfassungsfeindlichkeit, beispielsweise die prägnante, den in rechtsextremistischen Kreisen gepflegten Reichsmythos aufgreifende Parole "BRD verrecke! Das Reich muss leben!" 203 in dem Lied "Hey Hey Hallo". 3. Auch das äußere Erscheinungsbild und die Symbolwelt der rechtsextremistischen Skinheadszene beschränkt sich nicht auf Komponenten, die ursprünglich einen unpolitischen Hintergrund haben wie Kahlkopf, Springerstiefel oder Bomberjacke. Typische Kennzeichen dieser Szene sind längst auch originär rechtsextremistische Bilder und Symbole - bis hin zu nationalsozialistischen. So ist die Reichskriegsflagge, die - nicht zuletzt aufgrund des Verbotes der Hakenkreuzflagge - mittlerweile ein typisches Symbol in der rechtsextremistischen Szene geworden ist, auf zahlreichen CD-Covern rechtsextremistischer Skinheadbands der letzten Jahre abgebildet, 202 Textwiedergabe soweit möglich nach dem akustischen Verständnis. 203 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. 129 beispielsweise auf dem CD-Sampler "on the streets" von 2007, auf dem neben anderen Bands auch "Aufbruch" aus Mannheim und "Blue Max" aus Schwarzach im Neckar-Odenwald-Kreis Lieder platzierten. 4. Auf den rechtsextremistischen Charakter weiter Teile der Skinheadszene lässt sich allein schon aufgrund ihrer ausgeprägten Vernetzung mit anderen Segmenten des deutschen Rechtsextremismus schließen. Denn warum beziehungsweise wie sollten oder könnten sich Skinheads und (andere) Rechtsextremisten miteinander vernetzen, wenn es keine gegenseitigen ideologischen Anknüpfungspunkte gäbe? Diese Vernetzung manifestiert sich nicht nur in der Existenz vereinzelter Mischszenen aus Skinheads und Neonazis. Mittlerweile ist es nicht einmal mehr unüblich, dass rechtsextremistische Organisationen, die nicht der Skinheadszene zuzurechnen sind, Skinheadkonzerte veranstalten oder doch zumindest Skinheads beziehungsweise Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen begrüßen oder auftreten lassen. Ziel ist dabei unter anderem, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. 2.3.2 Sind rechtsextremistische Skinheads Neonazis? 204 Zumindest Teile der rechtsextremistischen Skinheadszene bekennen sich zum historischen Nationalsozialismus. Auch dafür liefern immer wieder Liedtexte baden-württembergischer Skinheadbands eindeutige Belege. So publizierte "White Voice" auf dem CD-Sampler "Drei für Deutschland" ein weiteres Lied mit dem Titel "9. November", in dem völlig unverhohlen und kritiklos der am 9. November 1923 in München bei der Niederschlagung des so genannten Hitler-Ludendorff-Putsches ums Leben gekommenen 16 Nationalsozialisten - nicht aber der an diesem Tag ebenfalls getöteten Polizisten und schon gar nicht der am 9. November 1938 bei der "Reichspogromnacht" ermordeten Juden - gedacht wird. Mit diesem Lied knüpfen "White Voice" an den intensiven Totenund Heldenkult um diese erschossenen Putschisten an, den schon die historischen Nationalsozialisten betrieben. Diese Glorifizierung eines der zentralen Ereignisse in der NSDAP-Parteigeschichte durch "White Voice" kommt einem Bekenntnis der Band zum historischen Nationalsozialismus insgesamt gleich: 204 Zu den Neonazis siehe Kap. D Ziff. 3. 130 Rechtsextremismus "White Voice": "9. November" von dem CD-Sampler "Drei für Deutschland" "Ich stehe an der Feldherrnhalle und atme noch den Geist. Hier hallen immer noch die Schüsse, die ihre Brust zerreißt. Ich fühle auch die Fahne, die ach so blutgetränkt, und dennoch Sieger wurde, von Opfermut gelenkt. [Refrain:] Achtzig Jahre ist der Sechzehn Heldentod nun her, doch durch den Nebel der Nation [Textversion im CD-Booklet: "Nabel der Generationen"] führt ihr Geist uns zur Wehr! Mehr als achtzig Jahre ist der Sechzehn Heldentod nun her, doch durch den Nebel der Nation [Textversion im CD-Booklet: "Nabel der Generationen"] führt ihr Geist uns zur Wehr! Sie waren in dem Blut getauft, das Münchens Boden färbte, ihr Tod macht Deutschland unsterblich, weil eine Jugend Hoffnung erbte. Und wenn ihr alten Helden, uns von Walstatt sehen sollt, gebt dazu Euren Segen, den ihr sicher nicht bereut! (...)" 2 05 Angesichts solcher ideologischer Gemeinsamkeiten ist die Existenz von Mischszenen von Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads nicht verwunderlich, finden hier doch Gesinnungsgenossen zueinander. 2.3.3 Rechtsextremistische Skinheadmusik als potenzielle Quelle rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Texte rechtsextremistischer Skinheadbands thematisieren einerseits das Selbstverständnis und das Lebensgefühl der rechtsextremistischen Skin205 Textwiedergabe soweit möglich nach dem akustischen Verständnis. 131 headszene. So ist die Verherrlichung des Skinheaddaseins (zum Beispiel des szenetypischen exzessiven Alkoholkonsums) ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Liedern dieser Bands. Andererseits ist rechtsextremistische Skinheadmusik das wichtigste Propagandamedium, über das rechtsextremistische Inhalte in die Skinheadszene transportiert werden. So hetzen nicht wenige Skinheadlieder gegen szeneFeindbilder typische Feindbilder wie Ausländer, Juden, Israel, die USA, Homosexuelle, "Linke", Punker, gegen die Presse sowie staatliche Institutionen und Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Beispielsweise schlug die Band "Ultima Ratio" aus dem Raum Stuttgart auf ihrer 2007 veröffentlichten CD "Where is the Man" mit dem Lied "Vonhintenfraktion" nicht nur eindeutig homosexuellenfeindliche Töne an, sondern verband diese Homophobie mit einer heftigen Attacke gegen die etablierte, demokratische Politik: "Ultima Ratio": "Vonhintenfraktion" von der CD "Where is the Man" "Schwul sein war früher mal verboten, heute ist es fast schon Pflicht, beliebt besonders in der Politik. Jede Partei hat ihren Schwulen, ihr Homo-Aushängeschild. Nur so ist man jung, hip und wild. (...) Das ist die ganz große Koalition: Fröhliche Vonhintenfraktion, rektale Revolution, Viererkettefaszination, Popopolitik. Versuch auch du dein Glück! Werd' schwul! Geh' in die Politik! (...)" 206 Bei solcher Hetze wird zuweilen auch - direkt oder indirekt - zur Gewaltanwendung aufgerufen. Die meisten von rechtsextremistischen Skinheadbands produzierten Liedtexte bewegen sich jedoch wie der eben zitierte Text von "Ultima Ratio" unterhalb der Schwelle zum konkreten Gewaltaufruf - wohl nicht zuletzt, weil die Bands andernfalls juristische Folgen zu befürchten hätten. Solchen Befürchtungen dürfte es auch geschuldet sein, dass zumindest für die letzten Jahre sehr viel häufiger solche rechtsextremistischen Skinheadtexte nachweisbar sind, die eine dumpfe, inhumane 206 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. 132 Rechtsextremismus Atmosphäre aus Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung, aus Hass, Wut, Zorn, Rachephantasien, Verachtung sowie Mitleidund Gnadenlosigkeit verströmen, ohne dabei jedoch zu konkreten Gewalttaten aufzurufen, manchmal sogar ohne die Objekte dieses Hasses, dieser Wut, allzu explizit zu benennen. Ein geradezu idealtypisches Beispiel dafür lieferte die hessisch-schleswig-holsteinische Skinheadband "Hauptkampflinie" auf dem CD-Sampler "Drei für Deutschland", auf dem auch "White Voice" mit Titeln vertreten ist. Das Lied "Nacht der langen Messer" hört sich in weiten Passagen an wie eine Todesdrohung, deren Adressaten aber im gesamten Liedtext anonym bleiben: "Hauptkampflinie": "Nacht der langen Messer" von dem CD-Sampler "Drei für Deutschland" "Du zeigst keine Spur von Verantwortung für das, was du so machst. Doch ich sehe deine Unsicherheit, wenn du im Fernsehen lachst. Und ich kenne auch den Grund, warum dir der Arsch auf Grundeis geht: In deinen Träumen siehst du schon, wie der Henker dir die Schlinge um den Hals legt. Einst kommt die Nacht der langen Messer, einst kommt die Nacht der langen Messer, einst kommt die Nacht der langen Messer. Und jeder zahlt dann seinen Preis. Einst kommt die Nacht der langen Messer, einst kommt die Nacht der langen Messer, einst kommt die Nacht der langen Messer. Und jeder zahlt für seinen Scheiß. Du lebst doch von geborgter Zeit, vertraust nur noch auf dein Glück. Doch der Hund, den du tagtäglich trittst, der schlägt irgendwann zurück. Mit Polizei und Soldaten erkaufst du dir noch Sicherheit. Na gut, dann liegen ja genug Granaten für den Tag X bereit! [Refrain] Dein Urteil steht schon lange fest, du brauchst dir keine Hoffnung machen! 133 Der erste Weg, er führt zu dir, wenn in den Straßen Schüsse krachen. Dann ist Schluss mit lustig, aus die Maus mit deiner Tyrannei. Dann gehst du mit deiner Clique unter, und dein Volk wird wieder frei. [3 x Refrain]" 207 3. Neonazismus 3.1 Allgemeines Jeder Neonazi ist Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist ist Neonazi. Der Neonazismus ist nur eine von mehreren Erscheinungsformen des Gesamtphänomens Rechtsextremismus, die aber von einem ganz besonders ausgeprägten ideologischen Fanatismus ihrer Angehörigen gekennzeichnet ist. Die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig vorgenommene Gleichsetzung "Rechtsextremismus = Neonazismus" läuft also auf eine Vereinfachung hinaus, die der komplexen Realität der ideologisch zersplitterten rechtsextremistischen Szene nicht gerecht wird. Als neonazistisch werden Personenzusammenschlüsse und Bestrebungen bezeichnet, die ein direktes oder indirektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem Vorbild des "Dritten Reiches" ausgerichtet sind. Dieses Eintreten für die Wiedererrichtung einer NS-Diktatur führte in den 1990er-Jahren zum Verbot zahlreicher neonazistischer Vereinigungen, was das Erscheinungsbild dieser Szene nachhaltig veränderte. Um sowohl bereits vollzogene als auch für die Zukunft erwartete Vereinigungsverbote "Organisierung zu unterlaufen, sind seither in der Neonaziszene an die Stelle fester Orgaohne nisationsstrukturen zumeist lockere, organisationsunabhängige und inforOrganisation" melle Personenzusammenschlüsse getreten. Zumeist geben sich diese Gruppen den Anstrich privater Cliquen oder Freundeskreise und verfügen nur über eine regionale Basis sowie über relativ wenige Angehörige (in der Regel pro Gruppe nicht mehr als circa fünf bis 20 Personen, meist junge Männer). Allerdings können viele dieser Gruppen im Bedarfsfall auf ein Mobilisierungspotenzial zurückgreifen, das über die Zahl ihrer jeweiligen 207 Textwiedergabe nach dem akustischen Verständnis. 134 Rechtsextremismus Angehörigen deutlich hinausgeht. Privater Anstrich und regionale Basis kommen auch in den Selbstbezeichnungen der Gruppen zum Ausdruck (zum Beispiel "Kameradschaft Rastatt"). Die typische Aktivität dieser "Kameradschaften" ist der "Kameradschaftsabend", der in Privatwohnungen oder Gaststätten stattfindet, keine Außenwirkung entfaltet und dessen Inhalte aus politisch-ideologischen Schulungen, der Vorbereitung von Aktionen oder einfach Geselligkeit bestehen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast jede dieser Gruppen meist fest in die bundesweite Neonaziszene, partiell auch in andere Teile der rechtsextremistischen Szene, eingebunden ist und zuweilen bis ins Ausland Kontakte zu Gesinnungsgenossen pflegt. Innerhalb dieser netzwerkartigen Strukturen legen Neonazis einen erheblichen Aktionismus an den Tag, den sie vor allem Aktionismus durch Teilnahme an zahlreichen, nicht nur neonazistischen Demonstrationen - auch fernab ihrer regionalen Basis - ausleben. Die Überschneidungen zwischen Neonaziund rechtsextremistischer Skinheadszene äußern sich unter anderem in der Existenz entsprechender Mischszenen und in der Teilnahme einzelner Neonazis an Skinheadkonzerten. Die bereits seit Ende 1993 bestehende und damit älteste Neonazi-"Kameradschaft" in Deutschland, die "Kameradschaft Karlsruhe", die lange Zeit die bekannteste und aktivste neonazistische Kameradschaft in Baden-Württemberg war, ist aufgrund ihrer zunehmenden Inaktivität aus der Öffentlichkeit mittlerweile weitgehend verschwunden. Auch die "Kameradschaft Rastatt" ist im Jahr 2007 etwas aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Zum 30. April 2007 endete das Mietverhältnis, durch das die "Kameradschaft" seit 2006 über die Räumlichkeiten einer ehemaligen Pizzeria in Rastatt verfügte, die seither als überregionales Treffund Veranstaltungslokal der rechtsextremistischen Skinheadund der Neonaziszene gedient hatte. Die Furcht vor staatlichen Repressionsmaßnahmen hat mittlerweile manche Neonazis bewogen, "Tarnmaßnahmen" zu ergreifen. Ziel ist dabei, nicht "Tarnmaßimmer sofort als - gesellschaftlich stigmatisierter - Neonazi erkannt zu wernahmen" den, vielleicht sogar mit den eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen Gehör auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene zu finden, womöglich sogar auf Veranstaltungen, die nicht von Rechtsextremisten selbst, sondern von Demokraten oder Linksextremisten organisiert werden ("Wortergreifungsstrategie" 208). Einzelne Neonazis nehmen äußerliche Anleihen bei der linksextremistischen autonomen Szene auf, beispielsweise, indem sie sich die Selbstbezeichnung "Autonome Nationalisten" zulegen. Aus ähnlichen Motiven vereinigen sich Neonazis immer wieder zu unverdächtig klingenden "Bürgerinitiativen" beziehungsweise "Bürgerbewegungen". 208 Siehe dazu Kap. D Ziff. 8. 135 3.2 Bundesweite Aktivitäten 3.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene Am 17. August 2007 jährte sich der Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß (1894-1987) zum zwanzigsten Mal. Um seine Person werden von Neonazis seit Jahrzehnten ein teilweise religiös anmutender Märtyrerkult und eine Mythenbildung betrieben, wie sie seit 1945 keinem der übrigen, ähnlich hochrangigen, NS-Protagonisten zuteil wurden. Das hängt weniger mit Heß' konkreten politischen Funktionen während der NS-Diktatur zusammen; vielmehr dient der zeitlebens überzeugte Nationalsozialist Heß der deutschen und internationalen Neonaziszene auch noch zwei Jahrzehnte nach seinem Selbstmord im Berlin-Spandauer Kriegsverbrechergefängnis nicht nur als Vorbild an ideologisch-fanatischer Unbeugsamkeit, sondern auch aufgrund seines Schicksals als zentrale Symbolund Integrationsfigur. Schon sein Großbritannien-Flug im Mai 1941 wird in der Neonaziszene als vermeintlicher "Beweis" dafür gewertet, dass der - so die gängige Neonazi-Terminologie - "Friedensflieger" Heß und mit ihm die gesamte NS-Führung um Adolf Hitler friedenswillig gewesen seien, während die Briten die Friedensbemühungen des Hitler-Stellvertreters mit Internierung beantwortet und damit den Beweis ihrer angeblichen Kriegslüsternheit geliefert hätten. Dass Hitler in die Aktion seines Stellvertreters offensichtlich nicht einmal eingeweiht war, sich sogar umgehend von ihr distanzierte, unter anderem indem er Heß öffentlich für geistesgestört erklären ließ209, wird von Neonazis bei solchen Geschichtsklitterungen zumeist ausgeblendet. Anders als Hitler, Goebbels oder Himmler, die ihrem Leben 1945 ein Ende setzten, überlebte Heß den Zweiten Weltkrieg um 42 Jahre, die er aufgrund einer Verurteilung zu lebenslanger Haft beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis verbrachte. Dass er die letzten 21 Jahre seines Lebens nach der Entlassung der übrigen Gefangenen als einziger Häftling dort verblieb, trieb die Glorifizierung seiner Person durch die Neonaziszene weiter voran. Schon allein diese Fakten seiner Haft - sowie das Ausblenden von Heß' 209 Siehe zu den Hintergründen des Heß-Fluges nach Großbritannien und zum Umgang der NS-Führung mit diesem Vorfall: Nolzen, Armin: Der Heß-Flug vom 10. Mai 1941 und die öffentliche Meinung im NS-Staat, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004, S. 130-156. 136 Rechtsextremismus Schuld und der des NS-Regimes insgesamt - prädestinieren den Hitler-Stellvertreter aus neonazistischer Sicht zum Märtyrer der "Bewegung". Dieser Märtyrerkult wird von Neonazis noch auf die Spitze getrieben, indem sie seit 1987 unbeirrbar behaupten, Heß sei in Spandau ermordet worden, um die "wahren" Hintergründe seines Großbritannien-Fluges zu vertuschen. Diese faktenwidrige, längst widerlegte Verschwörungstheorie, die manchVerschwörungsmal auch von Rechtsextremisten kolportiert wird, die nicht der Neonazitheorie szene zuzuordnen sind, ist unter Neonazis seit 1987 zum Allgemeingut geworden. Deshalb ist auch nicht Heß' Geburtstag, sondern sein Todestag ein wichtiges Datum im neonazistischen Veranstaltungskalender: Gilt es doch, nicht nur den Märtyrerkult um Heß zu pflegen, sondern auch klassische rechtsextremistische Feindbilder (hier vor allem die westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges) als vermeintlich eiskalt berechnende Mörder an einem 93-jährigen, angeblich schuldlosen Greis zu diffamieren.210 2007 beteiligte sich auch der NPD-Landesvorstand Baden-Württemberg an der Pflege und Propagierung des Heß-Kultes. Er veröffentlichte aus Anlass des 20. Todestages eigens eine "Stellungnahme", in der geradezu idealtypisch verschiedene Komponenten der neonazistischen Heß-Glorifizierung zum Ausdruck gebracht wurden. Gleichzeitig wirft dieser Text ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Nähe, die Teile der NPD - auch in Baden-Württemberg - mittlerweile zum Neonazismus aufweisen: "Am 17. August jährt sich der Mord am ehemaligen Reichsminister Rudolf Heß zum 20. Male. An die Lüge seines Selbstmordes glauben nur jene, denen man ohnehin alles erzählen kann. Das 46jährige Martyrium der Gefangenschaft von Heß steht symbolisch für die Leiden, aber auch die einzigartigen Verbrechen, die am Deutschen Volk im 20. Jahrhundert begangen wurden. Es ist erfreulich festzustellen, dass alle Versuche des Establishments, den Namen Rudolf Heß aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit zu entfernen, auch nach 20 Jahren erfolglos geblieben sind. Im Gegenteil: Den nationalgesinnten Deutschen wurde er zum Symbol des Widerstandes gegen die geistige Fremdherrschaft und die bis heute fortgesetzte Kollaboration mit den alliierten Siegermächten. (...) Den alliierten Sie210 Siehe zu den vielschichtigen Aspekten des Heß-Kultes in der rechtsextremistischen Szene: Kohlstruck, Michael: Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik - Die Mythologisierung von Rudolf Hess im deutschen Rechtsextremismus, in: Fröhlich, Claudia; Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Stuttgart 2004, S. 95-109. 137 germächten und ihren bundesdeutschen Vasallen wollen wir zeigen, dass Rudolf Heß lebt und dass seine Ermordung ihn zum Mythos gemacht hat. Der NPD-Landesvorstand fordert seine Mitgliedschaft auf, Rudolf Heß ein ehrendes Andenken zu bewahren: Es gilt, seiner nicht nur heute zu gedenken, sondern der Jugend stets seine Vorbildfunktion vor Augen zu führen und Aufklärungsarbeit gegen das heute verordnete offizielle Geschichtsbild zu leisten! Insbesondere ruft der NPD-Landesvorstand seine Mitgliedschaft dazu auf, die Rudolf-Heß-Stadt Wunsiedel auch über das Jahr verteilt aufzusuchen, damit die letzte Ruhestätte des Friedensfliegers auch weiterhin eine Wallfahrtsstätte des anständigen Deutschlands bleibt." 211 Zudem kommt in einer hier nicht zitierten Passage dieser "Stellungnahme" Frustration darüber zum Ausdruck, dass wie schon in den beiden vorangegangenen Jahren auch 2007 kein zentraler "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" im bayerischen Wunsiedel, wo Heß begraben liegt, stattfinden konnte. Zwar hatte der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen RIEGER, der mittlerweile Mitglied im NPD-Bundesvorstand ist, schon vor geraumer Zeit bis einschließlich 2010 jährliche Gedenkveranstaltungen um den 17. August herum in Wunsiedel angemeldet. Daraufhin konnte die Neonaziszene in "Rudolf-Heßden Jahren 2001 bis 2004 zentrale "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" in dieser Gedenkmärsche" Stadt durchführen. Die Zahl der Demonstrationsteilnehmer stieg dabei laut Polizeiangaben von rund 900 (2001) auf circa 3.800 (2004). Doch auch 2007 bestätigte das Bundesverfassungsgericht ein entsprechendes Versammlungsverbot des Landratsamtes Wunsiedel. So musste die Szene zum wiederholten Male auf kleinere, dezentrale Veranstaltungen ausweichen. An diesen bundesweit nur noch acht Ersatzveranstaltungen nahmen wie an den zehn des Vorjahres insgesamt rund 1.200 Personen teil. Dies entspricht einer Stagnation auf niedrigem Niveau, wenn man sich die Teilnehmerzahl des letzten zentralen "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" vor Augen hält. Etwas größere Kundgebungen fanden am 18. August 2007 im bayerischen Gräfenberg mit etwa 260 Teilnehmern und in Jena mit etwa 380 Teilnehmern statt. Eine weitere Demonstration, die mit circa 250 Teilnehmern auch noch zu den größeren Veranstaltungen zählte, wurde ebenfalls am 18. August in Friedrichshafen unter dem Motto "Gegen Faschismus und Intoleranz! Mei211 Text "Rudolf Heß - Märtyrer des Friedens. Zum 20. Todestag des Friedensfliegers", Homepage des NPDLandesverbandes Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2007; Übernahme wie im Original. 138 Rechtsextremismus nungsfreiheit für Alle!" veranstaltet. Als Veranstalter zeichnete der badenwürttembergische JN-Landesverband verantwortlich. Der überregionale Charakter dieser Veranstaltung wurde dadurch dokumentiert, dass etwa 120 und damit fast die Hälfte der Teilnehmer mit zwei Bussen aus dem Raum Dortmund angereist waren. Ließ das Demonstrationsmotto noch keinen Heß-Bezug erkennen, wurde dieser dadurch offenbar, dass ein so genannter Schwarzer Block, der den "Autonomen Nationalisten"212 zuzurechnen war, unter anderem ein Transparent mit der Aufschrift "Nürnberg 1946 - Schandurteil revidieren" 213 mitführte. Die Gegenproteste von etwa 300 Personen der linksextremistischen Szene verliefen weitgehend störungsfrei, obwohl diese Gegendemonstranten mehrmals versuchten, die Demonstrationsroute der Rechtsextremisten zu blockieren. Vereinzelt wurden auch Steine und Flaschen gegen den JN-Aufzug geworfen, ohne dass dabei allerdings jemand verletzt wurde. Aufgrund der starken Polizeipräsenz konnte ein direktes Aufeinandertreffen der linksund rechtsextremistischen Szeneangehörigen verhindert werden. Zusätzlich zu den angemeldeten Veranstaltungen wurden auch einige spontane Demonstrationen bekannt, darunter zwei im Dreiländereck zwischen Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz. In diesem Raum hat auch das seit dem Jahr 2003 bestehende, mit baden-württembergischer Beteiligung länderübergreifend aktive neonazistische "Aktionsbüro RheinNeckar" seinen Sitz. Es koordiniert im gesamten Rhein-Neckar-Raum die Aktivitäten der dort vertretenen Neonaziund rechtsextremistischen Skinheadgruppierungen, ist personell mit der NPD verflochten und hat enge Kontakte zu rechtsextremistischen Führungspersonen und Gruppierungen in den angrenzenden Regionen. Momentan scheint sein Aktionsschwerpunkt außerhalb von Baden-Württemberg zu liegen. Sein Internetportal, auf dem es als Kontaktadresse ein Postfach im hessischen Viernheim angibt214, gehört zu den bundesweit wichtigsten rechtsextremistischen Internetseiten. Ähnlich wie bereits im vergangenen Jahr kam es auch 2007 in mehreren Städten Baden-Württembergs, unter anderem in Aalen, Heidenheim und Backnang sowie im Raum Karlsruhe zu Plakat-, Sprühund Aufkleberaktionen im Zusammenhang mit dem Heß-Todestag. 212 Zu den Autonomen Nationalisten siehe Kap. D Ziff. 3.4. 213 Dieses Transparent war in der Vergangenheit allerdings auch schon bei Aktionen der "Autonomen Nationalisten" ohne zeitlichen Heß-Bezug festzustellen, zum Beispiel am 2. Dezember 2006 im Großraum Karlsruhe. 214 Homepage des "Aktionsbüros Rhein-Neckar" vom 8. November 2007. 139 Das Verbot eines zentralen "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" in Wunsiedel basierte im Jahr 2007 wie schon in den beiden Vorjahren auf dem erst 2005 in Kraft getretenen Absatz 4 des SS 130 StGB.215 Mit Urteil vom 26. März 2007216 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Hauptsacheverfahren die Gültigkeit des SS 130 Abs. 4 StGB geprüft und seine Verfassungsmäßigkeit bejaht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da am 24. April 2007 Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eingelegt wurde, die derzeit noch anhängig ist. Es wird vom Ausgang dieses Revisionsverfahrens abhängen, ob auch in den kommenden Jahren ein zentraler Gedenkmarsch verhindert werden kann. Die Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2007 haben gezeigt, dass die Variante der Heß-Verehrung mit mehreren dezentralen Ersatzveranstaltungen für die neonazistische Szene immer unattraktiver zu werden scheint. Ein Gedenkmarsch in Wunsiedel mit seinem Symbolwert und seiner Mobilisierungskraft ist für die Szene also nicht ersetzbar. Dass die Ersatzveranstaltungen auch 2007 aus juristischen Rücksichtnahmen in ihren Mottos zum Teil keinen direkten Heß-Bezug mehr erkennen ließen (siehe zum Beispiel in Friedrichshafen) und dadurch zu thematisch fast beliebigen rechtsextremistischen Demonstrationen wurden, dürfte manchen potenziellen Teilnehmer demotiviert haben. 3.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 60 Baden-Württemberg (2006: ca. 60) ca. 600 Bund (2006: ca. 600) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ist die langlebigste und mitgliederstärkste Einzelorganisation in der deutschen Neonaziszene, für die vor dem Hintergrund der zahlreichen Verbote neonazistischer Vereinigungen in den 1990er Jahren feste Organisationsstrukturen wie die der HNG eigentlich untypisch geworden sind. In ihren Aktivitäten ist die HNG absolut spezialisiert: Sie verfolgt den selbst gestellten Auftrag, inhaftierte Gesinnungsgenossen unter anderem durch Rechtsberatung, Überlassung rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten moralisch und materiell zu unterstützen, 215 SS 130 Absatz 4 StGB lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt." 216 Az: 24 B 06.1894. 140 Rechtsextremismus um sie auch während der Haftzeit sozial und ideologisch weiter an die rechtsextremistische Szene zu binden und somit die staatlichen Ausstiegsangebote zu unterlaufen. Ansonsten erschöpfen sich Aktivitäten und Bedeutung der HNG in der monatlichen Veröffentlichung ihrer 20-seitigen Publikation "Nachrichten der HNG" und in der jährlichen Abhaltung einer Jahreshauptversammlung, die 2007 mit circa 100 Teilnehmern am 21. April im bayerischen Gremsdorf stattfand. Ursula MÜLLER aus Mainz bekleidet das Amt der HNG-Vorsitzenden seit 1991. 3.3 Abnehmende Demonstrationstätigkeit der Neonaziszene 2007 nahm die Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen217 in BadenWürttemberg im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab. Insgesamt fanden nur noch 18 Veranstaltungen im Land statt, was ein drastischer Rückgang im Vergleich zu 2006 (damals rund 35 rechtsextremistische Demonstrationen) ist. Allerdings entspricht dieser Wert immer noch dem dritthöchsten seit 2001. Der aktuelle Rückgang ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Demonstrationen mit eindeutigem Neonazi-Bezug im Jahr 2007 auf gerade einmal sechs regelrecht einbrach, nachdem sie sich zwischen 2001 und 2006 von zwei auf rund 25 vervielfacht hatte. Allerdings traten Neonazis zumindest vereinzelt als Mitveranstalter oder Unterstützer bei JNund NPD-Demonstrationen auf, von denen im Berichtsjahr insgesamt acht zu verzeichnen waren. Von diesen wurden wiederum allein sieben von den JN verantwortet. Damit scheint sich auf baden-württembergischer Ebene bei den Neonazi-Demonstrationen eine Entwicklung abzuzeichnen, die auf Bundesebene offenbar bereits 2006 eingesetzt hat: Auch bundesweit stieg die Zahl der Neonazidemonstrationen zwischen 2001 und 2005 von 61218 auf 145219, um allerdings bereits 2006 wieder abzufallen (126)220 und sich 2007 im Vergleich zum Vorjahr sogar fast zu halbieren (66). Die Entwicklung der entsprechenden NPD-Veranstaltungen beschreibt eine deutlich andere Kurve: Deren Anzahl stieg zwischen 2004 und 2006 von circa 40221 auf rund 217 Hierbei werden unter Demonstrationen angemeldete wie unangemeldete Kundgebungen und Aufzüge, aber auch Eilund Spontanversammlungen verstanden. Letztere machen mit ihrem in der Regel sehr kleinen Teilnehmerkreis (meist im unteren zweistelligen Bereich) einen erheblichen Anteil der rechtsextremistischen Demonstrationen aus. 218 Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2002, Berlin 2003, S. 47. 219 Dass. (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2005, Berlin 2006, S. 69. 220 Dass. (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2006, Berlin 2007, S. 61. 221 Dass. (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2004, Berlin 2005, S. 76. 141 70222 an, stagnierte 2007 aber bei circa 70, womit sich bundesweit Neonaziund NPD-Demonstrationen zahlenmäßig ungefähr die Waage hielten. Gründe für Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass das rechtsextremistische und den Rückgang insbesondere das neonazistische Demonstrationsaufkommen im Vergleich zu 2006 drastisch rückläufig war: Zunächst ermöglichte die Neufassung des SS 130 StGB im Jahr 2007 wie schon 2005 und 2006 das Verbot eines zentralen "Rudolf-HeßGedenkmarsches" im bayerischen Wunsiedel. Von den daraufhin durchgeführten dezentralen Ersatzveranstaltungen mit Heß-Bezug war Baden-Württemberg anders als 2006 (damals zwei Ersatzveranstaltungen im Land) nur in einem Fall betroffen, wie beschrieben am 18. August in Friedrichshafen. Demonstrationen gegen den SS 130 StGB allgemein, wie sie noch im Januar 2006 bundesweit und in zwei Fällen auch in Baden-Württemberg stattgefunden hatten, unterblieben 2007 im Land ganz. Generell ist in den letzten Jahren eine zunehmende Tendenz bei Versammlungsbehörden festzustellen, rechtsextremistischen Veranstaltungen restriktiv zu begegnen, zum Beispiel diese nur mit Auflagen zu genehmigen oder ganz zu untersagen. Doch hatten Versammlungsverbote in der Vergangenheit vor Gericht nicht immer Bestand und zuletzt wiederholt zur Folge, dass spontan Ersatzveranstaltungen durchgeführt wurden - zum Teil auch mehrere anlässlich eines Verbots -, so dass die Wirkung solcher Verbotsmaßnahmen auf die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Demonstrationen ambivalent ist und nicht endgültig beurteilt werden kann. Rechtsextremistische Demonstrationsaktivitäten hängen oftmals vom Aktionismus einzelner Aktivisten ab. So war in den letzten Jahren (auch 2006) eine ganze Reihe der in Baden-Württemberg zu verzeichnenden rechtsextremistischen Demonstrationen auf die Initiative eines einzelnen, im Land ansässigen Neonazis und der von ihm repräsentierten Organisationen zurückzuführen. Ausgerechnet dieser Neonazi drosselte jedoch seit Herbst 2006 seine Szeneaktivitäten sehr weitgehend, sagte sogar drei für Oktober beziehungsweise Dezember 2006 bereits angemeldete Demonstrationen in Schwäbisch Hall, Crailsheim und Heilbronn wieder ab und trat 2007 kein einziges Mal als Demonstrationsanmelder in Erscheinung. 222 Dass. (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2006, Berlin 2007, S. 88. 142 Rechtsextremismus Die im Jahr 2006 gestartete, laut Unterstützerliste vorwiegend von Neonazis, NPDund JNUnterorganisationen (unter anderem vom neonazistischen "Aktionsbüro Rhein-Neckar" und vom baden-württembergischen JN-Landesverband) getragene223 bundesweite Antikapitalismuskampagne fand 2007 in BadenWürttemberg keine Fortsetzung, zumindest nicht in Form von öffentlichen Demonstrationen. Auch aus Anlass des 1. Mai 2007 kam es anders als 2006, als erstmals seit vier Jahren in Baden-Württemberg wieder zwei neonazistische Demonstrationen am "Tag der Arbeit" stattgefunden hatten, zu keinen Kundgebungen von rechtsextremistischer Seite im Land. Da im Gegensatz zu 2006, als die letzten baden-württembergischen Landtagswahlen abgehalten worden waren, im Jahr 2007 kein Wahlkampf im Land zu bestreiten war, fielen auch keine rechtsextremistischen Wahlkampfveranstaltungen an, die im Vorjahr erheblich zum rechtsextremistischen Demonstrationsaufkommen beigetragen hatten. Nicht zuletzt ist das rechtsextremistische Demonstrationswesen innerhalb der rechtsextremistischen Szene selbst - gerade auch in den letzten Jahren - unter verschiedenen Aspekten in die Kritik geraten, was zu den jüngsten Rückgängen bei den Demonstrationszahlen in Bund wie Land beigetragen haben dürfte: Die Entwicklung der letzten Jahren lässt sich in folgender Formel zusammenfassen: Die Zahl der rechtsextremistischen Demonstrationen stieg, die der durchschnittlichen Teilnehmer sank. Mittlerweile sind rechtsextremistische Demonstrationen, Aufzüge etc. mit Teilnehmerzahlen im nur zweistelligen Bereich ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen. So überschritten sechs der 18 im Jahr 2007 in Baden-Württemberg registrierten rechtsextremistischen Demonstrationen eine Teilnehmerzahl von gerade einmal rund 30 nicht oder kaum, während die teilnehmerstärkste rechtsextremistische Demonstration des Jahres am 18. August in Friedrichshafen auch nur etwa 250 Personen auf die Straße zu bringen vermochte. Derartig schwach frequentierte Demonstrationen können leicht zum Beleg der eigenen Schwäche missraten, zumal wenn sich zu Gegendemonstrationen Tausende von Teilnehmern einfinden. So 223 Homepage der rechtsextremistischen Antikapitalismus-Kampagne vom 12. November 2007. 143 erschienen zu der vom baden-württembergische JN-Vorsitzenden Lars GOLD für den 21. Juli 2007 angemeldeten Demonstration unter dem Motto "Keine Freiräume für linksextreme Gewalttäter - Nationale Freiräume erkämpfen!" in Tübingen zwar circa 230 Teilnehmer. Allerdings nahmen gleichzeitig an diversen Gegenveranstaltungen in Tübingen rund 10.000 Personen teil. Diese eklatanten Missverhältnisse werden auch von manchen Szeneangehörigen mittlerweile aufmerksam zur Kenntnis genommen und münden in Forderungen nach weniger, aber thematisch zielgerichteteren Demonstrationen bei gleichzeitig effektiverer Mobilisierung. Selbst die eben genannten, letztlich geringen Teilnehmerzahlen an rechtsextremistischen Demonstrationen können oft nur dann erreicht werden, wenn die Veranstalter - so es sich nicht schon um Neonazis oder rechtsextremistische Skinheads handelt -, eventuell vorhandene Berührungsängste fallen lassen und Skinheads, Neonazis und "Autonome Nationalisten"224 als Mobilisierungspotenzial auf ihren Veranstaltungen zumindest dulden. szeneinterne Genau diese Toleranz aber ruft immer wieder szeneinterne KriKritik tiker auf den Plan: Sie fürchten, dass das subkulturell-martialische Erscheinungsbild von Skinheads und "Autonomen Nationalisten" oder das klischeehafte Auftreten mancher Neonazis negative Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der jeweiligen Demonstration, der veranstaltenden Organisationen und damit der gesamten rechtsextremistischen Szene in Öffentlichkeit und Medien haben könnten. Weil aber Organisationen wie die NPD seit Jahren bestrebt sind, in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorzudringen, versuchen zumindest ihre Vordenker, jedes äußerliche "Bürgerschreck-Image" zu vermeiden. Dieses Bemühen kann jedoch durch den abschreckenden visuellen Eindruck einer von Skinheads, Neonazis beziehungsweise "Autonomen Nationalisten" dominierten, eventuell in Gewalttätigkeiten ausartenden, Demonstration schnell und gründlich konterkariert werden. Diese Kritikpunkte wurden in der Februar-Ausgabe 2007 der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) sogar von einem Autor aufgegriffen - wenn auch nicht alle uneingeschränkt geteilt -, der ansonsten die vermeintliche Notwendigkeit rechtsextremistischer Demonstrationen entschieden bejahte: 224 Zu den "Autonomen Nationalisten" siehe Kap. D Ziff. 3.4. 144 Rechtsextremismus "Seit Jahren wird innerhalb des gesamten nationalen Lagers über das Für und Wider von öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen gesprochen und teils heftig diskutiert. (...) Größter Kritikpunkt seit Jahren ist das äußere Erscheinungsbild, wozu angemerkt werden muss: Es ist noch nicht perfekt, zumal hie und da noch gewisse 'Kostümfetischisten' anzutreffen sind, hat sich aber seit dem Jahr 2000 stetig verbessert. Bomberjacken und Springerstiefel gehören der Vergangenheit an und gelten mittlerweile in der 'Szene' als nicht mehr 'zeitgemäß'. (...) Geteilt werden vom Verfasser die Kritik an der zu hohen Zahl von Demonstrationen und -anmeldungen, zudem, wenn dies ohne jeden Kampagnen-Hintergrund geschieht. Anmelder entsprechender Veranstaltungen sind gefordert, für eine solide Vorund Nachbereitung zu sorgen, das heißt, zumindest Teile unseres Volkes durch Flugblätter, Infotische, Kundgebungen und Mahnwachen über das Motto des jeweiligen Aufzugs umfangreich zu unterrichten. Ziel sollte es auch sein, unsere Volksgeschwister durch ein zündendes Motto zu berühren. Die Anweisung der NPD-Führung an ihre Verbände, nicht ohne Kampagne wahllos Versammlungen anzumelden, ist dabei richtungsweisend und sollte künftig von jedem beherzigt werden. Da die Teilnehmerzahl auf den vielen regionalen Demos als zu gering (...) beziehungsweise unbefriedigend angesehen werden muss, ist es sinnvoller, über das Jahr gesehen weniger Veranstaltungen anzumelden, für diese jedoch um so intensiver zu mobilisieren. Eine höhere Zahl Nationalgesinnter auf regionalen Veranstaltungen hätte folgende Vorteile: Die Berichterstattung in den Medien liest sich angenehmer; die eigenen Reihen sind wesentlich motivierter, die Mobilisierungsfähigkeit nimmt zu. Man kann zudem wesentlich mehr Druck ausüben, wenn Staat und Antifa gemeinsam versuchen, das Versammlungsrecht zu brechen; Angriffe gewaltbereiter Linksextremisten können besser abgewehrt werden." 225 225 DS Nr. 02/07 vom Februar 2007, Artikel "Kampf um die Straße ist Ehrensache - Zur Diskussion um den Stellenwert der Demonstration", S. 11; Übernahme wie im Original. 145 Der drastische Rückgang rechtsextremistischer Demonstrationen in BadenWürttemberg von 2006 auf 2007 darf jedoch nicht zu der verfrühten, optimistischen Annahme verführen, diese Momentaufnahme sei bereits Ausdruck einer grundsätzlichen Trendumkehr. Öffentliche Demonstrationen bleibende behalten - das wird auch in der Szene selber immer wieder betont - weiterBedeutung hin ihre Bedeutung unter den Aktionsund Agitationsformen des deutvon Demos schen Rechtsextremismus, beispielsweise im Zuge des "Kampfes um die Straße" im Rahmen des NPD-"Vier-Säulen-Konzeptes" 226. Ein zentrales, schon länger und wohl auch in Zukunft gültiges Motiv, das Rechtsextremisten, insbesondere Neonazis, aber auch NPD-Aktivisten bei ihrer Demonstrationstätigkeit leitet, besteht darin, rechtsextremistische und neonazistische Präsenz auf der Straße zu zeigen. Vor dem Hintergrund der eigenen gesamtgesellschaftlichen Isolation und einer äußerst negativen Medienberichterstattung über den Rechtsextremismus beziehungsweise Neonazismus, erscheint dieser Demonstrationsaktionismus rechtsextremistischen Aktivisten offensichtlich als die beste Möglichkeit, die Szene und ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen und Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem Sinne heißt es in dem oben bereits zitierten DS-Artikel von Februar 2007: "Noch immer gibt es konservative, aber auch revolutionäre Kräfte, die leider nicht begriffen haben oder begreifen wollen, dass wir die Schweigespirale der gleichgeschalteten Medien nur durch 'Provokationen' durchbrechen können. Die Demonstration bleibt dabei die geeignete Aktionsform. Um überhaupt erst den 'Kampf um die Köpfe' der Deutschen führen zu können, ist es wichtig, im Bewusstsein des Volkes fest verankert zu sein. Wenn wir durch die Medien-Blockade erst einmal (...) in Vergessenheit geraten sind (...), ist der Kampf um Hirne und Herzen der deutschen Restbevölkerung fast aussichtslos. (...) Wir haben also die Wahl: Entweder Demonstrations-Verzicht, um ja keine NegativSchlagzeilen in Kauf zu nehmen oder aber das Recht auf Versammlungsfreiheit bewusst nutzen, um weiterhin in aller Munde zu bleiben." 227 Neonazis versuchen im Zusammenhang mit ihren Demonstrationsaktivitäten, ihr trotz steigender Zahlen immer noch relativ geringes Personenpo226 Zum "Vier-Säulen-Konzept" der NPD siehe S. 162f. 227 DS Nr. 02/07 vom Februar 2007, Artikel "Kampf um die Straße ist Ehrensache - Zur Diskussion um den Stellenwert der Demonstration", S. 11; Übernahme wie im Original. 146 Rechtsextremismus tenzial (Bund 2007: circa 4.400, 2006: circa 4.200, Land 2007: circa 340, 2006: circa 320) dadurch aufzufüllen, dass sie sich der rechtsextremistischen Skinheadszene als Mobilisierungspotenzial bedienen, wodurch die bereits seit Jahren festzustellenden Überschneidungen zwischen diesen beiden rechtsextremistischen Teilszenen partiell zu erklären sind. 3.4 "Autonome Nationalisten" - Eine militante Randerscheinung mit Zulauf Seit Ende 2003 treten im Bundesgebiet bei rechtsextremistischen Demonstrationen immer wieder Personengruppen auf, die sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten vom gewohnten Auftreten der NeonaziSzene bewusst abheben. Spätestens seit der ersten Jahreshälfte 2004 erlangten diese Gruppen unter der seither häufig verwendeten Eigenbezeichnung "Autonome Nationalisten" bundesweite Bekanntheit. Dabei stellt der Begriff "Autonome Nationalisten" keine Bezeichnung für eine bestimmte Organisation dar, sondern wird als Oberbegriff für mehrere, meist regional organisierte Gruppierungen innerhalb der Neonazi-Szene benutzt, die durch den Zusatz der Stadt oder der Region (zum Beispiel "Autonome Nationalisten Stuttgart") unterscheidbar werden. Seit Mitte des Jahres 2005 treten "Autonome Nationalisten" auch in Baden-Württemberg als Anmelder oder Veranstalter von Demonstrationen in Erscheinung, zuletzt am 1. Dezember 2007 in Ettlingen. Zu dieser rechtsextremistischen Demonstration unter dem Motto "Unser Streben gilt der Freiheit, der Freiheit aller Völker!" hatten die "Freien Strukturen Karlsruhe" aufgerufen, hinter denen sich "Autonome Nationalisten" verbergen. Gegen das von der Stadt Ettlingen verfügte Verbot war der Anmelder dann jedoch nicht vorgegangen, so dass die Demonstration nicht stattfand. Äußeres Erscheinungsbild Die Unterschiede der "Autonomen Nationalisten" zu den übrigen Neonazis bestehen vor allem in Äußerlichkeiten. Gerade aber diese rein äußerlichen Unterschiede bergen nicht nur gegenüber Linksextremisten und der demokratischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch gegenüber weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene ein erhebliches Provokationsund Konfliktpotenzial. 147 Das äußere Erscheinungsbild der "Autonomen Nationalisten" ist in erster Linie durch eine Übernahme des Kleidungsstils der linksextremistischen autonomen Szene gekennzeichnet. Bei Demonstrationen treten sie in einheitlicher schwarzer Kleidung auf, tragen Baseballkappen oder Kapuzenpullover, Sonnenbrillen und gelegentlich auch so genannte Palästinensertücher, letztlich also eine Bekleidung, welche nicht nur ein geschlossenes Auftreten in einem "Schwarzen Block" ermöglicht, sondern auch der Vermummung dienen kann. Darüber hinaus sehen "Autonome Nationalisten" in ihrer Abkehr vom typischen Neonazi-Outfit noch einen weiteren Vorteil: Diese Kleidung dient ihnen offensichtlich auch als Verkleidung, in der sie von der Antifa und von Sicherheitskräften nicht mehr ohne weiteres als Neonazis erkannt werden können. "Autonome Nationalisten" imitieren linksextremistische Autonome auch terminologisch-sprachlich und stilistisch. So sind Anglizismen (zum Beispiel "Good Night, Left Side"), die von vielen anderen Rechtsextremisten teils seit Jahrzehnten als "undeutsch" vehement abgelehnt werden, auf den Transparenten und in sonstigen Propagandamedien "Autonomer Nationalisten" ein gängiges Stilmittel. Auch verbreiten "Autonome Nationalisten" antikapitalistische und revolutionäre Parolen (zum Beispiel "Revolution - Nicht mehr/weniger! Autonome Nationalisten" 228), die in ihrer Formulierungsweise eher an andere politische Lager erinnern. Selbst bei der graphischen Gestaltung von Flyern und Transparenten orientieren sich "Autonome Nationalisten" häufig an "linken" Vorbildern und Symbolen, Neonazistischer Aufkleber bedienen sich zum Beispiel der Graffiti-Ästhetik. Militanz Verlautbarungen "Autonomer Nationalisten" ist häufig eine ostentative Bereitschaft zur Militanz zu entnehmen, wobei einige Gruppierungen sich unter Hinweis auf angebliche Repressionen von staatlicher Seite oder aus den Reihen der Antifa auf ein vermeintliches Notwehrrecht berufen. Auch hier lehnen sie sich eng an die linksextremistischen Autonomen an. Ihre Gewaltbereitschaft belässt es nicht nur bei verbalen Bekundungen, sondern richtet sich insbesondere bei rechtsextremistischen Demonstrationen gegen Polizeibeamte und Gegendemonstranten, zumal wenn es sich bei letzteren um gewaltbereite Linksextremisten handelt. In dieser Frage stehen die "Autonomen Nationalisten" in Opposition nicht nur zu rechtsextremistischen Parteien, sondern auch zu den meisten anderen Neonazis, die mehr228 Foto eines Demonstrationstransparentes "Autonomer Nationalisten" auf einer rechtsextremistischen Homepage vom 14. November 2007. 148 Rechtsextremismus heitlich - und sei es aus rein taktischen Erwägungen - den Ordnungsanspruch und das Gewaltmonopol des Staates anerkennen und im öffentlichen Raum auf ein gesetzeskonformes Auftreten achten. Ideologische Ausrichtung Trotz ihres an "linken" bis linksextremistischen Vorbildern orientierten äußeren Erscheinungsbildes handelt es sich bei "Autonomen Nationalisten" ohne Einschränkung um Rechtsextremisten, konkret um Neonazis. Allerdings sind bisher nur sehr wenige grundsätzliche theoretische Abhandlungen aus ihrem Kreis bekannt geworden. Dort, wo das doch der Fall ist, äußern sie neben populistischen Phrasen klassische rechtsextremistische oder neonazistische Positionen. So sind zum Beispiel eine fundamentale, ausländerfeindlich grundierte Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft, die Absage an die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, Geschichtsrevisionismus, selbst Antikapitalismus Positionen, die in rechtsextremistischen und neonazistischen Kreisen weder neu noch originell sind, auch wenn sie von "Autonomen Nationalisten" teils sehr drastisch formuliert und mit "linker" bis linksextremistischer Terminologie garniert werden: "Wir verbrüdern uns mit allen Völkern, die sich den Weltherrschaftsplänen der Kapitalisten widersetzen, weil sie ihr asoziales Scheiß-System nicht ertragen wollen. Wir haben keine Lust mehr, in unserem eigenen Land herumgeschubst zu werden und zu ertragen, wie 'Multikulti' hier gefeiert wird, während die deutsche Jugend keine Perspektiven mehr findet. Wir haben keine Lust, die Schuld für Verbrechen zu tragen, die wir nicht begangen haben und ewig nur den Sündenbock der internationalen Politik zu spielen! Kurz: Wir sind mit diesem asozialen, gemeinschaftsfeindlichen und antideutschen System nicht mehr einverstanden. Wir hassen es, weil es unsere Kultur, unsere Zukunft und unsere soziale Sicherheit zerstört und glauben nicht, dass es sich jemals bessern wird. Wir wollen den Kapitalismus nicht verbessern, sondern ihn abschaffen und den Grundstein für eine neue, nationale und sozial gerechte Gesellschaft schaffen!" 229 229 Homepage der "Autonomen Nationalisten Nord-West" vom 14. November 2007; Übernahme (einschließlich des Fettdrucks) wie im Original. 149 "Autonome Nationalisten" - szeneintern umstritten und quantitativ bislang marginal Folgerichtig ist es weniger ideologischen Differenzen, sondern dem äußeren Erscheinungsbild der "Autonomen Nationalisten" und ihrem Hang zur Militanz geschuldet, dass von anderen Rechtsextremisten (auch Neonazis!) teils heftige Kritik an ihnen geübt wird. Besonderes Aufsehen erregte eine offiKritik von zielle "Erklärung des NPD-Parteipräsidiums" mit dem Titel "Unsere Fahnen Seiten der NPD sind schwarz - unsere Blöcke nicht!" vom 15. August 2007, die von der Partei sowohl über das Internet230 als auch über die Parteizeitung "Deutsche Stimme" veröffentlicht wurde. In ihr wurden diese Kritikpunkte am "Schwarzen Block" (und damit an den "Autonomen Nationalisten") zusammengefasst: "Als Unterzeichner dieses Aufrufs sprechen wir uns in aller Deutlichkeit gegen derartige anarchistische Erscheinungsformen aus, da aus diesem Verhalten keine Erneuerung sichtbar ist, sondern nur die Gefahr der Provokation als Selbstzweck im Sinne eines Systems, das ständig danach sucht, nationalen Demonstrationsveranstaltern das Leben schwer zu machen. Nach der Devise 'Qualität statt Quantität' stellen wir fest, dass wir - auch auf die Gefahr künftig geringerer Teilnehmerzahlen hin - nicht bereit sind, uns diesem politischen Zeitgeistphänomen anzupassen. (...) um glaubwürdig zu agieren, müssen wir zunächst einmal selber überzeugend wirken. Das können wir aber nicht, wenn wir die Optik, Sprache (Anglizismen), Parolen und Inhalte des Gegners kopieren. (...) Das auf außenstehende Betrachter beängstigende und damit abstoßende Äußere ist nach unserer Auffassung kein Ausdruck revolutionären Handelns, denn revolutionär ist nicht der, der dieses Wort immer gern im Munde führt, fast schon bewundernd das Auftreten der antifaschistischen Steigbügelhalter des Systems nachzuahmen versucht und damit selber zum Teil des Systems wird (...). Der 'Schwarze Block' erweckt bei außenstehenden Beobachtern den Eindruck grundsätzlicher Gewaltbereitschaft. (...) wir können die Menschen nicht von unserem politischen Wol230 So auch auf der Homepage des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 15. November 2007. 150 Rechtsextremismus len überzeugen, wenn unsere Demonstrationsteilnehmer mit gewalttätigen Chaoten beim G8-Gipfel gleichgesetzt werden. Wir können auch schlecht linke Krawallmacher anprangern und zugleich mit einem 'Schwarzen Block' auftreten, der nicht nur so aussieht wie sein linkes Gegenstück, sondern diesem auch in seinem Gebaren in nichts nachsteht. Vertreter des 'Schwarzen Blocks' sind für die breite Masse unseres Volkes keine Sympathieträger und können auch nicht glaubhaft mit ihrem Aussehen und Verhalten eine neue Ordnung vertreten, die deutsche Werte einfordert. (...) Wer eine Demonstration mit einem Faschingsball verwechselt, soll ihr lieber fernbleiben. (...) Wir wenden uns (...) nicht grundsätzlich gegen schwarze Kleidung, Sonnenbrille und Mütze - zumindest solange, wie eben nicht Hunderte gleichgekleidete Teilnehmer mit Anglizismen gespickten Transparenten einen gemeinsamen Block bilden und noch 'geistreiche' Sprüche absondern, die (...) auf keine politische Demonstration gehören. (...) Wir müssen den Kreislauf der Stigmatisierung durchbrechen und dürfen nicht länger zulassen, dass Demonstrationen zur Eigendarstellung einzelner Teilnehmer beziehungsweise Gruppen missbraucht werden (...)! Hoch die schwarzen Fahnen der Wut, nieder die schwarzen Kappen der Vermummung!" 231 In einer zweiten "Erklärung" vom 10. September 2007, einer Reaktion auf teils wütende Reaktionen von Seiten "Autonomer Nationalisten" auf die erste, hielt das NPD-Präsidium seine Kritik ausdrücklich aufrecht und konkretisierte sie ("Entgegen allen Unterstellungen richtet sich die [ursprüngliche] Erklärung [vom 15. August] nicht gegen politische Inhalte, sondern gegen eine Erscheinungsbeziehungsweise Aktionsform!"), betonte aber darüber hinaus das Festhalten am "'Volksfront'-Gedanken" gegenüber den übrigen Neonazis, am "Schulterschluss mit allen parteiunabhängigen Nationalisten, die ihrerseits zu einer konstruktiv-partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der NPD bereit" seien.232 Doch schon kurz darauf schlug zumindest der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT wieder versöhnlichere Töne 231 DS Nr. 09/07 vom September 2007, Artikel "Unsere Fahnen sind schwarz - unsere Blöcke nicht! Erklärung des NPD-Parteipräsidiums", S. 13; Übernahme wie im Original. 232 Text "Erklärung: Unsere Fahnen sind schwarz - unsere Blöcke nicht" auf der Homepage der BundesNPD vom 16. November 2007. 151 in Richtung der so heftig Kritisierten an, obwohl die in der Tat unbestreitbaren, durch das Auftreten und die Militanz des autonom-nationalistischen "Schwarzen Blocks" verursachten Folgen für das Image des gesamten deutschen Rechtsextremismus und damit auch der NPD fortbestehen. Trotz des erheblichen Aufsehens, für das die "Autonomen Nationalisten" mit ihren "Schwarzen Blöcken" nicht erst seit 2007 sorgen, handelt es sich zumindest personell immer noch um ein eher marginales Phänomen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spricht in seiner sehr informativen, von der Homepage des BfV herunterladbaren Kurzbroschüre zu diesem "militante RandThema mit Stand vom Mai 2007 von einer "militanten Randerscheinung".233 erscheinung" Allerdings hat die bundesweite Anzahl der "Autonomen Nationalisten" im Laufe des Jahres 2007 deutlich angezogen: Bezifferte das BfV ihre Zahl im Mai 2007 auf gerade einmal rund 150 bis 200234, so muss für Ende 2007 von circa 440 ausgegangen werden. Davon entfallen auf Baden-Württemberg circa 70. Aber auch nach diesen Zuwächsen stellen "Autonome Nationalisten" nur ungefähr ein Zehntel der deutschen und rund ein Fünftel der baden-württembergischen Neonazis und bezogen auf das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial in Bund und Land nur gut ein beziehungsweise gut zwei Prozent der deutschen beziehungsweise baden-württembergischen Rechtsextremisten. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass "Autonome Nationalisten" über Unterstützer und damit über ein Mobilisierungspotenzial bei ihren Demonstrationen verfügen, das über ihr immer noch relativ geringes Personenpotenzial deutlich hinausgeht. 4. Rechtsextremistische Parteien 4.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 440 Baden-Württemberg (2006: ca. 400) ca. 7.200 Bund (2006: ca. 7.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Dass die NPD sich in den letzten Jahren zur auffälligsten rechtsextremistischen Partei in Deutschland entwickeln konnte und mittlerweile sogar als 233 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): "Autonome Nationalisten" - Eine militante Randerscheinung, Köln 2007. 234 Ebd. S. 2. 152 Rechtsextremismus eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste rechtsextremistische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland einzustufen ist, lässt sich nur zum Teil mit ihren Mitgliederzuwächsen und vereinzelten Wahlerfolgen235 erklären. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Partei seit Jahren relativ erfolgreich versucht, durch eine gezielte Bündnispolitik sowie durch personelle Verzahnungen einen spürbaren Einfluss auch auf weite Teile der übrigen rechtsextremistischen Szene auszuüben. In den letzten Jahren hat sich dadurch sogar eine schrittweise Ausrichtung oder Konzentration größerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD herauskristallisiert. Das BfV spricht in diesem Zusammenhang von der NPD als dem "Gravitationsfeld" im deutschen Rechtsextremismus.236 Der baden-württembergische NPD-Landesverband spielt in diesem Entwicklungsprozess der Gesamtpartei anders als manche anderen, zum Beispiel mitgliederstärkeren, aktiveren oder bei Wahlen erfolgreicheren Landesverbände zwar keine Vorreiterrolle. Dennoch sind diese Entwicklungen zumindest zum Teil auch an seinem Beispiel nachvollziehbar. Die herausgehobene Position der NPD innerhalb der rechtsextremistischen Organisationslandschaft in Bund wie Land lässt sich unter anderem an folgenden Anhaltspunkten festmachen: Die NPD hat bereits seit Jahren eine im Vergleich zu anderen rechtsextremistischen Parteien völlig untypische, weil ansteigende steigende MitMitgliederentwicklung zu verzeichnen und ist seit dem Jahr 2007 gliederzahlen nunmehr mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Diese Entwicklung verläuft in Bund und Land weitgehend kontinuierlich seit der Einstellung des gegen die NPD angestrengten Parteiverbotsverfahrens (18. März 2003). Allerdings hat die NPD seit 2003 auf Bundesebene prozentual insgesamt sehr viel deutlichere Mitgliederzuwächse zu verbuchen als in Baden-Württem235 Auch wenn der Einzug der NPD in den sächsischen (mit 9,2% am 19. September 2004) und in den mecklenburg-vorpommerschen Landtag (mit 7,3% am 17. September 2006) große Erfolge für die Partei bedeuteten, die sie in dieser Form seit 1968 nicht mehr hatte feiern können, darf nicht übersehen werden, dass die Partei seit September 2004 bei sieben weiteren Landtagswahlen und einer Bundestagswahl entweder zugunsten der DVU gar nicht erst antrat oder sehr deutlich an der 5%-Hürde scheiterte. Das bedeutet für die Partei zudem, dass sie nach wie vor - anders, als erklärtermaßen von ihr angestrebt - über kein parlamentarisches Standbein in den westdeutschen Landtagen verfügt. 236 Zu diesem Thema verbreitet das Bundesamt für Verfassungsschutz eine kurze, äußerst informative Broschüre (Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) als Gravitationsfeld im Rechtsextremismus. Stand: Dezember 2006) über seine Internetseite www.verfassungsschutz.de. 153 berg. Im Jahr 2007 stieg die Zahl der in der NPD Organisierten auf circa 440 im Land (2006: circa 400) und circa 7.200 im Bund (2006: circa 7.000). Damit kann die Partei seit dem Jahr 2003 wieder an die positive Mitgliederentwicklung anknüpfen, die sie in den Jahren 1996 bis 2001 schon einmal auf Bundesebene genommen hatte. Als 1996 ihr jetziger Bundesvorsitzender Udo VOIGT sein Amt antrat, hatte die Bundes-NPD mit gerade noch circa 3.500 Mitgliedern ihren bisherigen personellen Tiefpunkt erreicht. Seither konnte die NPD ihre Mitgliederzahl also mehr als verdoppeln, während die baden-württembergische Landes-NPD ihren Mitgliederstand von 1996 (circa 440) erst im Jahr 2007 wieder erreicht hat. Im Gegensatz dazu musste die DVU in demselben Zeitraum dramatische Mitgliederverluste hinnehmen. Sie zählte auf Bundesebene 2007 (circa 7.000) nicht einmal mehr halb so viele Parteiangehörige wie 1996 (circa 15.000), auf Landesebene sogar nur noch gut ein Drittel der Mitgliederzahl von 1996 (1996: circa 1.900; 2007: circa 700). Der quantitative Anstieg der NPD-Mitgliederzahlen in den letzten Jahren wird in seiner Bedeutung noch durch den Umstand verstärkt, dass die Partei an ihrer Bundesspitze, aber auch auf mancher Landesund Kommunalebene über aktionistische, kampagnefähige Kader verfügt, die zudem häufig ideologisch geschult und gefestigt sind. Auch diese Faktoren unterscheiden die NPD von der DVU öffentliche und verleihen der Partei eine öffentliche Präsenz (zum Beispiel aufPräsenz grund von Demonstrationstätigkeit oder im Rahmen der so genannten Wortergreifungsstrategie237), die von keiner anderen rechtextremistischen Einzelorganisation in diesem Ausmaß erreicht wird. Die NPD, die in Teilen nicht zuletzt selbst als neonazistisch ausgerichtet bezeichnet werden muss, bemüht sich bereits seit Jahren und nicht ohne Erfolg um einen Schulterschluss mit der bislang mehr oder minder parteiunabhängigen Neonaziszene, was in der "Volksfront" - von ihr seit dem Jahr 2004 betriebenen "Volksfront"-Strategie zum Strategie Ausdruck kommt. Dabei nimmt sie Neonazis nicht nur als einfache Mitglieder in ihre Reihen auf, sondern wählt auch überregional bis bundesweit bekannte Neonazi-Kader in hohe Parteifunktionen. So waren 2007 mit Thorsten HEISE, Thomas WULFF und Jürgen RIEGER drei bundesweit bekannte Neonazis Mitglieder im NPDBundesvorstand.238 Die NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) wählte auf ihrem Bundeskongress am 6. Oktober 237 Siehe dazu Kap. D Ziff. 8. 238 Homepage der Bundes-NPD vom 19. Oktober 2007. 154 Rechtsextremismus 2007 in Sachsen-Anhalt den ebenfalls relativ prominenten Neonazi Norman BORDIN, der bereits seit 2006 als JN-Landesvorsitzender in Bayern fungierte, zu einem ihrer zwei stellvertretenden Bundesvorsitzenden.239 An der Spitze der baden-württembergischen NPD ergibt sich seit dem Landesparteitag am 22. April 2007 in Ehingen eine ähnliche personelle Konstellation: Seither ist der Neonazi Andreas THIERRY aus Rosenberg im Ostalbkreis einer von drei stellvertretenden baden-württembergischen NPD-Landesvorsitzenden. THIERRY taucht bereits seit 2006 im Impressum der neonazistischen, vom in Rosenberg-Hohenberg im Ostalbkreis ansässigen "Verlagsund Medienhauses Hohenberg OHG" herausgegebenen Vierteljahresschrift "Volk in Bewegung - Vierteljahresschrift für eine neue Ordnung!" (ViB), in der er bereits seit Jahren Artikel publiziert, als "Verantwortlicher Schriftleiter" auf.240 Diese personelle Verzahnung zwischen NPD und Neonaziszene verbessert im Zusammenspiel mit den beiderseitigen ideologischen Schnittmengen das früher immer wieder angespannte gegenseitige Verhältnis241, was wiederum das Ansehen und damit die Einflussmöglichkeiten der Partei unter den Neonazis erhöht. Die NPD strebt auch nach einem Schulterschluss mit der rechtsextremistischen Skinheadszene. Zu diesem Zweck veranstaltet sie zum Beispiel Skinheadkonzerte oder lässt Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen auftreten. Ziel ist dabei, die jugendliche Skinheadszene als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. Doch aufgrund der für Skinheads typischen Unfähigkeit oder Abneigung, sich langfristig in eine festere Organisationsstruktur einbinden zu lassen und dort auch diszipliniert mitzuarbeiten, sind die langfristigen Erfolgsaussichten dieser Annäherungsversuche vorausAnnährung an sichtlich begrenzt. Doch selbst da, wo es der Partei gelingt, Skinhedie Skinheads ads bei sich einzubinden - und sei es nur vorübergehend als Teilnehmer an NPD-Demonstrationen -, bestehen Vorbehalte von Seiten mancher NPD-Vertreter gegenüber den Umworbenen fort: Zum einen sind die britischen und damit nichtdeutschen Ursprünge dieser Subkultur manchen Rechtsextremisten (nicht nur) in der NPD 239 Bericht "37. Bundeskongress der JN", Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 19. Oktober 2007. 240 "Volk in Bewegung" Nr. 1-2007, Impressum, S. 3. 241 Siehe zu den 2007 akut gewordenen Irritationen wegen der Abgrenzungsbemühungen von NPD-Seite gegen neonazistische "Schwarze Blöcke" S. 148-150. 155 immer noch als "undeutsch" suspekt. Zudem fürchten zumindest einige Vertreter der Partei, dass das subkulturell-martialische Erscheinungsbild von Skinheads in der NPD negative Auswirkungen auf das eigene Bild in Öffentlichkeit und Medien und damit auf das Partei-Image haben könnte. Weil die NPD jedoch seit Jahren bestrebt ist, in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorzudringen, versuchen zumindest ihre Vordenker, jedes äußerliche "Bürgerschreck-Image" zu vermeiden. Es hat zuweilen den Anschein, dass die Partei die Skinheads nicht als Skinheads, sondern als mit konventionelleren Ordnungsund Ästhetikvorstellungen halbwegs kompatible junge Rechtsextremisten für sich gewinnen will. Nicht Kritik an zuletzt vor diesem Hintergrund sind NPD-Stimmen einzuordnen, Skinheads die sich wie folgende sehr kritisch mit der rechtsextremistischen Skinheadszene auseinandersetzen: "Schon der Begriff 'Skinhead' zeigt, dass diese Subkultur von ihren Ursprüngen her nichts mit dem deutschen Volk zu tun hat und dennoch aufgrund der starken Medienpräsenz mit nationalem Denken in Deutschland gleichgesetzt wird. (...) Wie würden wir als europäische Nationalisten lachen, wenn sich arabische Freiheitskämpfer als Zeichen des Protests gegen die Besatzung ihres Landes amerikanische Uniformteile für teures Geld kaufen und anziehen würden?! Die Medien behaupten einfach, dass junge Deutsche die ihr Land lieben, sich den Kopf kahl scheren, Bomberjacken und Springerstiefel tragen müssen. Da hauptsächlich junge Männer dazu neigen, ihre Meinung sichtbar zu zeigen, übernehmen sie diese Vorstellungen. Die gesellschaftliche Isolierung wird nicht als Manko, sondern als Selbstbestätigung aufgefasst. Doch dieser Zustand ist nicht von langer Dauer und so ergibt sich eine hohe Fluktuation in der Skinhead-Szene, aber auch in der NPD, die eine Partei der Jugend ist. Ständige PersonenFluktuationen behindern aber den Struktur-Ausbau vor Ort. Da die Medienberichte über Skinheads zurückgegangen sind, wird auch das subkulturelle Spektrum im nationalen Widerstand kleiner und das öffentliche Erscheinungsbild von nationalen Demonstrationen bessert sich zum Glück von Jahr zu Jahr. An dem Skinhead-Beispiel wird deutlich, dass es den politischen Gegnern gelungen ist, eine 156 Rechtsextremismus fremdländische Mode als eine nationale Gesinnung erscheinen zu lassen, um damit den nationalen Widerstand zu isolieren und das Volk verunsichert bei der Stange zu halten." 242 Auch 2007 hielt die seit Jahren zu beobachtende Entwicklung hin zu einer engen personellen Verflechtung der NPD mit anderen rechtsextremistischen Organisationen an. Dies äußert sich nach wie vor nicht zuletzt darin, dass führende NPD-Mitglieder Leitungsfunktionen in solchen Organisationen übernehmen und somit ihrer Partei entsprechende Einflussmöglichkeiten eröffnen. So bekleidet der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER aus Villingen-Schwenningen eine führende Funktion in der rechtsextremistischen "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH) und ist Vorstandsmitglied bei der rechtsextremistischen "Gesellschaft für Freie Publizistik e. V." (GFP). Als GFP-Vorsitzender fungiert Andreas MOLAU, der zudem dem NPD-Bundesvorstand angehört und als NPD-Spitzenkandidat zur niedersächsischen Landtagswahl am 27. Januar 2008 antrat. Karl RICHTER, Leiter des Parlamentarischen Beratungsdienstes der sächsischen NPD-Landtagsfraktion, ist laut jeweiligem Impressum eines von zwei Redaktionsmitgliedern bei der im Tübinger "GRABERT-Verlag" erscheinenden Vierteljahresschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" sowie eines von vier Redaktionsmitgliedern bei dem ältesten rechtsextremistischen Strategieund Theorieorgan in Deutschland, "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte". In beiden Publikationsorganen tritt er auch als Autor in Erscheinung. Außerdem ist er Vorsitzender der nach eigenen Angaben am 30. September 2007 auf dem Münchener Oktoberfest gegründeten rechtsextremistischen Münchener "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA). Oktober 2007 gaben BIA und NPD bekannt, dass die BIA anstatt der NPD 2008 mit RICHTER als Spitzenkandidat zu den Kommunalwahlen in München antreten werden.243 Die NPD-Nähe der BIA wird darüber hinaus unter anderem dadurch dokumentiert, dass sie auf ihrer Internetseite dasselbe Münchener Postfach als Kontaktadresse angibt wie der NPD-Bezirksverband Oberbayern.244 242 DS Nr. 10/07 vom Oktober 2007, Artikel "Abstraktion überwinden! Soziologische und mediale Deutungsversuche des modernen Nationalismus", S. 9; Übernahme wie im Original. 243 Beitrag "Münchener Bürgerinitiative Ausländerstopp auf dem Oktoberfest 2007 gegründet", BIA-Homepage vom 25. Oktober 2007. DS Nr. 09/07 vom September 2007, Artikel "1.000 Unterschriften für München! 'Bürgerinitiative Ausländerstopp' tritt 2008 zur Kommunalwahl an", S. 12. 244 Homepages der BIA und des NPD-Bezirksverbandes Oberbayern vom 25. Oktober 2007. 157 Ideologische Ausrichtung Die NPD ist eine unverhohlen rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei. Zahlreiche Vertreter der Partei - bis hin zu hochrangigen FunkVerfassungstionären - werden nicht müde, ihre fundamentale Ablehnung der westfeindlichkeit lichen Moderne und Wertegemeinschaft im Allgemeinen und der von diesen Werten bestimmten freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland245 im Besonderen in unterschiedlicher Deutlichkeit zu artikulieren und zu propagieren. So wurde in einer offiziellen "Erklärung des NPD-Parteipräsidiums" mit dem Titel "Unsere Fahnen sind schwarz - unsere Blöcke nicht!" vom 15. August 2007 die Zielvorgabe gemacht, dass der "nationale Widerstand", zu dem sich wohlgemerkt auch die NPD selber zählt, "eine wirklich ernstzunehmende Gefahr für das abgewirtschaftete liberalkapitalistische System" werden solle.246 Ebenfalls beispielhaft für diese erklärte Verfassungsfeindlichkeit steht unter anderem der baden-württembergische JN-Landesverband. So endeten Verlautbarungen, die er im Laufe des Jahres 2007 auf seiner Homepage veröffentlichte, wiederholt mit Parolen wie "Das System besiegen heißt: VERÄNDERN - MITGESTALTEN - MITKÄMPFEN" 247 und "UNS werdet Ihr nie überwachen können - Für ein sozialistisches und freies Leben - BRD abschalten!" 248. Die Gründung des JN-"Stützpunktes" Konstanz am 30. Juni 2007 wurde von den JN dahingehend kommentiert, dass "in der Region somit ein weiterer Grundstein gelegt" worden sei, "um dem alten modrigen System weiter entgegenzuwirken." 249 Im Internetaufruf für eine von Neonazis und den baden-württembergischen JN veranstaltete Demonstration in Singen am 20. Oktober 2007 gerann diese fundamentale Ablehnung der bundesdeutschen Verfassungsordnung zu der primitiven Aufforderung "Auf nach Singen - dem System in den Arsch treten!".250 Der JN-Landesverband konnte personell im Jahre 2007 wiederum von circa 60 (2006; 2005: circa 50) auf circa 90 Mitglieder zulegen. Organisatorisch245 Zur Erläuterung der folgenden Zitate: Die bundesdeutsche Verfassungsordnung wird von deutschen Rechtsextremisten in Anlehnung an eine pejorative Bezeichnung der historischen Nationalsozialisten für die Weimarer Republik ("System", "Systemzeit") auch als "das System" bezeichnet. 246 DS Nr. 09/07 vom September 2007, Artikel "Unsere Fahnen sind schwarz - unsere Blöcke nicht! Erklärung des NPD-Parteipräsidiums", S. 13, Übernahme wie im Original. 247 Beitrag "Schulhofaktion im Hohenlohekreis", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2007, Kursiv-, Fettdruck und Fehler wie im Original. 248 Beitrag "Volker Lenz - JN is watching YOU!", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2007, Kursivund Fettdruck wie im Original. 249 Beitrag "Stützpunktgründung in Konstanz", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2007. 250 Demonstrationsaufruf auf einer eigens aus Anlass dieser Demonstration vom JN-Landesverband ins Internet gestellten Homepage vom 9. Oktober 2007. 158 Rechtsextremismus strukturell jedoch zeigte sich zum einen ein leichter Rückgang der Anzahl der vom Landesverband im Internet offiziell ausgewiesenen "Stützpunkte" JNvon zehn im Dezember 2006 auf neun im Oktober 2007.251 Bei genauerer "Stützpunkte" Betrachtung offenbart diese "Stützpunkte"-Architektur zudem eine gewisse Instabilität und Inkontinuität, die sich in häufigen Neugründungen und Auflösungen von "Stützpunkten" niederschlagen: Während die "Stützpunkte" in Esslingen, Ludwigsburg und Pforzheim, die im Dezember 2006 noch bestanden zu haben scheinen, laut Internetseite des JN-Landesverbandes nur zehn Monate später nicht mehr existierten252, waren in Karlsruhe und Konstanz (letztgenannter mit Postfach in Singen) neue "Stützpunkte" entstanden.253 Diese "Stützpunkte"-Fluktuation dürfte trotz der jüngsten JNMitgliederzuwächse mit der immer noch recht dünnen Personaldecke der baden-württembergischen JN zu erklären sein: Bei circa 90 baden-württembergischen JN-Mitgliedern und neun Stützpunkten ist der einzelne "Stützpunkt" im statistischen Durchschnitt nur rund zehn Mitglieder stark, wobei bei dieser Rechnung noch nicht einmal der Tatsache Rechnung getragen wird, dass das JN-"Stützpunkte"-Netz - ähnlich wie die JN-Organisationsstrukturen bundesweit - große Lücken aufweist (zum Beispiel im Ballungsraum Mannheim/Heidelberg oder in Südbaden) und daher einzelne JN-Mitglieder gar keinen Stützpunkt in ihrer erreichbaren Nähe haben dürften. Wenn nun ein schwach besetzter "Stützpunkt" auch nur wenige Mitglieder verliert (beispielsweise durch Austritt aus den JN, Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene oder durch Wegzug) kann das schon die Auflösung des "Stützpunktes" bedeuten, während bereits der Eintritt von wenigen Jugendlichen in die JN zu einer "Stützpunkt"-Neugründung führen kann. Mit seiner entschiedenen Verfassungsfeindlichkeit steht weder der JN-Landesverband Baden-Württemberg innerhalb des JN-Bundesverbandes allein da, noch unterscheiden sich die JN auf Bundesoder Landesebene darin 251 Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 9. Oktober 2007. 252 Der JN-"Stützpunkt" in Ludwigsburg hingegen wurde auf der Homepage des JN-Bundesverbandes noch am 10. Oktober 2007 unter den baden-württembergischen JN-Strukturen aufgeführt. 253 Außerdem wurden auf der baden-württembergischen JN-Homepage mit Stand 9. Oktober 2007 noch Stützpunkte im Bereich Bodensee mit Postfach in Friedrichshafen, in Göppingen mit Postfach in Geislingen, in Heilbronn, im Bereich Ostalb mit Postfach in Schwäbisch Gmünd, in Schwäbisch Hall, Stuttgart und Ulm/Heidenheim aufgelistet. 159 von ihrer Mutterpartei NPD. Die kompromisslos-fanatische Ablehnung der westlichen Moderne und Wertegemeinschaft und somit der bundesdeutschen Verfassungsordnung innerhalb der NPD geht so weit, dass manche Vertreter der Partei auf ihrer Suche nach Gegenentwürfen und vermeintNSlichen "Alternativen" auch vor offen neonazistischer NS-Verherrlichung Verherrlichung nicht zurückschrecken. Das gilt auch für den NPD-Landesverband BadenWürttemberg. So veranstaltete er am 21. Januar 2007 mit nach eigenen Angaben circa 170 Teilnehmern in Stuttgart-Münster eine "Reichsgründungsfeier" aus Anlass des 136. Jahrestages der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches (18. Januar 1871). Obwohl dieses historische Ereignis in keinem direkten Zusammenhang mit der erst über 60 Jahre später errichteten NS-Diktatur steht, nahm die Partei (konkret: ihr Regionalverband Böblingen-Stuttgart-Ludwigsburg) in einem Internetbericht über diese Veranstaltung sehr positiv Stellung zum "Dritten Reich". Die zwölf Jahre der NSHerrschaft zählen für den Autor des Berichts offensichtlich zu den Höhepunkten, das kriegsbedingte Ende des "Dritten Reiches" demzufolge zu den Tiefpunkten der deutschen Geschichte: "In einer einstündigen Gedenkstunde wurde an den immer währenden Reichsgedanken der deutsch-germanischen Stämme erinnert sowie an die Reichsgründung Heinrichs I., der das Deutsche Reich zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erhoben hatte. Durch zahlreiche aufgezwungene Kriege, durch innere Unruhen, durch Verrat und Uneinigkeit konnte Napoleon I. im Jahre 1806 das Herz Europas spalten und zerschlagen. Ein weiterer Sohn des deutschen Volkes, Fürst Otto von Bismarck, konnte als Eiserner Kanzler die meisten deutschen Stämme und Kleinstaaten zu einem starken Bund zusammenschließen, ehe die internationale Hochfinanz dieses 2. Deutsche Reich in einem Bruderkrieg zwar nicht militärisch, sondern politisch-wirtschaftlich abermals zerschlagen konnte. Erst 1933 erhoben sich die Deutschen zu neuer Größe und wurden eine Volksgemeinschaft. Das 3. Reich wurde geboren, jedoch 12 Jahre später durch einen abermals von der Hochfinanz aufgezwungenen Krieg kaputtgebombt." 254 254 Beitrag "Reichsgründungsfeier der NPD in Stuttgart!", Homepage des NPD-Landesverbandes BadenWürttemberg vom 8. Oktober 2007; Übernahme wie im Original. 160 Rechtsextremismus Auch und besonders die NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) erweist sich seit Jahren als Fundgrube für rechtsextremistische bis hin zu neonazistischen Äußerungen, auch wenn sie sich dabei zuweilen diverser, meist jedoch fadenscheiniger Verschleierungstaktiken bedient. So formulierte der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen W. GANSEL in der April-Ausgabe der DS eine Fundamentalabsage an Liberalismus und Demokratie (Originalton GANSEL: "Pseudodemokratie") westlicher Prägung und damit auch der Bundesrepublik Deutschland. Unter der Zwischenüberschrift "Kommen die 1930er wieder?" weitete er diese Absage auch auf die westlichen Demokratien der Zwischenkriegszeit aus und ließ dabei eindeutige Sympathien für antidemokratische "staatsautoritäre Nationalismen" der damaligen Zeit erkennen: "Schon mehren sich die Vergleiche mit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich das liberale Gesellschaftsmodell aus Parlamentarismus, Kapitalismus und Individualismus - alles zusammen der Gegenpol zu wirklicher Volksherrschaft - bereits einmal in einer Weltkrise befand und 'liberal' zum Schimpfwort wurde. Die Strukturfehler dieses Systems zeigten sich den Menschen unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise in kristallener Klarheit: endlose Verhandlungen und ewiges Palaver unfähiger Parlamentarier, auftrumpfende Gruppenegoismen, Selbstaushöhlung jeder Staatlichkeit und Sklerotisierung der Institutionen, während das Volk in wirtschaftlichem Elend und dumpfer Resignation versank. Die Antwort darauf waren staatsautoritäre Nationalismen, die den liberalistischen Saustall - ein Armenhaus für das Volk und ein Selbstbedienungsladen für die Herrschenden - mit eiserner Forke ausmisten wollten. Es galt, zur Krisenbewältigung alle materiellen und ideellen Volkskräfte zusammenzufassen, um eine tragfähige neue Gemeinschaftsordnung zu errichten. (...) Der US-Publizist Farid Zakaria verglich die 'liberale Demokratie' einmal mit einem Stern in einer fernen Galaxie, dessen Licht bei uns noch hell leuchtet, obwohl er schon lange 161 erloschen ist 255. Gibt es ein schöneres Schlusswort?" 256 Welche Strömungen, Organisationen oder welches Regime GANSEL mit der Formulierung "staatsautoritäre Nationalismen" genau meint, bleibt vage. Tatsache ist jedoch, dass es insbesondere auch der deutsche - allerdings viel eher als totalitär denn als autoritär zu bezeichnende - Nationalsozialismus und die NSDAP waren, die in dem von GANSEL angesprochenen historischen Kontext der Weltwirtschaftskrise (zwischen 1929 und Anfang/Mitte der 1930er Jahre) einen rasanten Aufstieg nahmen und schließlich sogar an die Macht gelangen konnten, während einige von den anderen Regimen, die man hinter dem Terminus "staatsautoritäre Nationalismen" vermuten könnte, sich 1929/30 entweder bereits längst an der Macht befanden257 oder aber erst deutlich später dieses Ziel erreichten.258 Mit seinem Schlusssatz verleiht GANSEL seiner den ganzen Text durchziehenden Hoffnung auf einen weltweiten Untergang des Gesellschaftsmodells der westlich-liberalen Demokratie rhetorisch fragend, aber eindeutig Ausdruck. Teilnahme am In ihrer August-Ausgabe 2007 beteiligte sich die DS mit einem ausführ"Heß-Kult" lichen Artikel unter der Überschrift "Mord verjährt nicht - Zum 20. Todestag von Rudolf Heß" in einer Eindeutigkeit, wie sie bei diesem Thema 255 Diesen Satz hat GANSEL offensichtlich fast wörtlich einem Interview der Wochenzeitschrift "Die Zeit" mit dem ehemaligen polnischen Außenminister und heutigen MdEP, Bronislaw Geremek, übernommen, das in der "Zeit" Nr. 4 vom 18. Januar 2007 veröffentlicht wurde. Der Satz ist einer Frage der "Zeit" entnommen. (Interview "'Es geht um das Glück' - Bronislaw Geremek, liberaler Europa-Abgeordneter, mahnt: Demokratie muss sich mehr um die Schwachen sorgen" auf images.zeit.de vom 12. Oktober 2007). 256 DS Nr. 04/07 vom April 2007, Artikel "Abgesänge auf das liberale Gesellschaftsmodell - Die sozialen Verwerfungen der Globalisierung werfen die Systemfrage auf" von Jürgen W. GANSEL, S. 19; Übernahme wie im Original. 257 Wie das Horthy-Regime in Ungarn seit 1919/20 oder der italienische Faschismus seit 1922. 258 Wie die Falangisten, die ihre Herrschaft über Spanien erst nach ihrem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg im Jahr 1939 endgültig etablieren konnten. 162 Rechtsextremismus eigentlich nur für die Neonaziszene im engeren Sinne typisch ist, an dem Märtyrerkult um den früheren Hitler-Stellvertreter und an den Verschwörungstheorien um dessen Tod im Jahr 1987.259 Der Verfasser des Artikels, Dr. Olaf ROSE, gehört seit Ende 2006 dem Parlamentarischen Beratungsdienst der sächsischen NPD-Fraktion an. Dem Hamburger Rechtsanwalt, bundesweit bekannten Neonazi und NPDBundesvorstandsmitglied Jürgen RIEGER räumte die DS im April/Mai 2007 Platz für einen zweiteiligen, insgesamt 20 Punkte umfassenden Grundsatzartikel ein, in dem er dem "Dritten Reich" zumindest punktuell eine Vorbildfunktion für zukünftige politische Ausgestaltung Deutschlands zuwies: "Im Dritten Reich durfte kein Minister, Abgeordneter, Kreis-, Gauleiter oder sonstiger politischer Entscheidungsträger auf irgendeine Weise mit Wirtschaftsunternehmen verbandelt sein. Es war schlichtweg verboten. Wir wollen dies genauso verbieten (...). Wie im Dritten Reich müssen Volksabstimmungen bundesweit zugelassen werden. Solidarismus 260 will nicht weniger, sondern richtige und wahre Demokratie." 261 Die DS ist aber nicht nur ein Forum für dezidierte Systemopposition bis hin zur NS-Apologetik. In ihr leisten mehr oder minder prominente RechtsexNStremisten auch theoretisch-strategische Grundlagenarbeit, sie ist ein Ort für Apologetik Grundsatzdebatten. Beispielsweise wird in der DS einer Aktualisierung und Modernisierung des rechtsextremistischen Propagandathemenkanons das Wort geredet. Dabei wird eine Abkehr von vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen (besonders aus dem Bereich des Geschichtsrevisionismus) gefordert, die außerhalb der rechtsextremistischen Szene niemanden interessieren. Stattdessen wird eine stärkere Hinwendung zu gegenwartsbezogenen bis hin zu tagesaktuellen Themen (beispielsweise aus dem Bereich der Sozialund Wirtschaftspolitik) angemahnt, die gesamtgesellschaftlich relevant sind und daher auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene diskutiert werden. Ziel ist es dabei, die eigene Propaganda attraktiver, oberflächlich weniger angreifbar und damit effektiver zu 259 DS Nr. 08/07 vom August 2007, Artikel "Mord verjährt nicht - Zum 20. Todestag von Rudolf Heß" von Olaf ROSE, S. 15-16. 260 So der von RIEGER gebrauchte Oberbegriff für die von ihm in diesen beiden Artikeln vorgebrachten programmatischen Forderungen. 261 DS Nr. 05/07 vom Mai 2007, Artikel "Solidarismus als Weg aus der Krise unseres Volkes - Zweiter und abschließender Teil einer Darstellung deutschfreundlicher Leitlinien" von Jürgen RIEGER, S. 20. 163 machen, also möglichst bis in die Mitte der Gesellschaft neue Bündnispartner, Anhänger, Mitglieder und Wähler zu gewinnen. Den vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen scheint in dieser Strategie nur noch eine Rolle in der parteibeziehungsweise szeneinternen Kommunikation zugedacht zu sein, insbesondere bei der ideologischen Selbstvergewisserung längst eingeschworener Rechtsextremisten, die es nicht mehr zu überzeugen gilt. Mit der Überholung des eigenen Themenkanons ist keine Aufgabe oder auch nur Relativierung althergebrachter rechtsextremistischer Positionen in der NPD beabsichtigt. Ganz im Gegenteil: Mit der Aufbereitung zeitgemäßer Themen soll rechtsextremistisches Gedankengut erfolgreicher transportiert werden. Aktivitäten Auch im Jahr 2007 legte die NPD im Rahmen des von ihr verfolgten "VierSäulen-Konzepts" ("Kampf um die Straße", "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Parlamente", "Kampf um den organisierten Willen") wieder vielfältige Aktivitäten an den Tag. Allerdings bekam sie zum "Kampf um die Parlamente" keine Gelegenheit, da sie zur einzigen Landtagswahl des Jahres in Bremen gemäß des 2005 mit der DVU vereinbarten "DeutschlandPaktes" nicht antrat. Die baden-württembergische NPD und nicht zuletzt die hiesigen JN zogen wiederholt mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich. Im Laufe des Jahres 2007 richtete der NPD-Landesverband Baden-Württemberg in einer ehemaligen Gaststätte in Rosenberg-Hohenberg im OstLandesgealbkreis eine eigene Landesgeschäftsstelle ein. Bei einem bisher unaufgeschäftsstelle klärten Brandanschlag auf den auch vom rechtsextremistischen "Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG" genutzten Gebäudekomplex wurden in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2007 die für die Landesgeschäftsstelle vorgesehenen Räumlichkeiten - anders als die völlig zerstörten Verlagsräume - nur geringfügig beschädigt. Wie schon im Vorjahr entfaltete der baden-württembergische JN-Landesverband auch 2007 eine rege Demonstrationstätigkeit, steigerte sie im Verrege Demonsgleich zu 2006 sogar noch. So meldete sein Vorsitzender Lars GOLD für den trationstätigkeit 21. Juli 2007 eine Demonstration in Tübingen an, die unter dem Motto "Keine Freiräume für linksextreme Gewalttäter - Nationale Freiräume erkämpfen!" auch durchgeführt wurde. Mit circa 230 Teilnehmern hatten die JN an diesem Tag einen für ihre Verhältnisse guten Mobilisierungserfolg zu verbuchen, allerdings nahmen gleichzeitig an diversen Gegenveranstaltungen in Tübingen rund 10.000 Personen teil. Zu nennenswerten Ausein164 Rechtsextremismus andersetzungen kam es nicht. Ungefähr dieselben circa 230 Rechtsextremisten hielten nach dem Muster einer "Doppeldemo"262 direkt im Anschluss an diese Demonstration eine spontane Kundgebung in Hechingen im Zollernalbkreis ab, das mit Tübingen durch eine direkte Bahnlinie verbunden ist. Diese Veranstaltung traf auf nur circa 70 Gegendemonstranten und verlief störungsfrei. Am 20. Oktober 2007 veranstalteten die JN zusammen mit so genannten "Freien Kräften aus Süddeutschland" 263 (also süddeutschen Neonazis) unter dem Motto "Gemeinsam gegen staatliche Repression - Eine Deutsche Jugend setzt sich zur Wehr!" eine Demonstration mit circa 130 Teilnehmern in Singen im Kreis Konstanz. Mit den rund 400 anwesenden Gegendemonstranten kam es nicht zu schwerwiegenderen Auseinandersetzungen. Im Vorfeld beziehungsweise kurz nach dem Gipfel der acht führenden Industriestaaten vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm veranstaltete die NPD drei kampagnenartige, bundesweite "Aktionstage" (14. April, 19. Mai "Aktionstage" und 9. Juni), die sich gegen dieses Treffen, aber auch gegen die Globalisierung allgemein richteten. Die von der Partei an diesen Tagen bevorzugte Aktionsform waren Informationsstände. Nach DS-Angaben steigerte sich die Anzahl der gestarteten Aktionen und der daran beteiligten Parteiuntergliederungen von "Aktionstag" zu "Aktionstag": Während 48 Parteiuntergliederungen am 14. April insgesamt 62 Aktionen durchführten, sollen es am 19. Mai schon 138 Aktionen von 93 NPD-Verbänden gewesen sein. Am 9. Juni soll es eine weitere Steigerung auf 146 Aktionen von 102 NPDUntergliederungen gegeben haben. Laut DS führte die NPD in BadenWürttemberg am 19. Mai zwölf und am 9. Juni 17 Aktionen durch und lag damit auf Platz vier beziehungsweise drei der betroffenen Bundesländer.264 Der NPD-Landesverband Baden-Württemberg sprach für den 19. Mai von fünf durchgeführten Informationsständen in Öhringen, Karlsruhe, Balin262 Bei "Doppel-", manchmal auch "Mehrfachdemos" werden mit demselben Personenpotenzial an einem Tag an mindestens zwei verschiedenen Orten, die jedoch nahe beieinander liegen oder verkehrstechnisch sehr günstig miteinander verbunden sind, Demonstrationen durchgeführt. 263 Demonstrationsaufruf auf einer Internetsonderseite der baden-württembergischen JN aus Anlass der Demonstration in Singen vom 26. Oktober 2007. 264 DS Nr. 07/07 vom Juli 2007, Artikel "Von Kiel bis zum Bodensee - NPD-Aktionstage gegen den G8-Gipfel" und Interview "'Kampagnenfähigkeit der Partei stärken' - Die DS im Gespräch mit NPD-Bundesorganisationsleiter Jens Pühse", S. 12. 165 gen, Ulm und Biberach sowie von neun "gemeldeten Verteilaktionen" im Bundesland.265 4.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 700 Baden-Württemberg (2006: ca. 800) ca. 7.000 Bund (2005: ca. 8.500) Publikationen: "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus Noch in den 1990er-Jahren war die "Deutsche Volksunion" (DVU) schon aufgrund ihrer relativ hohen Mitgliederzahl (1993: circa 26.000) ein zumindest quantitativ bedeutender Faktor innerhalb des deutschen Rechtsextremismus. Doch die Zahl von nunmehr circa 7.000 Parteiangehörigen (2006: personeller circa 8.500) dokumentiert ihren drastischen personellen Niedergang innerRückgang halb der letzten knapp anderthalb Jahrzehnte. Damit hat die DVU ihren Status als mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland 2007 an die in den letzten Jahren personell erstarkte NPD verloren. Auch der baden-württembergische DVU-Landesverband mit seinen mittlerweile nur noch circa 700 Mitgliedern (2006: circa 800) büßte seit 1993 (damals rund 2.900 Mitglieder) mehr als drei Viertel seiner personellen Substanz ein. Dieser drastische Mitgliederschwund trifft mit der DVU eine Partei, deren Mitglieder ohnehin eine schon traditionell zu nennende ausgeprägte Passivität an den Tag legen. Die Partei wird seit ihrem Bestehen von ihrem Gründer und seither einzigen Bundesvorsitzenden, dem finanzkräftigen Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY, dominiert. Sie steht in einem weitgehenden finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, was er dazu nutzt, jeden innerparteilichen Pluralismus oder gar Widerspruch zu unterbinden. Daher kann sich weder auf Bundesnoch auf Landesebene eine eigenständige, nicht von ihm gelenkte Parteiarbeit entwickeln. Dieser dominante Führungsstil von Dr. FREY hat zudem zur Folge, dass neben ihm kaum überregional bekanntes, profiliertes DVU-Führungspersonal existiert. Die unangefochtene Stellung von Dr. FREY innerhalb der Partei wurde auf dem DVU-Bundesparteitag am 20. Januar 2007 in München unterstrichen, wo er mit 99,6 Prozent der Delegiertenstimmen in seinem Amt als DVU-Bundesvorsitzender bestätigt wurde.266 265 Bericht "Nationaler Anti-Globalisierungs-Tag in Baden-Württemberg erfolgreich", Homepage des NPDLandesverbandes Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2007. 266 NZ Nr. 5 vom 26. Januar 2007, Artikel "Zeit, dass sich was dreht - Signale vom Bundesparteitag der DVU", S. 9. 166 Rechtsextremismus Die feste Verankerung der DVU mitten in der rechtsextremistischen Szene ist schon allein daran abzulesen, dass die Partei schon seit Jahren ohne Einschränkung an dem am 15. Januar 2005 unterzeichneten so genannten "Deutschland-Pakt" mit der dezidiert rechtsextremistischen, in Teilen sogar "Deutschlandneonazistisch ausgerichteten NPD festhält. Beim "Deutschland-Pakt", demPakt" zufolge sich DVU und NPD bis einschließlich 2009 bei Wahlen auf Europa-, Bundesoder Landesebene keine Konkurrenz machen wollen, handelt es sich inhaltlich um die Fortschreibung der "Gemeinsamen Erklärung" vom 23. Juni 2004, mit der beide Seiten vereinbart hatten, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im September 2004 nicht gegeneinander anzutreten. Das gute Verhältnis der DVU zur NPD kommt aber zum Beispiel auch darin zum Ausdruck, dass Andreas MOLAU, NPD-Bundesvorstandsmitglied und NPD-Spitzenkandidat zur niedersächsischen Landtagswahl am 27. Januar 2008, gerade 2007 wiederholt eigene Artikel in der NZ platzieren konnte - bis hin zum Aufmacher auf der Titelseite.267 Die von FREY herausgegebene Wochenzeitung NZ ist das Sprachrohr der DVU, aber auch das auflagenstärkste und in der Öffentlichkeit wohl bekannteste rechtsextremistische Presseorgan in Deutschland, womit ihm nicht nur für die Partei, sondern auch für die gesamte rechtsextremistische Szene eine erhebliche Bedeutung zukommt. Wahlen Als Wahlpartei ist die DVU erfolgreicher als jede andere rechtsextremistische Partei: Seit Gründung der DVU als politische Partei im Jahr 1987 konnten rechtsextremistische Parteien vierzehn Mal in deutsche Landesparlamente einziehen, davon allein neun Mal die DVU. Allerdings waren vier ihrer Wahlerfolge einer Besonderheit des Bremer Bürgerschaftswahlrechts geschuldet.268 Diese Erfolge sind vor allem darauf zurückzuführen, dass FREY seine Partei nur zu Wahlen antreten lässt, bei denen er ihr eine wenigstens halbwegs realistische Aussicht auf Erfolg einräumt269, und dann 267 NZ Nr. 37 vom 7. September 2007, Artikel "Polens neue Forderungen - Muss Deutschland ewig zahlen?" von Andreas MOLAU, S. 1. NZ Nr. 42 vom 12. Oktober 2007, Artikel "Wer profitiert vom 'Aufschwung'? Das große Fressen der Konzerne" von Andreas MOLAU, S. 1. 268 Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft muss eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete, in Bremen oder Bremerhaven, die 5-Prozent-Hürde überwinden, um in das Parlament einzuziehen. Lediglich bei der Bürgerschaftswahl 1991 gelang der DVU mit 6,2 Prozent im gesamten Land Bremen der Sprung in das Parlament in Fraktionsstärke. 1987, 1999, 2003 und 2007 überwand sie diese Hürde nur in Bremerhaven. 269 Die DVU trat seit 1987 daher nur zu 17 Landtagswahlen, einer Bundestagsund einer Europawahl an. 167 auch bereit ist, erhebliche Summen in den Wahlkampf zu investieren. Zudem ist die DVU aufgrund der bereits genannten Absprachen seit 2004 bei Wahlen vor Konkurrenzkandidaturen durch die NPD geschützt. Seit 1999 ist die DVU mit einer Fraktion im brandenburgischen Landtag vertreten, die seit 2004 sechs Abgeordnete umfasst. Bei der einzigen Landtagswahl des Jahres 2007, der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 13. Mai, konnte die DVU wiederum einen Wahlerfolg feiern. Zwar verfehlte sie mit landesweit 2,7 Prozent der Stimmen (2003: 2,3 Prozent) den Einzug in Fraktionsstärke relativ deutlich, konnte jedoch aufgrund ihres Teilergebnisses von 5,4 Prozent im Wahlbereich Bremerhaven (2003: 7,1 Prozent) wieder einen Abgeordneten in die Bürgerschaft entsenden. Doch schon am 17. Juli 2007 erklärte dieser Bremer DVU-Bürgerschaftsabgeordnete, Siegfried TITTMANN, seinen Parteiaustritt. Mit TITTMANN verlor die DVU zudem einen ihrer beiden stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Aktivitäten Bei den generell geringen Aktivitäten des baden-württembergischen DVULandesverbandes ließen sich 2007 nur geringfügige Steigerungen feststellen. So veranstaltete er am 10. März 2007 zwar wieder einen Landesparteitag, der der NZ jedoch nur eine kurze Randnotiz wert war, aus der nicht einmal der Veranstaltungsort hervorgeht.270 Von den DVU-Stammtischen in Aalen/Heidenheim, Heilbronn und Schwäbisch Hall, die im Laufe des Jahres 2007 auf der DVU-Bundeshomepage und in der NZ beworben wurden271, geht, keine soweit sie überhaupt stattfinden, keine Außenwirkung aus. Zudem führte Außenwirkung die Partei 2007 in Baden-Württemberg vereinzelte Versammlungen durch, die allerdings ebenfalls keine ernsthafte Außenwirkung entfalteten. Eine dieser Versammlungen fand mit etwa 30 Teilnehmern am 23. Juni 2007 in Karlsruhe statt. Laut vorangegangener Ankündigungen via Internet und NZ sollte mit Bruno WETZEL einer der beiden stellvertretenden DVUBundesvorsitzenden als Redner auftreten.272 Für den 4. November 2007 wurde auf der Internetseite der Bundes-DVU und in der NZ eine Versammlung im Raum Aalen/Heidenheim angekündigt, auf der der neue, in Bayern (!) wohnhafte DVU-Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, Walter BAUR, sprechen sollte.273 Auf der Internetseite der Bundes-DVU 270 NZ Nr. 12 vom 16. März 2007, Artikel "DVU demonstriert Geschlossenheit", S. 9. 271 NZ Nr. 5 vom 26. Januar 2007, S. 14. NZ Nr. 44 vom 26. Oktober 2007, S. 14. Homepage der BundesDVU vom 2. November 2007. 272 NZ Nr. 26 vom 22. Juni 2007, S. 14. Homepage der Bundes-DVU vom 5. Juni 2007. 273 NZ Nr. 44 vom 26. Oktober 2007, S. 14. Homepage der Bundes-DVU vom 23. Oktober 2007. 168 Rechtsextremismus wird dem Besucher zwar mittlerweile ein "Link zum DVU-Landesverband BadenWürttemberg" angeboten, doch verbirgt sich dahinter lediglich ein zweiseitiges, "Bürgerinformation der DVU BadenWürttemberg" betiteltes Flugblatt, nicht aber eine Homepage im eigentlichen Sinne.274 5. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 5.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"HohenrainVerlag" Der 1953 von Dr. Herbert GRABERT (verstorben 1978) in Tübingen als "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" gegründete "GRABERT-Verlag" firmiert seit 1974 unter seinem jetzigen Namen. Seit 1972 fungiert GRABERTs Sohn Wigbert als Verlagsleiter und seit dem Tod seines Vaters als alleiniger Geschäftsführer. Der Verlag zählt nicht nur zu den ältesten, sondern auch zu den bedeutendsten organisations-unabhängigen rechtsextremistischen Verlagen in Deutschland: Mittlerweile hat er sich mehrere Tochterunternehmen zugelegt, darunter den 1985 gegründeten und ebenfalls in Tübingen ansässigen "Hohenrain-Verlag", der wie der "GRABERT-Verlag" seit 2004 mit einer eigenen Seite im Internet vertreten ist. Über die "Versandbuchhandlung GRABERT" vertreiben die beiden Verlage ihre Produkte jedoch auch weiterhin auf konventionelle Weise. Die Mitglieder des "Deutschen Buchkreises" sind berechtigt, Bücher der beiden Verlage unter bestimmten Bedingungen zu günstigeren Konditionen zu beziehen. In den relativ zahlreichen Veröffentlichungen des "GRABERT-" und des "Hohenrain-Verlages" werden immer wieder entschieden rechtsextremistische Positionen propagiert. Schon wiederholt wurden daher Publikationen der beiden Verlage wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener eingezogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert. So wurden am 31. Mai 2007 bei einer richterlich angeordneten Durchsuchung der Wohnund Geschäftsräume GRABERTs die Restexemplare der Nummer 1 vom Februar 2007 aus dem 55. Jahrgang der vierteljährlich in Tübingen erschei274 Homepage der Bundes-DVU vom 29. Oktober 2007. 169 nenden Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart - Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik" (DGG) beschlagnahmt. Bereits am 18. Mai 2007 hatte die Staatsanwaltschaft Tübingen gegen Wigbert GRABERT, der damals noch (laut Impressum in Zusammenarbeit mit dem faktisch inexistenten "Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte") Herausgeber der pseudowissenschaftlich aufgemachten, meist 50-seitigen DGG war, und gegen zwei Autoren der Zeitschrift in dieser Sache ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Anlass für Ermittlungsverfahren und Beschlagnahme waren zwei Artikel aus der besagten DGG-Nummer. In einem davon wird die Existenz von Gaskammern zur Ermordung von Juden in deutschen Konzentrationslagern während der NS-Diktatur und damit das historische Faktum des Holocaust am europäischen Judentum unter Hinweis auf einen angeblichen Mangel an Sachbeweisen mit Sätzen wie den folgenden zumindest massiv in Zweifel gezogen: "Tatsache ist (...), dass von einem rechtsstaatlich einwandfrei durch Sachbeweise erbrachten Nachweis der NS-Gaskammern nach wie vor keine Rede sein kann. (...) Einzig im Fall der Holocaust-Anklage wird jede Sachbeweisaufnahme nicht nur unterlassen, sondern sogar verweigert. (...) Die drastische Fehlentwicklung in den Strafprozessen gegen mutmaßliche NS-Gaskammer-Massenmörder, nämlich die Verurteilung und Bestrafung ohne jegliche Sachbeweise, hat viele Ursachen. (...) Die entscheidende Tatfrage, ob es die Gaskammern überhaupt gegeben habe, wurde in keinem einzigen Prozess jemals gestellt, sie wurden einfach als gegeben vorausgesetzt. (...) Die Holocaust-Anklage steht und fällt mit den Massenmord-Gaskammern, weil eine andere effektive Art des Genozids weder je behauptet noch beschrieben wurde. (...) Die Existenz von Gaskammern scheint im Rang eines quasi-religiösen Dogmas zu stehen, dem die Wirklichkeit von Sachbeweisen nichts anhaben darf. (...) Meine Klienten weigern sich (...), und zwar - im Einklang mit dem abendländischen Rechtsstandard - zu Recht, die ungeheuerliche Bezichtigung anzuerkennen, Deut170 Rechtsextremismus sche und Österreicher hätten die planmäßige millionenfache Ermordung von Angehörigen des jüdischen Volkes in Gaskammern von 'Vernichtungslagern' begangen, solange die allein objektiven und sicheres Wissen vermittelnden zahlreichen Sachbeweise nicht erhoben sind und diese Beschuldigung erhärtet haben. (...) Dass offenbar kein deutsches und österreichisches Gericht Gewissheit darüber erlangen will, wie es wirklich war, legt natürlich die Vermutung nahe, dass man dort längst mit politisch unerwünschten, für die bisherige Rechtssprechung und die Siegermächte beschämenden Erkenntnissen rechnet." 275 Diese Vorgänge um die DGG-Nummer 1 vom Februar 2007 bedeuteten schon den zweiten schweren Rückschlag für GRABERT und seinen Verlag in relativ kurzer Zeit. Bereits am 6. Februar 2007 war gegen GRABERT ein - noch nicht rechtskräftiges - Urteil des Amtsgerichts Tübingen ergangen, in dem er wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Hintergrund des Verfahrens war auch diesmal ein DGG-Artikel, allerdings aus einer Nummer des Vorjahres. Die aus dem neuerlichen Ermittlungsverfahren drohenden juristischen Konsequenzen bewogen GRABERT nach DGG-Angaben, "die verantwortliche Herausgeberschaft der DGG nach 28 Jahren" abzugeben.276 Seit der DGG-Nummer 2 vom Juni 2007 ist Dr. Rolf KOSIEK - wie zuvor GRABERT laut Impressum angeblich "mit zahlreichen Fachgelehrten des Inund Auslands und in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte" 277 - neuer DGG-Herausgeber, ein einschlägig bekannter Rechtsextremist aus Nürtingen, der schon zuvor Teil des zweiköpfigen DGG-Redaktionsteams war und nach wie vor ist. Mit dem mittlerweile im 18. Jahrgang erscheinenden "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten" verfügt der "GRABERT-Verlag" über ein weiteres Periodikum, das sogar alle zwei Monate erscheint, dafür aber weit weniger umfangreich ist als die DGG. Der rechtsextremistische Charakter vieler der im "Euro-Kurier" veröffentlichten Beiträge, die zu einem erheblichen Teil auch der Werbung für Publikationen aus den beiden Verlagen dienen, steht demjenigen der meisten DGG-Artikel in Nichts nach. So wurden im "Euro-Kurier" zwei im Jahr 2007 unter anderem wegen Volksver275 DGG Nr. 1 vom Februar 2007, Artikel "Die strafrechtliche Seite des Holocaust-Problems - Ein Verteidiger hat das Wort", S. 20-27. Hier: S. 20-27, Zitate s. S. 20, 20, 21, 22, 24. 276 DGG Nr. 2 vom Juni 2007, Artikel "Hambach und heute", S. 1. 277 Ebd., S. 1. 171 hetzung rechtskräftig verurteilte führende Protagonisten der internationalen rechtsextremistischen Geschichtsrevisionistenszene, Ernst ZÜNDEL und Germar RUDOLF, als "völlig gewaltfreie, in aufrichtigem Bemühen für die historische Wahrheit sowie in patriotischer Absicht für Gerechtigkeit für ihr Volk eintretenden Idealisten" bezeichnet und das juristische Vorgehen gegen sie scharf kritisiert.278 5.2 "Gesellschaft für freie Publizistik e. V." (GfP) Die "Gesellschaft für freie Publizistik e. V." (GfP), 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründet, ist trotz ihrer eindeutig rechtsextremistischen Ausrichtung nicht dem neonazistischen Spektrum zuzurechnen. Sie verfügt bundesweit über circa 500 (2006: etwa 500) und in Baden-Württemberg wie schon 2006 über circa 40 Mitglieder. Sie bleibt damit die mitgliederstärkste rechtsextremistische "Kulturvereinigung" in Deutschland und rekrutiert sich vor allem aus rechtsextremistischen Verlegern, Redakteuren, Publizisten und Buchhändlern. Ihr Mitteilungsblatt "Das Freie Forum" erscheint vierteljährlich. Als eine Art Kontaktadresse gibt die GfP ein "Sekretariat" mit Postfach in Oberboihingen im Kreis Esslingen an.279 Zum GfP-Jahreskongress unter dem Motto "Geschichte und Justiz im Würgegriff der Politik" versammelten sich diesmal nach GfP-Angaben "mehr als 350 Personen" (2006: knapp 300) vom 11. bis 13. Mai 2007 "bei Bad Kissingen".280 Die personelle Verflechtung der GfP-Führung mit der NPD ist nach wie vor eng: Der seit 2005 amtierende GfP-Vorsitzende Andreas MOLAU ist zugleich NPD-Bundesvorstandsmitglied und Spitzenkandidat der Partei zur niedersächsischen Landtagswahl am 27. Januar 2008. Im GfP-Vorstand sitzt zudem bereits seit Jahren der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER.281 Dr. Olaf ROSE, der seit Ende 2006 dem Parlamentarischen Beratungsdienst der sächsischen NPD-Fraktion angehört, kandidierte auf der GfP-Jahreshauptversammlung am 11. Mai 2007 in Bad Kissingen jedoch nicht wieder für den Vorstand.282 278 "Euro-Kurier" Nr. 2 vom April 2007, Artikel "Keine Meinungsfreiheit - dafür Gesinnungsstrafrecht: Zu den Prozessen gegen Zündel und Rudolf", S. 2. 279 Zum Beispiel in "Das Freie Forum" Nummer 2 vom April/Mai/Juni 2007, S. 16. 280 Ebd., Artikel "Erfolgreicher Jahreskongress der GFP 2007", S. 1-2. 281 GfP-Homepage vom 21. November 2007. 282 "Das Freie Forum" Nummer 2 vom April/Mai/Juni 2007, Artikel "Bericht von der Jahreshauptversammlung 2007", S. 4. 172 Rechtsextremismus 6. Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus (Rechts)extremistische Ideologien reduzieren die komplexen Realitäten des modernen Lebens auf wenige ideologische Leitsätze, präsentieren zur Erklärung (vermeintlicher oder tatsächlicher) gesellschaftlicher Missstände wenige Feindbildgruppen (zum Beispiel "Juden" oder "Ausländer") als "Alleinschuldige" und bieten vermeintlich einfache Lösungen für tatsächlich schwierige Probleme an. Eine solche Vereinfachung der komplizierten Wirklichkeit und die Verheißung simpler Problemlösungen können gerade für weniger gebildete Menschen sehr attraktiv sein. Dennoch ist die in den öffentlichen Diskussionen zum Thema Rechtsextremismus häufig anzutreffende Auffassung, ausnahmslos alle Rechtsextremisten seien "dumm" oder rechtsextremistische Gesinnung automatisch ein sicherer Hinweis auf "Dummheit", zu eindimensional. Denn neben zahlreichen Rechtsextremisten, auf die die Charakterisierung "intellektuell limitiert" zutrifft, existiert auch eine nicht unerhebliche Zahl rechtsextremistischer Intellektueller. Es genügt ein Blick auf die Erfolge, die der NS-Studentenbund schon vor 1933 an deutschen Universitäten für sich verbuchen konnte, um festzustellen, dass selbst eine äußerst fanatische Rechtsextremismusvariante wie der Nationalsozialismus auch für formal hoch qualifizierte, mutmaßlich intelligente und gebildete Menschen durchaus attraktiv sein kann. Heute kann von einer ähnlichen Verankerung des Rechtsextremismus, gar des Neonazismus an den deutschen Universitäten keine Rede sein. Auch sind, wie Wahlanalysen belegen, formal hoch qualifizierte Wähler (zum Beispiel Akademiker) innerhalb der Wählerschaft rechtsextremistischer Parteien in der Regel deutlich unterrepräsentiert. Die aus diesen Tatsachen sprechende tendenziell geringe Attraktivität des heutigen deutschen Rechtsextremismus auf bildungsnahe Bevölkerungsschichten kommt nicht von ungefähr: Denn ein eklatanter Mangel an ideologisch-theoretischer Homogenität und Fundierung zusammen mit - nicht zuletzt daraus resultierender - Zerstrittenheit und organisatorischer Zersplitterung zählen schon seit Jahrzehnten zu den schwerwiegenden endogenen Charakteristiken, mit denen sich der aktuelle Rechtsextremismus konfrontiert sieht und die sein öffentliches Image entsprechend negativ prägen. Bereits seit Jahren versuchen daher einige rechtsextremistische Zirkel, Periodika und Fortbildungseinrichtungen, aber auch einzeln agierende rechtsextremistische Intellektuelle, diese Defizite abzubauen und die rechtsextremistische Szene auf breiter Front mit einem möglichst einheitlichen ideologischen und intellektuellen Rüstzeug zu versehen, um damit ihre Attraktivität für bildungsnahe Schichten zu erhöhen, aber auch ihrer organisatorischen Zersplitterung Herr zu werden. Bisher hatten sie damit aber kaum Erfolg. 173 Das "Deutsche Kolleg" (DK), das als Kontaktadresse ein Postfach in Würzburg angibt, bezeichnet sich selbst als "Schwert und Schild des Deutschen Geistes", als "geistige Verbindung reichstreuer Deutscher und reichstreuer Schutzgenossen des Deutschen Volkes" und "somit" als "Denkorgan des Deutschen Reiches". Hinter dieser Selbstcharakterisierung verbirgt sich eine kleine Gruppe rechtsextremistischer Theoretiker, in deren Verlautbarungen immer wieder ein besonders fanatischer, zuweilen äußerst skurril anmutender Rechtsextremismus zum Ausdruck kommt. Das DK verbreitet eigene Positionspapiere, sog. "Erklärungen des Deutschen Kollegs", über seine Internet-Homepage und bietet Schulungsveranstaltungen an.283 Die Internet-Homepage der "Deutschen Akademie" (DA) ist seit ungefähr Mitte 2007 nur noch zum Teil und unter Schwierigkeiten abrufbar. Aus diesen einzelnen Homepagebestandteilen geht aber hervor, dass der DA offenbar nach wie vor ein zweiköpfiger Sprecherrat vorsteht. Laut ihrer ebenfalls weiterhin abrufbaren "Selbstdefinition" betrachtet sich die DA als "eine parteiunabhängige Initiative national gesinnter Deutscher, die an der geistigen Wiedergeburt ihres Volkes arbeiten." In ihrem Zwischenziel der "Heranbildung einer geistigen Gegenelite zum pseudodemokratischen Vasallensystem auf deutschem Boden" kommt die verfassungsfeindliche Stoßrichtung der DA schon sehr viel deutlicher zum Ausdruck.284 Einem Bericht auf einer anderen rechtsextremistischen Homepage ist zu entnehmen, dass die DA zur Verbreitung ihres rechtsextremistischen Gedankengutes auch in der zweiten Jahreshälfte 2007 als Veranstalterin zumindest eines Wochenendseminars auftrat, nämlich am 11. und 12. August 2007 "in Oberfranken".285 Zumindest Teile der NPD bemühen sich verstärkt darum, sich in die Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus einzubringen. So hat beispielsweise die NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" in den letzten Jahren den Charakter eines führenden rechtsextremistischen Theorieund Strategieorgans angenommen. Von der im Umfeld der sächsischen "Dresdner Schule" NPD-Fraktion angesiedelten so genannten "Dresdner Schule", deren Vertreter sich als lose gruppierter rechtsextremistischer "Think Tank" gerieren, der sich inhaltlich als ideologischer Gegenentwurf zur "Frankfurter Schule"286 anpreist, gingen 2007 allerdings keine wahrnehmbaren Aktivitäten aus, 283 DK-Homepage vom 22. November 2007. 284 DA-"Selbstdefinition" vom Januar 2005, DA-Homepage vom 22. November 2007. 285 Vierteiliger "Bericht über die 5. Arbeitstagung 'nationalrevolutionär heute' der Deutschen Akademie" auf einer rechtsextremistischen Homepage vom 22. November 2007. 286 Bezeichnung für den Kreis von Sozialund Kulturwissenschaftlern um Max Horkheimer und das Frankfurter "Institut für Sozialforschung" sowie die hier entwickelten, auf Karl Marx und Sigmund Freud basierenden soziologisch-philosophischen Lehren (auch: "Kritische Theorie"). 174 Rechtsextremismus auch nicht von ihrer organisatorischen Konkretisierung, dem "Bildungswerk für Heimat und nationale Identität e. V.". Dagegen konstituierte sich zu Jahresbeginn 2007 im Umfeld des JN-Landesverbandes Sachsen-Anhalt ein so genannter "Nationaler Bildungskreis" (NBK), der laut Selbstdarstellung "auf akademischen [sic!] Niveau den Kampf um die Köpfe unterstützen" werde. "Somit" werde "eine neue Struktur auf überregionaler Ebene zementiert, die als zentraler Anlaufpunkt der nationalen Denkerschaft Bedeutung erlangen" werde. "Mit dieser", so heißt es weiter, "Phalanx des Wissens werden wir unterstützend dazu beitragen, das von den Demokraten gezeichnete Bild einer ungebildeten Rechten zu zerschlagen." 287 Bislang konzentriert sich der NBK auf Sachsen-Anhalt, den "Entfaltungskern des Vorhabens" 288, wo die meisten seiner Veranstaltungen, zum Beispiel Schulungen, auch stattgefunden haben dürften. Auf dem JN-Bundeskongress am 6. Oktober 2007 in Sachsen-Anhalt wurde die Anbindung des NBK an die JN institutionalisiert, indem ein eigenes "Amt 'Nationaler Bildungskreis (NBK)/Schulung'" eingerichtet wurde.289 Die 1951 gegründete Zeitschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" (N&E) ist das älteste rechtsextremistische Theorieund Strategieorgan und damit eine der langlebigsten Konstanten des deutschen Nachkriegsrechtsextremismus. Die N&E erscheint in der Regel monatlich im rechtsextremistischen, 1953 gegründeten "Nation Europa Verlag GmbH" im bayerischen Coburg. Sie ist mit einer eigenen Seite im Internet vertreten. 7. Aktionsfeld Geschichtsrevisionismus290: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Geschichtsrevisionistenszene hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker internationalisiert. Unter ihren Protagonisten waren und sind neben Deutschen zum Beispiel auch Briten, Franzosen, US-Amerikaner oder Österreicher, wobei sich letztere aus einer unter 287 Text "Mitteilung des Nationalen Bildungskreises" auf einer rechtsextremistischen Homepage vom 22. November 2007; Übernahme wie im Original. 288 Bericht "Nationaler Bildungskreis nimmt Arbeit auf" auf der Homepage des JN-Landesverbandes Sachsen-Anhalt vom 22. November 2007. 289 Bericht "JN-Mitglieder wählen neuen Bundesvorstand" auf der Homepage des JN-Bundesvorstandes vom 22. November 2007. 290 Definition vgl. Kap. D Ziff.1.3. 175 Rechtsextremisten verbreiteten großdeutschen Perspektive häufig selber auch als Deutsche ansehen und von deutschen Gesinnungsgenossen als Landsleute angesehen werden. Diese internationale Dimension mag auf den ersten Blick erstaunen, da es rechtsextremistischen Geschichtsrevisionisten doch (unter anderem) darum geht, das nationalsozialistische Deutschland von der Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Gegensatz zu den historischen Fakten freizusprechen, im Gegenzug jedoch den Kriegsgegnern des "Dritten Reiches" - also zum Beispiel Großbritannien, Frankreich oder den USA - diese Schuld in die Schuhe zu schieben. Trotzdem fühlen sich nichtdeutsche Geschichtsrevisionisten - offenbar aus mehr oder minder großer ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus - dem historischen Ansehen des "Dritten Reiches" mehr verpflichtet als dem ihrer eigenen Nation. Seit 2005 musste die internationale rechtsextremistische Geschichtsrevisioführende nistenszene einige Rückschläge hinnehmen. Denn seither gingen eine Akteure Reihe ihrer führenden Protagonisten den deutschen und österreichischen in Haft Strafverfolgungsbehörden ins Netz. Einige davon befinden sich bis heute in Haft: Am 1. März 2005 wurde der aus Baden-Württemberg stammende Ernst ZÜNDEL von den kanadischen Behörden nach Deutschland abgeschoben und befindet sich seither in Haft. Die Staatsanwaltschaft Mannheim hatte gegen ihn seit 1996 unter anderem wegen des Verdachts der Volksverhetzung (SS 130 StGB) ermittelt und 2003 den nun vollstreckten Haftbefehl erlassen. Im November 2005 begann vor dem Landgericht Mannheim der Prozess gegen ZÜNDEL, der mehrmals ausgesetzt wurde und am 15. Februar 2007 mit einer Verurteilung ZÜNDELs endete: Das Gericht erkannte wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (SSSS 130, 185 und 189 StGB) auf die Höchststrafe von fünf Jahren Haft. Gegen dieses Urteil legten ZÜNDELs Verteidiger beim Bundesgerichtshof Revision ein, die mit Beschluss vom 12. September 2007 verworfen wurde. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Am 14. Januar 2008 wurde die ehemalige Verteidigerin ZÜNDELs, die Rechtsanwältin Sylvia STOLZ, vom Landgericht Mannheim wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verur176 Rechtsextremismus teilt. Hintergrund dieses Prozesses waren unter anderem geschichtsrevisionistische Auslassungen, die STOLZ im Zusammenhang mit dem Prozess gegen ZÜNDEL gemacht hatte und die zu ihrem Ausschluss aus dem damaligen Verfahren geführt hatten. Zudem verhängte das Gericht ein Berufsverbot für die Dauer von fünf Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigung legte am 16. Januar 2008 Revision ein. Nach seiner Abschiebung aus den USA nach Deutschland am 14. November 2005 verbüßte Germar RUDOLF eine 14-monatige Freiheitsstrafe, zu der er 1995 vom Landgericht Stuttgart wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Beleidigung und Aufstachelung zum Rassenhass verurteilt worden war291 und der er sich 1996 durch Flucht ins Ausland entzogen hatte. Schon am 14. November 2006 begann vor dem Landgericht Mannheim der nächste Prozess gegen RUDOLF. Am 15. März 2007 wurde er wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Noch im Gerichtssaal nahm RUDOLF das Urteil an, das somit rechtskräftig ist. Am 4. Oktober 2007 wurde der österreichische Geschichtsrevisionist und Holocaust-Leugner Gerd HONSIK von Spanien an Österreich ausgeliefert. HONSIK war bereits 1992 vom Landgericht Wien wegen NS-Wiederbetätigung zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte sich jedoch noch während des Berufungsverfahrens nach Spanien abgesetzt, wo er am 23. August 2007 festgenommen wurde. Auch in den letzten anderthalb Jahrzehnten hatte HONSIK rechtsextremistische Inhalte publiziert, auch über das Internet. Nach Angaben des Wiener Landgerichts hat HONSIK am 5. Oktober 2007 freiwillig seine Haftstrafe angetreten. Der Abschluss des Berufungsverfahrens stehe aber noch aus und damit auch die Entscheidung über das endgültige Strafmaß. Laut österreichischen Medienberichten292 bestätigte das Wiener Oberlandesgericht am 3. Dezember 2007 das Urteil von 1992 samt Strafmaß. 291 Gegenstand des Verfahrens war unter anderem das so genannte "Rudolf-Gutachten", ein pseudo-wissenschaftliches Scheingutachten, mit dem der Chemiker die Existenz von Gaskammern in Konzentrationslagern widerlegen wollte. 292 So zum Beispiel der Österreichische Rundfunk (ORF) auf seiner Homepage am 24. Januar 2008. 177 Rechtsextremistische Geschichtsrevisionisten verbreiten ihre Thesen häufig über das Internet, da sie sich hier vor Strafverfolgung sicher fühlen. Dieser Kalkulation steht aber ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 entgegen, wonach sich auch in Deutschland strafbar macht, wer Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des SS 130 Abs. 1 oder des SS 130 Abs. 3 StGB erfüllen ("Auschwitz-Lüge") und die konkret zur Störung des öffentlichen Friedens im Inland geeignet sind, auf einem ausländischen, aber Internetnutzern in Deutschland zugänglichen Server in das Internet einstellt. Aber das World Wide Web ist nicht das einzige Medium, über das geschichtsrevisionistische Thesen Verbreitung finden. Nach wie vor stehen dem Geschichtsrevisionismus auch klassische Printmedien offen, zum Beispiel die rechtsextremistische Zeitschrift "Deutsche Geschichte - Europa und die Welt" (DG). Die DG erscheint alle zwei Monate im rechtsextremistischen "Druffel & Vowinckel-Verlag" im bayerischen Inning, hinter dem sich die rechtsextremistische "Verlagsgesellschaft Berg mbH" (VGB) in Inning verbirgt. Sie widmet sich auf über 60 Seiten schwerpunktmäßig historischen Themen, die für die rechtsextremistische Szene aus verschiedenen ideologischen Gründen von Bedeutung sind. Das umfasst auch geschichtsrevisionistische Umdeutungen der für Rechtsextremisten neuralgischen historischen Ereignisse, ohne dass dabei jedoch strafrechtliche Normen verletzt werden. Unter den wechselnden Mitarbeitern der Zeitschrift befinden sich mehrere einschlägige Rechtsextremisten. So stellte Andreas MOLAU, NPD-Bundesvorstandsmitglied und Spitzenkandidat der Partei zur niedersächsischen Landtagswahl am 27. Januar 2008, in der DG-Ausgabe vom August 2007 seine Sicht der Krawalle linksextremistischer Autonomer am Rande des G8Gipfels im Juni 2007 in Heiligendamm dar.293 Mit ihrem unverdächtigen Titel und ihrer bunten, oberflächlich ansprechenden Titelseite ähnelt die DG im Layout einigen der auf dem Markt befindlichen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften, die nicht extremistisch ausgerichtet sind. Das führt dazu, dass sie leicht mit diesen unbedenklichen Publikationen verwechselt werden kann und manchmal im öffentlichen Zeitschriftenhandel neben diesen angeboten wird. Die DG tritt auch als Veranstalterin von Tagungen und Vortragsveranstaltungen auf. So kündigte sie für den 24. bis 26. August 2007 das mittlerweile "7. Erlebnis-Wochenende Geschichte" mit Vorträgen zum Thema "Preußen und Deutschland" im "Großraum 293 DG Ausgabe 90 vom August 2007, Artikel "Generalprobe für den Bürgerkrieg" von Andreas MOLAU, S. 16. 178 Rechtsextremismus Berlin" an294, das nach späteren DG-Angaben mit über 150 Teilnehmern in Potsdam stattfand.295 8. Das rechtsextremistisches Aktionsfeld "Wortergreifungsstrategie" Im Jahr 2007 war eine im Vergleich zu früheren Jahren deutlich häufigere Umsetzung der so genannten "Wortergreifungsstrategie" durch Rechtsextremisten - nicht zuletzt durch Vertreter von NPD und JN - zu beobachten. Dabei ist die "Wortergreifungsstrategie" nicht neu: Sie wurde bereits vor Jahren für rechtsextremistische Bedürfnisse konzipiert und propagiert, wobei auch wieder NPD-Vertreter eine zentrale Rolle spielten. So "schult[e]" der NPD-Parteivorstand laut einer Aussage Udo VOIGTs vom August 2003 "die Methode der Wortergreifung" seit spätestens der Jahresmitte 2001.296 Eine so genannte "Wortergreifung" ist das gezielte und ostentative Erscheinen von Rechtsextremisten auf oder am Rande von öffentlichen Veranstaltungen (zum Beispiel auf Versammlungen, Demonstrationen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen), die gerade nicht von Rechtsextremisten organisiert worden sind. Das Spektrum der Organisationen, deren öffentliche Veranstaltungen von solchen "Besuchen" durch Rechtsextremisten potenziell betroffen sein können, ist breit: Es umfasst unter anderem Parteien, Bürgerinitiativen, Vereine oder staatliche Einrichtungen. Das Themenspektrum der Veranstaltungen, auf der Rechtsextremisten bevorzugt "das Wort ergreifen", ist dagegen etwas übersichtlicher, scheinen hier doch Veranstaltungen zum Thema "Rechtsextremismus" stärker im Fokus zu stehen als andere. Rechtsextremistische "Wortergreifungen" erfolgen also auf fremdem Terrain, aber häufig in eigener Sache. Bei diesen Aktionen lassen es Rechtsextremisten meist nicht bei bloßer Präsenz bewenden, sondern versuchen auch, das Wort zu ergreifen, also durch Diskussionsbeiträge oder in anderer Weise ihre Positionen vorzubringen, beispielsweise durch das Skandieren von Parolen, das Entrollen von Transparenten oder das Verteilen von Propagandamaterial. 294 DG Ausgabe 90 vom August 2007, S. 2 und 5. 295 DG Ausgabe 91 vom Oktober 2007, Artikel "Preußen und Deutschland", S. 71. 296 DS Nr. 08/03 vom August 2003, Artikel "Mitgliederwerbeaktion: Mit Wortergreifungsstrategie zum Erfolg - Udo Voigt über das geistig offensive Auftreten im öffentlichen Raum", S. 10, Übernahme der Artikelüberschrift wie im Original. Wörtlich heißt es dort: "Der Parteivorstand schult [...] seit gut zwei Jahren die Methode der Wortergreifung." Aus dieser Angabe und dem Erscheinungsdatum des Artikels ergibt sich, dass besagte Schulungen ungefähr spätestens zur Jahresmitte 2001 begonnen haben müssten. 179 Die Ziele, die Rechtsextremisten mit ihren "Wortergreifungen" verfolgen, lassen sich grob in zwei Dimensionen unterteilen, die naturgemäß eng miteinander verbunden sind: Die "Wortergreifungsstrategie" soll nach dem Willen ihrer rechtsextremistischen Urheber einerseits dem Rechtsextremismus selber möglichst großen Nutzen bringen, insbesondere zum Aufbrechen seiner gesellschaftlichen Isolation beitragen, andererseits die politischen Gegner des Rechtsextremismus möglichst schwer und nachhaltig, weil vor den Augen der Öffentlichkeit, beschädigen. 8.1 Die rechtsextremistische "Wortergreifungsstrategie" als Versuch, der gesellschaftlichen Isolation zu entkommen Die Situation des Rechtsextremismus ist in weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten von entschiedener Ablehnung, Ausgrenzung oder Nichtbeachtung und daraus resultierend von Isolation, Marginalisierung und - abgesehen von Ausnahmen wie zum Beispiel einzelnen Landtagswahlerfolgen - von Erfolglosigkeit geprägt. Seit einigen Jahren veranlasst das Bewusstsein um diese Situation zumindest diejenigen Rechtsextremisten, denen ihre ideologische Propaganda nicht nur zur rein innerszenischen Selbstvergewisserung dient, sondern die ernsthaft nach politischgesellschaftlichem Einfluss und Gehör streben, zu Überlegungen, wie die eigene gesellschaftliche Akzeptanz und Bündnisfähigkeit erhöht werden könnte. Ein Weg, den deutsche Rechtsextremisten dabei bereits seit Jahren Modernisierung beschreiten, besteht in einer Modernisierung des rechtsextremistischen Proder Themen pagandathemenkanons, also in einer thematischen Akzentverschiebung weg von den "klassischen" rechtsextremistischen Propagandathemen (zum Beispiel Geschichtsund Gebietsrevisionismus) hin zu aktuelleren, populäreren und ursprünglich vielleicht sogar eher für andere politische Lager spezifischen Themen (zum Beispiel Globalisierungsgegnerschaft, Antikapitalismus, Wirtschaftsund Sozialthemen im Allgemeinen, Antiamerikanismus), mit denen allerdings dieselben rechtsextremistischen Inhalte in die Gesellschaft transportiert werden sollen. Ziel dieser Strategie ist, an gesamtgesellschaftliche Diskurse anzuknüpfen, in der Mehrheitsgesellschaft an Akzeptanz zu gewinnen, um so die eigene Isolation aufzubrechen und neue Mitglieder und Anhänger, vielleicht sogar Bündnispartner außerhalb des eigenen ideologischen Ghettos zu gewinnen. Doch selbst wenn Rechtsextremisten ihre Propaganda dieser thematischen Akzentverschiebung unterziehen, sind die Verantwortlichen und die Inhalte dieser Agitation mühelos als rechtsextremistisch zu erkennen und stoßen demzufolge auf dieselbe gesellschaftliche Ablehnung wie zuvor. So ist bei180 Rechtsextremismus spielsweise die "Deutsche Stimme", die diese Akzentverschiebung hin zu wirtschaftsund sozialpolitischen Themen in den vergangenen Jahren relativ weitgehend vollzogen hat, bis heute keine gesamtgesellschaftlich auch nur ansatzweise diskursfähige Monatszeitung, da ihr rechtsextremistischer Charakter als NPD-Parteizeitung selbst dem oberflächlichen Leser ins Auge springen muss. Rechtsextremistische Demonstrationen, deren Veranstalter häufig nur Teilnehmerzahlen im zweibis niedrigen dreistelligen Bereich mobilisieren können und sich gleichzeitig regelmäßig mit Gegendemonstranten in bis zu fünfstelliger Anzahl konfrontiert sehen, führen dem deutschen Rechtsextremismus seine gesamtgesellschaftliche Isolation immer wieder drastisch vor Augen. Solche öffentlichen Veranstaltungen erregen höchstens eine negative Aufmerksamkeit, deren propagandistischer Nutzen für Rechtsextremisten zumindest zweifelhaft ist. Nichtöffentliche rechtsextremistische Veranstaltungen (zum Beispiel Vortragsveranstaltungen) laufen unter anderem aus Angst vor gewaltbereiten linksextremistischen Störern oder aus Sorge, bei Bekanntwerden des Vorhabens keine entsprechenden Räumlichkeiten anmieten zu können, oftmals geradezu konspirativ ab. Damit haben rechtsextremistische Veranstaltungen vielfach einen ausschließlich auf die Szene selbst bezogenen Charakter und erzielen nicht die gewünschte Propagandawirkung. Diese Problematik wird im Grundsatz auch von Rechtsextremisten erkannt. Ihre Reaktion darauf ist die "Wortergreifungsstrategie". Indem sie versuchen, die Veranstaltungen nichtrechtsextremistischer Organisatoren, womöglich sogar ihrer politischen Gegner, zur Tribüne ihrer Propaganda umzufunktionieren, beabsichtigen sie Folgendes: 1. Eine breitere Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit und Medienwirksamkeit für ihre Organisationen und ideologischen Positionen herzustellen, als dies mit ihren eigenen Veranstaltungen möglich ist. 181 2. Hauptsächlich Veranstaltungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zum Gegenstand haben, zu konterkarieren, wenn nicht sogar in ihr Gegenteil, nämlich in Werbeveranstaltungen für rechtsextremistische Positionen, umzufunktionieren. 3. Das Image des Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit zu verbessern. 4. Kosten, Organisationsund sonstigen Aufwand zu sparen, die vom Veranstalter getragen werden. Auch steht für Rechtsextremisten nicht zu befürchten, dass zum Beispiel eine von Demokraten angemeldete Demonstration verboten oder nur unter Auflagen genehmigt wird, weil eine - im Regelfall ohnehin nicht angekündigte - Teilnahme von Rechtsextremisten zu erwarten ist. 5. Die nichtrechtsextremistischen Besucher der jeweiligen Veranstaltungen durch die meist völlig unerwartete direkte Konfrontation mit rechtsextremistischen Inhalten für diese mindestens zu interessieren, wenn möglich sogar davon zu überzeugen und so letztlich neue Anhänger, Sympathisanten und Mitglieder (beispielsweise der NPD oder JN) zu werben. Schon in seinem DS-Artikel vom August "Mitglieder2003 hatte Udo VOIGT die "Wortergreifungsstrategie" als "Mitgliewerbeaktion" derwerbeaktion" ganz in den Dienst der Mitgliederwerbung gestellt, wie nicht nur aus der Artikelüberschrift, sondern auch aus der Eingangsfrage "Wo und wie kann man neue Interessenten ansprechen und weitere Mitglieder gewinnen?" hervorgeht.297 Dennoch sind rechtsextremistische "Erfolgsmeldungen" in diesem Zusammenhang mit der gebotenen äußersten Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen, attestieren Rechtsextremisten ihren "Wortergreifungen" im Nachgang doch fast immer großen Erfolg. 8.2 "Wortergreifung" zur Beschädigung des politischen Gegners Udo VOIGT betonte zwar schon im August 2003, "Ziel" einer "Wortergreifung" sei "nicht immer Provokation um jeden Preis" 298. Aber nicht nur diese Formulierung und so mancher rechtsextremistische Bericht über eine sol297 Ebd. 298 DS Nr. 08/03 vom August 2003, Artikel "Mitgliederwerbeaktion: Mit Wortergreifungsstrategie zum Erfolg - Udo Voigt über das geistig offensive Auftreten im öffentlichen Raum", S. 10, Übernahme der Artikelüberschrift wie im Original. 182 Rechtsextremismus che Aktion lassen die Lust an der Provokation des politischen Gegners mehr als nur erahnen. Keine Einzelfälle sind Berichte aus der Szene, in denen Rechtsextremisten sich selbst mit Befriedigung bescheinigen (beziehungsweise dem politischen Gegner unterstellen), ihr Erscheinen und provokatives Auftreten habe bei anderen Anwesenden "ein mulmiges Gefühl", "Nervosität", "innere Unruhe"299 oder "allgemeine Verwirrung" 300 verursacht. Dennoch würden wohl alle rechtsextremistischen "Wortergreifer" den Vorwurf, ihr Auftreten ziele auf Einschüchterung oder gar Gewaltandrohung ab, zurückweisen, und sei es nur aus taktischen Erwägungen. Erklärtermaßen geht es ihnen bei "Wortergreifungen" darum, den politischen Gegner - gleich welcher Couleur - vorzuführen, bloßzustellen und zu blamieren. Sie versuchen, gegnerische Veranstaltungsorganisatoren, Diskussionsteilnehmer etc. als vermeintliche Versager zu "demaskieren", die nur "über" Rechtsextremisten, nicht aber "mit" ihnen sprechen könnten und einer "Wortergreifung", also einer direkten Konfrontation mit dem Diskussionsgegenstand, hilflos und fachlich überfordert gegenüberstehen. Jegliches zivilgesellschaftliche, parteipolitische und staatliche Engagement bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus soll auf diese Weise ins Lächerliche gezogen und ihm seine geistig-moralische Basis abgesprochen werden. Auffallend oft finden Rechtsextremisten noch während oder nach zu - aus ihrer Sicht - geglückten "Wortergreifungen" deutliches Lob für nichtrechtsextremistische Organisatoren und/oder Referenten der jeweiligen Veranstaltung. So wird zum Beispiel Veranstaltungsoder Diskussionsleitern Fairness oder sogar Mut attestiert, wenn sie auch Rechtsextremisten zu Veranstaltung und Diskussion zugelassen haben. Mancher nichtrechtsextremistische Referent sieht sich mit dem höchst zweifelhaften Kompliment von rechtsextremistischer Seite konfrontiert, sein Beitrag sei von Sachlichkeit, Sachkenntnis, Intelligenz und/oder Objektivität geprägt gewesen. Diese - vordergründige - Anerkennung deutscher Rechtsextremisten für erklärte politische Gegner scheint auf den ersten Blick schwer verständlich, wenn man daneben die heftigen Attacken betrachtet, die teils dieselben Rechtsextremisten gegen andere Veranstaltungsorganisatoren und Referenten vorbringen. Dieses Verhalten rechtsextremistischer "Wortergreifer" lässt sich auf zwei Ebenen deuten: 299 Bericht "Wortergreifungsstrategie der NPD wird auch im Südwesten angewandt", Homepage des NPDLandesverbandes Baden-Württemberg vom 1. August 2007. 300 Bericht "LINKE gründen Kreisverband - Wir waren dabei!", Homepage des JN-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 23. Oktober 2007; Übernahme der Berichtüberschrift wie im Original. 183 Einerseits mag es tatsächlich der Freude und Genugtuung darüber geschuldet sein, dass man zu Veranstaltung und Diskussion zugelassen wurde. Das Lob wäre dann wohl nicht nur als Anerkennung für diese Entscheidung gedacht, sondern auch als Ansporn zur Nachahmung für zukünftige nichtrechtsextremistische Veranstalter. Andererseits legt die Häufigkeit und zuweilen auch die Art und Weise, in der Rechtsextremisten in diesem Zusammenhang erklärten politischen Gegnern Lob zollen, noch eine weitere Deutung nahe: Demnach ist diese Anerkennung auch oder sogar primär ein Vehikel, mit dem Verunsicherung in die Reihen der unfreiwillig Gelobten getragen werden soll, deren Selbstverständnis ja davon ausgeht, gerade von Rechtsextremisten Zustimmung weder zu erstreben noch zu verdienen. Zudem ist rechtsextremistisches Lob, zumal wenn es bei ein und derselben Gelegenheit mit Kritik an anderen nichtrechtsextremistischen Beteiligten und mit der Behauptung verbunden wird, die Veranstaltung sei ein voller Erfolg für die rechtsextremistischen "Wortergreifer" gewesen, dazu angetan und immer wieder wohl auch gezielt darauf ausgerichtet, die Adressaten in deren eigenen Reihen zu kompromittieren, in die Kritik zu bringen und damit einen Keil zwischen demokratische beziehungsweise zwischen linksextremistische Gegner des Rechtsextremismus zu treiben. Diese Taktik des Auseinanderdividierens durch Lob kann allerdings nur aufgehen, wenn sie von der Gegenseite nicht durchschaut wird. 9. Weitere Informationen Im Jahr 2006 erschien die Broschüre "Rechtsextremismus", die neben Informationen über ideologische Grundlagen und rechtsextremistische Bestrebungen im Einzelnen auch eine Abhandlung über Ursachen und Anlässe für rechtsextremistisches Denken und Handeln enthält sowie Strategien gegen den Rechtsextremismus aufzeigt. 184 Rechtsextremismus Aktuelle Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage: http://www.verfassungsschutz-bw.de/rechts/start_rechts.htm. Dort ist auch die Broschüre "Rechtsextremistische Skinheads" (2001) abrufbar, deren gedruckte Auflage vergriffen ist. 185 E. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen G8-Gipfel Wie die bereits 2005 angelaufenen Vorbereitungen erwarten ließen, war das zentrales Ereignis alles überragende Ereignis des Jahres für deutsche Linksextremisten der des Jahres Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm vom 6. bis 8. Juni 2007. Die Tatsache, dass die Zusammenkunft der acht wichtigsten Industrienationen der Welt 2007 in Deutschland stattfand, hat die Szene in einem seit vielen Jahren nicht mehr gekannten Ausmaß mobilisiert. Die verschiedenen Aktionen, an deren Planung auch Linksextremisten maßgeblich beteiligt waren, brachten Tausende von Menschen auf die Straße und wurden entsprechend als Erfolg gefeiert. Allerdings lösten die gewalttätigen Ausschreitungen auf der Großdemonstration am 2. Juni 2007 in Rostock, die in diesem Umfang nicht erwartet worden waren, in der Szene eine nachhaltige und kontroverse Diskussion über die "Gewaltfrage" aus. Inwieweit im Zuge der Protestvorbereitungen entstandene übergreifende Strukturen und Vernetzungsansätze auch in Zukunft Bestand haben und damit zu einer Festigung der linksextremistischen Szene beitragen werden, bleibt abzuwarten. Das Jahr 2007 bot weiter Anlass, sich der Oktoberrevolution von 1917 und damit auch des "Roten Terrors" in Russland sowie der von Lenin ausgehenden und durch Stalin potenzierten Spur der Gewalt zu erinnern, die im Zuge von Revolution und Aufbau des Sozialismus vielen Millionen Menschen das Leben kostete, von der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) jedoch unverändert als "bahnbrechendes welthistorisches Ereignis" gefeiert wird. Im Jahr 2007 wiederholte sich zudem zum 30. Mal der Todestag von Che Guevara. Vom 18. bis 24. August 1907 hatte in Stuttgart der "Internationale Sozialistenkongress" stattgefunden. Hundert Jahre später wurde dieses Ereignisses mit einer Serie von Veranstaltungen gedacht. Dazu hatte sich ein Bündnis verschiedener Vereinigungen und Organisationen "links von der SPD" gegründet, um in Anknüpfung an den historischen Kongress "mit einer Serie von Veranstaltungen aktuelle Beiträge zur Strategiediskussion der Linken" zu leisten.301 Dem Bündnis gehörten unter 301 "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 15. 186 Linksextremismus anderem neben der DKP und deren Jugendorganisation "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) die Partei "DIE LINKE.", ihr Jugendverband "Linksjugend [solid]", die "Linksfraktion" im Bundestag sowie die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung und die linksextremistisch beeinflusste "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) an. Indem die politischen Problemstellungen von 1907 übereinstimmend auch hundert Jahre später als unverändert aktuell bezeichnet wurden, stellten sich die an den Veranstaltungen von 2007 beteiligten Parteien und Organisationen unverkennbar in die Tradition politischer Überzeugungen, die sich die Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems auf die Fahnen geschrieben haben. Eine auf der Konferenz von 1907 verabschiedete Resolution hatte unter anderem in der für Linksextremisten entscheidenden Passage eine Verbindung des Kampfes gegen den Krieg mit dem Kampf zum Sturz des Kapitalismus hergestellt. Während der "Deutsche Herbst" schon seit Anfang des Jahres ein Thema der Medien und der bundesdeutschen Öffentlichkeit war, widmeten sich Linksextremisten verspätet und eher zögerlich einem Rückblick auf die "Offensive" der "Roten Armee Fraktion" (RAF) im Jahr 1977. Dies lässt darauf schließen, dass die Geschichte der RAF für weite Teile der linksextremistischen Szene ein zwar nicht vergessenes, aber weitgehend abgeschlossenes Kapitel ist. Verschiedentlich heftige Reaktionen löste hingegen die abgelehnte BegnaReaktionen auf digung des inhaftierten RAF-Terroristen Christian KLAR aus. Mit der entabgelehnte sprechenden Entscheidung in Zusammenhang gebracht wurde ein GrußBegnadigung wort von KLAR, das dieser auf Initiative des Bundesvorsitzenden der VVNKLARs BdA, Heinrich FINK, in schriftlicher Form an die Teilnehmer der alljährlich in Berlin stattfindenden Rosa-Luxemburg-Konferenz gerichtet hatte. Die linksextremistische Szene bewertete die Vorgänge als Beweis dafür, dass jegliche Kritik am als alternativlos etablierten Kapitalismus mit politischer Repression zu rechnen habe. Andererseits zeigten öffentliche Äußerungen von ehemaligen RAF-Inhaftierten im Zusammenhang mit Reflexionen zum "Deutschen Herbst", dass - von wenigen Ausnahmen in der Vergangenheit abgesehen - Reue und Distanzierung von den früheren Gewalttaten von Seiten der Täter auch heute nicht erwartet werden können. Die "Soziale Frage" trat 2007 deutlich in den Hintergrund. Der öffentliche Zulauf zu den in vielen Städten veranstalteten "Montagsdemonstrationen", die unverändert von einem harten Kern von Linksextremisten forciert werden, hat sich auf ein Minimum reduziert. 187 Proteste gegen die Sozialreformen der Bundesregierung waren ursprünglich auch der Ausgangspunkt für die Realisierung eines "neuen" Parteiprojekts Vereinigungsder "Linken", das mit dem Zusammenschluss der früheren "Linkspartei. prozess PDS" und der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG)302 "Linkspartei.PDS" 2007 seinen Abschluss gefunden hat. Bei der "Fusion" beider Parteien hanund WASG delt es sich allerdings faktisch um einen Anschluss der WASG an die fortabgeschlossen bestehende frühere "Linkspartei.PDS". Damit ist keine neue Partei entstanden. Tatsächliche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass sich an dem linksextremistischen Charakter der auf diese Weise lediglich erweiterten "Linkspartei.PDS" nichts geändert hat. 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Das Mitgliederpotenzial linksextremistischer Parteien und Organisationen ist im Wesentlichen konstant geblieben. Mögliche positive zahlenmäßige Auswirkungen der vermehrten Aktivitäten von deutschen Linksextremisten anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm auf ihre Anhängerschaft sind bisher nicht zu erkennen. Linksextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2005 - 2007 302 Die WASG ist beziehungsweise war kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 188 Linksextremismus Die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) musste im Unterschied zu ihren angeblichen, üblicherweise bewusst schwammig umschriebenen Aufwärtstendenzen eine zeitweilige Stagnation in ihrer Entwicklung einräumen. DKP und VVN-BdA dürfte es allenfalls mühsam gelungen sein, kontinuierliche Rückgänge aufzuhalten. Spürbare Veränderungen ergaben sich allein bei der Partei "DIE LINKE.", die vor allem durch den Beitritt der WASG einen sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahlen verzeichnen konnte. Auf Bundesebene wurde sie mit circa 70.900 Mitgliedern zur drittstärksten Partei in Deutschland. In Baden-Württemberg führte der Anschluss der WASG zu einer Erhöhung der Mitgliederzahl von circa 680 auf rund 2.200 Personen. Allerdings können die neu hinzugekommenen Mitglieder nicht alle als Linksextremisten eingestuft werden. Die 2007 zahlenmäßig im Großen und Ganzen unverändert gebliebene autonome Szene verlagerte ihre Aktivitäten von ihrem "traditionell" im Vordergrund stehenden Aktionsfeld "Antifaschismus" auf die Antiglobalisierungsproteste in Heiligendamm. Der auf der Demonstration am 2. Juni 2007 in Rostock erstmals seit vielen Jahren wieder in auffallender Stärke aufgetretene "Schwarze Block" dürfte allerdings ebenfalls weniger auf ein dauerhaft erhöhtes Anhängerpotenzial zurückzuführen sein, als vielmehr auf die außergewöhnlich hohe Mobilisierung der autonomen Szene wegen des politischen Spitzenereignisses. 2.2 Strafund Gewalttaten Die bundesweiten Strafund Gewalttaten sind größtenteils auf die Antiglobalisierungsproteste in Heiligendamm zurückzuführen. Die damit im Zusammenhang stehenden, bereits im Mai 2007 durchgeführten Durchsuchungsmaßnahmen303 führten offenbar zu erhöhtem Aggressionspotenzial, das sich neben dem G8-Gipfel auch gegen die "politische Repression" des Staates richtete. 303 Im Rahmen der "militanten Begleitkampagne" zu den Protesten gegen den G8-Gipfel wurden bis zum 13. Juni 2007 insgesamt 24 Brandanschläge verübt. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (BGH) leitete in diesem Zusammenhang zwei Ermittlungsverfahren anlässlich der "militanten Begleitkampagne" zum G8-Gipfel sowie gegen die "militante gruppe" (mg) ein. Am 9. Mai 2007 kam es auf der Grundlage von Durchsuchungsbeschlüssen des Ermittlungsrichters beim BGH zu Durchsuchungen in den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Mit Beschluss vom 20. Dezember 2007 - StB 12/07, 13/07 und 47/07 hob der 3. Strafsenat des BGH die Durchsuchungsanordnung mit der Begründung auf, dass keine Bundeszuständigkeit für die Durchsuchungsaktion gegeben war. 189 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links sowie linksextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2007 2 Baden-Württemberg1 Bund 2007 2006 2007 2006 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links insgesamt 380 685 5.866 5.363 davon: 224 271 2.765 2.369 linksextremistische Straftaten davon: 87 833 862 46 linksextremistische Gewalttaten 1 Zahlen des LKA Baden-Württemberg. 2 Zahlen des Bundesministeriums des Innern. Grafik: LfV BW Verbunden mit der schon erwähnten Verlagerung politischer Aktivitäten der autonomen Szene war ein Rückgang der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner von "Rechts". Dies hat in Baden-Württemberg zu einer erheblichen Reduzierung der entsprechenden Strafund Gewalttaten geführt. Mitverantwortlich für diese nachlassenden Aktivitäten im Bereich des "Antifaschismus" dürfte besonders auch die deutlich zurückgegangene Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen gewesen sein. 3. Gewaltbereiter Linksextremismus Gerade die gewaltbereite linksextremistische Szene feierte die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm als großen Erfolg und bezog sich dabei vor allem auf die gewalttätigen Ausschreitungen auf der Großdemonstration am 2. Juni 2007. Diese wurden jedoch nicht von allen Linksextremisten begrüßt und lösten damit eine neuerliche Kontroverse über die "Gewaltfrage" aus. Aus Sicht gewaltbereiter Linksextremisten waren die vorausgegangenen Durchsuchungsmaßnahmen gezielte "Einschüchterungsversuche". Der in diesem Umfang nicht erwartete Gewaltausbruch am 2. Juni wurde als entsprechende Reaktion interpretiert. So ließ die "Antifaschistischen Linke Berlin" (ALB) in einer Presseerklärung verlauten: 190 Linksextremismus "Bereits in den Wochen vor der Rostocker Großdemo haben die Sicherheitsbehörden mit ihren Maßnahmen die linksradikale Szene geradezu herausgefordert. Wer bei Vorkommnissen wie am Samstag (...) diesen Kontext ausblendet, hat kein wirkliches Interesse an der Einordnung der Gewalt. Autonome sind keine Pazifisten: Sie halten nicht die andere Wange hin, wenn sie geschlagen werden! So ist nur verständlich, dass in einer Situation, in der ein Block mit 8.000 bis 10.000 Menschen aus dem linksradikalen Spektrum auf der Straße steht und in der die sonst üblichen Machtverhältnisse auf der Straße partiell außer Kraft gesetzt sind, Antworten auf die üblichen Provokationen offensiver ausfallen. Die symbolische Zerstörung von Fensterscheiben einer Bank ist eben eine Form der Artikulation von Opposition zum bestehenden System, die weltweit verstanden wird." 304 Dieselbe Stellungnahme verteidigte zugleich autonome Militanz, insbesonkontroverse dere die "Angriffe auf die Polizei", ausdrücklich als "zielgerichtete AktioDiskussion um nen". Die Diskussion um die Berechtigung und den Sinn von Militanz wird "Gewaltfrage" in der linksextremistischen Szene schon seit Jahren geführt, erreichte jedoch anlässlich der Anti-G8-Proteste in Heiligendamm einen neuen Höhepunkt. Schon in der Vorbereitungsphase der Proteste hatte eine Debatte eingesetzt, die sich vor allem an der Haltung der führenden globalisierungskritischen Organisation "Attac"305 entzündete, die unter anderem im Gespräch mit Politikern und Vertretern der betroffenen Landesregierung eine kooperationsbereite Haltung eingenommen und sich auf Gewaltfreiheit festgelegt hatte. Linksextremisten sahen damit den Grundsatz der Toleranz und Gleichberechtigung unterschiedlicher Aktionsformen verletzt. Eine Aufkündigung dieses Grundkonsenses würde faktisch eine Spaltung der Bewegung bedeuten. Weite Teile der Szene sind sich darin einig, dass gerade die gesamte Bandbreite der Aktionsformen den Erfolg der Bewegung ausmacht. Während die einen durch friedlichen Protest Glaubwürdig304 Auszug aus der Presseerklärung der ALB vom 5. Juni 2007. In: "solidarität - sozialistische zeitung" Nr. 59 vom Juli 2007, S. 11. 305 "Attac" ist kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 191 keit, Akzeptanz in der Öffentlichkeit und damit weiteren Zulauf zu erreichen hoffen, bezeichnen es Befürworter gewaltsamer Protestformen als irrational, "zu glauben, durch die Beschwörung der eigenen Harmlosigkeit sich 'politikfähig' machen zu können, und so um ein Plätzchen am runden Tisch der Mächtigen zu betteln." 306 Während die Befürworter von Gewaltfreiheit eine Diskreditierung der Bewegung durch die Anwendung von Gewalt befürchten und die Gefahr betonen, dass die eigentlichen politischen Inhalte des Protestes angesichts der auch medial in den Vordergrund rückenden Gewalt nicht mehr vermittelbar seien, mehr noch, dass eine militante Minderheit einer großen Mehrheit an Globalisierungsgegnern ihr Gepräge aufdrückten, führen Stimmen aus dem militanten Spektrum als Argument an, dass es gerade die Militanz gewesen sei, die der Protestbewegung die erwünschte öffentliche Aufmerksamkeit gesichert habe, die sie ansonsten wegen des primär sensationsorientierten Journalismus niemals hätte erreichen können. Weitestgehender Konsens besteht indes darin, dass die eigentliche Gewalt von den "Herrschenden" ausgehe. Demzufolge solle, wer Gewaltfreiheit einfordere, "sie dort einfordern, wo die Gewalt ihren Ursprung nimmt: Bei den Verantwortlichen der G-8-Staaten und ihrem Polizeiund Militärapparat." 307 Vor allem vom gewaltbereiten Spektrum als eine Art Wiedererweckung einer tot geglaubten Szene gefeiert wurde das Agieren eines großen "Schwarzen Blocks" auf der Großdemonstration in Heiligendamm: "Seit dem 2. Juni 2007 gibt es wieder eine autonome Bewegung in der BRD." 308 306 "Offener Brief" der ALB in Reaktion auf ein Interview von Attac mit der "Tageszeitung" (taz) im März 2007. In: "junge Welt" Nr. 75 vom 29. März 2007, S. 3. 307 Ebd. 308 "junge Welt" Nr. 127 vom 4. Juni 2007, S. 13. 192 Linksextremismus 4. Parteien und Organisationen 4.1 "DIE LINKE." Gründung: hervorgegangen aus der 1946 gegründeten SED, danach mehrfach umbenannt, zuletzt am 16. Juni 2007 nach dem Beitritt der WASG Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 2.200 Baden-Württemberg (2006: ca. 680) ca. 70.900 Bund (2006: ca. 60.300) Publikationen: "Disput", "Clara.", "DIE LINKE. Landesinfo Baden-Württemberg" Für die vormalige "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) begann 2007 ein neuer Abschnitt ihrer Geschichte. Durch den Zusammenschluss mit der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) entstand die Partei "DIE LINKE.". Zuvor waren bereits entscheidende Schritte auf dem Weg zur Vereinigung unternommen worden. So hatte sich die PDS schon 2005 in "Linkspartei.PDS" (Kurzform "Die Linke.PDS") umbenannt. Beide Parteien haben zudem mehrere gemeinsam erarbeitete Entwürfe von "Programmatischen Eckpunkten" vorgelegt. Am 24./25. März 2007 schließlich wurden auf parallel stattfindenden, jeweils getrennt abgehaltenen Parteitagen in Dortmund die "Gründungsdokumente" für die neue Gesamtpartei beschlossen. Zu diesen zählen neben einer letzten Fassung der "Programmatischen Eckpunkte" die auf Bundesebene gültige Satzung, die Schiedssowie die Finanzordnung. Ein Parteiprogramm im eigentlichen Sinne steht erst im Jahr 2008 auf der Agenda. Mit überwältigender Mehrheit stimmten die Delegierten in Dortmund außerdem dem "Verschmelzungsvertrag" zu. An der Urabstimmung in beiden Parteien beteiligten sich bei der Partei "Die Linke.PDS" 82,6 Prozent der Mitglieder. Von diesen stimmten 96,9 Prozent für die Fusion. Am 16. Juni 2007 fand, wie ursprünglich geplant, der Gründungsparteitag der "neuen" Gesamtpar"neue" Partei tei "DIE LINKE." statt. "DIE LINKE." Als Form des Zustandekommens der Gesamtpartei hatte man sich aus rechtlichen Gründen auf einen Beitritt der WASG zur "Linkspartei.PDS" verständigt. Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen vieler "Linker" handelt es sich somit bei dem Zusammenschluss nicht um eine gleichberechtigte Fusion. Formalrechtlich ist keine neue Partei entstanden. Nach wiederholten Umbenennungen stellt sie faktisch lediglich eine Erweiterung des eigenen Kerns um die Mitglieder und Funktionäre der WASG dar. 193 Am 15. Juni 2007 hatte ein letzter Parteitag der "Linkspartei.PDS" stattgefunden, der von Hans MODROW eröffnet wurde, und bei dem "Vertreterinnen und Vertreter von 73 Parteien und Organisationen aus 50 Ländern und 4 Kontinenten" 309 anwesend waren, darunter Vertreter kommunistischer Parteien. Wie MODROW in seiner Rede unterstrich, müsse die neue Partei "eine sozialistische sein, (...), die alternative Positionen zum Kapitalismus mit einer sozialistischen Zukunftsidee zu verbinden versteht." 310 Lothar BISKY - heute auch Vorsitzender der "neuen" Gesamtpartei - hatte im Hinblick auf die anstehende "Fusion" mit der WASG gesagt: "Ja, wir diskutieren auch und immer noch die Veränderung der Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse und auch das unterscheidet eine neue Partei links von der Sozialdemokratie in Deutschland von anderen. Kurz gesagt: Wir stellen die Systemfrage! Für alle von den geheimen Diensten noch einmal zum Mitschreiben: Die, die aus der PDS kommen, aus der EX-SED und auch die neue Partei DIE LINKE - wir stellen die Systemfrage." 311 Er hob zudem hervor, dass das Ziel des "Demokratischen Sozialismus" auch in der "neuen" Partei weiter verfolgt werde: "Mit dem Erweitern unserer Erfahrungen und unserer Identität in der neuen Partei DIE LINKE sehe ich ab sofort nicht weniger demokratischen Sozialismus als Handlungsorientierung, sondern eher mehr als zuvor." Überhaupt trug das Projekt der "neuen" Gesamtpartei von Anfang an deutlich die Handschrift der früheren "Linkspartei.PDS", die offenkundig nicht bereit war, auf zentrale Elemente ihres politisch-ideologischen Selbstverständnisses zu verzichten. Dies belegen in immer ähnlichen Formulierunhistorische, progen wiederkehrende Kernsätze in den verschiedenen Fassungen der grammatische gemeinsamen programmatischen Papiere von "Linkspartei.PDS" und und personelle WASG, die bereits im Parteiprogramm der "Linkspartei.PDS" von 2003 Kontinuitäten nachzulesen waren. Diese fanden - mit teils noch immer unverkennbaren Anklängen an bekannte Passagen aus dem "Kommunistischen Manifest" - 309 Rede von Hans Modrow auf dem Parteitag der "Linkspartei.PDS" am 15. Juni 2007 in Berlin. 310 Ebd. 311 Rede von Lothar BISKY auf dem Parteitag der "Linkspartei.PDS" am 15. Juni 2007 in Berlin. 194 Linksextremismus zuletzt auch Eingang in die "Gründungsdokumente" der "neuen" Gesamtpartei. So heißt es in den "Programmatischen Eckpunkten" vom März 2007 unter anderem: "Ziel des demokratischen Sozialismus, der den Kapitalismus in einem transformatorischen Prozess überwinden will, ist eine Gesellschaft, in der die Freiheit des anderen nicht die Grenze, sondern die Bedingung der eigenen Freiheit ist." 312 Weiter wird ausgeführt: "Unsere Anerkennung gilt den Bemühungen um eine sozialund wohlfahrtsstaatliche Eindämmung des Kapitalismus ebenso wie Versuchen einer Überwindung der kapitalistischen Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse." Wieder an anderer Stelle heißt es: "Notwendig ist die Überwindung aller Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse, 'in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist' (Karl Marx)". Damit hält die Partei "DIE LINKE." weiterhin am Ziel einer transformatorischen Überwindung des bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftssystems fest. Das den "Gründungsdokumenten" zugrunde liegende Konzept hatte die seinerzeitige PDS bereits in ihrem "strategischen Dreieck" von 2004 formuliert: Den Dreiklang von "Widerstand und Protest" - d. h. außerparlamentarischem Kampf - von "Anspruch auf Mitund Umgestaltung" - d. h. Parlamentsarbeit und Regierungsbeteiligung - und dem Aufzeigen von "über den Kapitalismus hinausweisenden Alternativen" - dem sozialistischen Gesellschaftsmodell. Neben der historischen und programmatischen Kontinuität ist auch die Fortführung struktureller Merkmale der früheren "Linkspartei.PDS" augenfällig: Auch die "neue" Gesamtpartei "DIE LINKE." versteht sich als Sammlungsund Strömungspartei, die unterschiedliche "linke" Richtungen zu integrie312 "Programmatische Eckpunkte - Programmatisches Gründungsdokument der Partei DIE LINKE." vom 24./25. März 2007. 195 ren versucht. Dazu zählt unverändert auch die Existenz offen extremistischer Strukturen, die nicht nur geduldet werden, sondern denen unter bestimmten Voraussetzungen und in organisierter Form als Arbeitsgemeinschaften oder Plattformen ein Mitspracherecht über den politischen Kurs der Partei eingeräumt wird. Die Bedeutung dieser innerparteilichen Zusammenschlüsse zeigt sich zum Beispiel daran, dass mit Sarah WAGENKNECHT die "Kommunistische Plattform" (KPF) auch im neuen Bundesvorstand der Gesamtpartei vertreten ist. Im Zuge des Vereinigungsprozesses sind zu den bereits bestehenden und fortgeführten linksextremistischen Strömungen neue hinzugekommen. Zu diesen formellen und informellen Zusammenschlüssen gehören neben der bereits erwähnten KPF unter anderem das "Marxistische Forum" (MF), der "Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog" (GD/SD), die "Sozialistische Linke" (SL) und die "Antikapitalistische Linke" (AKL). Schließlich sind auch personelle Kontinuitäten unübersehbar. Nicht nur, dass durch den Schwerpunkt der früheren "Linkspartei.PDS" im Osten auch in der "neuen" Gesamtpartei noch immer insgesamt über 70 Prozent der Mitglieder bereits Mitglieder der früheren SED waren. Auch die überwiegende Zahl der amtierenden Vorstandsmitglieder der Partei "DIE LINKE." war bereits im Vorstand der "Linkspartei.PDS" aktiv. In Baden-Württemberg haben sich "Die Linke. PDS" und WASG auf ihrem Parteitag am 20. und "DIE LINKE." 21. Oktober 2007 als einer der letzten Landesverin Badenbände vereinigt. Damit hat die Partei ihren FusionsWürttemberg prozess insgesamt in allen Bundesländern abgeschlossen. Die 196 Delegierten votierten einstimmig für den Gründungsantrag und beschlossen eine Gliederung des Landesverbandes in 36 Kreisverbände. Nach eigenen Angaben hat "DIE LINKE." in Baden-Württemberg nunmehr circa 2.200 Mitglieder, von denen jedoch nicht alle als linksextremistisch einzustufen sind. Sie will flächendeckend zu den Kommunalwahlen im Jahr 2009 antreten und in den nächsten Landtag einziehen. Der neu gewählte Landesvorstand besteht aus 18 Personen. Er zeichnet sich - analog zur Bundesebene - ebenfalls durch personelle Kontinuitäten aus: Dem sechsköpfigen geschäftsführenden Vorstand gehören drei bekannte Linksextremisten an, die bereits im Landesvorstand der früheren "Linkspartei.PDS" amtiert hatten. Das Gleiche gilt auch für den erweiterten Landes196 Linksextremismus vorstand. Dort sind darüber hinaus mit einem Mitglied der ehemaligen Organisation "Linksruck" - jetzt "marx21 - Netzwerk für internationalen Sozialismus" - nunmehr auch trotzkistische Einflüsse präsent. Damit sind auch nach der "Fusion" zentrale Funktionen im Landesverband mit langjährig bekannten Linksextremisten besetzt. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: ca. 500 Baden-Württemberg (2006: ca. 500) ca. 4.200 Bund (2006: ca. 4.200) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) sieht sich unverändert in der Tradition der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Auch unmittelbar vor ihrem 40-jährigen Gründungsjubiläum im Jahr 2008 steht die DKP in ungebrochener politischideologischer Kontinuität zu ihrer Vorgängerpartei. Nicht zuletzt die langwierige Debatte um ihr 2006 verabschiedetes Parteiprogramm, das letztendlich keinerlei substanzielle Neuerungen enthielt, hat die Unfähigkeit der Partei bewiesen, sich aus traditionellen ideologischen Bahnen zu lösen. In ihrem Selbstverständnis als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" 313 beruft sich die DKP unverändert auf die Lehren von Marx, Engels und Lenin und arbeitet auf den "revolutionäre(n) Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen" sowie auf den "Sozialismus als erste Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation" hin. Nach den innerparteilichen Turbulenzen im Kontext der Verabschiedung des neuen Parteiprogramms brachte das Jahr 2007 keine erkennbaren neuerlichen Verwerfungen mehr mit sich. Höhepunkt war das alle zwei Jahre stattfindende "UZ-Pressefest", benannt nach dem wöchentlich erscheinenden zentralen Parteiorgan "Unsere Zeit" (UZ). Bei diesem "Volksfest der DKP & UZ" in Dortmund vermag die kleine Partei regelmäßig ein vergleichsweise großes Publikum anzuziehen und ein für "Linke" attraktives 313 Hier und im Folgenden: Programm der Deutschen Kommunistischen Partei - DKP. Beschlossen auf der 2. Tagung des 17. Parteitages der DKP, 8. April 2006. Hrsg. vom DKP-Parteivorstand Essen, S. 3f. 197 politisches und kulturelles Programm anzubieten. Das diesjährige "Fest der Solidarität" vom 22. bis 24. Juni 2007 endete allerdings trotz der Teilnahme von etwa 50.000 Besuchern mit einem - letztendlich aber tragbaren - finanziellen Defizit. Bei diesem "größte(n) Fest der Linken in Deutschland" wurden etwa 190 Veranstaltungen durchgeführt, an denen neben Angehörigen der DKP unter anderem auch Vertreter der Partei "DIE LINKE." und Anhänger aus Organisationen im Umfeld der DKP teilnahmen, so die VVN-BdA oder die "Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges". In einer weiteren eigenen Parteiveranstaltung am 3. November 2007 erinnerte die DKP in Berlin an "90 Jahre Oktoberrevolution - Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte" und damit an die gewaltsame Machtübernahme der Bolschewiki unter Lenin im Oktober 1917 in Russland. Der DKP gelang es 2007 ansonsten nicht, sich in der breiten Öffentlichkeit weiterhin Resonanz zu verschaffen. Anders als in den 1970er und 1980er Jahren, als geringe sie meist über Tarnorganisationen auf den öffentlichen Meinungsdruck Kampagnenspürbar in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen vermochte - etwa in der Kamfähigkeit pagne gegen "Berufsverbote" oder gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss - fehlen ihr heute die finanziellen und personellen Möglichkeiten. Linksextremistischer Kampagnentätigkeit, getragen von anderen Organisationen oder Aktionsbündnissen, schließt sie sich jedoch regelmäßig an. So unterstützte sie die am 27. Januar 2007 ins Leben gerufene "nonpd"-Kampagne ihrer ehemaligen Vorfeldorganisation VVN-BdA, die das Ziel verfolgt, ein erneutes "Verbotsverfahren" gegen die rechtsextremistische NPD durchzusetzen. Zum G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm, der ein breites Protestspektrum mobilisierte, veröffentlichte die DKP "8 Gründe gegen G8", mit denen sie die marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaftsordnung kritisierte und dieser die marxistisch-leninistischen Sozialismusvorstellungen gegenüberstellte. Bei der unter maßgeblicher Beteiligung linksextremistisch ausgerichteter Vereinigungen organisierten Veranstaltungsreihe zum 100. Jahrestag des "Internationalen Sozialisten Congresses" (ISCS) in Stuttgart veranstaltete die DKP unter dem Motto "Die Internationale erkämpft das Menschen198 Linksextremismus recht" am 7. Juli 2007 eine "Internationale Konferenz Kommunistischer Parteien", bei der unter Beteiligung von Vertretern verschiedener ausländischer kommunistischer Parteien eine Standortbestimmung der kommunistischen Bewegung vorgenommen werden sollte. Auf dem stets virulenten Aktionsfeld des "Antifaschismus" versucht die DKP in engem ideologischem Schulterschluss mit der VVN-BdA, eine politische Sichtweise in der Öffentlichkeit zu etablieren, derzufolge eine rechtsextremistische Gefahr bereits von "rechts-konservative(n)" Kreisen in Politik, Justiz und in den Behörden ausgehe, die angeblich mit Neonazis paktieren. Die Nutznießer einer solchen angeblichen "Rechtsentwicklung" seien letztendlich dieselben, die 1933 Hitler die Macht "übertragen" hatten, nämlich Kapital und Militär. Eine wirklich "antifaschistische Gesellschaft" könne folglich nur nach einer Entmachtung derselben in einem sozialistischen Gesellschaftssystem entstehen. Daran wird deutlich, dass die klassische kommunistische Faschismusdoktrin für die DKP und ihr politisches Umfeld unverändert Gültigkeit hat. Der Zusammenschluss der "Linkspartei.PDS" mit der WASG zur Partei "DIE LINKE." im Juni 2007 wurde von der DKP mit Zurückhaltung beobachtet, aber grundsätzlich begrüßt und unterstützt. "DIE LINKE." eröffne "neue Möglichkeiten zur Sammlung linker, manchmal auch antikapitalistischer Kräfte. Eine Reihe ihrer Mitglieder orientieren sich am Marxismus. Sie gehören zu unseren engsten Verbündenten. In wichtigen Debatten im Bundestag und anderen Parlamenten bringt die Linkspartei dieser Tage auch Forderungen der außerparlamentarischen Bewegung ein." 314 Einer konstruktiven Zusammenarbeit in den "außerparlamentarischen Bewegungen" räumt die DKP im Unterschied zur Partei "DIE LINKE." Priorität ein. Die DKP hatte sich in der Auseinandersetzung um das neue Parteiprojekt Bereitschaft zur entschieden, als eigenständige Partei neben der "LINKEN" fortzubestehen Zusammenarbeit und letztere sowohl als "Herausforderung" als auch als eine Art "konstrukmit Partei tive Konkurrenz" begreifen zu wollen.315 Aus Sicht der DKP handelt es sich "DIE LINKE." bei der Partei "DIE LINKE." um eine "linksreformistische", nicht aber auf dem "wissenschaftlichen Sozialismus" basierende, "revolutionäre" Partei. Gleichwohl sieht die DKP zahlreiche Übereinstimmungen mit der "LINKEN" in tagespolitischen Forderungen und hat bereits bekundet, trotz bestehender Differenzen "die bisher schon sehr gedeihliche Aktionseinheitsund Bündnispolitik mit Mitgliedern und Gliederungen von DIE 314 UZ Nr. 45 vom 9. November 2007, S. 15; Übernahme wie im Original. 315 UZ Nr. 21 vom 25. Mai 2007, S. 2. 199 LINKE auf allen Ebenen fortsetzen und weiterentwickeln" zu wollen316, denn eine "Bündelung" linker Kräfte sei für eine durchsetzungsfähige Politik unverzichtbar.317 Letztendlich sei der Gründungsparteitag der Partei "DIE LINKE." "ein Markstein für die gesamte Linke". 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Berlin Publikationen: "antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur" "AntiFa Nachrichten" Die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der AntifaschistinFeier des nen und Antifaschisten" (VVN-BdA) konnte 2007 auf ihr 60-jähriges Beste60-jährigen hen zurückblicken. Als ihr offizielles Gründungsdatum gibt sie den 15. bis Bestehens 17. März 1947 an, die Tagung der "1. Interzonalen Länderkonferenz der VVN". Die VVN-BdA bestreitet den massiven kommunistischen Einfluss in der Entstehungsphase wie auch ihre langjährige Ausrichtung auf Ideologie und Politik der SED beziehungsweise KPD/DKP nicht mehr. Dass diese auch organisatorisch und finanziell enge Bindung mit den Umbrüchen der Jahre 1989/90 zwangsläufig gelöst wurde, änderte trotz des nach außen demonstrierten Pluralismus innerhalb der VVN-BdA nichts daran, dass Theorie und Praxis ihres Verständnisses von "Antifaschismus", ihrem zentralen Agitationsfeld, in unübersehbarer Kontinuität zur orthodox-kommunistischen Faschismusdoktrin stehen. Dieser zufolge beruhen "Faschismus" und "bürgerliche Demokratie" als Herrschaftsformen des "Kapitals" auf der gleichen ökonomischen Grundlage, nämlich dem Kapitalismus. Folglich ist die Gefahr einer neuerlichen "faschistischen" Entwicklung auch in der Gegenwart so lange nicht endgültig gebannt, wie eben diese sozio-ökonomische Basis nicht grundlegend verändert ist. Vor einem Übergang zum "Faschismus" ergreift das "System" eine Reihe von repressiven Maßnahmen. Diese Vorstufe des "autoritären Staates" muss nicht zwangsläufig in einen neuen "Faschismus" münden, zeigt aber die bedrohliche Tendenz an, die es frühzeitig zu bekämpfen gilt. 316 "junge Welt" Nr. 143 vom 22. Juni 2007, S. 8. Bei der "jungen Welt" - ein bedeutendes Druckerzeugnis im linksextremistischen Bereich - handelt es sich um eine vom Verlag "8. Mai GmbH" (Berlin) herausgegebene Tageszeitung. Sie pflegt eine traditionskommunistische Ausrichtung und propagiert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. 317 UZ Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 2. 200 Linksextremismus Als Beispiel für die Sichtweise, die eine neuerliche "Rechtsentwicklung" in fortgesetztes Deutschland zu erkennen glaubt, kann eine Rede des Bundessprechers der "antifaschistisches" VVN-BdA, Ulrich SANDER, bezeichnet werden, die er Ende September Engagement 2007 in Minden hielt. Sie wurde in Auszügen in der DKP-Zeitung "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 40 vom 5. Oktober 2007 abgedruckt. Unter der Überschrift "Der Krieg an der Heimatfront" - eine Wortwahl im terminologischen Anklang an die Nationalsozialisten - werden Überlegungen des deutschen Innenministers zum Schutz der Bevölkerung gegen terroristische Gefahren als "Schäubles extrem rechter Katalog, - er macht jedem faschistischen Umsturzplan alle Ehre" beschrieben. Die "Gefahr einer Rechtsentwicklung" in Deutschland sei "offensichtlich" und durch zwei Merkmale gekennzeichnet: "Anwachsen des Neofaschismus, Duldung und Förderung der Neonazis als mögliche gesellschaftliche Reserve durch den Staat" und "Abbau der Demokratie durch den Staat, dies auch durch zunehmende Militarisierung und Ausbau des Überwachungsstaates". Der von Bundeswehreinheiten trainierte Einsatz zur Terrorbekämpfung in Deutschland ziele in Wirklichkeit auch "gegen die außerparlamentarische Opposition". Die als Reservisten der Bundeswehr weiterhin zu Verfügung stehenden Soldaten seien "die größte rechtsextreme Bewegung" in Deutschland, die sich "ohne große Öffentlichkeit, aber staatlich unterstützt", formiere. Dies bedeute eine "ideologisch extrem rechte Beeinflussung der Bevölkerung", da es in Millionen Familien Reservisten mit fortlaufenden Kontakten zur Bundeswehr gebe. Ihrem 60-jährigen Bestehen widmete die VVNBdA eine Broschüre, konzipiert als "Lesebuch zu ihrer Geschichte und Gegenwart" 318. Die Landesvereinigung Baden-Württemberg brachte eine Sonderausgabe der "AntiFa Nachrichten" heraus. Die Organisation nahm ihr Jubiläum zum Anlass, in ihrer Selbstdarstellung erneut ihren Charakter als "Bündnis im Bündnis" zu betonen. Demzufolge versteht sie sich unverändert als Sammlungsbewegung, die zugleich nach außen die Praktizierung der Bündnispolitik als zentrale Aufgabe ansieht. Bündnispolitik bedeutet für sie das Anstreben einer "Zusammenarbeit mit allen Kräften, die eine eindeutige Haltung zu faschistischen Umtrieben einnehmen". Indem sie sich gegen jedwede "Abund Ausgrenzung" wendet, gibt sie ihre unveränderte Bereitschaft zur Kooperation mit Linksextremisten zu erkennen bis hin zu "autonomen Antifaschisten", zu denen sie sich schon in der Vergan318 Hans Coppi/Nicole Warmbold (Hrsg.): 60 Jahre Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart der VVN-BdA, Berlin 2007. 201 genheit wiederholt eindeutig bekannt hat. Umgekehrt erklären linksextremistische Strukturen, wie etwa die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB), einer der langlebigsten und wichtigsten autonomen Zusammenschlüsse bundesweit, dass "Antifaschismus für uns wie die VVN-BdA ein Bündnisprojekt" ist, und dass politisches Engagement in diesem Sinne auch das bedeute, "was viele von Euch mit auf den Weg gegeben haben, für uns, im Hier und Heute eine grundlegende Kritik am kapitalistischen System zu formulieren" 319. Das Interesse aus der autonomen Szene an einem Zusammenwirken mit der VVN-BdA ist offenbar auch dem überzeugenden Vorbild der kommunistischen Widerstandskämpfer zu verdanken, deren Authentizität als politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Insassen geeignet war, unter anderem bei Auftritten an Schulen vor allem bei jungen Menschen nachhaltige Wirkung zu erzielen und die aus ihrer politischen "Aufklärungsarbeit" abzuleitenden "Einsichten und Überzeugungen" 320 zu vermitteln. So hieß es in einem Beitrag zur Jubiläumsschrift: "Ihr [der ehemaligen Widerstandskämpfer] lebenslanger Einsatz, ihr gelebter Antifaschismus, ihre politische und persönliche Integrität machten einen Großteil des Ansehens und der Anziehungskraft der VVN auch auf Autonome Antifas aus." 321 Mit dem fortschreitenden Verlust der kommunistischen Widerstandskämpfer verliert die VVN-BdA zunehmend ihr größtes politisches Kapital. Als zu ihrem Selbstverständnis gehörend betonte die VVN-BdA bei gleicher Gelegenheit erneut ihre "Scharnierfunktion zwischen gelegentlich auseinanderstrebenden Partnern", womit ihre bündnispolitischen Bemühungen sowohl in das demokratische wie das extremistische Lager hinein elegant umschrieben sind. Ihre Aufgabe sehe sie darin, "einen Rahmen zu schaffen, in dem unterschiedliche Aktionsformen Platz finden, in dem 'Kein Fuß breit den Faschisten' und 'Bunt statt Braun' nicht als Gegensätze, sondern als zwei Teile eines Ganzen verstanden werden." 322 Mit der Schaffung möglichst breiter Bündnisse, die bis weit in das bürgerliche Lager Schlüsselrolle hineinreichen, realisiert die VVN-BdA die althergebrachten Grundsätze der kommunistischer Bündnispolitik. Dass für sie die Akzeptanz "unterschiedBündnispolitik licher Aktionsformen" im "Kampf gegen rechts" dazu gehört, bedeutet in der Konsequenz auch die Duldung von Strafund Gewalttaten. Praktiziert wird Bündnispolitik nach wie vor anlässlich von Protestveranstaltungen gegen "Nazi-Aufmärsche". Dieser Form des "antifaschistischen 319 Ebd., S. 74. 320 Ebd., S. 57. 321 Ebd., S. 54. 322 Ebd., S. 72f. 202 Linksextremismus Kampfes" liegt die Zielvorstellung zugrunde, dem bekannten Slogan "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" uneingeschränkte Geltung zu verschaffen. Entsprechend werden Entscheidungen, die die Geltung grundgesetzlich verbriefter Rechte - wie die Demonstrationsund Meinungsfreiheit - respektieren, als angebliches "Paktieren" mit Rechtsextremisten denunziert. Ein Beispiel lieferte die VVN-BdA Karlsruhe, indem sie der Stadt Karlsruhe "Doppelmoral" vorwarf, weil diese eine Mahnwache von Rechtsextremisten am 8. Mai 2007 vor einem Kriegerdenkmal genehmigte und wegen möglicher Störaktionen seitens der "antifaschistischen" Szene unter Polizeischutz hatte stellen lassen. Dem Text eines "Presseinfos" zufolge ging die Sprecherin der VVN-BdA Karlsruhe so weit, zu behaupten, der Oberbürgermeister habe sich "zum Büttel von Neonazis gemacht und die Opfer des Faschismus entehrt" 323. In ähnlichem Tenor erklärte die VVN-BdA Konstanz aus Anlass einer Demonstration von Mitgliedern der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) und Neonazis am 18. August 2007 in Friedrichshafen, Stadt und Oberbürgermeister seien "krampfhaft bemüht keine Gründe zu finden, um derartige Aufmärsche von hochkarätigen Rechtskriminellen zu verbieten." 324 "Wegschauen" heiße das offizielle Motto, obwohl man genau wisse, dass ein solches Verhalten den Nationalsozialismus seinerzeit erst ermöglicht habe. Das Negieren der Allgemeingültigkeit von Grundrechten wie insbesondere der Meinungsund Demonstrationsfreiheit sowie der Gleichheit vor dem Gesetz, wie von der VVN-BdA praktiziert, verstößt gegen tragende Prinzipien unseres demokratischen Staatswesens. 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 600 Baden-Württemberg (2006: ca. 600) ca. 2.200 Bund (2006: ca. 2.300) Publikationen: "Rote Fahne" (RF), "Lernen und Kämpfen" (LuK), "REBELL" Die maoistisch-stalinistische "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) verfolgt nach wie vor das Ziel, einen gesellschaftlichen Umsturz durch die Beseitigung der "Herrschaft des Monopolkapitals" 325 her323 Internetauswertung vom 4. Oktober 2007. 324 Internetauswertung vom 16. Oktober 2007. 325 Hier und im Folgenden: "Rote Fahne" (RF) Nr. 4 vom 26. Januar 2007, S. 16. 203 beizuführen. Um "gesellschaftliche Verhältnisse zu verwirklichen", bei denen die "Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen", müsse "die Arbeiterklasse mit ihren Verbündeten das Ruder selbst in die Hand nehmen". Dies sei "nicht über Reformen, sondern nur durch eine Revolution zu verwirklichen - um den Kapitalismus zu beseitigen und den echten Sozialismus zu erkämpfen". In ihren Sozialismusvorstellungen grenzt sich die MLPD deutlich gegenüber dem ehemals "real existierenden" Sozialismus sowjetischer, aber auch dem chinesischer Prägung ab: "Ohne massenhaft zu begreifen, dass der Sozialismus seit Chruschtschow in der Sowjetunion und Deng Xiao Ping in China durch einen bürokratischen Kapitalismus neuen Typs ersetzt wurde, wird es uns nicht gelingen, dem Sozialismus zu einem neuen Ansehen zu verhelfen." 326 Eine wirkliche Perspektive könne nur die Gesellschaftsordnung des "echten Sozialismus" sein, die ihre "Schlussfolgerungen aus den positiven und negativen Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus" gezogen habe: Eine Schlüsselrolle spielt dabei für die MLPD die Durchsetzung der "proletarischen Denkweise" 327 im Unterschied zur "kleinbürgerlichen Denkweise", die in China und der Sowjetunion die verantwortlichen Führer in Partei, Wirtschaft und Staat ergriffen habe, und die sich zu einer "Bourgeoisie neuen Typs" entwickelt hätten. Der für 2008 geplante VIII. Parteitag der MLPD soll "vor allem dadurch gekennzeichnet sein, dass er die ganze Partei auf die künftigen Aufgaben der Partei im Klassenkampf ausrichtet und seinen Beitrag zur Vorbereitung der internationalen Revolution leistet".328 Feier des Die MLPD feierte 2007 ihr 25-jähriges Bestehen. Aus diesem Grunde und 25-jährigen aus verschiedenen weiteren Anlässen absolvierte die Partei in diesem Jahr Bestehens ein für ihre Größenverhältnisse durchaus erstaunliches Veranstaltungsproim Mittelpunkt gramm. Den Anfang machte der "5. Internationale Automobilarbeiterratschlag" vom 17. bis 20. Mai 2007 in Stuttgart, für den ein Stuttgarter MLPDAktivist als Kontaktperson angegeben war. Das "Großereignis für die Automobilarbeiter" 329 war konzipiert als "überparteiliches und selbstorganisiertes Forum zum internationalen Erfahrungsaustausch der Arbeiter, Ange326 Hier und im Folgenden: Interview mit dem Parteivorsitzenden vom 20. Juni 2007, veröffentlicht in der RF Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 17. 327 Hier und im Folgenden: Information für neue Leserinnen und Leser, regelmäßig S. 2 einer jeden RFAusgabe, hier: RF Nr. 39 vom 28. September 2007. 328 Interview mit dem Parteivorsitzenden ENGEL vom 20. Juni 2007, in: RF Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 21. 329 Internetauswertung vom 24. April 2007. 204 Linksextremismus stellten, ihrer Familien und der Auszubildenden aus der Automobilund Zuliefererindustrie" und sollte "ein Beitrag sein, den Kampf um unsere Interessen und unsere Zukunft zu stärken".330 Der Teilnehmerkreis der Veranstaltung bestand nach Parteiangaben aus 660 Personen und 50 internationalen Gästen aus 17 Ländern und dürfte dem weitläufigen marxistisch-leninistischen Spektrum angehört haben. Mit dieser Veranstaltung, bei der die MLPD nach außen hin nicht erkennbar als Partei auftrat, gelang es den Organisatoren gegenüber dem letzten "Automobilarbeiterratschlag" im Jahr 2005, ein deutlich höheres Teilnehmerpotenzial zu mobilisieren. Das von der MLPD selbst als das "größte selbstorganisierte Jugendfestival" 331 bezeichnete Pfingstjugendtreffen vom 26. bis 27. Mai 2007 in Gelsenkirchen lockte in diesem Jahr angeblich über 18.000 Besucher an. Das letzte Pfingstjugendtreffen im Jahr 2005 besuchten nach MLPD-Angaben rund 24.000 Teilnehmer, wobei für den diesjährigen Besucherrückgang vermutlich die schlechten Wetterverhältnisse mitverantwortlich waren. Die insgesamt regelmäßig hohen Zahlen sind auch hier auf die Teilnahme vieler internationaler Gäste und Angehöriger diverser MLPD-naher Organisationen und Gruppierungen zurückzuführen. Das Programm des Pfingstjugendtreffens beinhaltete unter anderem einen "antifaschistischen Erfahrungsaustausch" 332, dessen wichtigstes Ergebnis die "breit getragene Ablehnung des Antikommunismus" gewesen sei, sowie eine "Zukunftsdemonstration" durch die Gelsenkirchener Innenstadt mit angeblich rund 5.000 Teilnehmern, auf der der Parteivorsitzende Stefan ENGEL eine Rede hielt. Das in diesem Jahr herausragende Ereignis für die MLPD war ihr 25-jähriges Jubiläum, das die Partei in der Zeit vom 2. bis 5. August 2007 an verschiedenen Orten des Ruhrgebiets beging. Die Feierlichkeiten endeten mit einer "Internationalen Gedenkfeier" im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald und wurden insgesamt als triumphaler Erfolg gewertet. Höhepunkt war die Veranstaltung am 4. August 2007 in der Duisburger RheinRuhr-Halle, die der Parteivorsitzende in seinem am 20. Juni 2007, dem 25. Gründungstag der MLPD, veröffentlichten Interview schon vorab als "zweifellos die größte und wohl auch bedeutendste Einzelveranstaltung der 330 Internetauswertung vom 22. Januar 2007. 331 Hier und im Folgenden: Internetauswertung der "Roten Fahne News" vom 25. April 2007. 332 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 4. Juni 2007 (Fettdruck im Original). 205 MLPD seit der Parteigründung" 333 hervorhob. Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten war aufwändig mobilisiert worden, unter anderem mit eigens gedruckten Flyern und einer Sondernummer der "Roten Fahne" in einer Auflage von 200.000 Stück. Die Veranstaltungen wurden, Eigenangaben zufolge, von insgesamt 2.600 Personen besucht. Über das mit politischen Reden und Diskussionen ausgefüllte Programm der vier Tage wurde ausführlich in der "Roten Fahne" Nr. 32 vom 10. August 2007 berichtet. Besonders stolz gab sich die Partei angesichts der Teilnahme von Vertretern kommunistischer Organisationen aus über 40 Ländern. Zentrales Ereignis der Jubiläumsveranstaltung am 4. August 2007 in der Duisburger Rhein-Ruhr-Halle war für die Partei die große, rund zweistündige Ansprache des Parteivorsitzenden ENGEL, in der dieser allerdings lediglich im Wesentlichen altbekannte und realitätsferne Standpunkte gebetsmühlenartig wiederholte. Dazu gehörten die Hervorhebung der Notwendigkeit einer sozialistischen Planwirtschaft ebenso wie die Konstatierung eines angeblich auf breiter Front erwachenden Klassenbewusstseins und die Überzeugung, dass der "echte Sozialismus" nur mit einer "proletarischen Denkweise" erkämpft und aufgebaut werden könne. In einer ebenfalls aus Anlass des Parteijubiläums durchgeführten Gesprächsrunde zur "marxistisch-leninistischen Jugendarbeit" war man sich außerdem einig, dass schon Kinder nicht nur "antifaschistische(r) Überzeugungsarbeit" zu unterziehen seien, sondern auch "jede erdenkliche Hilfestellung" erhalten müssten, um mit der "kleinbürgerlichen Denkweise fertig" zu werden. Bereits in seinem Interview vom 20. Juni 2007 hatte ENGEL in der für ihn wie die MLPD als solche typischen übertreibenden und selbst überschätzenden Art und Weise hervorgehoben, dass es der Partei angeblich gelungen sei, "ein gesellschaftlicher Faktor mit wachsender Bedeutung" 334 zu werden. Es gebe heute "keinen bedeutenden Arbeitskampf, keine Massenbewegung, keine gesellschaftliche Diskussion, in der die MLPD nicht profiliert und vielfach prägend beteiligt" sei. Auch ihre "internationale Anzie333 Interview mit dem Parteivorsitzenden ENGEL vom 20. Juni 2007, in: RF Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 22 (Fettdruck im Original). 334 Hier und im Folgenden: Interview mit dem Parteivorsitzenden ENGEL vom 20. Juni 2007, in: RF Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 11. 206 Linksextremismus hungskraft" sei "enorm gewachsen". Gleichwohl musste der Parteivorsitzende einräumen, dass die "bislang ausgeprägt positive Mitgliederentwicklung seit dem VII. Parteitag335 im letzten Quartal 2006 in eine Stagnation übergegangen" 336 sei. Allerdings bezeichnete er in einem weiteren Interview vom Dezember 2007 diese Stagnation als bereits wieder überwunden.337 Deutlich wurde in der Rückschau auf die Feierlichkeiten allerdings auch, dass der MLPD die Anerkennung innerhalb der übrigen deutschen "Linken" selbst zum 25-jährigen Jubiläum größtenteils versagt geblieben ist. Die breite Mobilisierung zu den Festlichkeiten konnte kaum mehr als die eigene Klientel auf den Plan rufen. 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz: Dortmund Geschäftsstelle: Göttingen Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2006: ca. 300) ca. 4.300 Bund (2006: ca. 4.300) Publikation: "Die Rote Hilfe" Die erstmals 1924 in der Weimarer Republik unter Federführung der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründete "Rote Hilfe e.V." hatte sich im "Dritten Reich" aufgelöst und im Jahre 1975 mit Sitz der Geschäftsstelle in Göttingen wieder neu gegründet. Einer Selbstdarstellung im Internet zufolge definiert sich die "Rote Hilfe e.V." als "eine Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt. Sie konzentriert sich auf politisch Verfolgte aus der BRD, bezieht aber auch nach Kräften Verfolgte aus anderen Ländern ein. Unsere Unterstützung gilt allen, die als Linke wegen ihres Handelns, z.B. wegen presserechtlicher Verantwortlichkeit für staatsverunglimpfende Schriften, wegen Teilnahme an spontanen Streiks, wegen Widerstand gegen polizeiliche Übergriffe oder wegen Unterstützung der Zusammenlegungsforderung für politische Gefangene ihren Arbeitsplatz verlieren, vor Gericht gestellt, verurteilt werden. Ebenso denen, die in einem anderen Staat verfolgt werden und denen hier politisches Asyl verweigert wird." 338 335 Der Parteitag fand im Frühjahr 2004 in Magdeburg statt. 336 Interview mit dem Parteivorsitzenden ENGEL vom 20. Juni 2007, in: RF Nr. 25 vom 22. Juni 2007, S. 19. 337 "Rote Fahne News" vom 12. Dezember 2007. 338 Internetauswertung vom 9. November 2007; Übernahme wie im Original. 207 "politische Im Vordergrund der politischen Arbeit der "Roten Hilfe e.V." stand - stärRepression" ker noch als im Jahr zuvor - das Thema "Antirepression". Ausschlaggebend zentrales Thema dafür war das zentrale Ereignis des G8-Gipfels in Heiligendamm als "Symbol der Repression auf allen Ebenen" 339, aber auch eine breit angelegte Kampagne gegen die Nichteinstellung eines Heidelberger Lehramtskandidaten, der unter anderem Mitglied des Bundesvorstands der "Roten Hilfe e.V." und der AIHD ist. Zusammen mit unter anderem der linksextremistischen "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD), dem "Solidaritätskomitee gegen das Berufsverbot" und der VVN-BdA rief die "Rote Hilfe e.V." zur Teilnahme an einer Demonstration am 27. Januar 2007 in Mannheim unter dem Motto "Weg mit den Berufsverboten" auf, an der sich circa 600 Personen beteiligten. Am 14. März 2007 hob der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim das erstinstanzliche Urteil über die Nichteinstellung des Heidelberger Realschullehrers in den Schuldienst auf. Der Lehramtsbewerber wurde mit Beginn des neuen Schuljahres in den staatlichen Schuldienst eingestellt. Von April bis Oktober 2007 widmete sich die "Rote Hilfe e.V." schwerpunktmäßig den Protesten gegen das G8-Treffen in Heiligendamm. Ab dem 31. Mai 2007 war sie mit einer Anlaufstelle vor Ort vertreten. Während der Gipfelproteste wurden ihre Rechtshilfebroschüre "Was tun wenn's brennt" und ein Flyer des unter ihrer Federführung tätigen "Ermittlungsausschusses" verteilt. Mit Presseerklärungen auf ihrer Homepage wurden die Globalisierungskritiker über die aktuellen Ereignisse vor Ort informiert. Am 15. Juni 2007 veröffentlichte die Organisation zum G8-Gipfel eine "Chronologie der Repression" 340. Auch 2007 gab der Bundesvorstand der "Roten Hilfe e.V." zum 18. März, dem "Tag der politischen Gefangenen"341, eine Sonderausgabe der Zeitschrift "Die Rote Hilfe" heraus, die als Beilage in der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" erschien. Unter der Überschrift "Wer im Stich lässt seinesgleichen lässt ja nur sich selbst im Stich..." erklärte der Bundesvorstand darin342, dass für ihn im laufenden Jahr die Forderung nach der Freilassung der verbliebenen RAF-Gefangenen auf der Tagesordnung stehe. So 339 Internetauswertung vom 2. November 2007. 340 Internetauswertung vom 2. November 2007. 341 Das Datum "18. März" soll historische Bezüge zu den Barrikadekämpfen in Berlin während des Revolutionsjahrs 1848, dem Beginn der Pariser Kommune im März 1871 und dem erstmals am 18. März 1923 von der damaligen KPD-nahen "Roten Hilfe" ausgerufenen "Internationalen Tag der politischen Gefangenen" knüpfen. 342 Hier und im Folgenden "18.03.2007. Tag der politischen Gefangenen. Sonderausgabe der Roten Hilfe", S. 1. 208 Linksextremismus heißt es, wenn derzeit in den Medien "eine Stimmung gemacht wird, die die niedrigsten Instinkte des Volkszorns mobilisiert und die die Aktionen der ehemaligen Mitglieder der RAF aus jeglichem politischen und gesellschaftlichen Kontext reißt, so spricht das ein weiteres Mal der Mär von den 'ganz normalen Gefangenen mit ganz normalen Verfahren und ganz normalen Haftbedingungen' Hohn. Die Gefangenen aus der RAF sind immer politische Gefangene gewesen, deren Urteile nach politischen Maßgaben gefällt wurden". Weiter wird ausgeführt: "Wenn heute von den letzten verbliebenen Gefangenen 'Reue' gefordert wird, offenbart sich damit tatsächlich ein wesentlicher Zweck ihrer Inhaftierung: es geht um die Auslöschung linker Geschichte, um die Verleugnung und Verurteilung eines revolutionären Aufbruchs und nicht zuletzt darum, den Willen der Gefangenen zu brechen." 4.6 Sonstige Vereinigungen Im Jahr 2007 waren Trotzkisten erneut sehr aktiv. Aufgefallen ist besonders die Gruppe "Linksruck", die ihre Versuche politischer Einflussnahme auf die Partei "DIE LINKE." konzentriert. Zu diesem Zweck hat sie sich am 1./2. September 2007 offiziell aufgelöst und existiert seither nicht mehr als selbständige Organisation. Zum gleichen Zeitpunkt gründete sie ein "Netzwerk" unter dem Namen "marx21 - Netzwerk für internationalen Sozialismus", mit dem sie künftig nur noch innerhalb der Partei "DIE LINKE." agitieren will. Zu dieser Entscheidung lautete die Begründung: "Wir sehen in der Vereinigung die Chance, eine neue Partei des Klassenkampfes und eines Sozialismus von unten aufzubauen, eine politische Tradition, die in Deutschland vor über achtzig Jahren mit der Stalinisierung der KPD Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts weitgehend verloren gegangen ist." 343 Weiter hieß es: "Die Barbarei des globalen Kapitalismus, seine die Menschheit bedrohende Destruktivität, macht seine Überwindung zur dringenden Notwendigkeit." Ziel von "marx21" sei die "Herausbildung einer sozialisti343 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 27. September 2007. 209 schen Massenpartei". Der Sinn der Gründung des Netzwerkes sei, einen Beitrag dazu zu leisten, "dass die Partei 'Die Linke.' ihr Potenzial entfaltet. Fokussierung Dazu wollen wir ein Netzwerk von Marxisten gründen, das in und mit der auf Partei 'Sozialistischen Linken' als übergreifende Strömung für eine am Klassen"DIE LINKE." kampf orientierte Partei streitet." Zuvor war es Angehörigen von "Linksruck" bereits gelungen, in der Partei "DIE LINKE." wichtige Positionen bis auf höchster Ebene zu besetzen. So ist die Gruppe mit zwei Angehörigen im Bundesvorstand vertreten. Ebenso versuchte die "Sozialistische Alternative VORAN" (SAV) schon frühzeitig, Einfluss auf das Projekt einer "neuen Linkspartei" zu nehmen. Am 14. Oktober 2007 trafen sich "AntikapitalistInnen aus verschiedenen Zusammenhängen, um über eine kontinuierliche Zusammenarbeit sozialistischer Kräfte innerhalb und außerhalb der Partei DIE LINKE zu beraten." 344 Eingeladen hatte neben anderen die SAV. Über die Notwendigkeit, ein "neues oppositionelles Netzwerk" innerhalb dieser Partei zu gründen, so formulierte die SAV in ihren "Vorschläge(n) (...) zur Konferenz antikapitalistischer Linker", bestehe unter den Beteiligten Einigkeit. Es müsse um die Schaffung einer "neuen Massenpartei" gehen, die "eine sozialistische Alternative zu Neoliberalismus und Kapitalismus" anstrebe. Ferner wird betont, man wolle zwar keine Fixierung auf die Partei "DIE LINKE.", doch sei sie für viele zum Bezugspunkt geworden. "Eine Sozialistische Koordination sollte sich deshalb auf die Partei beziehen und versuchen auf sie Einfluss zu nehmen und in ihr zu wirken." Dies sollte die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln nach dem Muster dessen, "was MarxistInnen Einheitsfrontmethode nennen", enthalten. Dazu gehöre unter anderem, sich innerhalb der Partei als Zusammenhang zu konstituieren, politisch initiativ zu werden und für die Mitwirkung in Parteigremien zu kandidieren. Im Zuge der Proteste gegen den G8-Gipfel trat erstmals seit vielen Jahren auch die "Sozialistische Linke" (SoLi) in Karlsruhe mit mehreren Veranstaltungen in Karlsruhe öffentlich in Erscheinung. 5. Aktionsfelder 5.1 Antiglobalisierung Der G8-Gipfel vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm stand 2007 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des gesamten linksextremistischen Spek344 Hier und im Folgenden: "Vorschläge der SAV zur Konferenz antikapitalistischer Linker am 14.10.07". Internetauswertung vom 17. Oktober 2007. 210 Linksextremismus trums, "denn die G8 stehen für rücksichtslose Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Mord." 345 Die Vorbereitungen und Planungen hatten bereits im Frühjahr 2005 begonnen. Bundesweit waren an den Protestplanungen drei Bündnisstrukturen, das "Gesamtbündnis" (initiiert durch die "Interventionistische Linke" (IL)), "Dissent+X" und das "Anti-G8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive" maßgeblich beteiligt. Auch in Baden-Württemberg - besonders in Heidelberg, Karlsruhe und Stuttgart - richteten Linksextremisten ihre Hauptaktivitäten im ersten Halbjahr 2007 auf dieses Thema aus. Das "G8-Aktionsbündnis Karlsruhe", dem unter anderem die DKP, die Partei "DIE LINKE.", "solid - die linke Jugend" und linksextremistisch beeinflusste Organisationen angehörten, führte unter dem Slogan "Gute Nacht G8! Eine andere Welt ist möglich" vom 14. April bis 15. Juni 2007 die "Karlsruher G8-Aktionswochen" mit Informations-, Diskussionsund Filmveranstaltungen sowie Seminaren durch. In Heidelberg veranstaltete das "Heidelberger G8-Bündnis", ein Zusammenschluss von Einzelpersonen der linksextremistischen Szene Heidelberg, vom 15. bis 30. April 2007 eine "Woche der Alternativen". Das Bündnis unterstützte auch die Demonstration "Fight G8! Smash Capitalism!" der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD) am 30. April 2007 in der Heidelberger Innenstadt. Im Bereich Stuttgart waren die "Revolutionäre Aktion Stuttgart" (RAS) für Infoveranstaltungen und Workshops und das Netzwerk "Stuttgart gegen G8" für die Organisation von Fahrmöglichkeiten nach Heiligendamm verantwortlich. Die bei der Rostocker Aktionskonferenz im November 2006 beschlossene "Choreografie des Widerstands", in der die Aktionen gegen den G8-Gipfel Aktionen gegen festgelegt worden waren, konnte weitgehend eingehalten und realisiert werG8-Gipfel den. Aus Baden-Württemberg reisten circa 700 Linksextremisten an, darunter etwa 400 gewaltbereite Autonome. An der "internationalen Großdemonstration" am 2. Juni 2007 in Rostock unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" beteiligten sich etwa 30.000 Personen (nach Veranstalterangaben 60.000 - 80.000). Nach den friedlich verlaufenen Auftaktkundgebungen eskalierte am Stadthafen die Lage. Dort wurden aus dem circa 2.000 Personen umfassenden so genannten Schwarzen Block346 Polizeibeamte mit 345 "Analyse & Kritik" Nr. 518 vom 22. Juni 2007, S. 11. 346 Der "Schwarze Block" vermittelt durch die einheitliche schwarze Bekleidung und das Tragen von Sonnenbrillen, Tüchern und Mützen ein homogenes Erscheinungsbild. Tatsächlich handelt es sich in der Regel jedoch um eine eher unstrukturierte Gruppe von Einzelpersonen und Zirkeln der linksextremistischen autonomen Szene sowie sonstigen, nicht extremistischen, gewaltbereiten Personen. 211 Pflastersteinen, Flaschen und Molotow-Cocktails beworfen. An den Ausschreitungen waren auch Personen aus Baden-Württemberg beteiligt. Ein mit Beamten besetztes Polizeifahrzeug wurde massiv angegriffen und beschädigt. Nach verstärktem Kräfteeinsatz der Polizei und dem Auffahren von Wasserwerfern beruhigte sich die Lage am späteren Abend. Die Folgeveranstaltungen der nächsten Tage verliefen weitestgehend friedlich. Den länger vor Ort bleibenden Demonstrationsteilnehmern standen drei "Internationale Aktionscamps" zur Verfügung. Um den G8-Gipfel nachhaltig zu stören, waren im Vorfeld so genannte Massenblockaden, aber auch dezentrale Blockadekonzepte diskutiert worden. Letztendlich wurde das propagierte Konzept der Massenblockaden des Bündnisses "Block G8" umgesetzt, das im Vorfeld bereits bundesweite "Aktionstrainings" durchgeführt hatte. Der Plan, am 6. Juni 2007 den Militärflughafen Rostock-Laage abzuriegeln, um eine reibungslose Ankunft der Gipfelteilnehmer zu verhindern, konnte lediglich in Ansätzen realisiert werden. Zu einer wirkungsvollen "Massenblockade" drangen am Morgen des 6. Juni 2007 bis zu 9.000 Personen über Feldwege und angrenzende Waldgebiete in die Sicherheitszone vor. Zwei Hauptzufahrtswege nach Heiligendamm wurden zumindest vorübergehend blockiert. Ferner gelang es Hunderten von Aktivisten, bevor sie von der Polizei zurückgedrängt wurden, bis an den eigentlichen Sicherheitszaun vorzudringen. Diese Aktivitäten verliefen - bis auf gewalttätige Einzelaktionen - weitgehend friedlich. Nachdem einzelne Blockadepunkte nachts von mehreren hundert Demonstranten besetzt gehalten worden waren, wurden die Aktionen am 7. Juni 2007 mit mehreren tausend Teilnehmern ebenfalls meist friedlich fortgesetzt. Allerdings kam es an einer Stelle zu massiven Ausschreitungen. Aus der Menge heraus wurden Polizeibeamte mit Steinen beworfen. Am Vormittag des 8. Juni 2007 wurden die letzten Blockaden beendet. Ein für den 7. Juni 2007 geplanter "Sternmarsch" nach Heiligendamm wurde am 6. Juni 2007 vom Bundesverfassungsgericht verboten. Die Abschlusskundgebung "Den Protest gegen ungerechte Globalisierung in die Welt tragen, denn eine andere Welt ist möglich!" am 8. Juni 2007 in Rostock schließlich verlief mit etwa 5.000 Personen wiederum friedlich. Vor dem Hintergrund der gewaltsamen Ausschreitungen bei der Großdemonstration am 2. Juni 2007 fiel die Bewertung der Anti-G8-Proteste durch die Teilnehmer selbst unterschiedlich aus. Einerseits wurde eine heftige Debatte über die "Gewaltfrage" ausgelöst, anderseits sahen viele Stimmen aus dem linksextremistischen Spektrum die Proteste als eindeutigen und großen 212 Linksextremismus Erfolg an. So schrieb die "Interventionistische Linke" (IL) unter dem Titel "Wenn der Staub sich legt oder: Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend" in einer Stellungnahme zu "einigen Aspekten der Anti-G8-Mobilisierung" 347: "Der Anti-G8-Protest war die seit Jahren größte Mobilisierung der radikalen Linken in Deutschland. Gemeinsam mit moderaten Linken und mit GenossInnen und AktivistInnen aus anderen Ländern haben wir den Gipfel effektiv blockiert und mit der Demonstration, in den Camps und während der Aktionstage eine rebellische Welt lebendig werden lassen: Globalisierungskritik wurde Massenpraxis". Im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen erklären die Verfasser in Bezug auf die Ausschreitungen bei der Demonstration am 2. Juni: "Für die einen sind es die 'Krawalle von Rostock', für die anderen der Tag, an dem die Bullen mal wieder rennen mussten und die Staatsmacht für einen Moment die Kontrolle verlor. Für die einen hat der 'Schwarze Block' die Polizei angegriffen, für andere die Polizei provozierend angefangen und die passende Antwort bekommen (...). Um es zugespitzt und provozierend zu sagen: Wir sind ,Krawallanten' und ,Abwiegler' in einem, sind der Schwarze Block und die Deeskalationscombo." 5.2 "Repression" Linksextremisten sahen sich 2007 in besonderem Maße in ihrer Überzeugung bestätigt, dass staatliche Repression sich zuallererst und gezielt gegen "die Linke" richte. Willkürliche "Kriminalisierung" und "politische Verfolgung" gelten angeblich der Einschüchterung einer "politisch unliebsamen" Szene. Als ein neuer Höhepunkt "politischer Repression" wurde staatliches Handeln im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm interpretiert. Dementsprechend trat das Agitationsfeld "Antirepression" noch stärker als in den Vorjahren in den Vordergrund. Eine wichtige Rolle spielten dabei die bereits im Vorfeld am 9. Mai 2007 aufgrund zweier Beschlüsse des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichts347 "Wenn der Staub sich legt oder: Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Die Interventionistische Linke zu einigen Aspekten der Anti-G8-Mobilisierung". In: "G8-EXTRA. Infos rund um und gegen das G8Treffen in Heiligendamm 2007". Internetauswertung vom 26. Oktober 2007. 213 hof durchgeführten Hausdurchsuchungen348 im Zusammenhang mit der "militanten Begleitkampagne" gegen den G8-Gipfel sowie gegen mutmaßliche Angehörige der "militanten gruppe" (mg). Betroffen waren Objekte in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und SchleswigHolstein. In Reaktion auf diese Maßnahmen kam es bundesweit zu zahlreichen spontanen Solidaritätsdemonstrationen, unter anderem auch in Mannheim, Stuttgart und Tübingen sowie zu Sachbeschädigungen. Im Zuge der anhaltenden Proteste wurde unter dem Motto "Jetzt erst recht - Repression und Kriminalisierung des Protestes entgegentreten" zu einer bundesweiten Demonstration am 19. Mai 2007 in Karlsruhe aufgerufen. Die Verfasser des Aufrufs bezeichneten die Durchsuchungsaktion vom 9. Mai 2007 als "Willkür" des Staates. So heißt es: G8-Gipfel - "Unter dem Vorwand des Verdachts auf 'Bildung Höhepunkt einer terroristischen Vereinigung' (SS129a) wurde so "staatlicher versucht, die gesamte Protestbewegung gegen den Repression" G8-Gipfel und andere (system-)kritische Gruppen gegen "Linke" und Einzelpersonen zu durchleuchten und einzuschüchtern." Der Aufruf endet mit den Parolen: "Solidarität mit den Opfern der Repression! Wir lassen uns den Widerstand nicht verbieten! Jetzt erst recht!" 349 Nach den Protesten gegen den G8-Gipfel im Juni 2007, bei denen es zu zahlreichen Festnahmen, Ingewahrsamnahmen und Platzverweisen kam, veröffentlichte die "Rote Hilfe e.V." am 15. Juni 2007 im Internet unter dem Titel "G8: Chronologie der Repression" einen Überblick über "die gezielte Eskalation staatlicher Repressionsmaßnahmen". Darin heißt es unter anderem: "Der G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 war nicht nur ein Kristallisationspunkt für die linke Bewegung, er stellt auch einen Höhepunkt in den staatlichen Versuchen dar, gesellschaftlichen Protest zu kriminalisieren und politische Grundrechte einzuschränken." 350 348 Vgl. Kap. E Ziff. 3. 349 Internetauswertung vom 26. Oktober 2007. 350 Internetauswertung vom 2. November 2007. 214 Linksextremismus Am 13. Juni 2007 kam es erneut zur Durchsuchung mehrerer Objekte in Schleswig-Holstein und Hamburg. In der Nacht zum 31. Juli 2007 nahm die Polizei in Brandenburg unmittelbar nach einem versuchten Brandanschlag auf Fahrzeuge der Bundeswehr drei Personen vorläufig fest. Nach einer Durchsuchung von mehreren Objekten in Berlin und Leipzig am 31. Juli und 1. August 2007 wurde eine weitere Person in Berlin festgenommen. Gegen die Personen wurde wegen des dringenden Verdachts der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung "militante gruppe" (mg) Haftbefehl erlassen.351 Bei einer Solidaritätskundgebung am 4. August 2007 vor der JVA BerlinMoabit erklärte das linksextremistische "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" unter anderem, dass die "aktuellen Repressionsangriffe des deutschen Polizeistaatsapparates gegen die Linke" Teil seien "einer breit angelegten Repressionswelle, die seit geraumen Monaten mit Hilfe der SS129a/b zu etlichen Festnahmen und Verhaftungen geführt hat. Während auf der einen Seite von 'Demokratie' und 'Rechtsstaatlichkeit' gesprochen wird, sieht die Praxis in der Realität anders aus." Die Erklärung endet mit der Parole "Repression kann uns nicht einschüchtern! Weg mit den SSSS129a/b! Freiheit für Axel, Florian, Oliver und Andrej! Solidarität ist unsere Waffe!" 352 In einem Redebeitrag auf einer Kundgebung am 22. August 2007 vor der JVA Berlin-Moabit forderte das linksextremistische "Gegeninformationsbüro" (GIB) unter anderem, dass die "Linke" Antworten auf die Frage finden müsse, "welche adäquaten Widerstandsstrategien gegen die militärische und ökonomische Gewalt des Kapitalismus entwickelt werden müssen, denn wie unsere revolutionären Urmütter und Urväter schon sagten: 'Das Reaktionäre fällt nicht um, wenn es nicht zu Boden gestürzt wird.' Dass Proteste nicht ausreichen, um die menschenverachtende Politik der kapitalistischen Elite zu stoppen, haben wir millionenfach in einer langen Geschichte erfahren. Wir müssen den Schritt vom Protest zum Widerstand organisieren und das geht nicht ohne Infragestellung des bürgerlichen Legalismus. Ohne organisierten massenhaften Widerstand wird die brutale staatliche Repression jeden revolutionären Kampf ersticken." 353 Bereits seit Oktober 2007 wurde unter dem Motto "Unsere Solidarität gegen ihre Repression - Gegen den kapitalistischen Normalzustand" zur Teilnahme an einer bundesweiten Demonstration am 15. Dezember 2007 in Hamburg mobilisiert. In einem Aufruf wurde unter anderem formuliert: 351 Der am 1. August 2007 in Berlin festgenommenen Person wurde am 22. August 2007 Haftverschonung gewährt und der Haftbefehl durch den 3. Strafsenat beim BGH mit Beschluss vom 18. Oktober 2007, Az.: StB 34/07, aufgehoben. 352 Internetauswertung vom 2. November 2007; Übernahme wie im Original. 353 "Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft hat schon verloren. Redebeitrag des Gegeninformationsbüros auf der Knastkundgebung in Berlin-Moabit am 22. August 2007." Internetauswertung vom 2. November 2007. 215 "Wir wollen die Verhältnisse, die den kapitalistischen Normalzustand immer wieder aufs Neue bedingen, überwinden. Wir betrachten den Kapitalismus mit seinem Prinzip der totalen Ökonomisierung der Lebenswelt als menschenfeindlich - als unseren Feind. (...) Unsere Perspektive ist die von emanzipatorischen, politischen und sozialen Bewegungen, lokal und global, die solidarisch und kollektiv die kapitalistischen Bedingungen konsequent ablehnen und ihnen Widerstand entgegen setzen. Genauso wie unser Kampf um Befreiung kollektiv und solidarisch geführt werden muss, muss auch unser Umgang mit staatlicher Repression sein. Nur gemeinsam werden wir Angriffe auf die radikale Linke beantworten und zurückschlagen können." 354 Abschließend hieß es zum Zweck der Veranstaltung, diese solle zeigen, "dass das staatliche Kalkül von Kriminalisierung, von Einschüchterung und Spaltung scheitern wird. Kommt zur Demonstration gegen Repression und Sicherheitsstaat! Zeigen wir ihnen auch auf der Strasse, dass wir die Verhältnisse zum Tanzen bringen können!" 5.3 "Antifaschismus" Das dominierende Themenfeld "Antiglobalisierung" und der Kampf gegen "politische Repression" haben das Aktionsfeld "Antifaschismus" deutlich in den Hintergrund treten lassen. Dies gilt besonders für "autonome Antifaschisten", die ihre Aufgabe vor allem darin sehen, "Faschisten" "auf der Straße" zu bekämpfen. Größere Mobilisierungen fanden lediglich anlässlich des Rudolf-HeßGedenkmarschs statt, der für die rechtsextremistische Szene traditionell eine zentrale Bedeutung hat und deswegen auch bei Linksextremisten besondere Beachtung findet. Gegen rechtsextremistische "Aufmärsche" zum 20. Todestag des Hitler-Stellvertreters am 18. August 2007 riefen die Träger der Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen!" und das "Antifaschistische Aktionsbündnis Baden-Württemberg" (AABW) aus Anlass eines bundesweiten "Antifaschistischen Aktionstags" zur Teilnahme an Protesten in Wunsiedel oder Ersatzorten auf. Da das Bundesverfassungsgericht die Veranstaltung der Rechtsextremisten in Wunsiedel verboten hatte, wurde 354 "Aufruf: Unsere Solidarität gegen ihre Repression". Internetauswertung vom 2. November 2007. 216 Linksextremismus kurzfristig zur Teilnahme an den Gegenaktivitäten in Jena mobilisiert. In dem Internetaufruf hieß es unter anderem: "Wir rufen alle Antifaschisten_Innen auf die Nazis "antifaschistische" dort nicht ungehindert marschieren zu lassen. UnseKampagnen re Solidarität gilt auch den Antifaschist_Innen die rückläufig nach Gräfenberg, Friedrichshafen und Kolding fahren. Lasst uns die Aufmärsche zum Desaster für die Nazis machen." 355 An den im Zeitraum vom 17. bis 19. August 2007 durchgeführten dezentralen Gegenveranstaltungen in München, Wunsiedel, Gräfenberg, Jena und Friedrichshafen beteiligten sich insgesamt etwa 5.000 Personen, darunter auch Linksextremisten. In Friedrichshafen versuchten ungefähr 300 Linksextremisten mehrmals, den Aufzugsweg der Rechtsextremisten zu blockieren. Dabei kam es auch vereinzelt zu Steinund Flaschenwürfen. Weitere Ausschreitungen konnten durch starke Polizeipräsenz verhindert werden. Bei einer Gegendemonstration anlässlich eines "Aufmarschs" der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) am 21. Juli 2007 in Tübingen konnte durch ein massives Polizeiaufgebot eine Auseinandersetzung zwischen den linksund rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmern verhindert werden. Linksextremistische Parteien und Organisationen beteiligen sich vielfältig an "Anti-Nazi-Bündnissen". Hervorgetreten ist darüber hinaus die VVN-BdA mit ihrer "nonpd-Kampagne", in der sie von der DKP und ihrer Jugendorganisation SDAJ unterstützt wurde. Eingeklinkt hat sich auch die MLPD, die bereits seit Jahren das "Verbot aller faschistischen Organisationen" fordert. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die VVN-BdA auch in Baden-Württemberg wieder "Antifaschismus" in Zusammenarbeit mit Autonomen praktizierte. Im Rahmen der Reihe "Heidelberger AntifaHerbst" veranstaltete sie gemeinsam mit der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD) vom 31. Oktober 2007 bis 29. November 2007 in Heidelberg verschiedene Vortrags-, Filmund Diskussionsveranstaltungen sowie die traditionelle Gedenkfeier für die "Opfer des Faschismus" auf dem Bergfriedhof in Heidelberg am 1. November 2007. Bei der diesjährigen Veranstaltung nahmen nach Angaben der Veranstalter356 circa 120 Personen teil. 355 Homepage der Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen!"; Internetauswertung vom 6. November 2007; Übernahme wie im Original. 356 Internetauswertung vom 14. November 2007. 217 5.4 "Deutscher Herbst" Mit dem Thema "30 Jahre Deutscher Herbst" beschäftigten sich ab etwa Mitte 2007 auch deutsche Linksextremisten. Unter anderem in Göttingen, Berlin, Stuttgart und Freiburg im Breisgau gab es Filmund Diskussionsveranstaltungen. In Stuttgart wurde vom 4. bis 28. November 2007 eine Veranstaltungsreihe zur RAF organisiert unter dem Titel "Nichts ist vergessen und niemand - gegen die Umschreibung der Geschichte, für eine Auseinandersetzung mit der Politik der RAF". An einer Diskussionsveranstaltung dieser Reihe am 10. November 2007 mit Klaus VIEHMANN, einem ehemaligen inhaftierten Mitglied der Terrorgruppe "Bewegung 2. Juni", unter dem Tenor "Vom roten Frühling 68 zum deutschen Herbst" nahmen etwa 70 Personen der linksextremistischen Szene teil. In Freiburg im Breisgau wurde am 28. November 2007 im Rahmen einer vom 17. Oktober bis 28. November 2007 durchgeführten Filmreihe und Diskussion "Vorgeschichten des Deutschen Herbstes 1977" 357 eine Filmund Diskussionsveranstaltung "Wir hatten dem Staat den Krieg erklärt" geboten, unter anderem mit Interviews mit vier ehemaligen Aktivistinnen aus der "Bewegung 2. Juni und RAF". Publizistische Aufmerksamkeit fand das Thema "Deutscher Herbst" unter anderem im "Gefangenen Info" durch einen Beitrag mit dem Titel "Die nach wie vor notwendige Korrektur der herrschenden Meinung". Darin erklärte der Bundesvorstand der "Roten Hilfe e.V.", in den Medien werde unter dem Namen "Deutscher Herbst" eine wahre "Propagandamaschinerie" betrieben, deren Ziel nicht nur die "Diffamierung der RAF", sondern darüber hinaus "die Denunzierung des gesamten Aufbruchs der Linken in den 1960er und 1970er Jahren" sei358. Eingegangen wurde an dieser Stelle auch auf die "gezielte Medienkampagne gegen Christian Klar" wegen dessen Grußwort an die Teilnehmer der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Januar 2007 in Berlin. Sie verfolge die Absicht, "den Kapitalismus ein für alle Mal als 'beste aller möglichen Welten' zu präsentieren und jede andere Stimme zum Verstummen zu bringen. Dieser Angriff richtet sich nicht nur gegen die ehemaligen Mitglieder der bewaffnet kämpfenden Gruppen der 1970er und 1980er Jahre, sondern gegen die gesamte Linke, deren Teil die 'Bewegung 2. Juni', die RAF und die 'Revolutionären Zellen' waren." Der Beitrag endet mit einer ausdrücklichen Solidaritätserklärung an "Birgit Hogefeld, Eva Haule359 und Christian Klar ebenso wie allen anderen politischen Gefangenen. Wir fordern alle Roten HelferInnen auf, sich weiter für ihre Freilassung einzusetzen und der Diffamierung und Kriminalisierung linker Bewegungen entgegenzutreten." 357 Internetauswertung vom 26. Oktober 2007. 358 Hier und im Folgenden: "Gefangenen Info" Nr. 328 vom 28. August 2007, S. 1f. 359 Eva Haule wurde in der Zwischenzeit mit einer Bewährungsfrist von fünf Jahren aus der Haft entlassen. 218 Linksextremismus Auch die linksextremistische Zeitschrift "Die Rote Hilfe" widmete dem Thema in ihrer Ausgabe Nr. 3 von 2007 einen Schwerpunkt. Unter der Überschrift "Dreißig Jahre Deutscher Herbst: Lest oder verliert!" erklärte die Redaktion, es sei schon zu Beginn des Jahres abzusehen gewesen, was auf die "Linke" zukäme: "Denunzianten, Besserwisser, Klugscheißer und Medienhetze noch und nöcher, aber uns geht es speziell darum, aus diesem Anlass den Blick einmal auf die Geschichte des Kampfes gegen den Knastapparat und Vernichtungshaft zu richten (...)." Die Anmerkung der Redaktion endet mit: "Es ist ein großer Schatz, der verloren zu gehen droht, wenn sogar wir ihn dem Vergessen anheim fallen lassen - und für eine kämpferische Linke ist es ein Luxus, den sie sich nicht leisten kann und der sich bitter rächen wird, wenn sie die Geschichte kämpfender Gefangener und ihres Kampfes gegen den Unterdrückungsapparat und damit auch wertvolle Erfahrungen vergisst oder ignoriert (...)." 360 Eine Sonderbeilage der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" vom 17. Oktober 2007 mit dem Titel "deutscher herbst" lenkte den Blick auf den 30. Jahrestag der Selbstmorde von Andreas BAADER, Gudrun ENSSLIN und Jan Carl RASPE in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim. Sie enthielt ein Interview mit den ehemaligen RAF-Angehörigen Helmut POHL und Rolf Clemens WAGNER. Darin äußerten sich beide insbesondere zu der Entführung des ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. So erklärte Rolf Clemens WAGNER: "Manche Ergebnisse unserer Überlegungen bleiben ehemalige auch aus heutiger Sicht richtig. Wie die EntscheiInhaftierte dung, Hanns Martin Schleyer zu entführen. Der verteidigen wurde mit seiner SS-Geschichte als WehrwirtRAF-Kurs schaftsführer in besetzten Gebieten und seiner aktuellen Funktion als Aussperrer und Präsident des Unternehmerverbandes ja nicht zufällig ausgesucht. Und gerade an ihm hätten wir unsere Analyse und Politik vermitteln können." 361 360 "Die Rote Hilfe" Ausgabe 3 von 2007, S. 14. 361 "deutscher herbst". Beilage der Tageszeitung "junge Welt" Nr. 241 vom 17. Oktober 2007, S. 6. 219 POHL behauptete, auch heute noch werde die RAF "auf blindwütige Art angegriffen".362 Im Hinblick auf den Vergleich zwischen den Anschlägen der RAF und dem islamistischen Terrorismus äußerte er: "Sicher gehört dazu auch, Anschläge von heute mit unseren Aktionen von damals gleichzusetzen. Das ist falsch. Bei der RAF musste niemand befürchten, dass - wie in London oder Madrid geschehen - auf irgendeinem Parkplatz oder in irgendeiner U-Bahn eine Bombe hochgeht. Wir haben gezielte Aktionen gemacht und nicht irgendwelche unbeteiligte Zivilisten angegriffen. Wir haben uns an dem grundsätzlichen Schema vom begrenzten Krieg orientiert. Der militärische Einsatz sollte dazu dienen, eine politische Wirkung zu entfalten." 363 Die "Stammheimer Todesnacht" war auch Anlass zu einer "Vier Länder Veranstaltung mit Videokonferenz" am 20. Oktober 2007 in Berlin, Stuttgart, Zürich, Brüssel und Mailand. Veranstalter waren die "Rote Hilfe International" (RHI), unterstützt von der "Secours Rouge Belgien", dem "Netzwerk für politische Gefangene" und der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS) unter dem Motto "18.10. Kein Vergeben - Kein Vergessen! Solidarität aufbauen! Kapitalismus zerschlagen!". In einem Aufruf zur Veranstaltung heißt es: "Die unerträglichen Beiträge in den deutschen Medien zum dreißigsten Todestag reduzieren die ehemaligen Mitglieder der RAF auf brutale Killer, Geheimdienstagenten, Nazis und Mafosies. Kein Wort über die politischen Hintergründe, z.B. das Morden der USA in Vietnam, die die deutsche Regierung unterstützte. Kein Wort über die 'shootto-kill'-Methoden der deutschen Staatsmacht. Kein Wort darüber, dass die RAF damals weltweit mit vielen anderen Guerillagruppen in den Metropolen und im Trikont agierte. Kein Wort darüber, dass die 362 Ebd., S. 5. 363 Ebd., S. 2. 220 Linksextremismus RAF eine freie und sozialistische Gesellschaft anstrebte. Und erst recht kein kritisches Wort über die staatlich verordnete Selbstmordversion über die toten Gefangenen in Stammheim. (...) Nicht nur die Geschichte der RAF und die Rebellion vor 40 Jahren soll abgeurteilt werden, sondern die Legitimität eines jeglichen neuen Aufbruchs und Aufstandes." 364 6. Weitere Informationen Derzeit sind zum Thema Linksextremismus folgende Broschüren erhältlich: "Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung" (2003), "Antifaschismus als Aktionsfeld von Linksextremisten" (2002) und "Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) - Auf dem Weg in die Demokratie?" (2000). Aktuelle Informationen zum Linksextremismus erhalten Sie auf unserer Internetseite: http://www.verfassungsschutz-bw.de/links/start_links.htm. 364 Internetauswertung vom 8. November 2007; Übernahme wie im Original. 221 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, 1970 erste Niederlassung in Deutschland, 1972 erste Niederlassung in Baden-Württemberg Gründer: Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) Nachfolger: David MISCAVIGE (Vorstandsvorsitzender "Religious Technology Center", RTC) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: Baden-Württemberg ca. 1.000 - 1.100 (2006: ca. 1.000) Bundesgebiet ca. 5.000 - 6.000 (2006: ca. 5.000 -6.000) weltweit ca. 100.000 - 150.000365 (2006: ca. 100.000 - 120.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Free Mind", "International Scientology News", "Prosperity", "Impact", "Auditor", "Source", "Freewinds" u.a. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die "Scientology-Organisation" (SO) rückte wie schon im Jahr 2006 wiederpolitische holt in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Im Januar 2007 eröffEinflussnahme nete sie ihre Repräsentanz in Berlin. Dadurch will sich die SO in der Bundeshauptstadt ein Standbein schaffen, um langfristig nachhaltigen politischen Einfluss auf Regierung und Parlament zu nehmen. Dabei stellt sie soziale und karitative Themen wie Drogenmissbrauch, Bildung und Menschenrechte in den Vordergrund, um erste Kontakte zu knüpfen und Sympathien zu gewinnen. Tatsächlich verschleiert die SO damit ihre verfassungsfeindlichen, politischen Ziele. Ihre antidemokratische Programmatik wird auch in den Neuausgaben ihrer Grundlagenschriften366 bekräftigt. Die Werbung der SO zielt immer stärker auf Kinder und Jugendliche. Vereinzelt können sich für Menschen unverändert hohe individuelle Gefahren - etwa wirtschaftlicher Ruin oder psychische Probleme - ergeben, wenn sie tiefer in die SO verstrickt werden. Ein Gefahrenpotenzial für die Wirtschaft sind scientologische Managementtrainings, da bei der Einführung von SORichtlinien im gesamten Betrieb auch die Belegschaft eines Unternehmens betroffen sein kann. 365 Die internationalen Mitgliederzahlen beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen. Aufgrund einer verbesserten Erkenntnislage wird von einer leicht höheren Anhängerzahl ausgegangen. 366 Vgl. Kap. F Ziff. 10. 222 Scientology-Organisation 2. Verfassungsfeindliche Programmatik Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit verschweigt Scientology ihre politisch-extremistischen Ziele. Mit der Neuausgabe ihrer Grundlagenbücher hat sie jedoch zumindest innerhalb der Organisation ihre ideologische Erstarrung und ihre verfassungsfeindlichen Ziele bekräftigt. So etwa das Ziel, dass nur "Nichtaberrierte", also Scientologen, Bürgerrechte haben sollten. Nicht-Scientologen gelten durchgängig als "aberriert", das heißt vom rationalen Denken abgewichen und geistig gestört: "Eines Tages wird es vielleicht ein viel vernunftgemäßeres Gesetz geben, das nur Nichtaberrierten erlaubt, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. (...) Vielleicht werden in ferner Zukunft nur Bürgerrechte dem Nichtaberrierten die Bürgerrechte vor dem nur für Gesetz verliehen. Vielleicht ist das Ziel irgendwann Scientologen in der Zukunft erreicht, wenn nur der Nichtaberrierte die Staatsbürgerschaft erlangen und davon profitieren kann. Dies sind erstrebenswerte Ziele, (...)." 367 Gegner von Scientology werden als "antisozial", kriminell und als wertlos verunglimpft. Nach den Vorstellungen der SO sollen diese Menschen notfalls durch Zwang entfernt werden: "DIE ANTISOZIALE PERSÖNLICHKEIT, DER ANTISCIENTOLOGE. Es gibt gewisse Merkmale und geistige Einstellungen, die etwa 20 Prozent einer Rasse dazu bewegen, sich jeder Unternehmung oder Gruppe, die etwas verbessern will, vehement zu widersetzen. Solche Leute sind dafür bekannt, antisoziale Tendenzen zu haben. (...) Verbrechen und kriminelle Handlungen werden von Antisozialen Persönlichkeiten verübt. (...) Wir sehen also, dass es für Regierungen, für polizeiliche Tätigkeit und auf dem Gebiet der geistigen Gesundheit - um nur einige zu nennen - wichtig ist, diesen Persönlichkeitstyp erkennen und isolieren zu können, (...)." 368 367 L. Ron HUBBARD, "Dianetik. Der Leitfaden für den menschlichen Verstand". Kopenhagen, 2007, S. 373, 483. 368 L. Ron HUBBARD, "Einführung in die Ethik der Scientology", Kopenhagen 2007, S. 177; Übernahme wie im Original. 223 "Die einzigen Lösungen dafür scheinen darin zu bestehen, solche Menschen abseits von der Gesellschaft auf Dauer in Quarantäne zu halten, (...) oder aber solche Menschen zu auditieren, bis sie eine Stufe auf der Tonskala 369 erreicht haben, die ihnen Wert verleiht. (...) Man braucht keine Welt von Clears 370 zu schaffen, um eine vernünftige und lohnende Gesellschaftsordnung zu haben. Man muss lediglich diejenigen Leute daraus entfernen, die sich auf Stufe 2,0 371 oder tiefer befinden, indem man sie entweder genug auditiert, (...) oder indem man sie einfach von der Gesellschaft räumlich absondert. Einst beschloss ein Diktator in Venezuela, Lepra zu beseitigen. Er sah, dass die meisten Leprakranken in seinem Land gleichzeitig Bettler waren. Durch das einfache Mittel, alle Bettler in Venezuela zu versammeln und zu vernichten, wurde die Lepra in diesem Land ausgerottet. (...) Eine der wirksamsten Sicherheitsmaßnahmen, die eine vom Krieg bedrohte Nation treffen könnte, bestünde darin, jede 1,1Person372, die mit der Regierung, dem Militär oder der lebenswichtigen Industrie in Verbindung stehen könnte, aufzutreiben und abseits von der Gesellschaft in ein isoliertes Lager zu stecken (...). Auf dieser Stufe befindet sich der Abschaum der Gesellschaft. (...) Keine Gesellschaftsordnung wird überleben, wenn sie nicht diese Leute aus ihrer Mitte entfernt." 373 Wesentliche Merkmale totalitärer Organisationen sind: Pyramidenartige, hierarchische Organisationsstruktur mit Führerprinzip; Eine dogmatische Ideologie, die beansprucht, alle wesentlichen Fragen des Lebens zu beantworten und dabei jede Kritikmöglichkeit ausschließt; 369 "Emotionelle Tonskala": Einstufung von Menschen nach Gemütszuständen, wobei diesen teils willkürlich Charaktereigenschaften und politische Überzeugungen zugewiesen werden. 370 "Clear": Der "Nichtaberrierte", durch SO-Verfahren "geklärte" Mensch. 371 Auf dieser Stufe der "Tonskala" beginnt gemäß HUBBARD der Bereich der Kriminellen. 372 Personen auf der Stufe "1,1" der "Tonskala": So genannte "versteckt Feindselige". 373 L. Ron HUBBARD, "Wissenschaft des Überlebens. Die Vorhersage menschlichen Verhaltens", Kopenhagen 2007, S. 152, 184, 103. 224 Scientology-Organisation Politischer Alleinvertretungsanspruch; Verheißung einer idealen Gesellschaft; Freund-Feind-Stereotypie und Verschwörungstheorien; Massive Propaganda, um zu manipulieren. Scientology erfüllt diese Merkmale. Sie arbeitet zielstrebig auf eine Beseitigung der Wertprinzipien der Verfassung hin, indem sie expansiv versucht, ihre Organisationslehre ("Admin Tech"), also das System ihrer "neue Zivilisation" Binnenstruktur und ihre Ideologie, auf die Gesellschaft zu übertragen. Auf diese Weise will sie langfristig eine "neue Zivilisation" errichten. Politik und Wirtschaft sollen nach HUBBARDs Organisationslehre umfangreich durch Direktiven und administrative Richtlinienbriefe gesteuert werden. Das gesellschaftspolitische HUBBARD-Programm ist verfassungsfeindlich. Bei einer Umsetzung wäre L. Ron HUBBARD etwa die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz oder die verfassungsmäßige Bildung einer Opposition nicht mehr gewährleistet. Auch der zunächst auf das Individuum zugeschnittene Teil der Lehre ist mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar. Durch ihre Sozialtechniken und Verfahren ("Technologie") strebt die SO nach einer umfassenden Kontrolle einer wachsenden Zahl von Menschen durch die Psychotechniken des "Auditing", durch "Sicherheitsüberprüfungen" Grundrechte und mit technischen Mitteln ("E-Meter" 374). Die Bevölkerung würde so außer zunehmend den rigiden Sanktionen ("Ethik") der SO unterworfen. Dadurch Kraft gesetzt würden wesentliche Grundrechte faktisch außer Kraft gesetzt. Insbesondere wären die Wahrung der Menschenwürde, die Meinungsfreiheit und die informelle Selbstbestimmtheit des Einzelnen nicht mehr gewährleistet. Kennzeichnend ist auch, dass die SO ihr vermeintlich rettendes Konzept vor dem Hintergrund eines apokalyptischen Weltbildes kompromisslos vorantreiben will. 374 "E-Meter": "Hubbard Elektrometer". Eine Art einfacher Lügendetektor. 225 3. Scientology und Religion Am 5. April 2007 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Weigerung des russischen Justizministeriums, über eine Registrierung der SO in Moskau als eine religiöse Organisation zu entscheiden, ein Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit des Artikels 11 in Verbindung mit Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist. Die SO wollte daraufhin den Eindruck erwecken, der EGMR habe Scientology als Religionsgemeinschaft "anerkannt" und das Urteil müsse Auswirkungen auf ganz Europa haben. Mit diesen Behauptungen wandten sich Scientologen auch an Kommunen in Baden-Württemberg, um leichter Genehmigungen für Straßenwerbung zu erhalten. Die Darstellung der SO ist jedoch falsch und typisch für ihren manipulativen Umgang mit Gerichtsurteilen. Der EGMR hat keine inhaltliche Prüfung einer etwaigen Religionseigenschaft der SO vorgenommen. Bei der Entscheidung ging es nicht um die Frage, ob die Lehre und Aktivitäten der SO grundsätzlich die Kriterien einer Religion im Sinne von Artikel 9 EMRK erfüllen, sondern im Wesentlichen darum, dass die russischen Behörden der SO den formellen Vorgang einer erneuten Registrierung verweigert hatten. Der EGMR kam zum Ergebnis, dass diese Verweigerung grob fehlerhaft war, da sie ohne Rechtsgrund erfolgte. Dabei hat der EGMR eine Entscheidung inhaltlich nicht vorweggenommen und stellte keine unmittelbare Verletzung der kollektiven Religionsfreiheit fest. Das Urteil betrifft Russland, bezieht sich nur auf die Anwendung russischen Rechts und hat keine Auswirkungen auf die Rechtslage in Deutschland. Der Religionscharakter der Organisation, die in der Öffentlichkeit unter keine verschiedenen Bezeichnungen auftritt, ist in Deutschland umstritten. Scienanerkannte tology ist keine in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannte KörKörperschaft perschaft des öffentlichen Rechts. Sie hat einen solchen Status auch nicht des öffentlichen beantragt. Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass der SO nicht der Rechts Status einer Religionsund Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne von Artikel 4 Grundgesetz (GG), Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung zukommt. Das Gericht sieht den Anspruch der Organisation auf den Religionsstatus lediglich als Vorwand für die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele und fand auch deutliche Worte für die "menschenverachtenden Anschauungen" und "totalitären Tendenzen" in der SO.375 Diese Entscheidung ist 375 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. März 1995, Az. 5 AZB 21/94, NJW 1996, S. 143ff. 226 Scientology-Organisation rechtskräftig und wurde entgegen späterer Behauptungen der SO auch nicht revidiert. In zahlreichen anderen Gerichtsverfahren (Vereinsrecht, Steuerrecht) wurde die Religionseigenschaft der SO ebenfalls verneint oder diese Frage von den Gerichten explizit ausgeklammert. Dagegen billigen Gerichte einzelnen Scientologen durchaus den Schutz von Artikel 4 GG als individuelles Abwehrrecht zu. Das Bundesverwaltungsgericht sah es als einen Eingriff in diesen Schutzbereich an, wenn einem Scientology-Mitglied von einer staatlichen Stelle eine vorformulierte Erklärung über angenommene Gefahren der Scientology-Bewegung vorgelegt werde.376 Derartige Entscheidungen erfolgen allerdings vor dem Hintergrund des weit gefassten Schutzbereichs von Artikel 4 GG, der auch religionsfreie oder religionsfeindliche Anschauungen, die so genannte negative Religionsfreiheit, schützt. Das bedeutet nicht, dass damit die SO als Religionsgemeinschaft anerkannt worden wäre. 4. Organisation und Mitgliederbestand Für Außenstehende ist die Organisationsstruktur von Scientology kaum zu durchschauen. Der Teil, der sich "Kirche" nennt und der in der öffentlichen Diskussion durch die SO vehement in den Mittelpunkt gerückt wird, ist nur eine Seite der Organisation. Expansionsbestrebungen in der Wirtschaft sind dagegen oft nicht ohne Weiteres als SO-Aktivitäten erkennbar. Bedeutende, aus Imagegründen behauptete Aktivitäten, wie die angebliche Drogenhilfe der Unterorganisation "Narconon", waren in Baden-Württemberg im Berichtszeitraum nicht feststellbar. Auch die "Applied Scholastics" (ApS)Nachhilfegruppen sind weit davon entfernt, flächendeckend zu agieren. Hinter den Angeboten im Nachhilfebereich steht vor allem der ideologische Anspruch, ein gesamtes gesellschaftliches Segment wie den Bildungsbereich scientologisch zu verändern. Die SO wird hierarchisch vom obersten Management in Los Angeles/Kalifornien geführt. Machtzentrum ist das "Religious Technology Center" (RTC), das Besitzer der Urheberrechte an den Schriften des Gründers Lafayette Ronald HUBBARD ist, und dadurch ideologische Kontrolle ausüben kann. Die Vorgaben der Führung werden an das jeweilige "Kontinentale Verbindungsbüro" weitergeleitet, das sich für Europa in Kopenhagen befindet. Von dort aus werden die Niederlassungen an der Basis kontrolliert. Die paramilitärisch organisierten Kader der "Sea Organization" ("Sea Sea Org-Logo 376 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Dezember 2005, Az. 7 C 20.04, NJW 2006, S. 1303ff. 227 Org") bilden den harten Kern der SO. Diese Kader können mit Befehlsgewalt Kommandos ("Sea Org Missioners") vom Ausland aus in nachgeordnete Organisationseinheiten entsenden. In Großbritannien unterhält die "Sea Org" eine eigene "Cadet School", in der Kinder und Jugendliche für Führungsaufgaben herangezogen werden. Es gibt Berichte, nach denen diese KinderKadetten uniformiert und kaserniert sind. Wiederholt traten uniformierte "Sea Org"-Angehörige in BadenWürttemberg auf, vereinzelt sollen so genannte "Sea Org"-Werber ("Recruiters") auch versucht haben, jugendliche Scientologen für die "Sea Org" zu gewinnen. In Baden-Württemberg hat die SO einen ihrer bundesweiten Schwerpunkte und das dichteste organisatorische Netz innerhalb Deutschlands. Es besteht aus einer "Class V Org"377 in Stuttgart mit etwa 700 Mitgliedern und vier "Missionen" als Basisorganisationen in Ulm, Karlsruhe, Göppingen und Erlenbach/Krs. Heilbronn, von denen letztere unbedeutend ist. Daneben waren 2007 in Baden-Württemberg weitere Anlaufstellen in LeinfeldenEchterdingen, Sinsheim und Welzheim aktiv, die aber keinen nennenswerten Mitgliederstamm aufbauen konnten. Die "Scientology Gemeinde" in Freiburg im Breisgau ist nur eine Briefkastenadresse. Um dort stärker Fuß zu fassen, eröffneten Anfang 2007 mehrere Scientologen ein "Zentrum für Lebensfragen". In Kirchheim unter Teck besteht eine "Feldauditorengruppe"378, die auch als "Zentrum für Lebensverbesserung" firmiert und Personen aus einer sozial gehobenen Gesellschaft anspricht. In Albstadt und Überlingen/Bodensee waren einzelne "Feldauditoren" aktiv. Dem SO-Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) gehören in Baden-Württemberg mit Schwerpunkt im mittleren Neckarraum rund 50 bis 60 Mitglieder an, darunter auch kleine Firmen. Hauptsächlich sind sie in der Immobilienund Finanzdienstleistungsbranche sowie in der WCC-Logo Managementberatung und Informationstechnologie tätig. In Stuttgart fungiert ein "WISE Charter Committee" (WCC) als "Justiz"-Stelle für WISEMitglieder. Ferner traten die Hilfsorganisationen "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) mit zwei Anlaufstellen in Stuttgart und Karlsruhe sowie einer "Applied Scholastics" (ApS)-Nachhilfegruppe, die Scientology-(Lern)Techniken vermittelt, als "ProfessionelKVPM-Logo les Lerncenter" in Stuttgart in Erscheinung. Ein weiterer ApS-Anbieter in Geislingen an der Steige scheint nur im Internet aktiv zu sein. 377 SO-Niederlassung mit breiterem Dienstleistungsangebot. 378 "Feldauditoren": Personen, die "Auditing" außerhalb der "Org" anwenden. 228 Scientology-Organisation Die SO betrachtet Süddeutschland vor allem wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung als wichtiges Expansionsfeld. Sie konnte aber bislang ihre ambitionierten Pläne nicht umsetzen. Im Jahr 2004 hatte Scientology insgesamt Badenrund zehn "Missionen" in Baden-Württemberg etabliert und beabsichtigte, Württemberg ihr Netz durch 30 weitere "Missionen" zu erweitern. Für 2007 formulierte als wichtiges die SO als "unmittelbares Ziel" 379, in jeder Großstadt zehn "Missionen" als Expansionsfeld "Speerspitze in die Gesellschaft" zu eröffnen, um längerfristig "die Richtung der Gesellschaft zu verändern". Bisher gibt es keine Anzeichen für eine Verwirklichung. Der SO mangelt es in Deutschland an Mitgliedern, um ihre verfassungsfeindlichen Ziele in der Breite wirksam umsetzen zu können. Die SO gibt seit vielen Jahren weit übertriebene Mitgliederzahlen an, wie zum Beispiel die in Scientology-Publikationen ausgewiesene Zahl von über zehn Millionen Anhängern. Gleichzeitig erklärt die Organisation jedoch auch im Widerspruch dazu, sie habe seit 2001 insgesamt 13,9 Millionen neue Mitglieder.380 In Wirklichkeit verfügt die SO über geschätzte 100.000 bis 150.000 Mitglieder, davon leben rund 5.000 bis 6.000 in Deutschland. In Baden-Württemberg sind etwa 1.000 bis 1.100 Scientologen ansässig. Durch intensive Werbung im Berichtszeitraum gelang der Organisation nach Jahren der Stagnation eine leichte Erhöhung ihrer Mitgliederzahlen. 5. Werbemethoden und Propaganda Mit den Themen Bildung, Drogen und Gesundheit greift die SO seit vielen Jahren zentrale Themen in Deutschland auf, um ihre altbekannten Konzepte zu propagieren. Scientology verbreitet nach außen mit hohem Aufwand das Bild einer harmlosen Religionsgemeinschaft und verschweigt dabei ihre politisch-extremistischen Ziele. Der Einsatz prominenter Scientologen ("Celebrities") dient der SO als Imagewerbung, deren verharmlosende Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Durch die aufwändig betriebenen PR-Feldzüge versucht Scientology, größere Akzeptanz in der Gesellschaft zu gewinnen. Das gilt vor allem für ihre breit angelegte "Menschenrechts"-PR-Kampagne, die offenbart, dass die SO in der Öffentlichkeit gezielt Themen aufgreift, bei denen sie zunächst keinen Widerspruch zu erwarten 379 Hier und im Folgenden: Rundschreiben "How to clear your country", Kopenhagen, 17. Mai 2007. Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 380 10 Millionen Mitglieder laut Zeitschrift "Impact" Nr. 115/2006, S. 25. Die Behauptung von 13,9 Millionen Neugeworbenen entstammt der Zeitschrift "The Auditor" AOSH EU Nr. 317/2007, S. 7. 229 hat. Außenstehende ohne Hintergrundinformationen über Scientology können nicht erkennen, dass hier eine Organisation nur scheinbar für Menschenrechte und Zivilcourage eintritt, tatsächlich aber die Demokratie verachtet. Die professionell aufgezogenen Aktionen der SO-Hilfsorganisation "Jugend für Menschenrechte" richten ihren Fokus auf die Gewinnung Jugendlicher für Scientology. Besonders die DVD zu dieser Kampagne kann mit ihren Sequenzen mit Spielfilmcharakter durchaus suggestive Wirkung auf Kinder und Jugendliche entfalten. Dabei gibt es Anzeichen, dass die SO versucht, sich Zugang zu Schulen zu verschaffen. Einzelne Scientologen traten gezielt an Schulen in Baden-Württemberg heran und boten Werbematerial dieser "Hilfsorganisation" wie die DVD "Entdecken Sie Ihre Rechte" an, ohne den SO-Hintergrund zu offenbaren. Auch die Mutterorganisation "Youth for Human Rights International" bot von Los Angeles/Kalifornien aus, ohne ihre Verbindung mit Scientology offen zu legen, bei Behörden und kommunalen Amtsträgern in Baden-Württemberg dasselbe Material an. Die SO versuchte darüber hinaus, flächendeckend an Bürgermeister Propaganda zu versenden, um sich als eine angeblich karitative Religion darzustellen. Eine weitere PR-Kampagne der SO hat das Motto "Weg zum Glücklichsein". Die Zielkampagne ist ebenfalls überaus professionell produziert und nicht ohne Weiteres als Scientology-Produkt erkennbar. Ihre Hilfsorganisation "Way to Happiness Foundation" sandte aus den USA an Unternehmen und Amtsträger im süddeutschen Raum Werbeschreiben, denen Musterbroschüren beigefügt waren, aus denen der SO-Hintergrund zunächst nicht erkennbar wird. Die Broschüren waren ohne Einverständnis der Adressaten mit deren Logo und Namen versehen, so dass im Fall einer Streuung der Eindruck entstehen konnte, das betreffende Unternehmen oder der Amtsträger unterstütze die Verbreitung oder es handle sich um eine Firmenpublikation. Eine Verletzung von Markenrechten war aber fraglich, weil die Anschreiben als Angebote gestaltet waren. Die massiven Werbeaktionen zeigen auch, dass die SO offensichtlich in großem Umfang personenbezogene Daten von Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Verwaltung und Politik sammelt. Die SO führte im Berichtsjahr ihre "Bibliothekenkampagne" fort, bei der sie Bibliotheken Scientology-Literatur übersandte, um HUBBARDs Ideologie über möglichst viele Kanäle zu verbreiten. Der in Kopenhagen ansässige "Library Donation Service", der zu dem Scientology-nahen "New Era Publi230 Scientology-Organisation cations"-Verlag gehört, versandte mehrfach Scientology-Werbung an Schulleitungen und Fachlehrer. Auch ein von SO-Anhängern betriebener Buchversandhandel in Kirchheim unter Teck bot Scientology-Literatur an. Die dort herausgegebene Broschüre "mehr wissen besser leben" ("Kent Depesche") griff zunächst Themen zur Alternativmedizin beziehungsweise zu alternativen Lebensformen auf, die anschließend teilweise mit Werbung für Scientology-Konzepte verbunden wurden. Die Herausgeber, die engere Kontakte zu der "Feldauditorengruppe" in Kirchheim unter Teck unterhalten, behaupten, bislang 30.000 Menschen erreicht zu haben. Sie wollen damit offenkundig neue Rekrutierungsfelder für Scientology erschließen. Bei der Straßenwerbung setzt Scientology grundsätzlich auf vermeintliche Lebenshilfe. Sie führte im Berichtsjahr in zahlreichen Kommunen in vermeintliche Baden-Württemberg Aktionen mit gelben Zelten und Informationsständen Lebenshilfe durch und setzte Hinweisen zufolge zum Beispiel auch russisch sprechende Straßenwerber ("Body router") ein. Um Interesse zu wecken, bieten Werber einen "Persönlichkeitstest" und einen "Schadstofftest" an. Dabei geht es entgegen erster Behauptungen der Scientologen nicht um den Umgang mit persönlichen Defiziten, sondern vor allem darum, die Angesprochenen zu manipulieren, um sie für die SO zu gewinnen. So weisen Rundschreiben die "SO-Werber" an, Interessenten "irgendeinen Einführungsdienst" zu vermitteln. Über die "Selektierten" sollen anschließend persönliche Schwachpunkte ("Ruinpunkte") herausgefunden werden, um sie zu "handhaben". Die Geworbenen sollen auf diese Weise zum Kauf von weiteren "Kursen" und "Auditing" bewegt werden. Dafür bekommen die Werber Provisionen.381 Die Organisation forderte die Mitglieder auch auf, die Namen von Familienangehörigen, Freunden und Arbeitskollegen weiterzugeben. Die mitgliederorientierte Propaganda der SO gibt ein völlig anderes Bild als die PR-Kampagnen für die Öffentlichkeit. Die Organisation formuliert dort teils offen das Ziel, Kontrolle und politische Macht zu gewinnen. Im Scientology-Jargon sind die Begriffe "Clear Deutschland" und "Clear Europa" ein Synonym für die Ausübung von Kontrolle. Die SO forderte ihre Anhänger auch im Berichtsjahr mit teils aggressivem Unterton auf, Widerstand ("Unterdrückung") gegen die Expansion der SO aus dem Weg zu räumen. Sie will zur Massenbewegung werden und besonders Führungskräfte in Politik und Wirtschaft für sich gewinnen. Der ranghöchste Scientology-Manager David MISCAVIGE propagierte in einer Rede, die SO besitze "die Kraft, Unterdrücker zu zerschlagen" 382. 381 Verschiedene Ausgaben der "FSM Newsletter AOSH EU" aus den Jahren 2006 und 2007. 382 Zeitschrift "Impact" Nr. 115/2006, S. 82. 231 6. Kampagnen und Aktionen gegen Kritiker Das "Office of Special Affairs" (OSA) wird nach außen lediglich als Büro für Öffentlichkeitsarbeit dargestellt. Tatsächlich handelt es sich um ein Netzwerk innerhalb der SO, das auch geheimdienstliche Funktionen wahrnimmt und weitgehend abgeschottet tätig ist. Aufgabe des OSA, dessen Deutschlandzentrale sich in München befindet, ist die Abklärung von Kritikern, um OSA-Logo anschließend gegen sie vorgehen zu können. Im Extremfall müssen Betroffene mit Diffamierungen, Belästigungen, gerichtlichen Klagen oder Verfolgungen rechnen. Exemplarische "Bestrafungen" sollen vermutlich allen Aussteigern als Warnung dienen, die offen gegen die SO auftreten wollen. Scientology umschreibt dies mit dem Begriff "Einen Kopf auf den Spieß stecken" 383. Ein Ausstieg erfolgt daher oft im Stillen. Nicht wenige ehemalige Scientologen offenbaren große Angst vor der SO, weswegen sie sich nicht öffentlich äußern wollen. Auch wenn die Befürchtungen teilweise übersteigert sein mögen, halten sich diese Menschen oftmals für ohnmächtig gegenüber einer Organisation, die klagefreudig ist und über viel Geld verfügt. Sie sind sich auch bewusst, dass sie während ihrer Mitgliedschaft intimste Details aus ihrem Leben offenbart haben, die von der SO dokumentiert wurden. Bei der Eröffnung der neuen Berliner SO-Niederlassung am 13. Januar 2007 ergaben sich Anhaltspunkte für operatives Tätigwerden des OSA. Medien berichteten, dass aus Anlass der Eröffnungsfeier die Umgebung aus dem Gebäude gefilmt und einzelne Gegendemonstranten mit einer Handkamera aufgenommen wurden.384 Bei einer Tagung von Scientology-Kritikern in Hamburg im April 2007 waren SOAngehörige vor Ort, die Tagungsteilnehmer unter dem Vorwand einer Gesprächsaufnahme filmten. Ein britischer Reporter der BBC, der für eine Dokumentation385 über Scientology in den USA sowohl Scientologen als auch Kritiker interviewte, stand während seines einwöchigen USA-Aufenthalts unter Beobachtung der Organisation. Scientology hatte ein Kamerateam auf den Journalisten angesetzt. Er wurde immer wieder in verbale Konfrontationen verwickelt, die offenkundig der Zermürbung dienten. Über ähnliche Erfahrungen mit der SO in den USA wurde mehrfach berichtet. 383 L. Ron HUBBARD, "Einführung in die Ethik der Scientology", Kopenhagen, 2007, S. 229. 384 "Ich habe meinen Sohn an Scientology verloren", Berliner Zeitung, 15. Januar 2007. "Scientology filmt und kaum einer wehrt sich", Berliner Zeitung, 16. Januar 2007. 385 BBC Panorama, Reportage "Scientology and me", 2007. 232 Scientology-Organisation All das erschüttert nachhaltig die Glaubwürdigkeit der SO, die einen "Dialog" fordert, um auf diese Weise Gesprächsbereitschaft zu suggerieren. Scientology wähnt sich im Besitz der alleinigen Wahrheit. Kritiker gelten Kritiker gelten als als Verbrecher und Psychopathen und werden als "unterdrückerische PerVerbrecher und son" ("suppressive Person" - "SP") gebrandmarkt. Grundlegende HandPsychopathen lungsschemata, die in SO-Kursen antrainiert werden, sind nicht auf einen konstruktiven Dialog angelegt, sondern zielen darauf ab, Widerstand konfrontativ zu brechen oder manipulativ zu überwinden ("Konfrontieren oder handhaben"). Funktionäre reagieren deshalb auch bei Sachkritik meist mit Vorwürfen, Unterstellungen und teils unterschwelligen Drohungen. Die SO will sich der Kritik entziehen, indem sie grundsätzlich mit dem Vorwurf angeblicher Diskriminierung kontert und ihren Gegnern niedere Beweggründe unterstellt. Scientology betreibt seit Jahren eine planmäßige Herabsetzung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Repräsentanten. Sie vergleicht im Internet auch weiterhin die Situation deutscher Scientologen unterschwellig mit dem Schicksal der Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft386, obwohl die abwegigen Vergleiche in der Vergangenheit zu heftiger Kritik an der SO im Inund Ausland führten. Diese Vorgehensweise entspricht HUBBARDs taktisch geprägten Vorgaben, auf Kritik stets mit härteren Gegenangriffen zu reagieren. 7. Diffamierung des staatlichen Gesundheitswesens Die SO-Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) hetzt pauschal gegen den gesamten Berufsstand der Psychiater. Reißerisch aufgemachte Ausstellungen und DVD-Präsentationen wie "Tod statt Hilfe" sollen die Betrachter emotionalisieren. Scientologen versuchen immer wieder, Propagandamaterial an Entscheidungsträger in der Politik zu verteilen. Dabei geht es kaum um eine seriöse Aufarbeitung der Zeitund Medizingeschichte oder um fachlich fundierte Kritik an konkreten Behandlungsmethoden, sondern darum, Ressentiments zu schüren. Dabei unterstellt die KVPM eine Verschwörung. Ob es sich um die Vernichtungslager des Nationalsozialismus, die Inhaftierung von Dissidenten in der Psychiatrie der Sowjetunion oder um die Terroranschläge vom 11. September 2001 handelt, stets sollen nach Darstellung der KVPM die Psychiater als "Strategen der Zerstörung" verantwortlich und ein angeblich kollektiver böser Wille einer ganzen Berufsgruppe am Werk sein. 386 Internetauswertung: Homepage des "Freedom Magazine", vom 11. Oktober 2007. 233 Die Hetze hat vor allem ideologische Gründe. HUBBARD entwarf VerVerschwörungsschwörungstheorien, in denen er den Rechtsstaat als eine von Großfinantheorien ziers und "Nazi-Psychiatern" gelenkte Scheindemokratie verunglimpfte, in der die Bevölkerung durch "Drogen" unmündig gehalten werde. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Anti-Drogen-Kampagnen der SO gesehen werden. In der SO gelten nicht nur Rauschgifte, sondern auch viele Medikamente als "Drogen". Bei den PR-Feldzügen der SO ("Sag nein zu Drogen") wird dies zunächst nicht deutlich. Die politische Stoßrichtung der KVPM erschließt sich erst bei näherer Betrachtung. Sie will im Hinblick auf Psychotherapieangebote und psychologische Gerichtsgutachten generell verunsichern, um den Boden für vermeintliche Lösungsansätze der SO in Medizin und Justiz zu bereiten. weltweite Mit welcher Vehemenz die SO gegen die Psychiatrie vorgehen will, wurde Beseitigung bei einer Scientology-Großveranstaltung im Juni 2007 in Los Angeles deutder Psychiatrie lich. Mehrere tausend Scientologen verfolgten dort die Rede von David MISCAVIGE. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und als DVD-Präsentation für SO-Mitglieder, nicht jedoch für die Öffentlichkeit produziert. Während dieser Veranstaltung machte das Management unmissverständlich klar, dass sich die SO die "weltweite Beseitigung" der Psychiatrie zum Ziel gesetzt hat und sich im Krieg mit einem ganzen Berufsstand sieht. Das zeigten auf Großbildschirme projizierte Computeranimationen, in denen zum Beispiel eine explodierende Handgranate symbolisch auf die Psychiatrie geworfen wurde, und die militante Sprache. Die mobilen KVPM-Ausstellungen wurden mit Kampfhubschraubern verglichen, die ihre "explosive Ladung" über "Psychiatriefestungen" abwerfen. Als Erfolg feierte das Management, im Jahr 2007 angeblich mehr als 200 Psychiater "geknackt" und "hinter Gitter" gebracht Reaktionen zu haben. Diese Suggestivbotschaften sind dazu gedacht, die Zuhörerschaft auf die KVPMaufzustacheln und Hass zu erzeugen. Das machten auch Reaktionen von Ausstellung ausgewählten Besuchern der KVPM-Ausstellungen deutlich. So wurde eine Frau in einem Interview gezeigt, die aussagte, sie spüre das Bedürfnis, auf einen Psychiater einzuschlagen. Ein anderer KVPM-Unterstützer verglich Psychiater pauschal mit Terroristen, während eine weitere Person propagierte, man müsse es den Psychiatern "mit gleicher Münze heimzahlen". Ein Mann äußerte schließlich: "Jetzt herrscht Krieg". Das Publikum der Veranstaltung, unter dem sich in der ersten Reihe bekannte Hollywoodschau234 Scientology-Organisation spieler befanden, reagierte mit frenetischem Beifall und stehenden Ovationen.387 Bisher konnte die KVPM in Deutschland keine Breitenwirkung erzielen. Im Berichtsjahr versuchten KVPM-Aktivisten in Baden-Württemberg vereinzelt, Propaganda im schulischen Bereich zu verbreiten und verdeckt Ermittlungen vorzunehmen. Im Jahr 2007 wurde ein an die KVPM gerichPropaganda der tetes Schriftstück bekannt, das sich mit einem scientologischen Reizthema KVPM befasst. In dem Schreiben behauptete ein Informant der KVPM, Kenntnis über die Tätigkeit von Schulpsychologen und eine angebliche Medikamentenvergabe für hyperaktive Schüler an zwei Stuttgarter Schulen zu besitzen. Mit aggressivem Unterton forderte der Verfasser des Schreibens weitere Ermittlungen, einen "Kampfplan" und die "Zerschlagung" eines vermeintlichen Kreises von Psychologen an den Schulen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass die Verschwörungstheorien der SO von ihren Anhängern aufgenommen worden sind. Sie dienen als Welterklärungsmodell und führen zumindest teilweise zu einer kämpferischen Haltung. 8. WISE - Speerspitze in Wirtschaft und Politik Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der politisch-extremistischen Ziele der SO ist ihr Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE). Während sich die Organisation nach außen als unpolitisch darstellt, will sie die Ideologie HUBBARDs in der Wirtschaft und in Regierungen implementieren. WISE fordert von seinen Mitgliedern, über Geschäftskontakte neue Anhänger für die SO zu rekrutieren und will über den Vorwand einer Beratungstätigkeit insbesondere Führungskräfte zur SO bringen. Ein WISE-Funktionär propagierte: "Seit langer Zeit hatte ich die grundlegende Absicht, Spitzenführungskräften Ethik388 und geistige Gesundheit 389 zu bringen. Der WISE-Führungskreis hat sich folgende Mission zu eigen gemacht: Strategisch zu operieren, um die LRH 390-Verwaltungstechnolo387 DVD "Das weltweite Ziel globale Rettung. IAS OT Treffen 2007", Los Angeles, 2007. 388 Die SO hat den Begriff "Ethik" fundamental umgedeutet. "Ethik" hat für die SO keine Bezüge zu sittlichen Werten, sondern bedeutet die Optimierung des Überlebens, die rücksichtslose Durchsetzung von Scientology und die Beseitigung von "Gegenabsichten". 389 Die SO sieht die nichtscientologische Gesellschaft als geistig gestört ("aberriert") an. "Geistige Gesundheit" ist in der SO daher ein Synonym für die Anwendung von Scientology-Verfahren. 390 LRH: Kürzel für Lafayette Ron HUBBARD. 235 gie in jedem Land in die Spitzenkörperschaften, das Gemeinwesen, in Staaten und Regierungen hineinzubekommen. (...) Seminare sind ein hervorragendes Mittel, um Kontakt zu Amtspersonen zu erlangen." 391 Der SO-Wirtschaftsverband führte eine Europakonferenz in Athen durch, an der auch Scientologen aus Baden-Württemberg teilnahmen. Während der Konferenz referierte der WISE-Europachef über die Verbreitung von HUBBARDs Lehre im Trainingsund Schulungsgewerbe und darüber, "wie man LRH-Verwaltungstechnologie an der Spitze eines Landes anwendet." 392 Vorgehensweise WISE-Berater aus Baden-Württemberg zielen vor allem auf kleine und von mittelständische Unternehmen. Auch Jungunternehmer mit neuen WISE-Beratern Geschäftsideen können in das Blickfeld von WISE geraten. Risiken können sich zudem für Zweigniederlassungen deutscher Unternehmen im Ausland ergeben. WISE-Berater benutzen für eine erste Kontaktaufnahme häufig einen 200 Fragen umfassenden "Personaltest", der allerdings nahezu identisch mit dem "Persönlichkeitstest" der SO ist.393 Erste Kontakte werden auch durch allgemein gehaltene Abendveranstaltungen über Zeitmanagement, Effizienz oder "beruflichen und persönlichen Erfolg" hergestellt. WISE-Trainer verschweigen gegenüber ihren Klienten in der Regel die Intention des SO-Wirtschaftsverbandes und anfänglich auch den eigenen Hintergrund. Sie umschreiben ihr Angebot allenfalls mit Begriffen wie "Hubbard Managementsystem" oder "Modell von Admin Know How" ("MAKH"). Dass sich hinter diesen Angeboten die Ideologie von Scientology verbirgt, ist für Außenstehende kaum zu erkennen. Zur Fortbildung des Personals werden Seminare angeboten, die nahezu identisch mit einführenden Scientology-Kursen sind, was Betroffene oft nicht merken. Lediglich Copyrightvermerke wie "Hubbard College of Administration International" (HCAI) oder "L. Ron Hubbard Library" können Rückschlüsse auf Scientology zulassen. Das Angebot ist so konzipiert, dass es in einer ersten Phase durchaus subjektiv Erfolge vermitteln kann. Anschließend sollen Kunden durch diese Erfolgserlebnisse schrittweise an die SO herangeführt werden. Dadurch entsteht auch die Gefahr einer Ideologisierung der Firma und der zunehmenden Verbreitung menschenverachtender und totalitärer Vorstellungen auf Betriebsebene. 391 Zeitschrift "Prosperity" Nr. 71/2007, S. 15. Übersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 392 Zeitschrift "Prosperity" Nr. 71/2007, S. 24. Übersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 393 Vergleiche hierzu "Scientology erkennen: Der 200-Fragentest." URL:http://www.verfassungsschutz-bw.de/so/files/so-berichte_2007_06_1.htm. 236 Scientology-Organisation Abstrakte Gefahren bestehen darüber hinaus bei der Datensicherheit. Eine international tätige WISE-Beratungsfirma stellte dem flämischen Parlament in Belgien in Zusammenhang mit Computerkursen Informationsdienste zur Verfügung. Nach Angaben liberaler Parlamentsabgeordneter bestand die Gefahr, dass die SO auf diese Weise Zugang zu sicherheitsempfindlichen Informationen von Bürgern erhalten könnte.394 Die SO dürfte in Zukunft versuchen, verstärkt über WISE zu expandieren und ihre Aktivitäten im Gesundheitsbereich zu intensivieren. Im süddeutschen Raum sind vereinzelt WISE-Berater aktiv, die sich auf Zahnmediziner spezialisiert haben. WISE-Funktionäre in den USA propagieren, HUBBARD-Verfahren flächendeckend bei Physiotherapeuten zu verbreiten. Dabei will WISE in den amerikanischen Berufsverband der Chiropraktiker eindringen, indem von WISE-Seminarteilnehmern verlangt wird, dort Mitglied oder Funktionsträger zu werden, damit der Berufsverband selbst WISE-Schulungen durchführt.395 Der Erfahrung nach sind derartige Vorhaben nicht auf einzelne Staaten beschränkt. Die SO handelt global und dürfte in anderen Ländern ähnliche Ziele verfolgen. Darüber hinaus weisen auch die Aktivitäten von SO-Hilfsorganisationen wie die "Way to Happiness Foundation", die harmlos wirkende Imagebroschüren an Vorstände deutscher Unternehmen versandte, auf eine Verstärkung der Aktivitäten in der Wirtschaft hin. 9. Eröffnung "Idealer Orgs" Die SO intensiviert seit etwa 2003 ihre weltweite Strategie, in politischen und wirtschaftlichen Zentren "Ideale Orgs" 396 zu etablieren, "deren Präsenz sich auf jeden Scientologen und unsere gesamte Bewegung auswirkt. Ich spreche von den Schlüsselpunkten der Welt - von Städten mit nationalen Regierungen, wo es hochwichtig ist, Zugang zu den Kommunikationslinien zu bekommen." 397 Die SO will sich dort ein politisches Standbein schaffen, um Einfluss auf Parlamente und Regierungen zu erlangen. Sie konzentrierte im Jahr 2007 in Deutschland ihre Anstrengungen auf den Ausbau ihrer Hauptstadtrepräsentanz. Am 13. Januar 2007 eröffnete die Organisation in 394 Zeitung "De Volkskrant" vom 4. September 2007 395 Zeitschrift "Prosperity" Nr. 71/2007 (deutsche Ausgabe), S. 15ff. 396 Die SO verbindet mit dem Begriff "Ideale Org" die Vorstellung eines profitablen Scientology-Zentrums mit hoher Anziehungskraft in der Bevölkerung. 397 Rede von David MISCAVIGE in: Zeitschrift "Impact" Nr. 112/2006, S. 55. 237 Berlin ein neues Gebäude mit einer Feier, an der rund 1.500 Mitglieder und Sympathisanten teilnahmen, von denen etwa 120 aus Baden-Württemberg anreisten. Darüber hinaus wurden ehrgeizige politische Ambitionen für die Bundeshauptstadt bekannt. Eine interne Umfrage der Hamburger SO zur Mitarbeiterrekrutierung entlarvte, welche Ziele die SO verfolgt: "Hast Du jemals den Wunsch gehabt dabei zu helfen, die Gesellschaft in Deutschland zu verändern und Dich gefragt, wie Du das könntest? (...) Berlin als die Hauptstadt Deutschlands ist die lebenswichtige Adresse bezüglich Scientology. Um unsere planetarischen Rettungskampagnen398 in Anwendung zu bringen müssen wir die obersten Ebenen der deutschen Regierung in Berlin erreichen. Deshalb wird Berlin die erste Ideale Org in Deutschland. (...) Mit der Unterstützung der Sea Org399 wird Berlin innerhalb Wochen eine Ideale Org sein und die richtige Repräsentation der Scientology in Berlin, die dafür verantwortlich ist, die nötigen Zufahrtsstraßen in das deutsche Parlament zu bauen, um unsere Lösungen tatsächlich eingearbeitet zu bekommen in die gesamte deutsche Gesellschaft." 400 In Stuttgart gelang es der SO im Berichtsjahr nicht, eine repräsentative "Ideale Org" zu etablieren. Das Management hatte das Vorhaben offenbar zugunsten der Neueröffnung des Berliner Scientology-Zentrums in den Hintergrund gerückt. Teils langjährige Mitarbeiter der Stuttgarter Niederlassung zogen in die Bundeshauptstadt um. Dies führte zu einer Schwächung der Stuttgarter "Class V Org" und zu Enttäuschung an der hiesigen "Ideale Org" Scientology-Basis, die hohe Spenden für den Kauf eines Gebäudes in Stuttin Stuttgart gart geleistet und mit einer Verwirklichung einer "Idealen Org" noch im Jahr 2006 gerechnet hatte. Die Organisation hält jedoch an dem Projekt fest und fordert die Basis auf, mit Spenden sukzessive zur Verwirklichung beizutragen, wobei als "magisches" Datum der 8. August 2008 anberaumt ist. Dabei könnte das Management das Projekt auch ohne Beteiligung hiesiger Scientologen weiter vorantreiben. 398 Gemeint ist die Einführung scientologischer "Lösungen" auf breiter Front in Wirtschaft, Politik sowie in schulischen und sozialen Bereichen. 399 "Sea Org": Paramilitärische Kadertruppe, die Führungspositionen innerhalb der SO besetzt. 400 Übernahme wie im Original. 238 Scientology-Organisation 10. Neuauflage der Grundlagenbücher Im Juli 2007 gab die SO-Führung unter anderem in Baden-Württemberg bei weltweit koordinierten Veranstaltungen für Scientologen ohne vorherige Ankündigung die Neuausgabe der HUBBARD-Grundlagenbücher bekannt. Dabei behauptete das Management, nach Prüfung der ursprünglichen Manuskripte seien Unrichtigkeiten in den bislang vertriebenen Schriften aufgefallen, weswegen die Neuauflage notwendig geworden sei. Um die volle Bedeutung dieser Behauptung für den einzelnen Scientologen zu verstehen, muss die Denkweise überzeugter SO-Anhänger betrachtet werden. Für sie erscheint es von zentraler Bedeutung, ja überlebenswichtig, bei der Lehre HUBBARDs "on source" zu sein, was mit dem Begriff "an der Quelwortgetreue le des Wissens" umschrieben werden kann. Das führt zu einem fundamenBefolgung talistischen Umgang mit den Schriften. Alle Anweisungen, Bulletins und aller Schriften Richtlinien müssen unter der Androhung von Sanktionen wortgetreu befolgt werden. Interpretationen oder gar Abänderungen sind streng verboten, da sie als Abweichung von der "reinen" Lehre gelten. Die Basis wurde über die angeblichen Unrichtigkeiten in HUBBARDs Schriften bis zuletzt im Unklaren gelassen. Bis zu den Veranstaltungen wurde nur gezielt mit Slogans wie "Die Welt der Scientology verändert sich für immer! Mehr lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen, (...)" 401 Spannung aufgebaut. Die Werbung und der Verkauf der Altbestände gingen unterdessen unvermindert weiter. Später wurden unvermittelt die 18 neuen Bücher vorgestellt, deren Erwerb samt dazugehörenden Vortrags-CDs rund 3.000 Euro kostet. Zuvor erworbene Grundlagenbücher wurden für Scientologen damit weitgehend wertlos. Von Seiten des Managements gab es weder eine Entschuldigung, noch ein Rücknahmeoder Umtauschangebot. Auch die nahe liegende Frage, warum ein erfahrener Schriftsteller wie HUBBARD die Druckfassungen seiner Bücher nicht nochmals geprüft haben sollte, wurde nicht öffentlich erörtert. Zudem hat die SO-Führung der Basis de facto zu verstehen gegeben, dass Scientology in den vergangenen 50 Jahren in einem solchen Ausmaß falsch gelehrt und somit ebenso falsch gelebt worden sei, dass die Neuausgabe aller Grundlagenbücher notwendig geworden sei. Wenn gegenüber der Basis behauptet wurde, die Grundlagen stünden nun unverfälscht und "völlig on-source" 402 zur Verfügung, würde dies im Rückschluss bedeuten, dass dem in den vergangenen Jahrzehnten nicht so gewesen ist. Bei Scientology gilt ein Verfälschen der Lehre aber als schweres Verbrechen. In der ideologischen Substanz und Pro401 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 36/2007, S. 28 und 44. 402 Ebd. 239 grammatik ergaben sich in den bekannt gewordenen Neuausgaben auch gefügige keine nennenswerten Änderungen. Es dürfte nur wenige Gruppierungen SO-Basis geben, bei denen eine derartige Vorgehensweise keine kollektive Empörung in Badenhervorrufen würde. Die hiesige Scientology-Basis zeigte sich hingegen weitWürttemberg gehend gefügig und kritiklos. Offene Proteste oder öffentliche Kritik gab es zumindest in Baden-Württemberg nicht. Die SO hat in der Vergangenheit gelegentlich punktuelle Änderungen in ihren Schriften durchgeführt. Novum ist, dass erstmals nach dem Tod von HUBBARD im Jahr 1986 gleichzeitig in zahlreichen Publikationen Änderungen bekannt gegeben werden, auch wenn sie in der Summe geringfügig sein mögen. Die SO-Führung hat dies gegenüber der Basis mit unglaubwürdig wirkenden Behauptungen gerechtfertigt. 11. Ausblick Mit der "Idealen Org"-Kampagne gewinnen die Versuche der SO zur nachhaltigen politischen Einflussgewinnung auf nationaler und europäischer Ebene eine neue Intensität. Durch Kampagnen für Bildung oder Menschenrechte will sie sich in Szene setzen, um erste Kontakte in politischen Kreisen zu knüpfen. "Ideale Orgs" sollen in den Hauptstädten Europas und in wirtschaftlich starken Regionen als repräsentative Aushängeschilder dienen. Im Hintergrund will die Organisation ein Netzwerk aufbauen, das längerfristig nachhaltig in der Politik Fuß fassen soll. Dabei ist die SO bereit, für intensive Lobbyarbeit erhebliche Finanzmittel einzusetzen. Medien berichteten in Großbritannien in den Jahren 2006 und 2007 über Zuwendungen an Polizeibeamte in London sowie über eine Spende einer SO-Hilfsorganisation an eine staatstragende britische Partei. In Deutschland wurde Derartiges bislang nicht bekannt. Wichtige Etappenziele für die SO im Bundesgebiet sind eine Steuerbefreiung durch den anvisierten Status der Gemeinnützigkeit sowie den einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, um die Organisation möglichst unangreifbar zu machen. Sie mag von der Erreichung dieser Ziele weit entfernt sein, verfolgt sie aber seit vielen Jahren beharrlich. Das oberste Prinzip der SO ist Expansion. Um sich in der Gesellschaft ausExpansion zubreiten, benutzt sie immer häufiger Hilfsorganisationen, deren Scientology-Bezug nach außen zunächst nicht erkennbar wird. Sie verstärkt die Mas240 Scientology-Organisation kerade einer scheinbar harmlosen, die Menschenrechte achtenden Organisation. Auf diese Weise soll die Öffentlichkeit geblendet und über die wahren, totalitären Ziele getäuscht werden. 12. Vertrauliches Telefon/Weitere Informationen Im Rahmen der Beobachtung der SO ist der Verfassungsschutz auch weiterhin auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie uns an: 0711/95 61 994. Hinweise zu Broschüren und aktuelle Informationen zur SO erhalten Sie auf unserer Internetseite: http://www.verfassungsschutz-bw.de/so/start_so.htm. 241 G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Spionage war auch im Jahr 2007 eine alltägliche Erscheinung. Gleichgültig, ob alte und neue Großmächte um wirtschaftliche Führungspositionen gerungen haben oder sich Machthaber von Staaten wie Iran, Syrien, Pakistan oder Nordkorea in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen wollten und dabei auf hochwertige Güter und Spezialwissen aus HightechLändern angewiesen waren - fremde Nachrichtendienste waren vielfach beteiligt. Die Weltwirtschaft befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Vor allem asiatische Staaten unternehmen große Anstrengungen, um den Technologierückstand zu den westlichen Industriestaaten zügig aufzuholen und bei den Innovationsaktivitäten eigene Akzente zu setzen. Dabei kommt nicht zuletzt den Nachrichtendiensten eine bedeutende Rolle zu. Besonders für Furore gesorgt haben die im September 2007 intensiv in den Medien diskutierten und China zugerechneten elektronischen Attacken auf behördliche Kommunikationssysteme, welche die Verletzlichkeit der hiesigen IT-Infrastrukturen mit aller Deutlichkeit aufgezeigt haben. Aber auch die mit wachsendem Selbstbewusstsein agierende Russische Föderation hat zu erkennen gegeben, dass sie weiterhin trotz der guten Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland auf Regierungsebene nicht daran denkt, auf den Einsatz von Nachrichtendiensten zur Beschaffung vor allem wirtschaftlich nutzbarer Informationen zu verzichten. Technische Innovationen sind in einer globalisierten Welt ein wichtiges Deutsche Firmen Kapital. Deutsche Firmen stellen aufgrund ihrer hohen Leistungen im im Fokus fremder Bereich Produktinnovation ein überdurchschnittlich attraktives Ziel für Nachrichtenfremde Nachrichtendienste dar. Die Abwehr der Wirtschaftsspionage muss dienste deshalb angesichts eines extrem harten internationalen Konkurrenzkampfes und ständig verfeinerter Angriffsmethoden - etwa im technischen Bereich - einem permanenten Anpassungsund Optimierungsprozess unterworfen werden. Dies ist nicht nur eine berechtigte Forderung der Wirtschaft und ihrer Sicherheitsverbände, sondern auch Anspruch der Spionageabwehr des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV). Der Status der Informationssicherheit in deutschen Unternehmen, besonders bei kleinen und mittelständischen Betrieben, entspricht häufig nicht der tatsächlichen Gefährdungslage und lässt hier oft eine ausreichende Risiko-Strate242 Spionageabwehr gie vermissen. Das LfV reagierte mit einer verstärkten Serviceorientierung und einer Intensivierung seiner Präventionsarbeit. So nutzte das LfV beiIntensivierung spielsweise die "SAFEKON" in Karlsruhe - eine Fachmesse für Zutrittsder Präventionskontrolle, Gebäudesicherung und Informationsschutz - um den Bereich arbeit Wirtschaftsschutz Ausstellern und Fachpublikum aus dem Großraum Karlsruhe vorzustellen. Ferner wurde gemeinsam mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz eine Broschüre zur Wirtschaftsspionage mit Fallbeispielen aus beiden Ländern herausgegeben. Auch sie soll verdeutlichen, dass Security Awareness in den Unternehmen hohe Bedeutung zukommt. Nachdem sich die Aufregung des letzten Jahres um die nordkoreanischen und iranischen Nuklearprogramme etwas legte, ist die weitere Entwicklung zu Beginn des Jahres 2008 wieder ungewiss. Nordkorea und die USA beschuldigten sich gegenseitig, das Abkommen über die Einstellung des nordkoreanischen Atomprogramms zum Jahresende 2007 nicht eingehalten zu haben. Die Außenminister der fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates und Deutschlands beschlossen eine Verschärfung der Sanktionen verschärfte gegen den Iran. Der Iran wird - entgegen der Behauptung, sein AtomproSanktionen gramm ausschließlich zur friedlichen Energiegewinnung zu nutzen - weitergegen den Iran hin beschuldigt, die Grundlagen zum Bau nuklearer Waffen schaffen zu wollen. Darin wird nach wie vor eine gefährliche Bedrohung für den Weltfrieden gesehen. Die Abwehr der Proliferation403 bleibt auch zukünftig eine globale sicherheitspolitische Aufgabe, weil es über den Iran hinaus noch andere Länder gibt, die sich unter Umgehung einschlägiger Bestimmungen darum bemühen, in den Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Massenvernichtungswaffen mit den erforderlichen Trägersystemen zu gelangen Abwehr von sowie die zu deren Herstellung notwendigen Güter und das erforderliche Proliferation, Know-how zu erwerben. Außerdem haben terroristische Organisationen eine globale ein Interesse an Massenvernichtungswaffen. Der Einsatz solcher Waffen ist sicherheitsfür die Zukunft nicht auszuschließen. Aus gutem Grunde ist deshalb die politische Spionageabwehr des LfV eng in die gesamtstaatlichen Anstrengungen zur Aufgabe Abwehr solcher Gefahren eingebunden. 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Volksrepublik China Der 17. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2007 hat die Weichen für die Zielrichtung der Politik der nächsten fünf 403 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 243 Jahre gestellt. Dabei offenbarten mehrere Ergänzungen der Parteisatzung die Absicht, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes weiter voranzutreiben. Leitgedanken wie "Entwicklung durch Wissenschaft" und das Festhalten an der "Politik der wirtschaftlichen Öffnung" verdeutlichen, dass diese Ziele - unter Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte - oberste Priorität genießen. Die propagierte Abkehr von der "Politik des schnellen Wachstums um jeden Preis" dürfte dabei die Anstrengungen staatlich gelenkter Informationsbeschaffung kaum verringern. Neben den früher vorherrschenden Nachbau von Massenprodukten tritt zunehmend das nachrichtendienstliche Interesse an der Grundlagenforschung und dem Know-how zur Weiterentwicklung bedeutsamer Technologiebereiche aus der Automobil-, Luftund Raumfahrtbranche. Mittelfristig könnte sich die chinesische Spionage stärker den Feldern Umweltschutz und Energiepolitik zuwenden, die für die Entwicklung des Landes zusehends wichtiger werden. Die Bedeutung, die China der Wirtschaftsspionage beimisst, wird auch durch die Ernennung des Wirtschaftsexperten Geng HUICHANG zum Leiter des zivilen Inund Auslandsdienstes MSS404 offenkundig. Eine neue Dimension der verdeckten Informationsbeschaffung und -manipulation eröffnen die bereits seit einiger Zeit festzustellenden elektronischen Attacken auf deutsche Behörden und Wirtschaftsunternehmen mit mutmaßlichem Ursprung in China ("China-Trojaner"). Art und Umfang der Angriffe veranschaulichen dabei sehr nachdrücklich, welche Risiken das Internet birgt. Durch ein raffiniert vorgeschaltetes "Social Engineering"405 sollen ausgewählte E-Mail-Empfänger zum Öffnen von Dokumenten-Anhängen, die mit äußerst "signaturarmen Schadprogrammen"406 versehen sind, verleitet werden. Ziel ist es, auf den angegriffenen Rechnern Trojaner407 zu installieren, mit denen entweder unbemerkt Daten ausspioniert oder IT-Systeme sabotiert werden können. Um Kontakte zu interessanten Institutionen und Personen in Baden-WürtKontakte nach temberg aufzubauen und zu koordinieren, nutzen die chinesischen NachBadenrichtendienste auch die diplomatischen Auslandsvertretungen ihres Landes. Württemberg Von dort aus ist in auffälliger Weise mit Unterstützung von Wissenschaftlern und Studenten chinesischer Herkunft, die an deutschen Instituten und 404 Ministry of State Security (Ministerium für Staatssicherheit). 405 Social Engineering (engl. angewandte Sozialwissenschaft): Social Engineering Angriffe nutzen die Hilfsbereitschaft, Gutgläubigkeit oder die Unsicherheit von Personen aus, um beispielsweise an vertrauliche Daten zu gelangen oder die Opfer zu bestimmten Aktionen zu bewegen. 406 Die Schadsoftware wird auch von aktuellen Virenscannern nicht unbedingt erkannt. 407 Selbständige Programme mit einer verdeckten Schadfunktion, ohne Selbstreproduktion. 244 Spionageabwehr Universitäten tätig sind, versucht worden, unmittelbaren Zugang zu ausgewählten Forschungsarbeiten sowie wissenschaftlichem Know-how zu erlangen. Aufschlussreiche und wissenschaftlich nützliche Forschungsdaten, die im Internet veröffentlicht werden, stoßen nicht nur in akademischen Fachkreisen auf reges Interesse. Diese Erfahrung machte ein chinesischer Diplomand eines naturwissenschaftlich-technischen Instituts in Baden-Württemberg, als er unvermittelt in den Fokus nachrichtendienstlicher Interessen geriet. Er wurde aufgefordert, seine Diplomarbeit sowie weitergehende Forschungsergebnisse seines Arbeitgebers der diplomatischen Vertretung zuzuleiten. Seine ablehnende Haltung führte zu nachteiligen persönlichen Konsequenzen. Parallel dazu wird auch der Austausch von Wissenschaftlern zwischen Universitäten beider Staaten zur gezielten Informationsbeschaffung genutzt. Bei einem im Forschungsbereich einer baden-württembergischen Hochschule tätigen chinesischen Gastwissenschaftler konnten neben seiner unzureichenden wissenschaftlichen Qualifikation, die nicht den vorgelegten Nachweisen entsprach, verschiedene auffällige Verhaltensweisen beobachtet werden. Zugriffsversuche auf gesperrte Daten, unzulässiges Fotografieren von Versuchsabläufen, Transferieren großer Datenmengen direkt vom Arbeitsplatz aus nach China sowie der enge Kontakt zum nächstgelegenen chinesischen Konsulat verstärkten zunehmend die Vermutung einer nachrichtendienstlichen Steuerung. In der Folge räumte der Wissenschaftler gegenüber einem Kollegen sogar ein, dass er die detaillierte Beschreibung eines technischen Verfahrensablaufs zur Weitergabe an eine "geheime Stelle" in seinem Heimatland benötigen würde. Die Bemühungen chinesischer Nachrichtendienste zur Erlangung von wissenschaftlichem Know-how in Deutschland sind nicht auf die dargestellten Vorgehensweisen und Methoden beschränkt. Ergänzend dazu entwickeln Vereine chinesischer Akademiker unter mutmaßlicher nachrichtendienstlicher Steuerung rege Anstrengungen, sich nach Fachrichtungen spezialisiert, flächendeckend zu verbreiten. Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass die Vereinsaktivitäten eng mit Angehörigen diplomatischer Vertretungen abgestimmt werden. 245 Die chinesischen Nachrichtendienste waren auch bemüht, in Deutschland Informationen über Gruppierungen und Organisationen zu gewinnen, welche die Machtposition der KPCh gefährden könnten. Betroffen hiervon waren in Baden-Württemberg die Falun-Gong-Bewegung408 sowie Personen uigurischer Abstammung. 2.2 Russische Föderation Zur Wahrung seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen ist es der Russischen Föderation gerade auch in Zeiten der Erweiterung der Europäischen Union (EU) und des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses (NATO) überaus wichtig, Informationen über diese Entwicklungen zu erlangen, die nicht öffentlich zugänglich sind. Selbst gute zwischenstaatliche Beziehungen hindern die russische Auslandsaufklärung nicht daran, Spionageaktivitäten zu entfalten. SpionageAuch 2007 wurden die russischen Nachrichtendienste erheblich aufgeweraktivitäten tet. Die Ernennung des bisherigen Premierministers und Außenhandelsexperten Mikhail FRADKOV zum Leiter des zivilen Auslandsnachrichtendienstes SWR409 unterstreicht die herausragende Stellung dieser Organisation. Sie ist auf die Unterstützung des wirtschaftlichen und des Verteidigungspotenzials des Landes ausgerichtet und wirkt daneben bei der Bekämpfung der Proliferation und des internationalen Terrorismus mit. Ein weiteres Aufgabengebiet umfasst die Aufklärung von Aktivitäten und Arbeitsmethoden fremder und damit auch westlicher Nachrichtendienste. Auch wurden ihr im Bereich der elektronischen Fernmeldeaufklärung weitreichende Kompetenzen zugewiesen. Die GRU410 ist der militärische Auslandsnachrichtendienst der Russischen Föderation. In der Bundesrepublik Deutschland befasst er sich schwerpunktmäßig mit der Aufklärung der Bundeswehr und der Beschaffung militärisch nutzbarer Technologien. Damit ist er eingebunden in die ehrgeizigen Aufrüstungspläne, die russischen Streitkräfte bis 2015 mit einer neuen Generation von Kampfjets, Atom-U-Booten und Interkontinentalraketen auszustatten. Hinweise auf konkrete Ausforschungsziele werden immer dann bekannt, wenn es zu spektakulären Festnahmeaktionen wie im Juni 2007 in Salzburg/Österreich kommt. Dort konnte ein unter diplomatischer Abdeckung agierender russischer Agent bei der Treffabwicklung mit einem 408 Neue religiöse Bewegung aus China stammend auf der Basis von Qi Gong. 409 "Slushba Wneschnej Raswedkij" ("Dienst für Ermittlungen im Ausland"). 410 "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije" ("Hauptverwaltung für Aufklärung" beim Generalstab der Streitkräfte). 246 Spionageabwehr früheren Mitarbeiter eines internationalen Luftund Raumfahrtunternehmen festgenommen werden. Der größte und mächtigste Apparat in der staatlichen Sicherheitsstruktur Russlands ist der Inlandsnachrichtendienst FSB411. Er ist für die zivile und FSB - mächtigster militärische Spionageabwehr sowie für die Bekämpfung von Terrorismus Apparat in der und Organisierter Kriminalität zuständig. Umfassende weitere KompetenSicherheitszen besitzt er auf dem Gebiet des Fernmeldewesens und bei der Sicherheit struktur in der Informationstechnik. Außerdem obliegen ihm die Sicherung der Staatsgrenze und die damit verbundene Kontrolle einund ausreisender Personen. Die letztgenannte Zuständigkeit eröffnet ihm ideale Möglichkeiten, ausländische Staatsbürger für eine Agententätigkeit anzuwerben und ebenfalls auf dem Feld der Auslandsaufklärung mitzuwirken. Bei den Aktivitäten der russischen Dienste in Deutschland spielen die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Russischen Föderation sowie die hier ansässigen Niederlassungen ihrer Medienagenturen eine ebenso wichtige Rolle wie die zentrale Agentenführung aus Moskau. Vordringliches Interesse besteht an Messtechnik, Glasfaseroptik, Umweltund Energietechnik, aber auch an Kommunikationsund Überwachungsausrüstungen. Ein Großteil der benötigten Informationen wird aus offenen Quellen wie Medienbeobachtung, Gesprächsabschöpfung, Firmenund Messebesuchen und durch die gezielte Internet-Auswertung zusammengetragen. Der folgende Fall zeigt beispielhaft die verdeckte Agentengewinnung durch russische Geheimdienstangehörige: Ein Angehöriger eines russischen Nachrichtendienstes wurde auf einen leitenden Angestellten einer in Baden-Württemberg ansässigen Hightech-Firma aufmerksam. Der leitende Angestellte hielt sich zu Geschäftsverhandlungen in Russland auf. Der zunächst offene Kontakt wurde bald auf eine vertrauliche Basis gestellt, und der deutsche Staatsbürger nach Rückkehr in die Bundesrepublik zu einem vergnüglichen Abend in ein Restaurant eingeladen. Bei Festlegung der Treffmodalitäten waren sogleich weitere Zusammenkünfte abgestimmt worden. Der Firmenvertreter meinte, die wirkliche Absicht des Russen zu erkennen und befürchtete, dass der weitere Kontakt zu seinem neuen Bekannten die Aufmerksamkeit von Sicherheitsbehörden nach sich ziehen könnte. Er wandte sich des411 "Federalnaja Slushba Besopasnosti" ("Föderaler Dienst für Sicherheit"). 247 halb gleich nach dem Treffen an die Spionageabwehr und schilderte seine Wahrnehmungen. 2.3 Proliferation Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder von Bestandteilen zu deren Herstellung hat sich trotz diverser Rüstungskontrollabkommen und Handelsbeschränkungen zu einem globalen sicherheitspolitischen Problem entwickelt. Die weltweite Betroffenheit über die Atomtests Nordkoreas und Pakistans macht dies mehr als deutlich. Staaten wie der Iran, Nordkorea, Pakistan und Syrien sehen im Besitz von politisches DruckMassenvernichtungswaffen ein geeignetes Mittel, politische Forderungen mittel: Massenvergegenüber Nachbarländern oder der internationalen Staatengemeinschaft nichtungswaffen durchsetzen zu können. Obwohl sie bereits in Teilbereichen darüber verfügen, halten sie weiter an ihren Beschaffungszielen fest. Bestehende Arsenale sollen komplettiert sowie die Waffen hinsichtlich Einsetzbarkeit und Wirkung perfektioniert werden. Da die Länder nicht in vollem Umfang in der Lage sind, diese Aufgaben selbst zu lösen, versuchen sie, die notwendigen technischen Komponenten vor allem in den hoch entwickelten westlichen Industrienationen zu beschaffen. Eine Reihe von Staaten nutzt dabei gezielt die weltweite Zusammenarbeit wissenschaftlicher Einrichtungen und den speziell im Bereich der Grundlagenforschung weitreichenden internationalen wissenschaftlichen Austausch. Auch wenn das militärische Nuklearprogramm des Iran möglicherweise seit dem Jahr 2003 nicht mehr weiter verfolgt worden ist, konnten weiterhin intensive Aktivitäten zur Erlangung von Gütern und Trägertechnologien für militärische Anwendungen aller Art festgestellt werden. Iran versucht vor allem Spezialwerkzeugmaschinen, Mixer, Kreiseltechnologie, Windkanalausrüstung, Antriebsund Steuerungssysteme, spezielle Messgeräte und Festtreibstoffkomponenten zu beschaffen. Bei den nachgefragten Waren handelt es sich häufig um so genannte Dual-use-Güter412, welche in ihren Parametern nur geringfügig von solchen Produkten abweichen, die der Exportkontrolle unterliegen. Ein mittelständisches baden-württembergisches Unternehmen, das Kälteanlagen produziert, hat Geschäftsverbindungen zu mehreren 412 Als "Güter mit doppeltem Verwendungszweck" werden Güter einschließlich Datenverarbeitungsprogrammen und Technologien bezeichnet, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können. 248 Spionageabwehr iranischen Firmen. Bei einer Lieferung mussten als Folge der Exportbeschränkungen einzelne Bauteile ausgetauscht werden, um eine missbräuchliche Verwendung definitiv auszuschließen. Die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der Anlage war dadurch zwar nicht beeinträchtigt, jedoch bewirkte der Umbau eine 20-prozentige Leistungseinbuße. Die konspirative Vorgehensweise iranischer Beschaffungsorganisationen hat konspirative sich auch 2007 nicht geändert. Nach wie vor werden bereits in der VerganVorgehensweise genheit häufig praktizierte Verschleierungstechniken - Umgehungslieferuniranischer gen über Drittländer, Einschaltung von Zwischenhändlern, Vortäuschung Beschaffungseines unverfänglichen Endempfängers oder zivilen Verwendungszwecks - organisationen angewandt. Mitunter werden Beschaffungsprojekte auch in mehrere separate Bestellungen an verschiedene Hersteller aufgeteilt. Eine baden-württembergische Maschinenbaufirma erhielt von einem Unternehmen im europäischen Ausland eine Anfrage zu der aktuellen Version einer Werkzeugmaschine, die Exportbeschränkungen unterliegt, weil mit ihr grundsätzlich auch Raketenteile hergestellt werden könnten. Ermittlungen ergaben, dass eine einschlägig bekannte iranische Beschaffungsorganisation speziell zum Kauf dieser Maschine eine Tarnfirma gegründet hatte, die ihrerseits wiederum eine Vertretung in Ostasien unterhält. Diese beauftragte die europäische Gesellschaft mit dem Kauf der Maschine, um die deutschen Ausfuhrbestimmungen durch eine Lieferung nach Ostasien zu umgehen. Von dort sollte die Anlage anschließend in den Iran verbracht werden. Da die Herstellerfirma über eine effiziente und fachkundige Exportabteilung verfügt, konnte dieses Geschäft rechtzeitig durchschaut und gestoppt werden. Durch Tests von atomwaffenfähigen Kurzund Mittelstreckenraketen erregte Pakistan 2007 internationale Besorgnis. Mit nachrichtendienstlichen MitInteresse an teln umgesetzte Beschaffungsbemühungen konzentrieren sich auf die BereiHochtechnologie che Atomwaffen und Trägersysteme. Pakistanische Einkäufer interessierten aus Badensich für entsprechende Hochtechnologie aus Baden-Württemberg. Sie Württemberg bedienten sich dabei häufig der Unterstützung kleinerer Vermittlerfirmen. 3. Prävention Unter Prävention versteht man die Gesamtheit aller vorbeugenden Maßnahmen zur Verhinderung nachrichtendienstlicher Aktivitäten, zu denen 249 der Verfassungsschutz aufgrund seines gesetzlichen Auftrags verpflichtet ist beziehungsweise aus Gründen der Opportunität im jeweiligen Einzelfall ergreift. Angesichts eines weltweit verschärften Wettbewerbs und einer ständig steigenden Abhängigkeit von moderner Informationsund Kommunikationstechnik gewinnen präventive Schutzmechanismen in Verzahnung mit der repressiven Spionageabwehr immer mehr an Bedeutung. Das wirksamste Mittel gegen die illegale Nutzung des eigenen Wissens durch fremde Staaten, Konkurrenzunternehmen oder Einzelpersonen bietet ein umfassendes Informationsschutzkonzept. Jedoch garantiert nur die Kombination sorgfältig aufeinander abgestimmter personeller, organisatorischer sowie materieller Maßnahmen eine adäquate Schutzwirkung. Der Verzicht auf einen der genannten Bestandteile führt zwangsläufig zu Sicherheitslücken. 3.1 Wirtschaftsschutz - eine Schwerpunktaufgabe der Spionageabwehr Die Wirtschaft ist einer der wichtigsten Faktoren für Stabilität und Leistungskraft unseres Gemeinwesens. Sie zu schützen, ist deshalb selbstverständliche Pflicht des Staates. Ziel des LfV ist es, der baden-württembergischen Wirtschaft eine kompetente Beratung anzubieten, um den hierzulantechnologischen de erarbeiteten technologischen Vorsprung zu sichern. Häufig erkennen Vorsprung in Unternehmen Sicherheitsmängel nicht oder sind angesichts ihrer personelBaden-Württemlen und materiellen Möglichkeiten nicht in der Lage, sich gegen professioberg sichern nell geführte Angriffe fremder Nachrichtendienste oder konkurrierender Konzerne zu schützen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen könnten durch Spionage sehr schnell in ihrer Existenz gefährdet sein. Nach den bisherigen Erfahrungen können immer wieder dieselben Schwachstellen in den Firmen festgestellt werden, die gleichsam die Hauptmangelndes einfallstore für erfolgreiche Spionageaktivitäten bilden. Häufig wird das SicherheitsbeThema Sicherheit nicht als Chefsache betrachtet und deshalb auch nicht in wusstsein, ein den Unternehmenszielen verankert. Dadurch mangelt es am SicherheitsbeSpionagerisiko wusstsein innerhalb des Betriebs. Fehlende Zugriffsbeschränkungen für firmeninterne Informationssysteme können unzufriedene Mitarbeiter dazu verleiten, Informationen an Konkurrenten weiterzugeben. Sicherheitsvorschriften werden von Praktikanten oder Mitarbeitern von Fremdfirmen missachtet, ohne dass diese ernsthafte Konsequenzen zu befürchten hätten. Andererseits kann präventives Sicherheitsmanagement die Gesamtsituation eines Unternehmens durchaus positiv beeinflussen. Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, die Optimierung des betriebswirtschaftlichen Erfolgs 250 Spionageabwehr sowie eine Imageverbesserung sind hier zu nennen. Ebenso können Haftungsrisiken vermieden werden. Mit einer breiten Palette praxisgerechter Maßnahmen bietet das LfV "Hilfe "Hilfe zur zur Selbsthilfe" an. In Sensibilisierungsgesprächen werden die UnternehSelbsthilfe" men beispielsweise bei der Erstellung eines betrieblichen Informationsschutzkonzepts unterstützt, das nach Möglichkeit die Benennung eines Sicherheitsverantwortlichen mit klaren Kompetenzzuweisungen enthalten sollte. Durch eine Risikound Schwachstellenanalyse kann die Gefährdungslage des Unternehmens detailliert unter die Lupe genommen werden. Awareness-Kampagnen fördern das Sicherheitsbewusstsein zusätzlich und schaffen "sicherheitsfreundliche" Rahmenbedingungen. Ein baden-württembergischer Chemiekonzern beispielsweise bat um Beratung bei der Erstellung eines Sicherheitskonzepts. Der bereits vorliegende Entwurf ließ keine ganzheitliche Betrachtungsweise in Bezug auf Informationsund Sabotageschutz erkennen. So fehlten räumliche Abtrennungen sensibler Arbeitsbereiche und eingeschränkte Zugriffsberechtigungen der Mitarbeiter auf das IT-Netz des Unternehmens. Die bauliche, mechanische und elektronische Absicherung wichtiger Konferenzräume war ebenfalls nicht zufrieden stellend gelöst. Betriebsfremde konnten ohne große Hindernisse schutzwürdige Arbeitsbereiche betreten. Die Mitarbeiter der Spionageabwehr wiesen den Sicherheitsverantwortlichen in Beratungsgesprächen auf die vorliegenden Schwachpunkte hin und gaben Empfehlungen zu deren Behebung. Diese fanden im neuen Sicherheitskonzept des Unternehmens entsprechende Berücksichtigung. Für die Behandlung von Fällen des Spionageverdachts gibt das LfV praktiEmpfehlungen kable und Erfolg versprechende Empfehlungen. Die nachträgliche Auswerzur Spionagetung eines abgeschlossenen Falles kann unter Umständen eine bislang noch abwehr nicht erkannte Schwachstelle im Unternehmen offenbaren und wichtige Hinweise auf notwendig werdende Präventivmaßnahmen geben. Anlassbezogen oder in allgemeiner Form können baden-württembergische Unternehmen individuelle Empfehlungen zur personellen, organisatorischen und technischen Sicherheit erhalten. Nach SS 10 Abs. 4 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) dürfen personenbezogene Auskünfte allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erteilt werden. 251 Anknüpfend an die bereits im Jahr 2006 rasant gestiegene Nachfrage nach Beratungsleistungen und Vortragsveranstaltungen durch Mitarbeiter der Spionageabwehr wurden auch im Jahr 2007 Firmen, Verbände und Behörden in zahlreichen Vorträgen über die aktuelle Risikolage hinsichtlich Spionage und Sabotage unterrichtet und Empfehlungen zur Verhinderung von Schäden sowie der richtigen Verhaltensweise im Konfliktfall gegeben. Messeauftritt Im September 2007 beteiligte sich das LfV an der in Karlsruhe veranstaltebei der ten Fachmesse für Zutrittskontrolle, Gebäudesicherung und Informations"SAFEKON" schutz "SAFEKON". Diese erstmals ausgerichtete Produktund Leistungsschau erwies sich als ideale Plattform, das breit gefächerte Aufgabenspektrum des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg und besonders des Arbeitsbereichs Wirtschaftsschutz einem interessierten Besucherkreis bekannt zu machen. In intensiven Gesprächen, die sich schwerpunktmäßig um die Komplexe Wirtschaftsspionage, Know-how-Schutz und abhörsicheres Büro drehten, zeigten die Messebesucher großes Interesse an der Aufklärungsarbeit des LfV. Ein attraktives Begleitprogramm bot Vorträge zu Methoden der Wirtschaftsspionage, zum Einsatz technischer Mittel sowie zu strategischen Gesamtkonzepten für das Gebäudemanagement an. Ein wichtiges Element in der Verhinderung von Spionage und Sabotage Geheimund stellt der förmliche Geheimund Sabotageschutz als Teil der gesetzlich verSabotageschutz, ankerten Mitwirkungsaufgaben dar. Die in SS 3 Abs. 3 LVSG aufgelisteten ein Teil der Aufgaben umfassen unter anderem Sicherheitsüberprüfungen von Personen Spionageabwehr sowie die Festlegung organisatorischer und technischer Maßnahmen. In Baden-Württemberg sind derzeit über 200 Unternehmen in das amtliche Geheimschutzverfahren einbezogen und rund 20 als lebensund verteidigungswichtig eingestuft. Sie werden vom LfV regelmäßig über sicherheitsgefährdende Bestrebungen sowie Aktivitäten fremder Nachrichtendienste unterrichtet und entsprechend beraten. 3.2 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen Der Spionageabwehr des LfV ist es seit jeher ein besonderes Anliegen, flankierend zu den eigenen Sensibilisierungsmaßnahmen auch vergleichbare Aktivitäten anderer Institutionen zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund kam der Mitarbeit in dem 1999 ins Leben gerufenen Sicherheitsforum 252 Spionageabwehr Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen - von Anfang an eine besondere Bedeutung zu. Nach der im Jahr 2006 gestarteten Vortragsreihe zu Aspekten der Unternehmenssicherheit, mit der vor allem kleine und mittlere Unternehmen mit aktuellen Risikosituationen vertraut gemacht werden sollten, hat das aus Firmen, Forschungseinrichtungen, Verbänden, Kammern und Behörden bestehende Forum im Jahr 2007 einen neuen Ansatz gewählt, um das Bewusstsein für die Gefahren der Wirtschaftsspionage und der Ausspähung Bewusstsein durch konkurrierende Unternehmen zu schärfen. Die erstmalige Ausschreischärfen für die bung eines unter der gemeinsamen Schirmherrschaft von Innenminister Gefahren der Heribert Rech und Wirtschaftsminister Ernst Pfister stehenden WettbeWirtschaftswerbs für herausragende Projekte der betrieblichen Sicherheit mit Zielrichspionage tung Know-how-Schutz wurde als wichtiger Beitrag angesehen, um den Schutz der in Baden-Württemberg ansässigen Wirtschaft vor dem Diebstahl von Know-how, Produkt-Ideen und Innovationen zu verbessern. Eine Fachjury hat unter den eingegangenen Bewerbungen die besten Projekte ausgewählt. Über 100 Gäste kamen am 14. September 2007 zur Verleihung des Sicherheitspreises Baden-Württemberg durch Innenminister Heribert Rech bei der Sicherheitsmesse "SAFEKON" in Karlsruhe. Minister Rech hob besonders hervor, dass alle Projekte des Wettbewerbs "durch Innovationskraft, Kreativität und Engagement im Bemühen um den Schutz des Know-hows von Unternehmen und Forschungseinrichtungen überzeugen". Zugleich werde damit dokumentiert, dass es in BadenWürttemberg bereits viele vorbildliche Projekte gibt, die Anregung und Beispiel für eigene unternehmensinterne Sicherheitsvorkehrungen sein können. 4. Bedeutung von Hinweisen - Erreichbarkeit der Spionageabwehr Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist die Spionageabwehr auch ganz wesentlich auf Hinweise aus der Öffentlichkeit angewiesen. Häufig ermög253 lichen beispielsweise erst Informationen aus unmittelbar betroffenen Unternehmen oder wissenschaftlichen Einrichtungen die Ermittlungen zur Klärung eines Verdachts auf Wirtschaftsspionage. Viele Betroffene scheuen jedoch aufgrund einer Unterschätzung des Falles oder falsch verstandener Furcht vor Imageverlusten eine Kontaktierung der Spionageabwehr. Das LfV unterstützt geschädigte Firmen oder Institute bei der weiteren Handhabung des Verdachtsfalls. So werden Fehler vermieden, die sonst zur Ausweitung des Schadens führen können. Die Spionageabwehr kann - auch für Anregungen und weitere Informationen - wie folgt erreicht werden: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Abteilung 4 Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart Telefon 07 11 / 95 44 - 301 Telefax 07 11 / 95 44 - 444 info@verfassungsschutz-bw.de Über die Anschlüsse 07 11 / 9 54 76 26 (Telefon) und 07 11 / 9 54 76 27 (Telefax) werden sensible Hinweise entgegengenommen und auf Wunsch vertraulich behandelt. 254 Spionageabwehr Hintergrundinformationen und Aktuelles zum Thema Spionageabwehr erhalten Sie auch im Internet unter: http://www.verfassungsschutz-bw.de/spio/start_spio.htm 255 G ESETZ ÜBER DEN V ERFASSUNGSSCHUTZ IN B ADEN -W ÜRTTEMBERG (L ANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ - LVSG) VOM 5. D EZEMBER 2005 SS 1 nung, den Bestand und die Sicherheit der Zweck des Verfassungsschutzes Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder frühzeitig zu erkennen und den Der Verfassungsschutz dient dem Schutz zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese der freiheitlichen demokratischen GrundGefahren abzuwehren. ordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben samund ihrer Länder. melt das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen, insbesondere sachund SS 2 personenbezogene Auskünfte, NachrichOrganisation, Zuständigkeit ten und Unterlagen von Organisationen und Personen über (1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben 1. Bestrebungen, die gegen die freides Verfassungsschutzes unterhält das heitliche demokratische Grundordnung, Land ein Landesamt für Verfassungsden Bestand oder die Sicherheit des Bunschutz. Das Amt hat seinen Sitz in Stuttdes oder eines Landes gerichtet sind oder gart und untersteht dem Innenministeeine ungesetzliche Beeinträchtigung der rium. Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mit(2) Verfassungsschutzbehörden anderer glieder zum Ziele haben, Länder dürfen im Geltungsbereich dieses 2. sicherheitsgefährdende oder geGesetzes nur im Einvernehmen mit dem heimdienstliche Tätigkeiten im GeltungsLandesamt für Verfassungsschutz tätig bereich des Grundgesetzes für eine fremwerden. de Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich (3) Das Landesamt für Verfassungsdes Grundgesetzes, die durch die Anwenschutz darf einer Polizeidienststelle nicht dung von Gewalt oder darauf gerichtete angegliedert werden. Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland SS 3 gefährden, Aufgaben des Landesamtes für Verfas4. Bestrebungen im Geltungsbereich sungsschutz, Voraussetzungen für die dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken Mitwirkung an Überprüfungsverfahren der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen (1) Das Landesamt für Verfassungsdas friedliche Zusammenleben der Völker schutz hat die Aufgabe, Gefahren für die (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), freiheitliche demokratische Grundordgerichtet sind, 256 Anhang und wertet sie aus. Sammlung und Aus7. bei der Überprüfung der Zuverläswertung von Informationen nach Satz 1 sigkeit von Personen nach dem Waffen-, setzen im Einzelfall voraus, dass für BeSprengstoffund Jagdrecht, strebungen oder Tätigkeiten nach Satz 1 8. bei der Überprüfung der Zuverlästatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. sigkeit von Personen nach SS 12 b des Atomgesetzes, (3) Das Landesamt für Verfassungs9. bei der sicherheitsmäßigen Überschutz wirkt mit prüfung von Personen, die zu sicherheits1. bei der Sicherheitsüberprüfung von empfindlichen Bereichen von Flughäfen Personen, denen im öffentlichen Interesse Zutritt haben, nach SS 29 c des Luftvergeheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gekehrsgesetzes, genstände oder Erkenntnisse anvertraut 10. bei sonstigen Überprüfungen, sowerden, die Zugang dazu erhalten sollen weit dies im Einzelfall zum Schutz der oder ihn sich verschaffen können, freiheitlichen demokratischen Grundord2. bei der Sicherheitsüberprüfung von nung oder für Zwecke der öffentlichen Personen, die an sicherheitsempfindSicherheit erforderlich ist. Näheres wird lichen Stellen von lebensoder verteididurch Verwaltungsvorschrift des Innenmigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt nisteriums bestimmt. sind oder werden sollen, Die Mitwirkung des Landesamtes für Ver3. bei technischen oder organisatorifassungsschutz nach Satz 1 erfolgt in der schen Sicherheitsmaßnahmen zum SchutWeise, dass es eigenes Wissen oder beze von im öffentlichen Interesse geheimreits vorhandenes Wissen der für die haltungsbedürftigen Tatsachen, GegenÜberprüfung zuständigen Behörde oder ständen oder Erkenntnissen gegen die sonstiger öffentlicher Stellen auswertet. In Kenntnisnahme durch Unbefugte sowie den Fällen des Satzes 1 Nummern 1 und bei Maßnahmen des vorbeugenden Sabo- 2 führt das Landesamt für Verfassungstageschutzes, schutz weitergehende Ermittlungen 4. auf Anforderungen der Einsteldurch, wenn die für die Überprüfung zulungsbehörde bei der Überprüfung von ständige Behörde dies beantragt. Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, sowie auf (4) Die Mitwirkung des Landesamtes Anforderung der Beschäftigungsbehörde für Verfassungsschutz nach Absatz 3 setzt bei der Überprüfung von Beschäftigten im Einzelfall voraus, dass der Betroffene im öffentlichen Dienst, bei denen der auf und andere in die Überprüfung einbezoTatsachen beruhende Verdacht besteht, gene Personen über Zweck und Verfahren dass sie gegen die Pflicht zur Verfassungsder Überprüfung einschließlich der Verartreue verstoßen, beitung der erhobenen Daten durch die 5. bei der sicherheitsmäßigen Überbeteiligten Dienststellen unterrichtet prüfung von Einbürgerungsbewerbern, werden. Darüber hinaus ist im Falle der 6. bei der sicherheitsmäßigen ÜberEinbeziehung anderer Personen in die prüfung von Ausländern im Rahmen der Überprüfung deren Einwilligung und im Bestimmungen des Ausländerrechts, Falle weitergehender Ermittlungen nach 257 Absatz 3 Satz 3 die Einwilligung des deln, sind Bestrebungen im Sinne dieses Betroffenen erforderlich. Die Sätze 1 und Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von 2 gelten nur, soweit gesetzlich nichts Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer anderes bestimmt ist. Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschäSS 4 digen. Begriffsbestimmungen (2) Zur freiheitlichen demokratischen (1) Im Sinne des Gesetzes sind Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes 1. Bestrebungen gegen den Bestand zählen: des Bundes oder eines Landes solche 1. das Recht des Volkes, die Staatsgepolitisch bestimmten, zielund zweckgewalt in Wahlen und Abstimmungen und richteten Verhaltensweisen in einem oder durch besondere Organe der Gesetzgefür einen Personenzusammenschluss, der bung, der vollziehenden Gewalt und der darauf gerichtet ist, die Freiheit des BunRechtsprechung auszuüben und die des oder eines Landes von fremder HerrVolksvertretung in allgemeiner unmittelschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit barer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes zu wählen, Gebiet abzutrennen; 2. die Bindung der Gesetzgebung an 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit die verfassungsmäßige Ordnung und die des Bundes oder eines Landes solche Bindung der vollziehenden Gewalt und politisch bestimmten, zielund zweckgeder Rechtsprechung an Gesetz und Recht, richteten Verhaltensweisen in einem oder 3. das Recht auf Bildung und Ausfür einen Personenzusammenschluss, der übung einer parlamentarischen Opposidarauf gerichtet ist, den Bund, Ländern tion, oder deren Einrichtungen in ihrer Funk4. die Ablösbarkeit der Regierung und tionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtiihre Verantwortlichkeit gegenüber der gen; Volksvertretung, 3. Bestrebungen gegen die freiheitli5. die Unabhängigkeit der Gerichte, che demokratische Grundordnung solche 6. der Ausschluss jeder Gewaltund politisch bestimmten, zielund zweckgeWillkürherrschaft und richteten Verhaltensweisen in einem oder 7. die im Grundgesetz konkretisierten für einen Personenzusammenschluss, der Menschenrechte. darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beSS 5 seitigen oder außer Geltung zu setzen. Befugnisse des Für einen Personenzusammenschluss Landesamtes für Verfassungsschutz handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen aktiv sowie zielund zweckgerichtet (1) Das Landesamt für Verfassungsunterstützt. Verhaltensweisen von Einzelschutz kann die zur Erfüllung seiner Aufpersonen, die nicht in einem oder für gaben nach SS 3 erforderlichen Informatioeinen Personenzusammenschluss hannen verarbeiten. Soweit dieses Gesetz 258 Anhang keine Regelungen trifft, richtet sich die SS 5a Verarbeitung personenbezogener Daten Einholen von Auskünften nach den Vorschriften des Landesdatenbei nicht-öffentlichen Stellen schutzgesetzes mit Ausnahme der SSSS 8 und 13 Abs. 2 bis 4 sowie SSSS 14 bis 24 des (1) Wenn es zur Erfüllung seiner AufgaLandesdatenschutzgesetzes. ben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 erforderlich ist und tatsächliche Anhalts(2) Werden personenbezogene Daten punkte für schwerwiegende Gefahren für beim Betroffenen mit seiner Kenntnis erdie dort genannten Schutzgüter vorliegen, hoben, so ist der Erhebungszweck anzudarf das Landesamt für Verfassungsschutz geben. Der Betroffene ist auf die Freiwilim Einzelfall unentgeltlich Auskünfte zu ligkeit seiner Angaben und bei einer 1. Konten, Konteninhabern und sonsSicherheitsüberprüfung nach SS 3 Abs. 3 tigen Berechtigten sowie weiteren am auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder Zahlungsverkehr Beteiligten und zu sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht Geldbewegungen und Geldanlagen bei hinzuweisen. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, (3) Polizeiliche Befugnisse oder Wei2. Namen, Anschriften und zur Inansungsbefugnisse stehen dem Landesamt spruchnahme von Transportleistungen für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die und sonstigen Umständen des LuftPolizei auch nicht im Wege der Amtshilfe verkehrs bei Luftfahrtunternehmen einum Maßnahmen ersuchen, zu denen es holen. selbst nicht befugt ist. Abweichend hiervon ist es jedoch berechtigt, die Polizei in (2) Das Landesamt für Verfassungseilbedürftigen Fällen außerhalb der reguschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seilären Dienstzeiten des Kraftfahrtbundesner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 amtes um eine Abfrage aus dem Fahrbis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 zeugregister beim Kraftfahrtbundesamt Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes vom im automatisierten Verfahren zu ersu26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, ber. chen. S. 2298) bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen (4) Von mehreren geeigneten Maßnaherbringen, sowie bei denjenigen, die an men hat das Landesamt für Verfassungsder Erbringung dieser Dienstleistungen schutz diejenige zu wählen, die den Bemitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu troffenen voraussichtlich am wenigsten Namen, Anschriften, Postfächern und beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keisonstigen Umständen des Postverkehrs nen Nachteil herbeiführen, der erkennbar einholen. außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz darf im Einzelfall zur Erfüllung sei259 ner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 scheidung auch bereits vor der Unterrichbis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 tung der Kommission anordnen; in dieAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei denjesem Fall ist die Kommission unverzüglich nigen, die geschäftsmäßig Telekommunizu unterrichten. Die Kommission prüft kationsdienste und Teledienste erbringen von Amts wegen oder aufgrund von Beoder daran mitwirken, unentgeltlich Ausschwerden die Zulässigkeit und Notwenkünfte über Telekommunikationsverbindigkeit der Einholung von Auskünften dungsdaten und Teledienstenutzungsdanach den Absätzen 1 bis 3. SS 15 Abs. 5 des ten einholen. Die Auskunft kann auch in Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe Bezug auf zukünftige Telekommunikation entsprechend anzuwenden, dass die Konund zukünftige Nutzung von Teledientrollbefugnis der Kommission sich auf die sten verlangt werden. Telekommunikagesamte Erhebung, Verarbeitung und tionsverbindungsdaten und TelediensteNutzung der nach den Absätzen 1 bis 3 nutzungsdaten sind: erlangten Informationen und personenbe1. Berechtigungskennungen, Kartenzogenen Daten erstreckt. Entscheidungen nummern, Standortkennungen sowie Rufüber Auskünfte, die die Kommission für nummer oder Kennung des anrufenden unzulässig oder nicht notwendig erklärt, und angerufenen Anschlusses oder der hat das Innenministerium unverzüglich Endeinrichtung, aufzuheben. 2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum und Uhrzeit, (6) Für die Verarbeitung der nach den 3. Angaben über die Art der vom Absätzen 1 bis 3 erhobenen Daten ist SS 4 Kunden in Anspruch genommenen Teledes Artikel 10-Gesetzes entsprechend kommunikationsund Teledienst-Dienstanzuwenden. leistungen, 4. Endpunkte festgeschalteter Verbin(7) Das Auskunftsersuchen und die dungen, ihr Beginn und ihr Ende nach übermittelten Daten dürfen dem BetrofDatum und Uhrzeit. fenen oder Dritten vom Auskunftsgeber nicht mitgeteilt werden. (4) Auskünfte nach den Absätzen 1 bis 3 dürfen nur auf Antrag eingeholt werden. (8) Für die Mitteilung an den BetroffeDer Antrag ist durch den Leiter des Lannen findet SS 12 Abs. 1 und 3 des Artikel desamtes für Verfassungsschutz oder sei10-Gesetzes entsprechende Anwendung. nen Vertreter schriftlich zu stellen und zu begründen. Über den Antrag entscheidet (9) Das Innenministerium unterrichtet das Innenministerium. im Abstand von höchstens sechs Monaten das Gremium nach SS 2 Abs. 1 des Aus5) Das Innenministerium unterrichtet führungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz die Kommission nach SS 2 Abs. 2 des Ausüber die Durchführung von Maßnahmen führungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz nach den Absätzen 1 bis 3. Dabei ist insüber die beschiedenen Anträge vor deren besondere ein Überblick über Anlass, Vollzug. Bei Gefahr in Verzug kann das Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der Innenministerium den Vollzug der Entim Berichtszeitraum durchgeführten Maß260 nahmen zu geben. Anhang (10) Das Innenministerium unterrichtet (3) Das in einer Wohnung nicht öffentdas Parlamentarische Kontrollgremium lich gesprochene Wort darf mit technides Bundes jährlich über die nach den schen Mitteln nur dann heimlich mitgeAbsätzen 1 bis 3 durchgeführten Maßnahhört oder aufgezeichnet werden, wenn es men. Absatz 9 Satz 2 gilt entsprechend. im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenSS 6 wärtigen Lebensgefahr für einzelne PersoErhebung personenbezogener Daten mit nen unerlässlich ist und geeignete polizeinachrichtendienstlichen Mitteln liche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. (1) Das Landesamt für VerfassungsSatz 1 gilt entsprechend für den verdeckschutz kann Methoden, Gegenstände und ten Einsatz technischer Mittel zur AnfertiInstrumente zur heimlichen Informationsgung von Bildaufnahmen und Bildaufbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen ensleuten und Gewährspersonen, Obsernach Satz 1 und 2 bedürfen der Anordvationen, Bildund Tonaufzeichnungen, nung durch das Amtsgericht, in dessen Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenBezirk sie durchgeführt werden sollen. den (nachrichtendienstliche Mittel). SS 31 Abs. 5 Satz 2 bis 4 des PolizeigesetDiese sind in einer Dienstvorschrift zu zes sind entsprechend anzuwenden. Bei benennen, die auch die Zuständigkeit für Gefahr im Verzug können die Maßnahdie Anordnung solcher Informationsbemen nach Satz 1 und 2 vom Leiter des schaffung regelt. Die Dienstvorschrift beLandesamtes für Verfassungsschutz angedarf der Zustimmung des Innenministeriordnet werden; diese Anordnung bedarf ums, das den Ständigen Ausschuss des der Bestätigung durch das Amtsgericht. Landtags unterrichtet. Sie ist unverzüglich herbeizuführen. Einer Anordnung durch das Amtsgericht bedarf (2) Das Landesamt für Verfassungses nicht, wenn technische Mittel ausschutz kann personenbezogene Daten schließlich zum Schutz der bei einem Einund sonstige Informationen mit nachrichsatz in Wohnungen tätigen Personen vortendienstlichen Mitteln erheben, wenn gesehen sind; die Maßnahme ist in diesem tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanFall durch den Leiter des Landesamtes für den sind, dass Verfassungsschutz anzuordnen. Eine 1. auf diese Weise Erkenntnisse über anderweitige Verwertung der hierbei Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 erlangten Erkenntnisse zum Zweck der Abs. 2 oder die zur Erforschung solcher Gefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn Erkenntnisse erforderlichen Quellen gezuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme wonnen werden können oder durch das Amtsgericht festgestellt worden 2. dies zur Abschirmung der Mitarbeiist; bei Gefahr im Verzug ist die richterliter, Einrichtungen, Gegenstände und che Entscheidung unverzüglich nachzuQuellen des Landesamtes für Verfassungsholen. Die Landesregierung unterrichtet schutz gegen sicherheitsgefährdende oder den Landtag jährlich über den nach diegeheimdienstliche Tätigkeiten erfordersem Absatz erfolgten Einsatz technischer lich ist. 261 Mittel. Die parlamentarische Kontrolle nen durch Auskunft nach SS 9 Abs. 3 gewird auf der Grundlage dieses Berichtes wonnen werden können. Die Anwendung durch das Gremium nach Artikel 10 des des nachrichtendienstlichen Mittels darf Grundgesetzes ausgeübt. nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachver(4) Das Landesamt für Verfassungshalts stehen. Die Maßnahme ist unverzügschutz darf zur Erfüllung seiner Aufgaben lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, sofern die ist oder sich Anhaltspunkte dafür ergedort genannten Bestrebungen durch Anben, dass er nicht oder nicht auf diese wendung von Gewalt oder darauf ausgeWeise erreicht werden kann. richtete Vorbereitungshandlungen verfolgt werden, sowie zur Erfüllung seiner (6) Bei Erhebungen nach den Absätzen Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 3 und 4 und solchen nach Absatz 2, die in 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. ihrer Art und Schwere einer Beschrän- 1 des Artikel 10-Gesetzes auch technische kung des Brief-, Postund FernmeldegeMittel zur Ermittlung des Standortes heimnisses (Artikel 10 des Grundgeseteines aktiv geschalteten Mobilfunkgerätes zes) gleichkommen, ist der Eingriff nach und zur Ermittlung der Geräteund Karseiner Beendigung der betroffenen Person tennummern einsetzen. Die Maßnahme mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des ist nur zulässig, wenn ohne die Ermittlung Zweckes der Maßnahme ausgeschlossen die Erreichung des Zwecks der Überwerden kann. SS 12 des Artikel 10-Gesetzes wachungsmaßnahme aussichtslos oder gilt entsprechend. Die durch solche Maßwesentlich erschwert wäre. Für die Verargabe erhobenen Informationen dürfen beitung der Daten gilt SS 4 des Artikel 10nur nach Maßgabe von SS 4 des Artikel 10Gesetzes entsprechend. PersonenbezogeGesetzes verwendet werden. SS 2 Abs. 1 ne Daten eines Dritten dürfen anlässlich des Ausführungsgesetzes zum Artikel 10solcher Maßnahmen nur erhoben werden, Gesetz findet entsprechende Anwendung. wenn dies aus technischen Gründen zur Erreichung des Zwecks nach Satz 1 unver(7) Die Befugnisse des Landesamtes für meidbar ist. Sie unterliegen einem absoluVerfassungsschutz nach dem Artikel 10 ten Verwertungsverbot und sind nach Gesetz bleiben unberührt. Beendigung der Maßnahme unverzüglich zu löschen. SS 5a Abs. 4 bis 9 gilt entspreSS 7 chend. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten (5) Die Erhebung nach den Vorschriften der Absätze 2 bis 4 ist unzulässig, (1) Das Landesamt für Verfassungswenn die Erforschung des Sachverhalts schutz kann zur Erfüllung seiner Aufgaauf andere, den Betroffenen weniger ben personenbezogene Daten speichern, beeinträchtigende Weise möglich ist; eine verändern und nutzen, wenn geringere Beeinträchtigung ist in der 1. tatsächliche Anhaltspunkte für BeRegel anzunehmen, wenn die Informatiostrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 2 vorliegen, 262 Anhang 2. dies für die Erforschung und Bewerstehende Maßnahmen gegenüber Betung von Bestrebungen oder Tätigkeiten diensteten genutzt werden. nach SS 3 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt für VerfassungsSS 8 schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener (2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 3 Daten von Minderjährigen Abs. 3 dürfen vorbehaltlich des Satzes 2 in automatisierten Dateien nur Daten über (1) Das Landesamt für Verfassungsdie Personen gespeichert werden, die der schutz darf unter den Voraussetzungen Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder des SS 7 personenbezogene Daten über in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen Minderjährige, die das 14. Lebensjahr werden. Zur Erledigung von Aufgaben noch nicht vollendet haben, in zu ihrer nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 dürfen in Person geführten Akten nur speichern, automatisierten Dateien nur Daten solverändern und nutzen, wenn tatsächliche cher Personen erfasst werden, über die Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der bereits Erkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 vorMinderjährige eine der in SS 3 Abs. 1 des liegen. Bei der Speicherung in Dateien Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten muss erkennbar sein, welcher der in SS 3 plant, begeht oder begangen hat. In Abs. 2 und 3 genannten Personengruppen Dateien ist eine Speicherung von Daten der Betroffene zuzuordnen ist. Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht zuläs(3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und sig. Absatz 2 gespeicherten personenbezogenen Daten dürfen nur für die dort ge(2) Sind Daten über Minderjährige in nannten Zwecke sowie für Zwecke verDateien oder in Akten, die zu ihrer Perwendet werden, die für die Wahrnehson geführt werden, gespeichert, ist nach mung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 erforzwei Jahren die Erforderlichkeit der Speiderlich sind. cherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren die Löschung vorzuneh(4) Das Landesamt für Verfassungsmen, es sei denn, dass nach Eintritt der schutz hat die Speicherungsdauer auf das Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach für seine Aufgabenerfüllung erforderliche SS 3 Abs. 2 angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, Maß zu beschränken. wenn das Landesamt für Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. (5) Personenbezogene Daten, die ausschließlich zu Zwecken der DatenschutzSS 9 kontrolle, der Datensicherung oder zur Übermittlung personenbezogener Daten Sicherstellung eines ordnungsgemäßen an das Landesamt für Verfassungsschutz Betriebs einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese (1) Die Behörden des Landes und die lanZwecke und hiermit in Zusammenhang desunmittelbaren juristischen Personen 263 des öffentlichen Rechts sowie die Gerichbegründen, soweit dies dem Schutz des te des Landes, die Staatsanwaltschaften Betroffenen dient oder eine Begründung und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftden Zweck der Maßnahme gefährden lichen Sachleitungsbefugnis, die Polizeiwürde. Die Ersuchen sind aktenkundig zu dienststellen übermitteln von sich aus machen. dem Landesamt für Verfassungsschutz die ihnen bekannt gewordenen personenbe(4) Das Landesamt für Verfassungsschutz zogenen Daten und sonstigen Informatiodarf Akten anderer öffentlicher Stellen nen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte und amtliche Register unter den Vorausdafür bestehen, dass diese Informationen setzungen des Absatzes 3 und vorbehaltzur Wahrnehmung von Aufgaben nach SS 3 lich der in SS 11 getroffenen Regelung einAbs. 2 erforderlich sind. sehen, soweit dies 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 3 (2) Soweit nicht schon bundesrechtlich Abs. 2 oder 3 oder geregelt, können die zuständigen Stellen 2. zum Schutz der Mitarbeiter und in den Fällen des SS 3 Abs. 3 das LandesQuellen des Landesamtes für Verfassungsamt für Verfassungsschutz um Auskunft schutz gegen Gefahren für Leib und ersuchen, ob Erkenntnisse über den BeLeben troffenen oder über eine Person, die in erforderlich ist und die sonstige Überdie Überprüfung mit einbezogen werden mittlung von Informationen aus den darf, vorliegen. Dabei dürfen die erforderAkten oder den Registern den Zweck der lichen personenbezogenen Daten und Maßnahmen gefährden oder das Persönsonstigen Informationen an das Landeslichkeitsrecht des Betroffenen unverhältamt für Verfassungsschutz übermittelt nismäßig beeinträchtigen würde. Dazu werden. Im Falle einer Überprüfung nach gehören auch personenbezogene Daten SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 ist das Ersuchen und sonstige Informationen aus Strafverüber das Innenministerium zu leiten. fahren wegen einer Steuerstraftat. Das Landesamt für Verfassungsschutz braucht (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Ersuchen nicht zu begründen, soweit dies kann vorbehaltlich der in SS 11 getroffenen dem Schutz des Betroffenen dient oder Regelung von jeder öffentlichen Stelle eine Begründung den Zweck der Maßnach Absatz 1 verlangen, dass sie ihm die nahme gefährden würde. Über die Einzur Erfüllung seiner Aufgaben erfordersichtnahme nach Satz 1 hat das Landeslichen personenbezogenen Daten und amt für Verfassungsschutz einen Nachsonstigen Informationen übermittelt, weis zu führen, aus dem der Zweck und wenn die Daten und Informationen nicht die Veranlassung, die ersuchte Behörde aus allgemein zugänglichen Quellen oder und die Aktenfundstelle hervorgehen. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand Die Nachweise sind gesondert aufzubeoder nur durch eine den Betroffenen stärwahren, gegen unberechtigten Zugriff zu ker belastende Maßnahme erhoben wersichern und am Ende des Kalenderjahres, den können. Das Landesamt für Verfasdas dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu versungsschutz braucht Ersuchen nicht zu nichten. 264 Anhang (5) Die Übermittlung personenbezogener ist oder der Empfänger die Daten zum Daten und sonstiger Informationen, die Schutz der freiheitlichen demokratischen aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a Grundordnung oder sonst für Zwecke der Strafprozessordnung bekanntgeworder öffentlichen Sicherheit einschließlich den sind, ist nach den Vorschriften der der Strafverfolgung benötigt. Der EmpAbsätze 1 und 3 nur zulässig, wenn tatfänger darf die übermittelten Daten, sächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, soweit gesetzlich nichts anderes bedass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 des stimmt ist, nur zu dem Zweck verwenArtikel 10-Gesetzes genannten Straftaten den, zu dem sie ihm übermittelt wurden. plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt für Verfassungsschutz (2) Das Landesamt für Verfassungsschutz nach Satz 1 übermittelten Unterlagen übermittelt den Staatsanwaltschaften findet SS 4 des Artikel 10 Gesetzes entund, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftsprechende Anwendung. lichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeidienststellen des Landes von sich aus die (6) Das Landesamt für Verfassungsschutz ihm bekannt gewordenen personenbezoprüft unverzüglich, ob die ihm übergenen Daten, wenn tatsächliche Anhaltsmittelten personenbezogenen Daten für punkte dafür bestehen, dass die Überdie Erfüllung seiner Aufgaben erfordermittlung zur Verhinderung oder Verfollich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie gung von Straftaten erforderlich ist, die nicht erforderlich sind, hat es die Unterin SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder lagen zu vernichten oder, sofern diese in den SSSS 74a oder 120 des Gerichtsverelektronisch gespeichert sind, zu löschen. fassungsgesetzes genannt sind oder bei Die Vernichtung oder Löschung kann denen aufgrund ihrer Zielsetzung, des unterbleiben, wenn die Trennung von Motivs des Täters oder dessen Verbinanderen Informationen, die zur Erfüllung dung zu einer Organisation tatsächliche der Aufgaben erforderlich sind, nicht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie oder nur mit unvertretbarem Aufwand gegen die in Artikel 73 Nr. 10 Buchst. b möglich ist; in diesem Fall sind die Daten oder c des Grundgesetzes genannten zu sperren. Schutzgüter gerichtet sind. SS 10 (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Übermittlung personenbezogener kann personenbezogene Daten an Daten durch das Dienststellen der StationierungsstreitLandesamt für Verfassungsschutz kräfte im Rahmen von Artikel 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz zwischen den Parteien des Nordatlantikkann personenbezogene Daten an Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Behörden und juristische Personen des Truppen hinsichtlich der in der Bundesöffentlichen Rechts sowie an die Gerichrepublik Deutschland stationierten auste des Landes übermitteln, wenn dies zur ländischen Streitkräfte vom 3. August Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) übermitteln. 265 Die Übermittlung ist aktenkundig zu Landesamt für Verfassungsschutz hat die machen. Der Empfänger ist darauf hinzuÜbermittlung aktenkundig zu machen. weisen, dass die übermittelten Daten nur Für Übermittlungen nach Satz 2 gilt SS 9 zu dem Zweck verwendet werden dürfen, Abs. 4 Sätze 4 und 5 entsprechend. Der zu dem sie ihm übermittelt wurden und Empfänger darf die übermittelten Daten das Landesamt für Verfassungsschutz sich nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie vorbehält, um Auskunft über die vorgeihm übermittelt wurden. Der Empfänger nommene Verwendung der Daten zu bitist auf die Verwendungsbeschränkung ten. und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt für Verfassungsschutz sich vorbehält, (4) Die Übermittlung personenbezogener um Auskunft über die vorgenommene Daten an andere als öffentliche Stellen ist Verwendung der Daten zu bitten. Die nur zulässig, soweit dies zum Zwecke Übermittlung der personenbezogenen einer erforderlichen und zulässigen Daten ist dem Betroffenen durch das Datenerhebung durch das Landesamt für Landesamt für Verfassungsschutz mitzuVerfassungsschutz unabdingbar ist und teilen, sobald eine Gefährdung seiner dadurch keine überwiegenden schutzwürAufgabenerfüllung durch die Mitteilung digen Interessen der Person, deren Daten nicht mehr zu besorgen ist. Einer Mitteiübermittelt werden, beeinträchtigt werlung bedarf es nicht, wenn das Innenmiden. Personenbezogene Daten dürfen nisterium feststellt, dass diese Voraussetdarüber hinaus an andere als öffentliche zung auch fünf Jahre nach der erfolgten Stellen nur übermittelt werden, wenn Übermittlung noch nicht eingetreten ist dies zur Abwehr von Gefahren für die in und mit an Sicherheit grenzender WahrSS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 genannten scheinlichkeit auch in absehbarer Zukunft Schutzgüter oder zur Gewährleistung der nicht eintreten wird. Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen oder besonders gefahrenträchti(5) Das Landesamt für Verfassungsschutz gen Einrichtungen im Sinne des SS 1 Abs. kann personenbezogene Daten an öffent- 3 des Landessicherheitsüberprüfungsgeliche Stellen außerhalb des Geltungsbesetzes erforderlich ist. Die Übermittlung reichs des Grundgesetzes sowie an überpersonenbezogener Daten an eine sonstiund zwischenstaatliche Stellen übermitge Einrichtung oder Unternehmung, insteln, wenn die Übermittlung zur Erfülbesondere der Wissenschaft und Forlung seiner Aufgaben oder zur Wahrung schung, des Sicherheitsgewerbes oder der erheblicher Sicherheitsinteressen des Kreditund Finanzwirtschaft, ist nur Empfängers erforderlich ist. Die Überzulässig, wenn dies zur Abwehr schwermittlung unterbleibt, wenn auswärtige wiegender Gefahren für die Einrichtung Belange der Bundesrepublik Deutschoder Unternehmung erforderlich ist. Die land, Belange der Länder oder überwieÜbermittlung nach den Sätzen 2 und 3 gende schutzwürdige Interessen des Bebedarf der vorherigen Zustimmung durch troffenen entgegenstehen. Die Übermittden Innenminister oder im Verhindelung ist aktenkundig zu machen. Der rungsfall durch seinen Vertreter. Das Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass 266 Anhang die übermittelten Daten nur zu dem (2) Informationen über Minderjährige Zweck verwendet werden dürfen, zu vor Vollendung des 14. Lebensjahres dürdem sie ihm übermittelt wurden und das fen nach den Vorschriften dieses GesetLandesamt für Verfassungsschutz sich zes nicht an ausländische oder überoder vorbehält, um Auskunft über die vorgezwischenstaatliche Stellen übermittelt nommene Verwendung der Daten zu bitwerden. ten. SS 12 (6) Erweisen sich personenbezogene Unterrichtung der Öffentlichkeit Daten, nachdem sie durch das Landesamt für Verfassungsschutz übermittelt Das Innenministerium und das Landesworden sind, als unvollständig oder unamt für Verfassungsschutz unterrichten richtig, sind sie unverzüglich gegenüber die Öffentlichkeit periodisch oder aus dem Empfänger zu berichtigen oder zu gegebenem Anlass im Einzelfall über Beergänzen, es sei denn, dass dies für die strebungen und Tätigkeiten nach SS 3 Beurteilung eines Sachverhaltes ohne Abs. 2. Dabei dürfen auch personenbeBedeutung ist. zogene Daten bekanntgegeben werden, wenn die Bekanntgabe für das VerständSS 11 nis des Zusammenhangs oder der DarÜbermittlungsverbote stellung von Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen erforderlich (1) Die Übermittlung von Informationen ist und die Informationsinteressen der nach den SSSS 5, 9 und 10 unterbleibt, Allgemeinheit das schutzwürdige Interwenn esse des Betroffenen überwiegen. 1. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung SS 13 der Art der Informationen und ihrer Auskunft an den Betroffenen Erhebung die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen das Allgemeininteresse (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz an der Übermittlung überwiegen, erteilt dem Betroffenen über zu seiner 2. überwiegende SicherheitsinteresPerson gespeicherte Daten auf Antrag sen oder überwiegende Belange der unentgeltlich Auskunft, soweit er hierzu Strafverfolgung dies erfordern oder auf einen konkreten Sachverhalt hinweist 3. besondere gesetzliche Übermittund ein besonderes Interesse an einer lungsregelungen entgegenstehen; die Auskunft darlegt. Es ist nicht verpflichVerpflichtung zur Wahrung gesetzlicher tet, über die Herkunft der Daten, die Geheimhaltungspflichten oder von Empfänger von Übermittlungen und den Berufsoder besonderen AmtsgeheimZweck der Speicherung Auskunft zu nissen, die nicht auf gesetzlichen Vorerteilen. schriften beruhen, bleibt unberührt. 267 (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, cherten personenbezogenen Daten zu soweit berichtigen, wenn sie unrichtig sind; in 1. eine Gefährdung der AufgabenerfülAkten ist dies zu vermerken. Wird die lung durch die Auskunftserteilung zu Richtigkeit der Daten von dem Betroffebesorgen ist, nen bestritten, so ist dies in der Akte zu 2. durch die Auskunftserteilung Quelvermerken oder auf sonstige Weise festzulen gefährdet sein können oder die Aushalten. forschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfas(2) Das Landesamt für Verfassungsschutz sungsschutz zu befürchten ist, hat die in Dateien gespeicherten perso3. die Auskunft die öffentliche Sichernenbezogenen Daten zu löschen, wenn heit gefährden oder sonst dem Wohl des ihre Speicherung unzulässig war oder Bundes oder eines Landes Nachteile ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung bereiten würde oder nicht mehr erforderlich ist. Die Löschung 4. die Daten oder die Tatsache der unterbleibt, wenn Grund zu der AnnahSpeicherung nach einer Rechtsvorschrift me besteht, dass durch sie schutzwürdige oder ihrem Wesen nach, insbesondere Belange des Betroffenen beeinträchtigt wegen der überwiegenden berechtigten würden. In diesem Fall sind die Daten Interessen eines Dritten, geheimgehalten zu sperren. Sie dürfen nur noch mit Einwerden müssen. willigung des Betroffenen übermittelt Die Entscheidung trifft der Behördenleiwerden. ter oder ein von ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz prüft bei der Einzelfallbearbeitung und (3) Die Ablehnung der Auskunftserteinach festgesetzten Fristen, spätestens lung bedarf keiner Begründung, soweit nach fünf Jahren, ob in Dateien gespeidadurch der Zweck der Auskunftsverweicherte personenbezogene Daten zu gerung gefährdet würde. Die Gründe der berichtigen oder zu löschen sind. GespeiAuskunftsverweigerung sind aktenkundig cherte personenbezogene Daten über zu machen. Wird die Auskunftserteilung Bestrebungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. abgelehnt, ist der Betroffene auf die 1, die ihre Ziele durch Gewalt oder darauf Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begerichtete Vorbereitungshandlungen vergründung und darauf hinzuweisen, dass er folgen, sowie über Bestrebungen nach SS 3 sich an den Landesbeauftragten für den Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 oder 4 sind spätestens Datenschutz wenden kann. nach fünfzehn Jahren, im Übrigen spätestens nach zehn Jahren zu löschen, es sei SS 14 denn, der Behördenleiter oder sein VerBerichtigung, Löschung und Sperrung treter stellt im Einzelfall fest, dass die weipersonenbezogener Daten tere Speicherung zur Aufgabenerfüllung oder aus den in Absatz 2 Satz 2 genannten (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz Gründen erforderlich ist. SS 8 Abs. 2 bleibt hat die in Akten oder Dateien gespeiunberührt. Der Lauf der Frist nach Satz 1 268 Anhang oder 2 beginnt mit der letzten gespeicher(3) Die Mitglieder des Ständigen Austen relevanten Information. schusses sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen (4) Das Landesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der Berichterstathat die in Akten gespeicherten personentung über die Tätigkeit des Verfassungsbezogenen Daten zu sperren, wenn es im schutzes im Ständigen Ausschuss beEinzelfall feststellt, dass die Speicherung kanntgeworden sind. Dies gilt auch für unzulässig war. Dasselbe gilt, wenn es im die Zeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Einzelfall feststellt, dass ohne die SperStändigen Ausschuss oder aus dem Landrung schutzwürdige Interessen des Betroftag. fenen beeinträchtigt würden und die Daten für seine künftige Aufgabenerfüllung (4) Die Unterrichtung umfasst nicht voraussichtlich nicht mehr erforderlich Angelegenheiten, über die das Innenmisind. Gesperrte Daten sind mit einem nisterium das Gremium nach dem Artikel entsprechenden Vermerk zu versehen; sie 10-Gesetz zu unterrichten hat. dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. Die Sperrung kann wieSS 16 der aufgehoben werden, wenn ihre VorEinschränkung von Grundrechten aussetzungen nachträglich entfallen sind. Akten, in denen personenbezogene Aufgrund dieses Gesetzes können das Daten gespeichert sind, sind zu vernichGrundrecht des Brief-, Postund Fernten, wenn die gesamte Akte zur Aufmeldegeheimnisses (Artikel 10 des gabenerfüllung nicht mehr benötigt wird. Grundgesetzes) und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel SS 15 13 des Grundgesetzes) eingeschränkt werParlamentarische Kontrolle den. (1) Das Innenministerium unterrichtet SS 17 den Ständigen Ausschuss des Landtags Erlass von Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes halbjährlich sowie auf Verlangen des Das Innenministerium kann zur AusfühAusschusses und aus besonderem Anlass. rung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. (2) Art und Umfang der Unterrichtung des Ständigen Ausschusses werden unter SS 18 Beachtung des notwendigen Schutzes des Inkrafttreten Nachrichtenzuganges durch die politische Verantwortung der Landesregierung beDieses Gesetz tritt am Tag nach seiner stimmt. Verkündung in Kraft. 269 Gruppen-, Organisationsund Sachregister Bezeichnung Seite/n Act of Violence 125 Aktionsbüro Rhein-Neckar 139 Al-Djamaa al-Islamiya (Islamische Gruppe) 31ff. Al-Djihad al-Islami (Islamischer Djihad) 31ff. Al-Fajir 37 Al-Furqan 37 Al-Islam 47 Al-Manar 60f. Al-Muqawama al-Islamiya (Islamischer Widerstand) 61 Al-Qaida 28ff. Al-Qaida im islamischen Maghreb 36, 58 Al-Qassam-Brigaden 55f. Al-Quds-Tag 60 Albanische Nationalarmee ( AKSH) 109 All India Sikh Student Federation (AISSF) 109 Anadolu Genclik Dernegi (AGD) 66f. An-Nahda (Bewegung der Erneuerung) 56f. Antiamerikanismus 119, 180 antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur 200 AntiFa Nachrichten 200f. Antifaschismus 189, 200ff., 216ff. Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) 208, 217 Antifaschistische Linke Berlin (ALB) 190, 201 Antifaschistisches Aktionsbündnis Baden-Württemberg (AABW) 216 Antiglobalisierung 165, 180, 189, 210ff. Antisemitismus 49f., 66, 119 Applied Scholastics (ApS) 227, 228 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) As-Sahab-Media 38 Auditor 222 Aufbruch 125, 130 Autonome 189 Autonome Nationalisten 117, 135, 139, 147ff. Babbar Khalsa International (BK) 109f. Befreiungseinheiten Kurdistans (HRK) 84 Bewegung des Islamischen Widerstands siehe HAMAS 270 Anhang Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien (LRSSHJ) 108 Bildungswerk für Heimat und nationale Identität 175 Blue Max 125, 130 break-out 202, 228 Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) 157 Carpe Diem 125 China-Trojaner 244 Clara 193 Class V Org 228, 238 Church of Scientology International (CSI) 222 Dawa 23, 40f., 42, 73f., 75 Das Freie Forum 172 Denk mal islamisch 44 Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 79ff. Deutsche Akademie (DA) 174 Deutsche Geschichte - Europa und die Welt (DG) 178 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 186, 197ff., 200, 211, 216 Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 157 Deutscher Buchkreis 169 Deutsche Stimme (DS) 161ff., 181 Deutsche Volksunion (DVU) 117f., 166ff. Deutsches Kolleg (DK) 174 Deutschland in Geschichte und Gegenwart 170f. Deutschland-Pakt 164, 167 Devil's Project 125 Devrimci Sol (Dev Sol-Revolutionäre Linke) 96ff. DEVRIMCI SOL 97 Dianetik 223 Dianetik-Post 222 DIE LINKE. 187, 189, 193ff., 198, 211 Die Linke. Landesinfo Baden-Württemberg 193 Die Republikaner (REP) 116 Die Rote Hilfe 207, 219 Disput 193 Dissent+X 211 Division Staufen 125 Djihad 22, 25, 27 Djihadismus 26ff. Djihadisten 27 Dresdner Schule 174f. 271 Ekmek ve Adalet 100 Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten 171f. Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V. (EMUG) 48, 64 European Council for Fatwa and Research (ECFR) 48, 54 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Förderaler Sicherheitsdienst) 247 Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) 47, 52 Feldauditorengruppen 228, 231 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) 103 Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V. (AGIF) 105 Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) 89, 93ff. Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e.V. (ADHF) 103 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) 87, 106 Forum of European Muslim Youth and Student Organisations (FEMYSO) 53, 63f. Free Mind 222 Freewinds 222 Freiheit 222 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Front für die Albanische Nationale Vereinigung (FBKSH) 109 Front Islamique du Salut (FIS) 57f. Geheimschutz 13, 252 Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) 157, 172 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) 246 Global Islamic Media Front (GIMF) 86f. GRABERT-Verlag 157, 169ff. Graue Wölfe 93 Groupe Islamique Arme (GIA) 57f. Groupe salafiste pour la Predication et le Combat (GSPC) 36, 57f. Hakk-TV 80 Harakat Al-Muqawama Al-Islamiya siehe HAMAS HAMAS (Bewegung des islamischen Widerstands) 54ff. Hauptkampflinie 133f. Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 140f. Hizb Allah (Partei Gottes) 60ff. Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung) 58ff., 76 Hohenrain-Verlag 169ff. 272 Anhang Ideale Orgs 237f., 240 IGMG Perspektive 63 Impact 222 Institut Europeen des Sciences Humaines (I.E.S.H.) 52 Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte 170 International Scientology News 222 International Sikh Youth Federation (ISYF) 109f. Internationale Kamagatamaru Partei 110 Interventionistische Linke (IL) 211, 213 Islamic Foundation 53 Islamische Bewaffnete Gruppe siehe Groupe Islamique Arme (GIA) Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 46, 47ff. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) 47, 48, 49, 50 Islamische Heilsfront siehe Front Islamique du Salut (FIS) Islamische Jihad Union (IJU) 29 Islamisches Informationszentrum (IIZ) 42ff., 76 Islamisches Zentrum Stuttgart (IZS) 47, 48, 49, 50 Islamisches Zentrum München (IZM) 50f. Islamismus 18ff., 39 Islamistischer Terrorismus 26ff. Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 52, 63 Jagdstaffel 125 Jugend für Menschenrechte 230 Junge Nationaldemokraten (JN) 126, 139, 141, 143f., 154f., 158f., 164f. junge Welt 219 Kalifatsstaat siehe Der Kalifatsstaat Kamagata Maru Dal International (KMDI) 110 Kameradschaften 135 Kameradschaft Karlsruhe 135 Kameradschaft Rastatt 135 Khalistan 110 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) 228, 233ff. Kommando Skin 125 Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 102ff. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 197, 200 Kommunistische Plattform (KPF) 196 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa e.V. (ATIK) 103 Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa (AvEG-Kon) 105 Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) 104 273 Konvertiten 19, 23, 52, 69 Kurzschluss 125 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) 256ff. Lernen und Kämpfen (LuK) 203 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 110ff. Linksjugend [solid] 187, 211 Linkspartei.PDS siehe DIE LINKE. Linksruck 197, 209 Maoistische Kommunistische Partei (MKP) 102ff. marx21 - Netzwerk für internationalen Sozialismus 197, 207f. Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 104ff. Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 189, 203ff., 217 militante Gruppe (mg) 214f. Milli Gazete 63, 65, 67f. Milli Genclik Vakfi 66 Milli Görüs 64 Modjahedin-e Khalq Organisation 114 Mouvement de la Tendance Islamique (Bewegung der islamischen Ausrichtung) 56 Mudjamma al-Islami 54 Multi-Kulturhaus Ulm e.V. (MKH) 42, 76 Muslimbruderschaft (MB) 31, 45ff. Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) 53f. Muslimische Studentenvereinigung e.V. (MSV) 52f. Nachrichten der HNG 140f. Narconon 227 Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue (B.K.D.SH.) 107f. Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 116, 126, 137f., 141, 143, 146, 150f., 152ff., 172 Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 84 Nationaler Bildungskreis (NBK) 175 Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) 114f. NATION & EUROPA 175 National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 166f. Neonazis 130f., 134ff. Neun-Lichter-Doktrin 94 Noie Werte 125 NS Chaos 125 Office of Special Affairs (OSA) 232 274 Anhang Organisation der Volksmodjahedin Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) siehe Maoistische Kommunistische Partei (MKP) People's Mojahidin of Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin perplex 126f. Professionelles Lerncenter 228 Proliferation 243, 248f. Propaganda 125 Prosperity 222 REBELL 203 Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) 64f. Religious Technology Center (RTC) 227 Republikaner siehe Die Republikaner Revisionismus 120, 149, 163, 175ff. Revolutionäre Aktion Stuttgart (RAS) 211, 220 Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) 97 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 96ff. Rosa-Luxemburg-Stiftung 187 Rote Armee Fraktion (RAF) 187, 218ff. Rote Fahne (RF) 203 Rote Hilfe e.V. (RH) 207ff., 214, 218 Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 136ff., 216 Saadet-Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 65f., 70f. Sabotageschutz 252 Salafismus 26ff. Salafiya Djihadiya 20 Schulhof-CDs 124f. Scharia 26, 43 Schwarzer Block 139, 148, 150ff., 189, 192, 211f. Scientology-Organisation (SO) 222ff. Sea Organization (Sea Org) 227f., 238 Selbstradikalisierung 30f. Serxwebun 84 Sicherheitsforum Baden-Württemberg 252f. Sikh Federation Germany (SFG) 110 Skinheads 122ff., 155ff. Slushba Wneschnej Raswedkij (SWR) 246 Social Engineering 244 [solid] siehe Linksjugend [solid] 275 Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien in der Türkei (TAYAD) 101 Source 222 Sozialistische Alternative Voran (SAV) 240 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 187, 217 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 193 Spionageabwehr 242ff., 253f. Sturmpropheten 125 Tabligh-i Jama'at (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) 39ff. TAYAD-Komitee e.V. 101 Tobsucht 125 Transnationaler Djihadismus 28 Trotzkisten 197, 207 Türk Federasyon Bülteni 93 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) 102 Türkische Föderation Deutschland (ATF) 93ff. Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 105 Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke (THKP/-C) 96ff. TV 5 67, 68ff. Ultima Ratio 125, 132 Unsere Zeit (UZ) 197, 200 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) siehe Der Kalifatsstaat Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V. 47 Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans (Komalen Ciwan) 85 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) 187, 198f., 200ff., 208, 217 Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG 155, 164 Versandbuchhandlung GRABERT 169 Volk in Bewegung 155 Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) 84 Volksbewegung von Kosovo (LPK) 108 Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 83, 84ff. Volksmodjahedin 114 Volksverteidigungskräfte (HPG) 85 Wahhabismus 40ff. White Voice 125, 128f., 130f., 133 Wirtschaftsschutz 243, 250ff. 276 Anhang Wirtschafts-, Wissenschaftsspionage 243, 244ff. World Assembly of Muslim Youth (WAMY) 47 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 228, 235ff. Wortergreifungsstrategie 116, 135, 179ff. Yürüyüs 99f. Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg 47 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 47 Zollernwut 125 277 Personenverzeichnis Name Seite/n Akgün, Mustafa 69 Al-Banna, Hassan 45, 47, 50 Al-Ghannoushi, Rashid 56f. Al-Hakaymah, Muhammad Khalil 32f. Al-Masri, Abu Djihad 32 Al-Maududi, Abu al A'la 53 Al-Qaradawi, Yusuf, Dr. 48f., 52f. Al-Rishta, Ata Abu 59 Al-Utheimin, Muhammad Bin Salih 50 Al-Wahhab, Muhammad Ibn Abd 21, 23 An-Nabhani, Taqi ad-Din 58 Assem, Shaker 59 Ar-Rahman, Umar Abd 32 Atsiz, Nihal 94 Aydar, Zübeyir 84 Azzam, Abdallah 27f. Az-Zawahiri, Ayman, Dr. 34 Baader, Andreas 219 Bahr, Ahmad 55 Bahceli, Devlet, Dr. 95 Baur, Walter 168 Benhadj, Ali 97 Bin Ladin, Usama 28, 30, 32, 38 Bisky, Lothar 194 Bordin, Norman 155 Borgfeldt, Muhammad Siddiq 55 Bülbül, Canan 74 Cetin, Cemal 95 Damar, Hasan 70f. Dogruyol, Sentürk 95 El-Zayat, Ibrahim 46f., 52, 64 Engel, Stefan 205f. Ensslin, Gudrun 219 Erbakan, Necmettin, Prof. Dr. 64ff., 79 278 Anhang Ersoy, Arif, Prof. Dr. 67, 72f. Eygi, Mehmet Sevket 69 Fink, Heinrich 187 Fradkov, Mikhail 246 Frey, Gerhard, Dr. 166f. Gansel, Jürgen W. 161f. Garaudy, Roger 69 Ghazi, Abdul Rashid 34 Gökbakan, Edip 75 Grabert, Herbert, Dr. 169 Grabert, Wigbert 169ff. Hammad, Fathi 56 Hattab, Hasan 58 Heise, Thorsten 154 Hofmann, Murad, Dr. 52 Honsik, Gerd 177 Hubbard, Lafayette Ronald 222ff. Ibrahim, Nageh, Dr. 33 Ilyas, Maulana Muhammad 39ff. Kaplan, Cemaleddin 79 Kaplan, Metin 80 Karatas, Dursun 96ff., 101 Kaya, Adem 64, 71 Kaypakkaya, Ibrahim 102ff. Kebir, Rabah 57 Kizilkaya, Ali 52, 63 Klar, Christian 187, 218 Köhler, Ayyub, Dr. 52 Kosiek, Rolf, Dr. 171 Kurtis, Mesut 52 Kurtulmus, Numan, Prof. Dr. 75 Kutsal, Necdet 70 Madani, Abassi 57 Makhlouf, Chakib Ben 52 Mashal, Khaled 48f. Mashur, Mustafa 50 279 Mehsud, Baitullah 29 Miscavige, David 222, 231, 234 Modrow, Hans 194 Molau, Andreas 157, 167, 172, 178 Müller, Ursula 141 Mullaojlu, Mustafa 73, 78 Nasrallah, Hassan 61, 63 Öcalan, Abdullah 84f., 88ff. Oktar, Adnan (alias Yahya, Harun) 49f., 69 Pohl, Helmut 219f. Prabhakaran, Vellupillai 113 Quassem, Naim 61 Qutb, Sayyid 28 Rajavi, Maryam 115 Rajavi, Massoud 115 Raspe, Jan Carl 219 Rieger, Jürgen 138, 154, 163 Richter, Karl 157 Rose, Olaf, Dr. 163, 172 Rudolf, Germar 172, 177 Sander, Ulrich 201 Schützinger, Jürgen 157, 172 Thamilchelvan, Suppiah Paramu 111 Thierry, Andreas 155 Tittmann, Siegfried 168 Türkes, Alparslan 94 Ücüncü, Oguz 52, 66, 75f. Ünalan, Ünal 73 Viehmann, Klaus 218 Voigt, Udo 151, 154, 179, 182 Wagenknecht, Sarah 196 Wagner, Rolf Clemens 219 280 Anhang Wetzel, Bruno 168 Wulff, Thomas 154 Yagan, Bedri 96 Qutb, Sayyid 94 Zeidan, Amir 53 Zündel, Ernst 172, 176 281 VERTEILERHINWEIS Diese Informationsschrift wird von d Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen lichkeit herausgegeben. Sie darf weder Helfern während eines Wahlkampfs zu den. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Informationsständen der Parteien sow parteipolitischer Informationen oder W Untersagt ist auch die Weitergabe an D Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer W verwendet werden, dass dies als Partein politischer Gruppen verstanden werden hängig vom Vertriebsweg, also unabhän Anzahl diese Informationsschrift dem E Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Inf glieder zu verwenden. der Landesregierung Baden-Württemberg im Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentvon Parteien noch von deren Kandidaten oder um Zwecke der Wahlwerbung verwendet werVerteilung auf Wahlveranstaltungen und an ie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben Werbemittel. Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so nahme der Herausgeberin zugunsten einzelner n könnte. Diese Beschränkungen gelten unabngig davon, auf welchem Wege und in welcher Empfänger zugegangen ist. formationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mit-