BadenINNENMINISTERIUM VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT BADEN-WÜRTTEMBERG 2006 Herausgeber: Innenministerium Baden-Württemberg Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart Gestaltung und Satz: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85A, 70372 Stuttgart Umschlag: Orel & Unger GmbH, Stuttgart Druck: KONKORDIA GmbH Eisenbahnstraße 31, 77815 Bühl Auflage: 12.500 Zitate: Alle Zitate sind in Kursivschrift gesetzt. Zitate aus Texten in alter Rechtschreibung wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Redaktionsschluss: April 2007 Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers - ISSN 0720-3381 VORWORT Die vielen Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus bringen es mit sich, dass wir Tag für Tag mit einer Fülle besorgniserregender Informationen konfrontiert werden. In großer Zahl erreichen uns neue Warnungen und Drohungen selbst ernannter Gotteskrieger oder Horrorbotschaften aus dem Internet. Umso wichtiger ist es, den Überblick zu behalten, Nachrichten richtig einzuschätzen und eine verlässliche Grundlage für eine angemessene Antwort auf den internationalen Terrorismus zu schaffen. Im Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg arbeiten Experten der unterschiedlichsten Fachrichtungen - erfahrene Ermittler, Computerfachleute, Islamwissenschaftler, Historiker, Juristen und Politologen - zusammen, um gewissenhaft, mit Sachverstand und zuverlässig alle wichtigen Informationen zu einem aussagekräftigen Lagebild zusammenzufügen. Der Verfassungsschutzbericht fasst diese Informationen in anschaulicher Weise zusammen, ohne eine Bewertung der im Berichtszeitraum festgestellten extremistischen Bestrebungen und Spionageaktivitäten zu vernachlässigen. Es entspricht dem Wesen unserer freiheitlichen Demokratie, dass diese Informationen nicht nur für die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung bestimmt sind. Vielmehr geht der Verfassungsschutz auch mit dem aktuellen Jahresbericht wieder auf alle Bürgerinnen und Bürger zu, die sich für die Demokratie und ihre Werte engagieren und zugleich terroristischen und extremistischen Bestrebungen entgegentreten wollen. Wer wissen will, wie der internationale Terrorismus unser Land berührt, wo und wie Verfassungsfeinde agieren oder wie man seinen Betrieb gegen Spionage schützen kann, der möge in dieses Buch schauen. Übersichtlich und prägnant werden darin die Entwicklungen des vergangenen Jahres geschildert. Ich wünsche uns, dass uns die Informationen des Verfassungsschutzberichts 2006 weiterhelfen, wenn es darum geht, für unsere Freiheit und unsere Demokratie einzustehen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Verfassungsschutz danke ich für ihre engagierte und professionelle Arbeit. Ihr Einsatz für die uns verbindenden Werte und unsere Demokratie ist für das Gemeinwesen unverzichtbar. Heribert Rech MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg INHALTSVERZEICHNIS A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG .................................12 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes .........................................................12 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei....................................13 3. Methoden des Verfassungsschutzes........................................................13 4. Kontrolle..........................................................................................................14 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes....................................15 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS ...............................18 1. Überblick.........................................................................................................18 1.1 Aktuelle Situation, Tendenzen ................................................................18 1.2 Hintergründe, Begriffsbestimmungen ...................................................21 1.3 Das Personenpotenzial im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus ....................................23 2. Islamistischer Terrorismus (interner und globaler Djihadismus).24 2.1 "Al-Qaida", "Ansar al-Islam" und "Ansar al-Sunna" .........................24 2.2 Die Chronologie der Gewalt....................................................................31 2.3 Rolle des Internets.......................................................................................32 2.3.1 Islamistische Propaganda im Internet ...................................................32 2.3.2 Erstellung und Verbreitungswege islamistischer Internetpropaganda ..........................................................33 2.4 "Al-Djamaa al-Islamiya" und "al-Djihad al-Islami"............................35 2.5 "Front Islamique du Salut" (FIS), "Groupe Islamique Arme" (GIA) und "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC).........................................37 3. Islamistischer Extremismus .......................................................................39 3.1 Salafitische Bestrebungen in Deutschland ..........................................39 3.2 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger ...44 3.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)..................48 3.2.2 "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS) .................................52 3.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") .......................................54 3.3 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung").............................................55 3.4 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission")................................59 3.5 Organisation aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" ("Partei Gottes") .................................................................61 3.6 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG)......................66 3.7 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) .........................88 4. Weitere Informationen...............................................................................91 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN .......92 1. Allgemeiner Überblick ...............................................................................92 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), jetzt: "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL)......................94 3. Türkische Vereinigungen ........................................................................104 3.1 Extrem nationalistische Organisationen.............................................104 3.1.1 "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF)/ "Türkische Föderation Deutschland" (ATF) .....................................104 3.2 Linksextremisten.........................................................................................106 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol) ..............................106 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte..............................................................................106 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C)............107 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/ Marxisten-Leninisten" (TKP/ML)/"Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) .........................................................111 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner.............................................................................114 5. Sikh-Organisationen ..................................................................................117 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE).....................................120 7. Iranische Gruppen .....................................................................................122 8. Weitere Informationen ............................................................................125 D. RECHTSEXTREMISMUS ..................................................................................126 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen ..............................................126 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale ..............127 1.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................128 1.3 Ideologie........................................................................................................129 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus.....................................................131 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt ..............................................131 2.2 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Ein Boom schwächt sich ab? ..................................................................132 3. Rechtsextremistische Musikszene ........................................................138 3.1 "Schulhof-CDs" als rechtsextremistische Rekrutierungsmittel und Wahlkampfmedien ...................................140 3.1.1 Das ursprüngliche "Projekt Schulhof".................................................141 3.1.2 "Schulhof-CDs" der NPD........................................................................142 3.1.3 CD-Projekte der DVU..............................................................................144 4. Neonazismus................................................................................................145 4.1 Allgemeines ..................................................................................................145 4.2 Bundesweite Aktivitäten..........................................................................147 4.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene .......................................................................................147 4.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG)....................................................150 4.3 Verstärkte Demonstrationstätigkeit als Agitationsschwerpunkt der Neonaziszene ..................................150 5. Rechtsextremistische Parteien...............................................................158 5.1 Parteien mit rechtsextremistischer Zielsetzung ...............................158 5.1.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) .................158 5.1.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) .............................................................170 5.2 Parteien mit Anhaltspunkten für eine rechtsextremistische Zielsetzung ..........................................................172 5.2.1 "Die Republikaner" (REP) ......................................................................172 6. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten ........................................173 6.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag"...173 6.2 "Gesellschaft für Freie Publizistik e. V." (GFP)................................175 7. Aktionsfeld Geschichtsrevisionismus: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus .......................176 8. Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus....................................................................................179 9. Aktionsfelder ...............................................................................................182 9.1 Rechtsextremistische Positionen zur Patriotismusdebatte anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft............................................183 9.2 Der "Kampf der Kulturen" aus rechtsextremistischer Sicht.......188 10. Weitere Informationen ............................................................................197 E. LINKSEXTREMISMUS ......................................................................................198 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen ..........................................198 2. Übersicht in Zahlen ..................................................................................200 2.1 Personenpotenzial......................................................................................200 2.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................201 3. Gewaltbereiter Linksextremismus........................................................202 4. Parteien und Organisationen .................................................................204 4.1 "Linkspartei.PDS".......................................................................................204 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) .....................................207 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) ..210 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD)...........213 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH)..............................................................................226 4.6 Sonstige Vereinigungen ............................................................................217 5. Aktionsfelder ...............................................................................................218 5.1 "Antifaschismus" .........................................................................................218 5.2 "Repression".................................................................................................220 5.3 Antiglobalisierung ......................................................................................221 5.4 "Sozialabbau" ...............................................................................................224 5.5 Nahost-Konflikt..........................................................................................225 5.6 "Autonome Zentren"................................................................................227 6. Weitere Informationen ............................................................................229 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO).......................................................230 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................230 2. Programmatik und Erscheinungsbild ..................................................231 3. Organisation und Mitgliederbestand...................................................232 4. Mitgliederwerbung.....................................................................................234 5. Repressive Maßnahmen zur Geldbeschaffung.................................236 6. Die "Scientology Kirche" und der SO-Wirtschaftsverband "WISE"....................................................239 7. Hilfsund Unterorganisationen ............................................................241 8. Propaganda und Diffamierungskampagnen ......................................244 8.1 Reaktion auf den "Karikaturenstreit"..................................................245 8.2 Mitgliederorientierte Propaganda.........................................................245 8.3 "Europäischer Expansionsgipfel" in Brüssel .....................................247 9. Vertrauliches Telefon/Weitere Infomationen..................................248 G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ ........................250 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................251 2. Daten, Fakten, Hintergründe.................................................................251 2.1 Proliferation..................................................................................................251 2.1.1 Iran ..................................................................................................................252 2.1.2 Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea)........................254 2.2 Wirtschafts-/Wissenschaftsspionage.....................................................255 2.2.1 Volksrepublik China..................................................................................256 2.2.2 Russische Föderation ................................................................................259 3. Prävention.....................................................................................................260 3.1 Geheimund Sabotageschutz ................................................................261 3.2 Beratung und Aufklärung von Wirtschaft und Wissenschaft.....261 3.3 Sicherheitsdefizite bei mobilen Geräten und Anwendungen....262 3.4 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - die Wirtschaft schützt ihr Wissen........................................................266 4. Erreichbarkeit der Spionageabwehr/Weitere Informationen .....266 ANHANG ..........................................................................................................................268 Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 5. Dezember 2005 ...........................................................................268 Gruppen-, Organisationsund Sachregister......................................282 Personenverzeichnis .................................................................................291 A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten und die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Struktur Der Bund und die 16 Länder unterhalten eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich derzeit in sechs Abteilungen. Haushalt Die Personalstellen und Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2006 insgesamt 323 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter zugewiesen (2005: 326). Für Personalausgaben standen etwa 12,7 Millionen Euro (2005: 12,7 Millionen Euro), für Sachausgaben rund 2,3 Millionen Euro (2005: 2,3 Millionen Euro) zur Verfügung. 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz sammelt unter anderem Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, sobald tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder auch die Sicherheit der Bundesrepublik 12 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Deutschland gefährden. Als derartige Bestrebungen sind Verhaltensweisen von Personen oder Organisationen zu verstehen, deren Ziel es ist, die obersten Werte und Prinzipien des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksoder rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland beziehungsweise dessen Regierung von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch Deutschland in außenpolitische Konflikte bringen könnten oder sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Zu den weiteren Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt die Spionageabwehr. Sie ist darauf gerichtet, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und zu analysieren. Schließlich hat das Landesamt für Verfassungsschutz umfangreiche Aufgaben beim personellen und materiellen Geheimschutz. Beispielsweise wirkt der Verfassungsschutz bei der Sicherheitsüberprüfung von Einbürgerungsbewerbern mit, überprüft Geheimnisträger und andere Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig werden wollen, und unterstützt beratend Behörden sowie Unternehmen bei der Einrichtung technischer Vorkehrungen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Die Arbeit einer Verfassungsschutzbehörde unterscheidet sich wesentlich von der einer Polizeibehörde. Der Verfassungsschutz hat keine polizeilichen Befugnisse. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürfen also keine polizeilichen keinerlei Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Befugnisse Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Im Gegensatz zur Polizei ist der Verfassungsschutz nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen und muss daher keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn er Kenntnis von einer Straftat erlangt. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen erlangt das Landesamt für Verfassungsschutz auf offenem Weg. Allerdings dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) genannten nachrichtendienstlichen Hilfsmittel angewendet werden. Gerade letzte13 re Erkenntnisse sind hochwertig und erst diese ermöglichen eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen. Alle diese Möglichkeiten stehen jedoch laut LVSG unter Grundsatz der dem Vorbehalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, das heißt, von Verhältnismehreren geeigneten Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige mäßigkeit auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Aufgabe der mit der Auswertung befassten Mitarbeiter ist es dann, den Aussagewert und die Bedeutung der beschafften Informationen zu analysieren und Lagebilder sowie Trendaussagen zu erstellen. Methoden der Erkenntnisgewinnung OFFENE BESCHAFFUNG VERDECKTE BESCHAFFUNG 4. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Im Zentrum stehen innerbehördliche Maßnahmen wie zum Beispiel Kontrollen durch den internen Datenschutzbeaufvielschichtige tragten. Daneben stellen die Rechtsund Fachaufsicht durch das InnenmiKontrolle nisterium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 15 14 Verfassungsschutz Baden-Württemberg LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Postund Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen nach dem Artikel 10-Gesetz unterliegen der Kontrolle der G 10-Kommission und des G 10-Gremiums. 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann dauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Eine ganze PaletInformationste von Informationsmöglichkeiten steht dabei zur Auswahl. So können zahlangebote reiche Broschüren zu den verschiedensten Themen des Verfassungsschutzes angefordert oder im Internet abgerufen werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz stellt auch Referenten für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung und beantwortet Anfragen von Medienvertretern so umfassend wie möglich. Im Jahre 2006 haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg 133 Vorträge (2005: 113) gehalten. Daneben gab es zahlreiche Anfragen von Medienvertretern. Etwa 12.000 Verfas15 sungsschutzberichte 2005 und 9.700 Broschüren wurden auf Anforderung verteilt. Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg unter www.verfassungsschutz-bw.de mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 500 700 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/9544-181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/9544-444 Fax: 0711/231-3599 16 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Internet: http://www.verfassungsschutz-bw.de E-Mail: info@verfassungsschutz-bw.de Vertrauliche Telefone zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 "Islamistische Extremisten": 0711/95 61 984 (deutsch/englisch) 0711/95 44 320 (türkisch) 0711/95 44 399 (arabisch) 17 B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS 1. Überblick 1.1 Aktuelle Situation, Tendenzen Spannungen im Vor allem im Nahen und Mittleren Osten haben Krisen und Kriege im Jahr Nahen Osten mit 2006 an Intensität zugenommen. So beschrieb der scheidende UN-GeneFolgen für Europa ralsekretär Kofi Annan in einem am 4. Dezember 2006 ausgestrahlten Interview der BBC die Situation im Irak mit drastischen Worten: "Als wir vor einigen Jahren die Kämpfe im Libanon und anderswo hatten, nannten wir das einen Bürgerkrieg. Dies ist viel schlimmer." Im Libanon selbst eskalierte die Situation im November und Dezember 2006 so sehr, dass Annan in seiner letzten offiziellen Rede vor einer Explosion der Gewalt warnte. Die Spannungen seien "nahe der Zerreißgrenze". In den von Israel besetzten Gebieten drohte die HAMAS mit einer dritten Intifada, und in Afghanistan sprachen Militärexperten nach dem Wiedererstarken der Taliban-Kräfte von einem Wendepunkt. In Europa blieben diese Entwicklungen nicht ohne Folgen. Im Libanonkrieg, der vom 12. Juli bis zum Waffenstillstand am 14. August 2006 dauerte, wurden Bilder von meist bei Bombenangriffen der Israelis getöteten Libanesen, besonders wenn es sich dabei um Kinder handelte, in der arabischen Welt medial ausgeschlachtet. Auch in Baden-Württemberg wurden Fotos von Zivilopfern zu Propagandaund Mobilisierungszwecken genutzt. Ein weiteres Indiz für die Befindlichkeiten in bestimmten islamistischen Kreisen waren die Vehemenz und Aggressivität, die im Februar 2006 rund um den so genannten Karikaturenstreit sichtbar wurden. In diesem Monat protestierten Hunderttausende in der gesamten islamischen Welt von Marokko bis Indonesien. Es kam zu Gewaltausbrüchen, bei denen über 100 Menschen starben und mehrere Hundert verletzt wurden. Zu einem erheblichen Teil fachten Islamgelehrte, Politiker und Freitagsprediger in der ganzen islamischen Welt die Stimmung zusätzlich an, indem sie, gestützt auf die unterschiedlichen arabischen Medien, so weit gingen, einen "Tag des Zorns" auszurufen, Kopfgelder auf die dänischen Karikaturisten auszuloben und zum Kampf gegen den "verderbten Westen" aufzurufen. In Iran initiierte eine Tageszeitung einen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb, und im 18 Islamismus Dezember 2006 fand eine Holocaustkonferenz in Teheran statt, die den Leugnern der Massenvernichtung von Juden während des Nationalsozialismus ein Forum bot und weltweit Aufmerksamkeit erregte. Damit wollte man den Westen vorführen, der mit zweierlei Maß messe. Wenn jemand den Islam beleidige, so die Argumentation, sei dies von der Meinungsfreiheit gedeckt. Würde man aber Israel oder die Juden kritisieren, dann wäre dies nicht nur nicht erwünscht, sondern auch noch strafbar. Der Karikaturenstreit hatte aber auch in Deutschland schwerwiegende Folgen. Zwei junge Libanesen, die sich schon einige Zeit zum Studium in Deutschland aufhielten, verbrachten Ende Juli 2006 im Hauptbahnhof Köln zwei selbstgebaute Kofferbomben in Regionalzüge, die jedoch nicht zündeten. Ihre Absicht war es, so viele Bahnreisende wie möglich zu töten. Als Grund wurde genannt, dass sie sich an den Deutschen für den Abdruck der Muhammad-Karikaturen in deutschen Zeitungen rächen wollten. Wenn man die Gefühlslage und Motivation Einzelner, die sich am Djihad interessiert zeigen, ergründen möchte, dann spielt der in jüngster Zeit immer häufiger verwendete Begriff "al-Ghurabaa" ("Die Fremden") eine erhebliche Rolle. In islamistischen Kreisen bezeichnen sich besonders aktive Mitglieder selbst als "Fremde". Sie verstehen sich als Speerspitze einer Bewegung, als Avantgarde, die ein erhabener Idealismus und ein persönlich stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden auszeichnet. In einschlägigen Internetforen führte man die Bezeichnung auf einen Ausspruch des Propheten zurück: "Der Islam begann als etwas Fremdes und wird als etwas Fremdes wiederkommen. Das Paradies ist für die Fremden." 1 Die Bezüge zu djihadistischen Vorstellungen wurden auch dadurch deutlich, dass man einen der wichtigen islamistischen Vordenker, Sayyid QUTB, mit einem Ausspruch zitierte: "Obwohl in Ketten, mein Bruder, sei frei. Obwohl vor den Gerichtsschranken, mein Bruder, sei frei." 2 1 Internetauswertung vom 9. Oktober 2006. 2 Internetauswertung vom 25. September 2006. 19 salafitische und Die Idee des "Fremdseins" kursierte auch in deutschsprachigen salafitidjihadistische schen3 Foren: Propaganda in deutscher Sprache "Unser höchstes Ziel, Allah (...) zufrieden zu stellen und das Paradies zu betreten (...) kann nur erfüllt werden, wenn wir das Böse verbieten und standhaft auf dem rechten Weg sind, gerade in einer Zeit in der die Leute komplett verdorben sind. (...) Sie (die Fremden) sind diejenigen die sich steigern (in ihrem Imaan) [Glauben], wenn sich die Leute verringern (in ihrem Imaan)." 4 Ein bekanntes arabisches Lied wurde daher auch in deutscher Übersetzung in entsprechenden Foren, die sich selbst als "Salafiya Djihadiya" bezeichnen, gepriesen und weiterverbreitet. Einige Verse machen sehr deutlich, was hinter dem Lebensmotto "Ghurabaa beugen ihre Häupter vor niemandem außer Allah" zu verstehen ist: "Uns bekümmern nie die Ketten, sondern wir werden immer weiter machen So lasst uns Jihaad und Schlachten bestreiten und von neuem kämpfen Ghurabaa, so sind sie frei in der versklavten Welt (...)." Diese Vorstellungen scheinen auch bei einer militanten Gruppe "Ghurabaa" in Großbritannien verbreitet. Die Gruppe, eine Abspaltung der "Hizb ut-Tahrir", wurde am 17. Juli 2006 auf Grund der britischen Anti-Terror-Gesetze verboten. Die Bedeutung von QUTB wurde im Jahr 2006 dadurch erneut deutlich, dass eines seiner bekanntesten Bücher "Zeichen auf dem Weg" in einer deutschen Übersetzung im Internet zum Download angeboten wurde. Als man dieses Buch im Mai anbot, wurde bereits am Titelbild erkennbar, wie der Inhalt zu verstehen sei. Als solches wurde das Emblem des Zusammenschlusses verschiedener DjihadGruppen gewählt, der im Januar 2006 unter Führung von "al-Qaida im Zweistromland" unter Abu Musab az-ZARQAWI gegründet wurde. Der Herausgeber und Übersetzer des Buches Muhammad RASSOUL wählte als Leitspruch ein Zitat QUTBs: 3 Vgl. Kapitel 3.1, S. 39ff. 4 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 30. Oktober 2006; Übernahme wie im Original. 20 Islamismus "Der Islam ist keine Theorie, die sich mit Hypothesen und Annahmen beschäftigt; vielmehr ist er ein 'Weg des Lebens', der sich mit der Wirklichkeit befasst." 5 Dass dieses bekannteste Standardwerk islamistischer Manifeste in deutscher Sprache verbreitet wird und auf dem Titel das Emblem einer djihadistischen Gruppe prangt, unterstreicht die Bedeutung dieser Schrift, die im Islam eine Befreiungserklärung des Menschen erkennt und damit aktiv zum Kampf gegen die als ungerecht empfundenen Zustände aufruft. 1.2 Hintergründe, Begriffsbestimmungen Wie die Religion des Islam selbst, so ist auch der Islamismus ein zutiefst heterogenes Phänomen, das zwar Elemente und Ziele aufweist, die allen islamistischen Strömungen gemeinsam sind, jedoch nicht notwendigerweise gewaltsame Formen annehmen muss. Gemeinsam sind ihnen allen der universelle und unteilbare Geltungsanspruch, der Rückgriff auf als authentisch betrachtete Quellen sowie die Vision eines vergangenen Idealzustands, der sich maßgeblich an der überlieferten Glaubenspraxis des Propheten Muhammad und der frühen Muslime orientiert. Ihren Ursprung haben die meisten islamistischen Bewegungen in Gebieten und Regionen der islamischen Welt, in denen sie eine Protestbewegung vor allem gegen den Einfluss von westlichen Werteund Ordnungsvorstellungen darstellen. Armut in weiten Teilen der Bevölkerung, einhergehend mit einem rapiden Bevölkerungswachstum, führt zu Perspektivlosigkeit. Die daraus resultierende Unzufriedenheit bildet einen geeigneten Nährboden, auf dem islamistische Ideen gut gedeihen und immer mehr Anhänger verbucht werden können. Zunehmend sehen Muslime die Lösung für ihre sozialen und politischen Probleme in einer Rückbesinnung auf eigene Werte und Traditionen. Die Religion des Islam wird als ein sozio-politisches System verstanden, das in ahistorischer Weise ein für alle Zeiten gültiges Repertoire an Vorschriften und Bestimmungen enthält, durch deren Einhaltung nach Meinung von Islamisten soziale Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt herbeigeführt werden kann. Die Religion des Islam wird somit zu einer politischen Ideologie erhoben. Aufgrund ihres Anspruchs, für die ganze MenschAbsolutheitsanheit gültig zu sein, gerät sie notgedrungen mit abweichenden Ordnungsspruch des und Wertevorstellungen in Konflikt. Fand dieser Prozess in der VergangenIslamismus heit überwiegend in islamischen Ländern statt, so fühlen sich inzwischen 5 Seite 305ff. 21 auch vor allem jugendliche Muslime in westlichen Ländern von islamistischem Gedankengut angesprochen. Hierbei spielt auch die Stationierung westlicher, vor allem US-amerikanischer Soldaten in Afghanistan und im Irak eine Rolle. Um trotz dieser Gemeinsamkeiten der Komplexität aktueller islamistischer Tendenzen, die durchaus miteinander im Widerstreit liegen, gerecht zu werden und um deren unterschiedliche Methodik zur Implementierung und Durchsetzung ihrer Ziele auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu können, wird der Begriff "Islamismus" im weitesten Sinne definiert als "die aktive Befürwortung und Durchsetzung von Glaubensinhalten, Vorschriften, Gesetzen oder Politikinhalten, die als islamisch betrachtet werden".6 Aufgrund der Tatsache, dass Islamisten unterschiedlich organisiert sind und bei der Umsetzung ihrer Ziele verschiedene Ansätze verfolgen, lassen sich auch unterschiedliche Formen des Islamismus konstatieren. Es gibt islamistische Gruppierungen wie beispielsweise die "Muslimbruderschaft" (MB), deren Priorität im Bereich des politischen Aktivismus liegt. Ihr Hauptziel ist die Erlangung der politischen Macht, wobei sie sich als politische Parteien konstituieren und der Gewalt als Mittel der Politik öffentlich abschwören. Sie bewegen sich dabei im vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen des jeweiligen politischen Systems, wobei das Aktionsfeld solcher Organisationen in der Regel auf die nationalstaatliche Ebene beschränkt bleibt Islamismus als (Politischer Islamismus). heterogenes Phänomen Des Weiteren gibt es eine Erscheinungsform des Islamismus, dessen zentrales Tätigkeitsfeld die Konvertierung durch Mission (Da'wa) sowohl Andersgläubiger (Christen, Juden, Atheisten), als auch säkular orientierter Muslime zu einem als authentisch betrachteten Islam ist (Missionarischer Islamismus). Die Ergreifung der politischen Macht ist dabei nicht das primäre Ziel. Vielmehr geht es um den Erhalt der muslimischen Identität und um die Verbreitung des islamischen Glaubens, wobei in einem dualistischen Weltbild, das zwischen gut (islamisch) und schlecht (unislamisch) unterscheidet, dem so genannten Unglauben (Kufr) eine als höherwertig betrachtete islamische moralische Ordnung gegenübergestellt wird. Die hoch strukturierte "Tablighi"-Bewegung lässt sich beispielsweise diesem Islamismustyp zuordnen. 6 Diese Definition ebenso wie die nachfolgende Kategorisierung der unterschiedlichen Formen des Islamismus erfolgen in weiten Teilen in Anlehnung an die International Crisis Group, vgl. International Crisis Group, Understanding Islamism, Middle East/North Africa Report Ndeg37, 2 March 2005. 22 Islamismus Organisationen eines dritten Typs des Islamismus schließlich betrachten den bewaffneten Kampf (Djihad) als die einzige Möglichkeit, islamistische Ziele in die Tat umzusetzen (Djihadistischer Islamismus). Der Kampf wird zum einen gegen die Herrscher und Regierungen der islamischen Welt geführt, die als "ungläubig" und "apostatisch" (vom Glauben abgefallen) betrachtet werden, da nach Ansicht der Djihadisten diese Regierungen als "Handlanger" des Westens gegen die Bestimmungen des Islam und gegen die Interessen der Muslime fungieren. Der Kampf wird gegen die jeweiligen Nationalstaaten geführt, die durch einen transnational übergreifenden islamischen Gottesstaat ersetzt werden sollen, in dem ausschließlich das islamische Gesetz (Scharia) Anwendung findet (Interner Djihadismus). Die "Islamische Bewaffnete Gruppe" in Algerien ist ein klassischer Vertreter dieser Form des Islamismus. Zum anderen wird ein weltweiter Kampf gegen den Westen und seine Verbündeten geführt, insbesondere gegen die USA und Israel. Terroristische Organisationen und Netzwerke wie "al-Qaida" erklären bei dieser Form des Islamismus oppositionelle und anders denkende Muslime zu "Ungläubigen" (Takfir) und machen sie somit gemäß ihrer Interpretation des Islam zu legitimen Zielen, die mit Mitteln des Djihad bekämpft werden dürfen (Globaler Djihadismus). In einigen Fällen ist der bewaffnete Kampf regional beschränkt und zielt im Wesentlichen darauf ab, Gebiete, die als dem islamischen Kulturkreis zugehörig betrachtet werden, von "nicht islamischer" Herrschaft zu befreien, so dass diese wieder "islamisch" regiert werden (Irredentistischer Djihadismus). Derartige Tendenzen lassen sich bei islamistischen Gruppierungen in Palästina (HAMAS, "al-Djihad al-Islami"), Kaschmir ("Laschkar-e Taiba", "Hizb-ul-Mudschahedin") und auch in Tschetschenien beobachten. 1.3 Das Personenpotenzial im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus Aus der großen Zahl der Muslime von beinahe 3,5 Millionen, die in Deutschland leben, engagiert sich eine zum Teil lautstarke Minderheit in extremistischen Gruppierungen, die islamistischen Ideen anhängen. Von diesen wiederum kann nur ein sehr geringer Bruchteil dem gewaltbereiten Spektrum zugeordnet werden. Die Zahl der tatsächlich gewaltbereiten, in terroristischen Gruppen eingebundenen Personen lässt sich aber nicht eindeutig ermitteln. So fallen etwa Einzeltäter ohne strukturelle Anbindung aus einem an Organisationen ausgerichteten Raster.7 7 Da eine Differenzierung der Strafund Gewalttatenzahlen nach islamistischen beziehungsweise sonstigen ausländerextremistischen Taten nicht möglich ist, wurde die Grafik mit den Gesamtzahlen der ausländerextremistischen Strafund Gewalttaten lediglich im Kapitel "Sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern" abgedruckt, vgl. S. 93. 23 Das Personenpotenzial jener islamistischen extremistischen Gruppierungen, die ihre Ziele ohne direkte Gewaltanwendung verfolgen, kann nach regionaler Herkunft der Personen gewichtet werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Zahlen den manifesten Teil der Mitglieder umfassen. Diese Zahlenangaben beinhalten Schätzungen, sind gerundet und können nur einer groben Orientierung dienen, da das Potenzial an Sympathisanten und Anhängern etwa bei Demonstrationen erheblich höher sein kann. Die Zahl derjenigen, die tatsächlich mit extremistischem Gedankengut sympathisieren oder diesem zustimmen, spiegelt sich nur zum geringsten Teil in den hier erhobenen Zahlen. Das islamistische Gesamtpotenzial in Baden-Württemberg liegt unverändert wie im Vorjahr bei 4.380 Personen.8 Mit türkischem Ursprung blieb auch 2006 die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) mit 3.600 Mitgliedern in Baden-Württemberg die mitgliederstärkste extremistische Organisation im islamistischen Spektrum. Der verbotene "Kalifatsstaat" (ICCB) verfügt auch nach dem Verbot über 300 Anhänger in BadenWürttemberg. In Organisationen, die ihre Wurzeln in arabischen Staaten (wie etwa Ägypten, Palästina, Libanon, Algerien oder dem Irak) haben, engagierten sich 2006 circa 430 Mitglieder in Baden-Württemberg. Hier sind die wichtigsten Gruppierungen die "Muslimbruderschaft" (MB) mit 180 Mitgliedern und die libanesische "Hizb Allah", die von circa 85 Mitgliedern unterstützt wurde. Im Bereich der weiteren Herkunftsländer werden Gruppierungen beobachtet, die etwa Bezüge nach Bosnien-Herzegowina, nach Iran, Tschetschenien, Indonesien, Pakistan oder weitere islamisch geprägte Länder aufweisen. 2. Islamistischer Terrorismus (interner und globaler Djihadismus) 2.1 "Al-Qaida", "Ansar al-Islam" und "Ansar al-Sunna" bewaffneter Im Irak konnten sich nach dem Sturz des Saddam-Regimes mehrere natioKampf im Irak nal und auch transnational agierende Gruppierungen etablieren, die es sich zum Ziel gesetzt haben, durch den bewaffneten Kampf "dem Islam" in Form der Implementierung des islamischen Gesetzes wieder Geltung zu verschaffen. Djihadisten sehen es hierbei als ihre zentrale Aufgabe an, die politischen Hindernisse für die Einführung des "göttlichen Gesetzes" zu beseitigen und die politische Macht an sich zu reißen. 8 Eine Gesamtübersicht über die Anhänger extremistischer Ausländerorganisationen ist im Kapitel "Sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern" abgedruckt, vgl. S. 92. 24 Islamismus Als herausragender Akteur des Djihadismus hatte sich seit 2004 die Gruppierung um az-ZARQAWI im Irak etabliert. Zunächst unter der Bezeichnung "alTawhid wa al-Djihad" ("Monotheismus und Djihad") bekannt, änderte sie ihren Namen nach dem Anschluss an die Kern-"al-Qaida" um Usama BIN LADIN und Ayman az-ZAWAHIRI in "Tanzim Qaidat al-Djihad fi Bilad al-Rafidain" ("al-Qaida im Zweistromland"). Im Januar 2006 schließlich war dann der "Schurarat der Mudjahedin" entstanden, der im Grunde die Nachfolgeorganisation der "al-Qaida im Zweistromland" darstellte. Diese Umbenennung war wohl aus Imagegründen erfolgt, da die damalige brutale Vorgehensweise ihres Anführers az-ZARQAWI selbst in djihadistischen Kreisen umstritten war. Unter ihrem neuen Namen "Schurarat der Mudjahedin" hat sich die "al-Qaida" mit einigen kleineren irakischen Widerstandsgruppen verbündet, um ihrem Kampf vor allem unter der irakischen Bevölkerung eine größere Legitimität zu verleihen. Im Juni 2006 gelang den Sicherheitskräften im Irak ein entscheidender Schlag gegen Aktivisten des "Schurarates der Mudjahedin", bei dem az-ZARQAWI getötet wurde. Dies schwächte jedoch die Organisation nicht. Vielmehr kehrte der "Schurarat der Mudjahedin" unter seinem neuen Anführer Abu Hamza al-MUHAJIR zur alten Strategie der brutalen Gewalt zurück, um nach dem Tod az-ZARQAWIS seine weitere Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die brutale Geiselnahme und anschließende Hinrichtung barbarische Hinrichtung russischer Diplomaten im Irak legt Zeugnis davon von Geiseln ab. Auch die schon von az-ZARQAWI ab dem Jahre 2005 vorangetriebene Konfessionalisierung des bewaffneten Konflikts wurde 2006 weiter forciert, so dass offensichtlich beabsichtigt wurde, einen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten heraufzubeschwören. Dies hatte zur Folge, dass auch verstärkt terroristische Aktionen in sunnitisch-schiitischen Mischgebieten verübt wurden. Während des israelisch-libanesischen Krieges Mitte 2006 und der damit einhergehenden ideologischen Aufwertung der schiitischen "Hizb Allah" haben sich diese Tendenzen noch intensiviert. Einen Höhepunkt erreichten diese bürgerkriegsähnlichen Zustände im November, als in einem schiitischen Viertel mehr als 200 Personen getötet wurden. Im Zuge dieser sich 25 verschärfenden interreligiösen Konflikte destabilisierte sich die Lage im Irak immer weiter, so dass sogar einige westliche Beobachter Befürchtungen äußerten, die staatliche Einheit des Irak könne zerbrechen. Darüber hinaus war der Einsatz der Koalitionsstreitkräfte auch in den Entsendeländern innenpolitisch heftig umstritten. Um als Nutznießer aus dieser Situation hervorzugehen, verkündete der "Schurarat der Mudjahedin" dann im Oktober 2006 die Gründung eines "Islamischen Staates im Irak". Seither werden Verlautbarungen und Erklärungen nur noch durch den "offiziellen Sprecher" des "Informationsministeriums" des islamischen Staates über die eigens gegründete Medienabteilung "al-Furqan" herausgegeben. Auf die Lage im Irak und der sunnitischen Muslime ganz allgemein Bezug nehmend verkündete das "Informationsministerium" in seiner ersten visuellen Stellungnahme: "Die eingedrungenen Aggressoren und die boshafZuspitzung des ten Schiiten sollen wissen, dass das Blut der Sunna Konflikts zwischen lieb und teuer ist und dass es von jetzt an nicht Sunniten und umsonst vergeudet werden wird. Wir werden jeder Schiiten Übertretung gegen das Blut der Sunna mit der Stärke Allahs mit harter und schwerer Vergeltung begegnen so wie sie es nie zuvor gesehen haben. Und sie sollen wissen, dass das Bagdad von Raschid, das Land des Kalifats, von unseren Vorfahren errichtet wurde. Wir werden nicht unsere Hände von ihm lassen außer über unsere toten Körper und Schädel hinweg. Und wir werden dort wieder die Flagge des Monotheismus hissen, die Flagge des islamischen Staates." 9 Dass sich derartige Agitationen auch zunehmend an Muslime richten, die im Westen ansässig sind und die für den religiös legitimierten Terror mobilisiert werden sollen, machten folgende Äußerungen deutlich: "Wir rufen alle sunnitischen Muslime in der ganzen Welt auf, uns beginnend mit Worten und endend mit Blut zu unterstützen. Denn ihr seid der Quell unserer Stärke und in euch setzen wir nach Gott unsere Hoffnung. Lasst uns daher nicht im Stich, steht an unserer Seite und verteidigt uns. Verbrennt den Boden unter den Füßen desjenigen, der uns schaden will." 9 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 30. Oktober 2006. 26 Islamismus Eine weitere djihadistische Gruppierung im Irak, die in vielerlei Hinsicht dem "Schurarat der Mudjahedin" beziehungsweise dem neu gegründeten islamischen Staat in nichts nachsteht, ist die "Djaisch Ansar al-Sunna" ("Armee der Helfer der Tradition des Propheten Muhammad") oder einfach nur "Ansar al-Sunna" genannt. Hierbei handelt es sich um eine militante islamistische Organisation, die vornehmlich im Norden und im Zentrum des Iraks terroristische Aktionen durchführt. Die "Ansar al-Sunna" wurde im September 2003 als eine Art Sammelbecken für verschiedenste islamistische Splittergruppen gegründet, wobei der Kern der Mitglieder aus Anhängern der 2003 von den Koalitionsgruppen zerschlagenen Organisation "Ansar al-Islam" bestanden haben soll. Gemäß einer Selbstdarstellung auf ihrer ehemaligen Website verfolgt die "Ansar al-Sunna" das Ziel, durch den religiös motivierten bewaffneten Kampf die westlichen Koalitionstruppen, die als Besatzer wahrgenommen werden, zu vertreiben und im Irak ein islamisches Gemeinwesen nach den Maßgaben der Scharia zu errichten. Hierbei betrachtet die "Ansar al-Sunna" den Djihad als individuelle Pflicht für alle Muslime, das heißt, es sind so lange alle Muslime aufgerufen, den Feind zu bekämpfen, bis er aus dem als islamisch betrachteten Territorium vertrieben ist. Darüber hinaus werden auch alle einheimischen Akteure als legitime Kriegsziele betrachtet, die den Interessen der Djihadisten zuwider handeln. Die Organisation gibt ein regelmäßig erscheinendes Magazin mit dem makaberen Namen "Hasad al-Mudjahedin" (Ernte der Glaubenskämpfer) heraus, das in Form von "Rechenschaftsberichten" die erfolgten Anschläge in chronologischer Reihenfolge kategorisiert und akribisch bewertet. Darüber hinaus wird eine separate Statistik geführt, in der die Verluste des Feindes an Menschen und Gerät dargestellt werden. Eine stichprobenartige Berechnung für die Monate Februar bis Mai 2006 ergab beispielsweise eine Anzahl von 1.475 Personen, die gemäß den Selbstbezichtigungserklärungen bei Anschlägen der "Ansar al-Sunna" ums Leben gekommen waren.10 Zu den herausragenden irakischen Terrorgruppen, die ihre Vorgehensweise mit der Ideologie des Djihadismus rechtfertigen, muss auch die "al-Djaisch al-islami fi al-Iraq" ("Die islamische Armee im Irak") gerechnet werden. Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Organisationen ist diese jedoch stärker nationalistisch geprägt.11 10 Ausgaben Nr. 28-31 des Magazins "Hasad al-Mudjahedin". 11 Auswertung der letzten offiziellen Internetseite der "Islamischen Armee im Irak" vom 2. November 2006. 27 Im Jahr 2006 verhandelte das Oberlandesgericht Stuttgart gegen drei mutmaßliche Angehörige der "Ansar al-Islam" beziehungsweise "Ansar al-Sunna" wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Die Beschuldigten sollen für die Organisation im Bereich der Finanzierung und Rekrutierung von der Bundesrepublik Deutschland aus tätig gewesen sein. Darüber hinaus wurde ihnen eine strafbare Übereinkunft zur Tötung des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Hashir Allawi anlässlich eines Deutschlandbesuches zur Last gelegt.12 Sowohl der Streit um die Muhammad-Karikaturen als auch die islamkritischen Zitate des Papstes in seiner Regensburger Rede im September haben zu heftigen Reaktionen unter den verschiedenen irakischen Terrorgruppen geführt. Die Worte des Papstes wurden selektiv aufgegriffen und im Sinne der Djihadisten propagandistisch ausgeschlachtet. Durch das Schüren eines ohnehin schon latent vorhandenen Feindbildes vom Westen wurde auch in diesem Fall durch die Pflege des in djihadistischen Kreisen wohlbekannten Topos von der "neuen Kreuzzugsallianz" jede Form von Kritik als ein krieUmfassende gerischer Akt gegen den Islam gewertet. Daher drohte die "Ansar al-Sunna" Drohungen mit massiver Vergeltung: "Bei Allah ihr werdet von uns nur das Schwert zu Gesicht bekommen, solange noch eine Ader in uns pulsiert, bis dass ihr zur Religion Allahs, die letzte und somit abschließende Religion, zurückkehrt. Allah hat allen Menschen befohlen, ihr beizutreten (...)" 13 Der "Schurarat der Mudjahedin" konkretisierte die Propagierung der Vorrangstellung des Islam gegenüber allen anderen Glaubensformen noch weiter und ließ keinen Zweifel daran, diesen umfassenden Geltungsanspruch auch mit physischer Gewalt durchzusetzen: "(...) wahrlich Allah wird die Muslime Rom erobern lassen, so wie es der Gesandte Gottes in einer authentischen Überlieferung versprochen hat und genau so wie auch Konstantinopel erobert wurde (...) wir werden unseren Djihad unablässig fortsetzen, bis Allah uns Herrschaft über euch verleiht und bis das Banner der ausschließlichen Anbetung 12 Pressemeldung des Oberlandesgerichtes Stuttgart vom 27. März 2006; der Prozess war bei Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen. 13 Internetauswertung vom 25. September 2006. 28 Islamismus Allahs (Tawhid) hoch oben flattert und das Gesetz Allahs die Länder und Knechte regiert." 14 Auch die Kern-"al-Qaida" um Usama BIN LADIN und Ayman az-ZAWAHIRI wandte sich mit immer aufwändiger gestalteten Videofilmen an die muslimische Öffentlichkeit im Westen. Diese beiden Symbolfiguren des transnationalen Djihadismus sollen sich weiter irgendwo im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet versteckt halten. Im Jahr 2006 wurden mehrere visualisierte Botschaften durch "al-Qaida" in einschlägige Ayman az-ZAWAHIRI Internetforen eingestellt. Pünktlich zum ersten Jahrestag der Anschläge von London verbreitete die "al-Qaida" unter dem Medienlabel "as-Sahab" eine Videoproduktion, in der der damalige zweite Attentäter, Shehzad TANWEER, zu Wort kam. Auch hier wurde das tatsächliche und vermeintliche Leid der islamischen Welt einseitig als vom Westen verursacht dargestellt. Abgesehen von der Tatsache, dass die als "Märtyrer" glorifizierten Attentäter angeblich in TrainingslaShehzad TANWEER gern der "al-Qaida" ausgebildet wurden, appellierte man in dem Film an die im Westen lebenden Muslime, sich ihrer islamischen Identität bewusst zu werden und sich aktiv für ihre Glaubensbrü"al-Qaida"-Videos der einzusetzen. Durch diese geschickte Propaganda wurde an das Märtyrfür den Westen erwesen im Islam angeknüpft, um im Westen lebende Muslime für die Anliegen des islamistischen Terrorismus zu begeistern. Diese Bereitschaft, die Angst vor dem Tod hinter sich zu lassen und sein Leben für die höhere Sache der Religion hinzugeben, wurde als gottgefällige Tat gepriesen: "Diese Liebe, als Märtyrer auf dem Pfade Allahs zu sterben, war niemals Armut, Arbeitslosigkeit oder seelische Leere, wie es einige Medien darstellen. Vielmehr ist die Motivation dahinter stets Liebe zu Allah und seinem Gesandten gewesen. Und derjenige, der diesen Weg einschlägt, tut dies in der vollen Überzeugung, dass diese seine Tat einer der besten Wege der Gottesverehrung und Handlungen für Allah darstellt." 15 14 Verlautbarung des "Schurarats der Mudjahidin im Irak" vom 17. September 2006; Internetauswertung vom 20. September 2006. 15 "As-Sahab"-Videoproduktion vom Juli/August 2006. 29 Nach den Maßstäben der "al-Qaida" werden alle Menschen im Westen zu legitimen Zielen, die mit Mitteln des Djihad bekämpft werden dürfen. Denn sie seien alle automatisch am Krieg gegen den Islam beteiligt, da in demokratischen Gesellschaften die Regierungen, die für den Kampf gegen den Islam verantwortlich gemacht werden, vom Volk gewählt und darüber hinaus aus dem Steueraufkommen der Bevölkerung finanziert würden. Von diesen Prämissen ausgehend rechtfertigt die "al-Qaida" Anschläge gegen westliche Einrichtungen und Bevölkerungen weltweit, wobei der völkerrechtlich verbriefte Status von "Zivilisten" gänzlich negiert wird: "Die Einteilung der Menschen in Militärs und Zivilisten ist nirgendwo in der Scharia zu finden. Vielmehr hat die Scharia die Menschen in Kombattanten und Nichtkombattanten unterteilt. Kombattant gemäß der Scharia ist jeder, der entweder selbst kämpft oder beim Kampf durch Geldmittel oder Meinungsäußerungen unterstützend tätig wird (...) Die Menschen des kreuzzüglerischen Westens sind in den Augen der Scharia Kombattanten, die sich im Krieg mit den Muslimen befinden." 16 Zugleich tritt in den öffentlichkeitswirksamen Auftritten der "al-Qaida"Führung immer wieder die revisionistische Ausrichtung und Zielsetzung ihres Wirkens zu Tage. Neben dem erklärten Ziel, den "jüdischen" Staat Israel beseitigen zu wollen, wird das Völkerrecht als "unislamisch" diffamiert. Darüber hinaus wird gefordert, alle Gebiete, die zu irgendeiner historischen Epoche einmal islamisch gewesen waren, vom westlichen Einfluss zu befreien und sie mit Gewalt den Maßgaben der Scharia zu unterwerfen. Dabei wird auch immer wieder dem djihadistischen Anspruch Ausdruck verliehen, prinzipiell die gesamte Menschheit dem Islam zu unterwerfen. auch Konvertiten Zunehmend scheint sich die "al-Qaida" in diesem Zusammenhang auch als Zielgruppe Konvertiten zuzuwenden, um diesen Personenkreis für potenzielle Anschläge zu nutzen. Az-ZAWAHIRI und ein in djihadistischen Kreisen als "Azzam" bekannter amerikanischer Konvertit wandten sich in einem Videofilm an die europäische und amerikanische Öffentlichkeit, indem sie dazu aufriefen, dem Islam beizutreten: "Wir laden alle Amerikaner und andere Ungläubigen zum Islam ein, wo auch immer sie sind und was 16 "As-Sahab"-Videoproduktion vom September 2006. 30 Islamismus auch immer sie für eine Rolle oder einen Status in der Weltordnung von Bush und Blair haben (...)" 17 Konvertiten sind für Djihadisten ein perfektes taktisches Mittel, um unauffällig in westlichen Gesellschaften agieren zu können. Sie sind nicht nur mit den Gegebenheiten vor Ort und der Kultur bestens vertraut, sondern sprechen auch die lokale Sprache und können folglich - ihre wahren Ziele verschleiernd - weitgehend unerkannt als Handlanger der Terroristen fungieren. Oftmals handelt es sich bei den zum radikalen und gewaltbereiten Islam hin Konvertierten um Personen, die beispielsweise massive Probleme in ihrem sozialen Umfeld haben. Extremistische Interpretationen der Religion des Islam bieten ihnen die Möglichkeit, diese persönlichen Krisen zu überwinden, indem sie bereits vorhandene oder aber übernommene antiwestliche und antijüdische Feindbilder auf eine religiöse Ebene transformieren. Die hiermit einhergehende Kritik am Westen in einem gewaltbezogenen Kontext bietet die Möglichkeit, einen maximalen Kontrast zu ihrem eigenen Kulturkreis zu bilden, den sie durch ihren Übertritt zum Islam verlassen und symbolisch bekämpfen.18 2.2 Die Chronologie der Gewalt Die Gefährlichkeit, die von islamistisch motivierten Täterkreisen ausgeht, bleibt hoch. Das zeigt ein Blick auf die Häufigkeit und Intensität islamistisch motivierter Anschläge und Gewalttaten im Jahr 2006. Sowohl im Irak als auch in Afghanistan eskalierte die Situation weiter, so dass die meisten Beobachter in beiden Fällen sehr düstere Szenarien für die nahe Zukunft entworfen haben. Im Jahr 2006 war in Afghanistan ein bislang nicht für möglich gehaltenes Wiedererstarken der Talibankräfte zu verzeichnen, was sich sowohl in Anschlägen als auch in sich über mehrere Wochen und Monate hinziehenden Kämpfen seit Frühjahr 2006 in den südlichen und südöstlichen Landesteilen abzeichnete. Im Irak starben Tausende von Menweitere schen infolge schwerer Anschläge. Im Juli 2006 starben 3.438 Menschen. Gewalteskalation Pro Tag fielen im Schnitt über 100 Menschen der Gewalt zum Opfer. Die blutige Spur der Anschläge und versuchten Terrorakte hat sich im Jahr 2006 erneut durch große Teile der Welt gezogen, wie diese Aufzählung beispielhaft unterstreicht: 17 "As-Sahab"-Videoproduktion vom September 2006. 18 Vgl. hierzu Wohlrab-Sahr, Monika: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt/New York 1999, hier insbesondere S. 291-355. Zur Problematik von Glaubenswechsel und Einbürgerungen siehe auch Kapitel C Ausländerextremismus und dort Ziffer 1 Allgemeiner Überblick, S. 92. 31 Am 7. März explodierten mehrere Bomben in Varanasi, Indien, und töteten 28 Menschen, über 100 Personen wurden bei diesen Anschlägen auf Hindu-Pilger verletzt. Indien war auch am 11. Juli Ziel eines Terroranschlags. Sieben Bomben explodierten in Vorortzügen in Mumbai. 207 Tote und zahlreiche Verletzte waren die Folge dieses bislang schwersten Anschlags auf den Personennahverkehr in Indien. Im ägyptischen, auf der Sinai-Halbinsel gelegenen Badeort Dahab wurden am 24. April durch drei Bomben 23 Menschen getötet, über 100 wurden verletzt. In Kanada wurden am 2. und 3. Juni 17 angebliche Mitglieder einer Terrorzelle in Toronto verhaftet. Die Ermittlungen gehen von einer Anschlagsvorbereitung in dieser Dimension bislang unbekannten Ausmaßes aus. Die Verdächtigen sollen einen Überfall auf das kanadische Parlament geplant haben. In Großbritannien wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. August über 20 Verdächtige festgenommen, die im Verdacht standen, dass sie Flugzeuge auf dem Flug über den Atlantik mit Flüssigsprengstoff in die Luft sprengen wollten. Die ermittelnde Polizei sprach von "einem Massenmord unglaublichen Ausmaßes", der verhindert werden konnte. In Kiel wurde am frühen Morgen des 19. August einer der beiden Hauptverdächtigen festgenommen, denen vorgeworfen wird, die am 31. Juli in zwei Zügen gefundenen Kofferbomben dort platziert zu haben. Gegen einen weiteren mutmaßlichen "Kofferbomber" wurde am 11. April 2007 in Beirut ein Prozess eröffnet. 2.3 Rolle des Internets 2.3.1 Islamistische Propaganda im Internet Der bereits vor dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003 begonnene Trend der Ausbreitung islamistischer Angebote im Internet hat sich weiunzählige ter massiv fortgesetzt. Neben der gestiegenen Anzahl und der medialen ProAngebote mit fessionalität islamistischer Seiten erhöhte sich inzwischen auch der deutschBreitenwirkung sprachige Anteil an islamistischen Internetdokumenten wie Propaganda32 Islamismus schriften, Flash-Animationen19 und Videos deutlich. Ebenfalls hat der Anteil türkischsprachiger Angebote aus allen Bereichen des islamistischen Extremismus sowie aus dem Umfeld der "al-Qaida" eine Zunahme erfahren. Angesichts der großen, in Deutschland lebenden türkisch sprechenden Bevölkerungsgruppe ist dies mittlerweile ein ernstzunehmender neuer Faktor der Verbreitung islamistischer Inhalte insbesondere bei türkischen Jugendlichen in Deutschland. Das Propagandamaterial von transnational agierenden Djihadisten wie das der "al-Qaida" macht hier weiterhin den Hauptanteil aus und prägt in weiten Teilen den islamistischen Diskurs im Internet. Auf einschlägigen Internetseiten dieser Szene finden sich vor allem Videound Audiodokumente, antiwestliche sowie antisemitische Hetzschriften und umfangreiche dogmatische und religiöse Texte, die sich in erster Linie auf die bekannten Konfliktherde der islamischen Welt beziehen: Irak, Tschetschenien, Saudi-Arabien und Palästina sowie - als Ergebnis der aktuellen Entwicklung - Propaganda von islamistischen Gruppierungen aus dem Libanon. Ein großer Teil des aktuellen Videomaterials stammt aus dem Irak, der sich aufgrund der weiterhin instabilen Sicherheitslage zu einem Drehund Angelpunkt für Djihadisten entwickelt hat. Allein rund 20 irakische Widerstandsgruppen publizieren mehr oder weniger regelmäßig, mit ihrem jeweiligen Logo hinterlegt, eigene Videoclips von Anschlägen. Die mediale Wirkung wird inzwischen durch den Einsatz moderner Digitalkameras beziehungsweise Fotohandys mit hoch auflösenden Bildern bei der visuellen Dokumentation von Anschlägen und Tötungen weiter verbessert. Insbesondere "sniper" (d.h. Scharfschützen)-Videos, bei denen amerikanische Soldaten vor laufender Kamera erschossen werden, sind eine perfide Steigerung zur Verbreitung von Angst und Schrecken. Derartige Videos, teilweise zum Ansehen über Handys aufbereitet, finden auch bei Islamisten in Deutschland höchste Aufmerksamkeit und werden als zunehmende Erfolge im Kampf gegen westliche Besatzungsmächte im Irak gesehen. 2.3.2 Erstellung und Verbreitungswege islamistischer Internetpropaganda Neben der quantitativen Zunahme des Propagandamaterials war auch eine zunehmende immer professionellere Erstellung des Materials selbst festzustellen. Die DjiProfessionalität hadisten vor allem im Irak unterhalten jeweils eigene "Medienabteilungen" wie "Al-Fajir" und "Al-Furqan", die sie als alternative Informationskanäle 19 Internet-"Filme", die oft Videound Sounddateien einsetzen. 33 und somit als Gegengewicht zu der als lückenhaft, diffus und einseitig wahrgenommenen Berichterstattung westlicher und insbesondere amerikanischer Nachrichtenagenturen betrachten. Dabei ist die graphische Gestaltung, Schnitttechnik und das erkennbare Vorgehen nach einem zuvor entwickelten "Drehbuch" Zeichen einer Professionalität, die Fernsehbeiträgen aus der Region mittlerweile um nichts nachsteht. Durch die Nutzung einer Vielzahl von kostenlosen Filesharing-Angeboten20 werden entsprechende Dokumente vielfach redundant im Internet zum Download platziert und hoher über eine Vielzahl von Schnittstellen und Kontaktpersonen in andere SekVerbreitungsgrad tionen des Internets gestreut, um sie einem größtmöglichen Zuschauerkreis zugänglich zu machen. Auch über bekannte Videoportale wird inzwischen ebenfalls islamistische Propaganda verbreitet. Mittlerweile gelang es der "al-Qaida"-Führung, ihr eigenes "Medienlabel", "As-Sahab-Media", dauerhaft in den djihadistischen Informationskanälen zu etablieren. "As-Sahab-Media" produzierte 2006 eine ganze Anzahl Propagandavideos mit "al-Qaida"-Führern und über die Kämpfe gegen die internationalen Einsatztruppen in Afghanistan und den angrenzenden pakistanischen Provinzen. Tendenziell schien "As-Sahab-Media" und damit auch "al-Qaida" zunehmend darauf bedacht zu sein, ein internationales nichtmuslimisches Publikum anzusprechen, da ein Großteil des Videomaterials mit englischsprachigen und zuletzt sogar verstärkt mit deutschen Untertiteln in Umlauf gebracht wurde. Insbesondere zwei Videos über die Anschläge von London am 7. Juli 2005, in denen jeweils einer der Attentäter sowie der Stellvertreter BIN LADINs, Ayman az-ZAWAHIRI, zu Wort kommen, versuchten ausführlich islamistische Begründungen für die Anschläge einem westlichen Publikum zu unterbreiten. Inzwischen sind eine Vielzahl von eindeutig extremistischen, aber auch islamistisch unterwanderten, teilweise passwortgeschützten Foren entstanden, über die Sympathisanten weltweit miteinander kommunizieren. Die einschlägigen islamistischen Internetforen sind dabei der Hauptumschlagplatz für Gewaltfilme und Tondokumente. Überdies wird täglich eine große Anzahl von Verlautbarungen djihadistischer Gruppierungen aus allen regionalen Djihad-Kampfgebieten wie des "Islamischen Emirats Afghanistan" der Taliban auch in europäischen Sprachen veröffentlicht. Zudem versuchen einzelne Gruppierungen, ihre eigenen Websites im Netz zu etablie20 Bei diesen Angeboten können gleichsam anonym größere Audio-, Videooder Textdokumente kostenlos zum Download bereitgestellt werden. 34 Islamismus ren. Neu hinzugekommen sind so genannte Web-Blogs, bei denen tagebuchartig Verlautbarungen aus allen Bereichen des Islamismus aktuell verbreitet werden sollen. Seit Mai 2006 publiziert eine deutschsprachige SekÜbersetzungen tion der "Global Islamic Media Front" (GIMF) über einen derartigen Weboffenbaren Blog deutsche Übersetzungen von Texten aus dem Umfeld der islamistiZielrichtung schen Terrorszene. Neben der Erstellung von ideologischen Abhandlungen und Indoktrinationsschriften haben es sich die Autoren dieser Blogs zur Aufgabe gemacht, bereits vorhandenes Video-, Bildund Audiomaterial in aufwändig gestalteten Flash-Animationen zu verarbeiten. Internetbanner der GIMF Darüber hinaus gibt es eine unüberschaubare Anzahl von so genannten Unterstützerseiten für die Sache der Mudjahedin. Auf ihnen wird im Internet kursierendes Material systematisch gesammelt und geordnet. Auf diese Weise kann sich beispielsweise jeder Interessierte über die im Djihad gefallenen "Märtyrer" und deren Motivation für die von ihnen begangenen Anschläge informieren. Auch bieten einige dieser Seiten den Anhängern des globalen Djihadismus die Möglichkeit, Geldspenden für die Kämpfer und die Hinterbliebenen der Märtyrerfamilien zu sammeln. Die Rekrutierung von potenziellen Mudjahedin erfolgt in der Regel über bestimmte Internetseiten, die für den weltweiten Djihad Werbung betreiben. Dabei spielt die Verehrung und Pflege des Märtyrerwesens eine herausragende Rolle. Hunderte von Märtyrerlebensläufen finden in der islamistischen Szene Verbreitung und sollen dazu dienen, die Schrecken des Todes herunterzuspielen und andere dazu zu animieren, es ihren Vorgängern gleich zu tun. 2.4 "Al-Djamaa al-Islamiya" und "al-Djihad al-Islami" Die "al-Djihad al-Islami" ("Der Islamische Djihad") und die "al-Djamaa al-Islamiya" ("Die islamische Gemeinschaft") sind militante Abspaltungen der "Muslimbruderschaft" in Ägypten, die blutige Anschläge zu verantworten haben. Az-ZAWAHIRI, einer der führenden Mitglieder des "al-Djihad 35 al-islami", ist heute der Stellvertreter BIN LADINs in der "al-Qaida". Dies verdeutlicht die internationale Verflechtung der ehemals regional begrenzten djihadistischen Gruppierungen. Aufgrund ihres jahrelangen Kampfes gegen den ägyptischen Staat ist die "al-Djamaa al-Islamiya" äußerst geschwächt und hat aus pragmatischen Gründen einen Gewaltverzicht erklärt, den allerdings ein Großteil der Funktionsträger und Mitglieder nicht mitträgt. In einem Interview mit Muhammad Khalil al-HAKAYMAH21, das mit einer Einleitung von Aiman az-ZAWAHIRI von der "Globalen Islamischen Medien-Front" (GIMF) als Video und als u.a. ins Deutsche übersetzte Mitschrift ins Internet gestellt wurde, gab al-HAKAYMAH den Zusammenschluss des "Hauptblocks" der "al-Djamaa al-Islamiya" mit "alQaida" bekannt.22 HAKAYMAH lehnt die Kompromisse ab, die einige Mitglieder seiner Organisation innerhalb der letzten Jahren gemacht haben. Lobend erwähnte er die Attentäter des 1981 ermordeten ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat, die Mitglieder der "al-Djamaa al-Islamiya" waren. Das Interview endet mit einem Appell al-HAKAYMAHs an die Djihadisten weltweit: "Ich fordere alle Führer und Mitglieder der islamischen 23 Bewegungen in der islamischen Welt auf, sich unter einer Flagge zu vereinen und zusammen Kampfaufruf zu kommen, um sich dem Zionisten-/Kreuzdienerangriff gegen den Islam und die Muslime entgegenzustellen (...) Und ich rufe sie auf, wenn sie nach Regeln des Djihads gegen die Amerikaner suchen, sich auf die rechtsgültigen Studien und Fatwas 24 zu beziehen, die von den Gelehrten zur Zeit des Djihads gegen die Sowjetunion veröffentlich worden sind." In Baden-Württemberg sind die "al-Djihad al-Islami" und die "al-Djamaa alIslamiya" durch Einzelpersonen vertreten. 21 Gründungsmitglied der "al-Djamaa al-Islamiya". 22 Internetauswertung vom 31. August 2006. 23 Damit meint er die djihadistischen Bewegungen. 24 Rechtsgutachten. 36 Islamismus 2.5 "Front Islamique du Salut" (FIS), "Groupe Islamique Arme" (GIA) und "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) Die algerische "Front Islamique du Salut" ("Islamische Heilsfront") kann aufgrund der Zugehörigkeit ihrer Gründungsmitglieder Abassi MADANI und Ali BENHADJ zur "Muslimbruderschaft" und aufgrund ihrer ideologischen Grundlagen als algerische Variante der "Muslimbruderschaft" gelten. Das Ziel der FIS ist bis heute die Errichtung eines religiös legitimierten Staates, in dem lediglich mit Mitteln der Scharia regiert werden soll. Abassi MADANI BENHADJ erklärte in diesem Zusammenhang, dass es im Islam keine Demokratie gebe. Demokratie sei Unglaube. BENHADJ war sogar gegen die Teilnahme seiner Partei an den Parlamentswahlen 1991/92, da es nach Ansicht zahlreicher Islamisten keine Diskussion über die richtige Islamauslegung geben kann und daher Parteienpluralismus innerhalb einer parlamentarischen Demokratie mit Wahlen einen Frevel darstellte. BENHADJ stellte die rhetorische Frage: "Kann man ernsthaft in einem moslemischen Land über den Islam abstimmen?" Bereits kurz nach der Gründung der FIS, als diese noch nicht im Untergrund agieren musste, wurde deutlich, dass sie danach strebte, massiv in das Privatleben der Bürger einzugreifen. Mitglieder der FIS versuchten in den Gemeinden, in denen sie die Mehrheit darstellten, ihre Kleidervorschriften durchzusetzen. Junge unverheiratete Paare wurden unterwegs angehalten und geschlagen. Am Strand Badende wurden verfolgt und angegriffen. Auch bei den Essgewohnheiten wurde versucht einzugreifen: Algerier sollten nicht mehr am Tisch essen, da es sich dabei um eine westliche Erfindung handle. Von der FIS haben sich seit ihrer Gründung 1989 einige extrem gewaltorientierte und dem Djihadismus zuzurechnende Gruppierungen abgespalten wie die "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) beziehungsweise "Salafitische Gruppe für Mission und Kampf" und die "Groupe Islamique Arme" (GIA) beziehungsweise "Islamische Bewaffnete 37 Gruppe". Die FIS selbst hatte von 1992 bis 2000 einen militärischen Flügel, die "Armee Islamique de Salut" (AIS), deren Sabotageakte sich gegen lebenswichtige Versorgungsstrukturen des Landes richteten. Die Guerillaüberfälle der AIS hatten überwiegend militärische Einrichtungen, den Sicherheitsapparat des algerischen Staates und seine Funktionsträger wie Politiker oder Richter zum Ziel. Diese Überfälle wurden mit äußerster Brutalität und Menschenverachtung ausgeführt, deren sich die FIS in ihren Publikationen rühmte. Die GSPC und die GIA gingen in dem Bürgerkrieg, der in den 1990er-Jahren über 100.000 Tote kostete, im Gegensatz zur FIS größtenteils gegen Zivilisten vor. Alle algerischen Gruppierungen legitimierten ihre Gräueltaten mit ihrer Islamauslegung und tun dies teilweise bis heute noch. Die FIS ist bis heute eine heterogene Gruppierung, vor allem was die Haltung der Mitglieder zur Gewaltanwendung und dem Regime gegenüber anbetrifft. Der radikalere Flügel der FIS, der "Koordinationsrat der FIS im Ausland" (CCFIS) um den in der Schweiz lebenden Dr. Mourad DHINA, lehnt das derzeitige Waffenstillstandsabkommen und den Versöhnungskurs mit der algerischen Regierung bis heute ab. Dr. DHINA wurde von den Schweizer Behörden verboten, in der Schweiz Propaganda zu betreiben, da diese die innere Sicherheit anderer Staaten direkt und indirekt gefährde und dadurch auch die Beziehungen der Schweiz zum Ausland gestört würden. Zu einem für das Jahr 2005 geplanten Treffen der FIS in Baden-Württemberg sollte auch DHINA kommen. Das Treffen wurde jedoch abgesagt. Rabah KEBIR führt den gemäßigten Flügel der FIS an. Er war 1997 einer der Befürworter des einseitigen Waffenstillstands seitens der AIS, welcher im Jahre 2000 auch von der algerischen Regierung akzeptiert worden ist. Am 17. September 2006 fand die medial inszenierte Rückkehr von KEBIR nach Algerien statt, der 14 Jahre im deutschen Exil gelebt hatte und dort der Auslandsführung angehörte. Bei einigen Führungspersonen der FIS werden Sympathien für die Djihadisten im Irak deutlich, was sich beispielsweise beim telefonischen Interview von al-Jazeera mit BENHADJ im August 2005 zeigte, in dem er die Entführung algerischer Diplomaten im Irak begrüßte und indirekt zu deren Tötung aufforderte. Im Jahr 2006 war eine bewusste und gesteuerte Internationalisierung der GSPC bemerkbar. Die Rolle Europas als Rückzugsgebiet für die algerischen 38 Islamismus Gruppierungen und die Bedeutung für die Finanzierung ihrer Infrastruktur ist ungebrochen. In einem Video zum Jahrestag des 11. September gab az-ZAWAHIRI den Zusammenschluss der GSPC mit der "al-Qaida" bekannt. Der GSPC-Führer Abu Mussab Abdel WADUD versprach kurz darauf in einer Ergebenheitsadresse an Usama BIN LADIN die Gefolgschaft "bis zum Märtyrertod." 25 Annäherung Der Internetauftritt der GSPC wurde im Laufe des Jahres 2006 nach ausan "al-Qaida" drücklicher Aufforderung durch den "al-Qaida"-Medienchef Abu Maisara al-IRAKI immer professioneller. Im August 2006 erfolgte via Internet ein Aufruf der GSPC auf Arabisch und Französisch an alle in Frankreich lebenden Algerier, "ihre Brüder, die Mudjahidin in Algerien, zu unterstützen". Die GSPC kritisierte Frankreich scharf für seine Unterstützung des algerischen Regimes und forderte ihre Sympathisanten auf, Rache zu nehmen. Seit Januar 2006 präsentiert die GSPC eine eigene Website, die regelmäßig aktualisiert wird. In Baden-Württemberg ist von einer Mitgliederzahl der FIS von circa 35 Personen auszugehen. In der GIA und der GSPC engagieren sich Einzelmitglieder. 3. Islamistischer Extremismus 3.1 Salafitische Bestrebungen in Deutschland Neben dem islamistischen Terrorismus stellen auch salafitische Strömungen als extremistische Spielarten des Islamismus eine Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Obgleich sie im öffentlichen Diskurs der Gewalt abschwören, verfolgen sie unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit und Gesetzestreue antidemokratische Ziele. Mit propagandistischen Mitteln soll versucht werden, Vorstellungen und Werte in der hiesigen Gesellschaft zu verankern, die nicht nur laufende Dialogund Integrationsbemühungen untergraben, sondern auch geltende Rechtsnormen aushebeln. Dabei bedient man sich in der Regel einer gezielt gelenkten "Missionstätigkeit" (Da'wa). Ausgehend vom umfassenden und alleinigen 25 Le Monde diplomatique vom November 2006, S. 5. 39 Wahrheitsanspruch der eigenen Lehre werden die auf unterschiedlichen Traditionen basierenden islamischen Strömungen als Zielgruppe angegangen. Indem professionell geschulte Propagandisten an die islamische Identität dieser Personenkreise anknüpfen, wird die Vielfalt der Glaubenspraktiken als eine Abirrung vom "wahren Glauben" dargestellt, den es durch Argumente von Anhängern der eigenen Bewegung zu korrigieren gilt (Reislamisierung). Zusätzlich wird auch versucht, Angehörige anderer Religionen dazu zu bewegen, zum Islam zu konvertieren. Dominiert wird diese Form des Islamismus in Deutschland und auf internationaler Ebene vom Salafismus wahhabitischer Prägung. Beim Wahhabismus handelt es sich um eine Erneuerungsbewegung, die im heutigen Saudi-Arabien im 18. Jahrhundert von Muhammad Ibn Abd al-WAHHAB ins Leben gerufen wurde. Im Zentrum der wahhabitischen Glaubensauffassung steht die Lehre von der absoluten Einheit Gottes (Tawhid), der zufolge alle gottesdienstlichen Handlungen nur auf Allah bezogen werden dürfen. Dies impliziert auch, dass im gesamten Alltag das profane Verhalten der Menschen dieser Lehre entsprechen muss. Alle Formen von Glaubensund Lebenspraktiken, die von dieser engen Auffassung des Islam abweichen, werden vom Wahhabismus als "unerlaubte Neuerung" betrachtet, d.h. als Verhaltensweisen, für die es in den religiösen Quellentexten keine Entsprechung gebe. Daher werden in erster Linie zunächst Muslime, die die wahhabitische Glaubensauffassung nicht teilen, als "Ungläubige" diffamiert. Ihr Status als Muslime wird in Zweifel gezogen, wodurch sie faktisch in Acht und Bann gestellt werden können. Besonders die Schiiten geraten feindselige immer wieder ins Visier der Wahhabiten, da gemäß der schiitischen GlauEinstellung bensauffassung außer Allah auch noch die leiblichen Nachfahren Muhamgegenüber mads eine zentrale Rolle einnehmen, was von wahhabitischen Gelehrten als Schiiten Irrlehre und damit Abfall vom Glauben betrachtet wird. Das Konzept des "Unglaubens" wird außer auf die von der wahhabitischen Lesart des Islam abweichenden Muslime noch auf andere Personen wie Anhänger des Judentums und Christentums angewandt. Praktisch wird jeder zu einem "Ungläubigen", der den postulierten wahhabitischen Maßgaben nicht entspricht. Dies mündete schon sehr früh in der wahhabitischen Forderung an die "wahren Muslime", mit den "Ungläubigen" auf allen Ebenen zu brechen und keinerlei freundschaftliche Kontakte zu ihnen zu unterhalten. Durch diesen Glaubensgrundsatz, der als "die Treue und der Bruch" bekannt wurde, werden Muslime angewiesen, den "Wesensfremden" Verachtung und Feindschaft entgegenzubringen. Dass solche Aufforderungen längst nicht mehr nur auf Arabisch verbreitet werden, sondern in größerem Umfang auch auf Deutsch zirkulieren, belegt folgender Auszug aus einer salafitischen Internetseite: 40 Islamismus "Wer auch immer deshalb einen Ungläubigen nicht für solch einen hält, so ist er selber ein Ungläubiger - wie der Ungläubige selbst. (...) Man muss daran glauben, dass die Juden Ungläubige sind und auf einer falschen Religion beruhen. Und er muss sich von Ihnen und ihrer Religion loslösen, sie für das Wohlgefallen Allahs hassen und Feindschaft gegen sie hegen. Dies gilt auch für die Christen; man muss daran glauben, dass sie Ungläubige sind. Ebenso die Parsen, die Götzendiener und alle anderen Arten an Ungläubigen." 26 Ein weiteres Wesensmerkmal der wahhabitischen Islamlehre besteht in der kompromisslosen Befürwortung des islamischen Rechts (Scharia) und dessen uneingeschränkter Umsetzung. Abgesehen von der Unvereinbarkeit bestimmter Rechtsnormen mit den Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland fällt im Zusammenhang mit dem Wahhabismus die Betonung der koranischen Körperstrafen als integraler Bestandteil der islamischen Lebensordnung ins Auge. Muhammad Bin Salih al-UTHEIMIN, ein hochrangiger, 2001 verstorbener wahhabitischer Rechtsgelehrter, fasste diesen Sachverhalt in einem Buch, das auch in deutscher Sprache erhältlich ist, folgendermaßen zusammen: "Das Abschneiden der Hand eines Diebes oder das Steinigen des Ehebrechers, ist für den Dieb oder Betonung der den Ehebrecher vom Übel, doch es ist gut für sie auf Notwendigkeit der anderen Seite, denn es ist Buße (Kaffara) für sie von Körperstrafen beide, so dass die Bestrafung in diesem Leben und die im Jenseits nicht für sie zusammen vereint werden. Es ist auch in anderer Hinsicht gut. Die Anwendung dieser Bestrafung ist ein Schutz für Eigentum, Ehre und verwandtschaftlicher Beziehungen." 27 Durch eine zunehmend intensiver betriebene "Missionsarbeit" unter in Europa lebenden Muslimen soll ein Islamverständnis etabliert werden, das darauf ausgerichtet ist, anderen Ansichten und Auffassungen jeglichen Respekt zu versagen. Als probate Mittel werden Einschüchterungen und gesellschaftliche Ächtung betrachtet, wobei auch vor Gewaltandrohungen nicht 26 Website vom 24. April 2006; Übernahme wie im Original. 27 Zitiert nach: Sheikh Muhammad bin Salih al-UTHEIMIN, Die Glaubenslehre der sunnitischen Gemeinschaft (Aqida Ahl As-Sunna Wal-Jamah); Übernahme wie im Original. 41 zurückgeschreckt wird.28 Diesbezüglich sind organisierte Strukturen erkennbar, die Verbindungen zu einflussreichen saudi-arabischen Predigern und islamischen Gelehrten aufweisen. Ausgehend von islamistischen Zirkeln werden Schriften der wahhabitischen Szene in Moscheen und an Infoständen verteilt oder stehen dort zur Einsicht zur Verfügung. Auch dem Internet kommt bei der Steuerung der Propaganda als leicht nutzbarem Kommunikationsmedium eine enorme Bedeutung zu. Die wahhabitische Ideologie ist ebenfalls in der Region Ulm/Neu-Ulm anzutreffen, wo auch der Verein "Multi-Kulturhaus Ulm e.V." (MKH) in Neu-Ulm, der im Dezember 2005 verboten wurde, prägenden Einfluss ausgeübt hatte. In diesem Umfeld fielen deutschsprachige Propagandaschriften auf, die auch nach dem Verbot noch auftauchten und teilweise von einem "Islamischen Propagandazentrum" in Rabwa/Saudi-Arabien stammten.29 Propaganda in Diese Propaganda verweist typischerweise auch auf das Internet. Neben der der Region Ulm Webadresse des Ulmer Vereins "Islamisches Informationszentrum" (IIZ) finden sich die Internetauftritte von zwei hochrangigen wahhabitischen Rechtsgelehrten, die in islamistischen Kreisen überregionalen Einfluss und Anerkennung genießen. Der eine ist Salman al-AUDA, der auf Grund seiner extremistischen Ansichten schon mehrere Jahre in Haft war. Der zweite, Scheich al-MUNADJID, verdankt seine Popularität zahlreichen Fernsehauftritten.30 Seine antiwestlichen Hetztiraden sind ebenso beliebt wie seine in mehrere Sprachen übersetzten Rechtsgutachten (Fatwas). Die Ansichten dieser "Geistlichen" sind exemplarisch für die wahhabitische Szene und verdeutlichen deren ambivalentes Verhältnis zur Gewalt. Sie sprechen sich dafür aus, den bewaffneten Kampf materiell und personell zu unterScheich al-MUNADJID 28 Beispielsweise wird in einer der Hauptschriften von Muhammad Ibn Abd al-WAHHAB mit dem Titel "Die Offenlegung der Scheinargumente gegen den Monotheisten" (Kaschf al-Schubahat fi al-Tawhid) an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass schon Muhammad gegen seine Widersacher Gewalt angewendet hätte. Diese Schrift ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden und wurde in Deutschland mehrfach in gedruckter Form sichergestellt. 29 Zum Beispiel Abdurrahman al-Sheba, Muhammad. Der Gesandte Allahs, Friede sei auf ihm, übersetzt von Ahmed Ateia, Riyadh 2005, Abdurrahman al-Sheba, Muhammad, Botschaft des Islam, überarbeitet von Ahmed Ateia, Riyadh 2004. 30 Bei einem saudischen Satellitensender, der sich gezielt an Muslime in der Diaspora wendet, werden immer wieder ohne festen Sendeplatz seine Vorträge gesendet. 42 Islamismus stützen und fördern damit jedenfalls indirekt den internationalen Terrorismus. Dies bewahrheitete sich auch schon einmal in der Region Ulm, wo sich in den Jahren 2002 und 2003 Aktivisten aus dem dortigen islamistischen Milieu als Kämpfer nach Tschetschenien verabschiedeten und dort ihr Leben ließen. Internetbanner des I.I.Z.-Organs Das I.I.Z.-Organ "Denk mal islamisch", das inzwischen nicht mehr neu erscheint, pries damals einen der Gefallenen als "Märtyrer" und widmete ihm einen Nachruf.31 Generell lassen sich bei dieser Publikation, obgleich sie sich oberflächlich betrachtet mit rein religiösen Themen zu beschäftigen scheint, immer wieder über einzelne Beiträge Bezüge zur Ideologie des Wahhabismus herstellen, die auf weltliche Dominanz zielen. Die Publikation überzeichnet das manichäisch32 geprägte Menschenbild, das die "wahre" islamische Frömmigkeit als einen Maßstab für die Unterscheidung von "gut" und "böse" festschreibt, und greift das Konzept "die Treue und der Bruch" auf: "Liebe, effektiver Beistand, Gehorsam, Empfehlungen geben, Freundschaft, die gesellschaftlichen Pflichten auf gute Weise erfüllen, das erfordert das gegenseitige Verständnis und das Anvertrauen der Geheimnisse u.v.m. All diese Eigenschaften sollen nur unter Muslimen vorhanden sein und dürfen nicht auf die Feinde des Islam übertragen werden. Du musst wissen, lieber Bruder und liebe Schwester im Islam, dass Allah nicht zufrieden ist, wenn sich die Menschen unter einer anderen Führung außer der des wahren Glaubens einigen. Es gibt in dieser Aufteilung in Hinsicht zwei Arten von Menschen: Entweder from"Gläubige" und me Gläubige oder Ungläubige." 33 "Ungläubige" Die Publikation, versucht diese Feststellungen religiös zu untermauern, indem sie Koranverse aufgreift, die der Wahhabismus ständig bemüht, um 31 I.I.Z.-Zeitschrift "Denk mal Islamisch", Ausgabe 5, S. 8. 32 Nach der Lehre des persischen Religionsstifters Mani, welche auf der Dualität "gut versus böse" beruht. 33 "Denk mal Islamisch", Onlineausgabe 3; Internetauswertung vom 27. Dezember 2006. 43 Muslime von "schädlichen" Kontakten oder gar Freundschaften mit "Ungläubigen" abzuhalten. Sie bettet religiös verordneten Hass gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften wie Juden und Christen in einen traditionellen Zusammenhang ein, der belegen soll, dass schon zur Zeit des Propheten Muhammad vor ihnen gewarnt wurde: "O die ihr glaubt! Nehmt nicht die Juden und Christen zu Freunden. Sie sind einander Freunde. Und wer sie von euch zu Freunden nimmt, der gehört fürwahr zu Ihnen. Wahrlich, Allah weist nicht dem Volk der Ungerechten den Weg (Koran 5,51)." 34 Eine zunehmende Verbreitung wahhabitisch geprägten Gedankenguts könnte zukünftig durch die ihm innewohnende Ideologie der Fremdenfeindlichkeit den gesellschaftlichen Konsens schwächen und die Zusammenarbeit der demokratischen Grundpfeiler des politischen Systems gefährden. Dies gilt insbesondere dann, wenn wahhabitische Islamauslegungen unter in Deutschland lebenden Muslimen dominant würden. Die Affinität zur verbalen und unter bestimmten Umständen auch physischen Gewalt lassen darüber hinaus Zugänge zu Terrorismus begründenden Doktrinen erkennen. 3.2 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger In den Jahren 1924 bis 1926 hatte Mustafa Kamal (Atatürk) in der Türkei das Kalifat aufgehoben und die Schariagesetzgebung abgeschafft. Damals kam unweigerlich die Frage auf, ob das Kalifat notwendig sei oder nicht. Religiöse Gruppen forderten einen islamischen Kongress, der in Kairo abgehalten werden sollte, um diese Frage so bald wie möglich zu klären. Der Grundschullehrer Hassan al-BANNA, der 1928 in Ägypten die religiös-politische Bewegung der "Muslimbruderschaft" (MB) gegründet hatte, zählte zu den engsten Anhängern. Hassan al-BANNA In dieser Zeit machte Ägypten seine ersten Erfahrungen mit einer liberalen Verfassung unter der Regierung der liberalen Wafd-Partei. Auf der politi34 Ebd. 44 Islamismus schen Bühne standen die Interessen des Königshauses, Großbritanniens und der Wafd einander diametral gegenüber. Die soziale Lage der Bevölkerung verschlechterte sich im Zuge der beiden Weltkriege, in denen Ägypten als Bühne für die Alliierten und die Achsenmächte diente, dramatisch. In dieser Zeit entstanden viele am Beispiel des Faschismus orientierte Bewegungen, die paramilitärische Jugendorganisationen unterhielten, so auch die MB. Al-BANNA hatte in seinen Schriften den Djihad wieder salonfähig gemacht, beschwor ihn damals aber nicht nur als Verteidigungs-, sondern auch als Eroberungskrieg.35 Am 12. Februar 1949 wurde al-BANNA vom Leiter der Sonderabteilung der Polizei auf offener Straße erschossen. Die "Muslimbrüder", die daraufhin gefangen genommen wurden, schmückten ihre Zellen.36 "Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und (überall) im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, dass sie umgebracht oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen wechselweise (rechts und links) Hand und Fuß abgehauen wird, oder dass sie des Landes verwiesen werden. Das kommt ihnen als Schande im Diesseits zu. Und im Jenseits haben sie (überdies) eine gewaltige Strafe zu erwarten." (Koran 5, 33) Die Organisation wurde verstärkt verfolgt, nachdem 1954 ein Attentat auf den ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser der MB zugeschrieben wurde. Sehr viele fanden Zuflucht im Ausland, wohin sie ihre Ideologie mitnahmen und wichtige Netzwerke aufbauen konnten. Andere, wie der später zu Berühmtheit gelangte Sayyid QUTB, wurden in ägyptischen Gefängnissen gefoltert. Unter diesem Eindruck und nachdem er einige Bücher des indo-pakistanischen Denkers Sayyid Abu al A'la MAUDUDI (1903-1979) gelesen hatte (dieser setzte im indo-pakistanischen Abspaltungskontext sehr stark auf den Djihad), formulierte er den verhängnisvollen Gedanken, dass eine muslimische Gesellschaft, wenn sie derartige Tyrannen an der Macht dulde, ohne Widerstand zu leisten, für ungläubig erklärt beziehungsweise ihr die Zugehörigkeit zum Islam abgesprochen werden müsse. Spätere Generationen legten seine Aussage noch einen Schritt 35 Hassan al-Banna: Sind wir ein handlungsfähiges Volk?, Internetauswertung der Homepage der "an-Nahda" am 3. November 2006. 36 Mitchell, Richard P.: The Society of the Muslim Brothers. New York, Oxford 1993, S. 69. 45 weiter aus, indem sie muslimischen Bevölkerungen, die eine nichtislamische Regierungsform duldeten, erst den Glauben absprachen, um sie dann für vogelfrei zu erklären. Von der offiziellen MB in Ägypten heißt es heute oft, dass sie sich von der Gewalt distanziert habe und nur noch auf legalem Wege durch die Institutionen an die Macht gelangen wolle. Dies stimmt allerdings nur bedingt. Bezeichnend dafür sind die Positionen Mustafa MASHHURs, der von 1996 bis zu seinem Tod im Jahr 2002 "Oberster Führer" (al-Murschid al-'Amm) der MB war und zuvor am Aufbau ihrer internationalen Organisation mitgewirkt hatte. Er sah die MB einer Koalition der "Feinde Gottes" gegenüberstehen und entwickelte in seinen Schriften verschiedene Konzeptionen und Theorien zur Notwendigkeit des Djihad. Diese nahm er auch nicht zurück, als islamistische Terroristen in den neunziger Jahren Ägypten mit blutigen Attentaten überzogen. Er agierte mit dem Fernziel, alle islamistischen Gruppen inklusive der Djihadisten in einer großen Bewegung unter der Führung der "Muslimbrüder" zusammenzufassen. Daher hat MASHHUR in den achtziger Jahren die Entsendung von Freiwilligen in den Kampf gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan organisiert. Um der internen Kritik gemäßigter Aktivisten zu begegnen, verwies er jedoch immer wieder darauf, dass die Anwendung von Gewalt erst dann sinnvoll sei, wenn die Organisation, gestützt von einer wirklich breiten Basis in der Bevölkerung, die Machtfrage stellen könne. Der seit 2004 amtierende "Oberste Befürwortung Führer" Muhammad Mahdi AKIF von Gewalt unterstützt öffentlich den gewaltsamen Widerstand im Irak und die Selbstmordattentate der HAMAS und anderer palästinensischer Gruppen. Einem jüdischen Staat spricht er das Existenzrecht ab. In Bezug auf den Westen ist er zuversichtlich, dass eine Islamisierung Europas und der USA nur noch eine Frage der Zeit sei. In einem Interview mit der englischsprachigen ägyptischen Wochenzeitung "Al-Ahram Weekly" im Dezember 2005 beantwortete er die Frage nach den ägyptisch-israelischen Beziehungen und einer möglichen Anerkennung Israels: Bezeichnung "Ich erklärte, dass wir Israel nicht anerkennen werIsraels als den, da es ein fremdes Gebilde in der Region dar"Krebsgeschwür" stellt. Wir hoffen, dieses Krebsgeschwür bald los zu sein. (...) Wenn sie mit uns als normale Bürger unse46 Islamismus re Rechte und Pflichten teilen wollen, so macht es uns nichts aus. Aber so sie ein tyrannisches Besatzungsland bleiben, wird dies nicht geschehen, so Gott will." 37 Eine speziell für Kinder geschaffene Internetseite, auf die die arabische Hauptseite der MB verweist, macht deutlich, wie versucht wird, bereits Kindern "die Juden" als Feindbild nahe zu bringen. Unter der Überschrift "Allgemeinwissen" findet man das Bild eines "jüdischen Mörders" mit blutigem Dolch. Im Text werden verschiedene Fragen formuliert: "Wusstest du, dass die Juden 25 Propheten ermordeten? (...) Wusstest du, dass die Juden häufig versuchten, unseren geliebten Propheten zu töten? (...) Wusstest du, dass Korruption und Verkommenheit ihren Ursprung in den Aktivitäten und Planungen der Juden haben? (...) Wusstest du, dass die Juden, die unser Land und unsere heiligen Stätten besetzen, die Besetzung der restlichen islamischen Länder planen und ein größeres Israel, vom Euphrat bis zum Nil, gründen wollen? (...) Wusstest du, dass die Juden die ganze Welt gegen den Islam und die Muslime aufhetzen? 38 Den einzigen Schutzmechanismus, den die MB gegen Machtmissbrauch oder Willkür der Obrigkeit vorsieht, ist die Religiosität des Staatsbürgers. Abgesehen von den Schriften des tunesischen "Muslimbruders" Rached GHANNOUSHI ist in den Verlautbarungen der MB keine Rede von real greifbaren Kontrollmechanismen wie Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtsbarkeit oder freier Presse. Bei den Parlamentswahlen, die mit der ersten Wahlrunde am 9. November 2005 in Ägypten begonnen hatten, haben von 150 angetretenen "Muslimbrüdern", die als so genannte "unabhängige Kandidaten" angetreten waren, 88 einen Sitz für sich erringen können. Insgesamt umfasst das Parlament 444 Sitze. Mit diesem Ergebnis sind sie zur zweitstärksten Partei Ägyptens avan37 Al-Ahram Weekly No. 773, 15.-21. Dezember 2005. 38 Internetauswertung vom 12. April 2006. 47 ciert, und dies, obwohl viele Anhänger der MB am Urnengang gehindert wurden, als sich abzeichnete, dass ihre Kandidaten die Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei gefährdet hätten.39 3.2.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Gründung: 1982 Hauptsitz: München Mitglieder: ca. 180 Baden-Württemberg (2005: ca. 190) ca. 1.300 Bund (2005: ca. 1.300) Publikation: "Al-Islam" (bis 2003 in gedruckter Version), seither Veröffentlichungen in unregelmäßigen Abständen auf eigener Homepage Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) ist eine einflussreiche sunnitische Organisation arabischer Islamisten in Deutschland, die seit 1960 besteht. Hauptsitz ist München. Ein in Stuttgart bestehendes "Islamisches Zentrum" wurde auf der IGD-eigenen Homepage unter "Islamische Zentren der IGD" aufgeführt.40 Ab Mitte 2006 wurde das "Islamische Zentrum Stuttgart" (IZS) unter derselben Rubrik als "Kooperationspartner der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." bezeichnet.41 Eigenen Angaben der IGD zufolge steht in Baden-Württemberg darüber hinaus noch der "Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V." in Karlsruhe in Kooperation mit der IGD. Ab 2002 wurden juristische und organisatorische Umstrukturierungen in Gang gesetzt. In Baden-Württemberg ist die IGD im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg" vertreten. Der sich als "unabhängig" bezeichnende Dachverband "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) vertritt auch die Interessen der IGD, die Mitglied im ZMD ist. Auf europäischer Ebene ist die IGD in der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) vertreten. Die IGD ist Gründungsmitglied der FIOE. Die FIOE pflegt als internationaler Dachverband die Auslandsbeziehungen Internetbanner der IGD 39 Monatsbrief der Hanns-Seidel-Stiftung 11/05. Projektland Ägypten, URL: http://www.hss.de/downloads/ 0511_Monatsbericht_Aegypten.pdf. 40 Internetauswertung vom 10. Januar 2006. 41 Internetauswertung vom 13. November 2006. 48 Islamismus und vertritt offiziell die Position, die zentrale Anlaufstelle im sunnitischislamischen Bereich zu sein. Ihre politische Linie ist darauf ausgerichtet, sich eine zunehmend stärkere Position zu sichern, um andere islamische Organisationen und Vereine kontrollieren zu können. Ideologisch sieht sich die FIOE dem Erbe des Gründers der "Muslimbruderschaft" (MB) Hassan al-BANNA (1906-1949) verpflichtet. Der seit 2002 amtierende Präsident der IGD, Ibrahim el-ZAYAT, der 2006 für weitere vier Jahre in seinem Amt bestätigt wurde, hat gleichzeitig die Stellung eines Vorstandsmitgliedes und Vertreters der FIOE in Deutschland. Die Identifikation der IGD mit der Ideologie der islamistischen Bewegung, deren ältester und bedeutendster Exponent die MB ist, wird schlussendlich dadurch transparent, dass das "Islamische Zentrum München" in seiner Schriftenreihe Werke MAUDUDIs wieder neu auflegt, der die ideologische Ausprägung der islamistischen Bewegung maßgeblich beeinflusst hat.42 Beim "Tag der Offenen Moschee" am 3. Oktober 2006 wurden im "Islamischen Zentrum Stuttgart" (IZS) Bücher MAUDUDIs, des Sekretärs und Schwiegersohns von al-BANNA, Dr. Said RAMADAN, des Herausgebers der vom "Islamischen Zentrum" in München publizierten Zeitschrift "Al-Islam", Ahmad von DENFFER, sowie des für seine anti-darwinistischen, gegen Aufklärung und Säkularismus gerichtete Positionen bekannten Autors Adnan OKTAR alias Harun YAHYA und des französischen Konvertiten und Holocaust-Leugners Roger GARAUDY angeboten. Rechtliche Problemstellungen werden seitens des "European Council for Fatwa and Research" (ECFR), also "Europäischen Rates für Rechtsgutachten und wissenschaftliche Studien", welcher 1997 von der FIOE ins Leben gerufen wurde, gelöst. Eine zentrale Stellung hat hier die Scharia (islamisches Gesetz), die dem ECFR zufolge einen allumfassenden Charakter besitzt. Der dem ECFR vorstehende Dr. Yusuf al-QARADAWI bezeichnet das islamische Gesetz in seiner Abhandlung "Gesetzeswissenschaft muslimischer Minderheiten - das Leben der Muslime inmitten anderer Gesellschaften" als "die Scharia für die gesamte Menschheit", "für die Wissenden" 43 sowie für "alle Generationen".44 42 So publizierte das "Islamische Zentrum München" im Rahmen seiner Schriftenreihe beispielsweise das Werk "Islamische Lebensweise" von MAUDUDI: Schriftenreihe des "Islamischen Zentrums München" Nr. 17. Nach der englischen Fassung von Khurshid AHMAD, dem Vize der "Djama'ati Islami", die von MAUDUDI gegründet wurde. Deutsch von Ayisha Niazi und Fatima Heeren. 43 Diejenigen, die die Wahrheit kennen und sich demzufolge auch zu ihr bekennen. 44 "Fi Fiqh al-Aqalliyyat al-muslima-Hayat al-Musliminin wasata 'l-Mudjtama'at al-ukhra", Dar ash-Shuruq, Kairo, 2. Auflage erschienen 2005, ab S. 13. 49 Neben seiner Funktion als Vorsitzender des europäischen Fatwa-Gremiums ECFR verfasste der ägyptischstämmige Rechtsgelehrte al-QARADAWI zahlreiche Publikationen und zeichnet sich durch eine rege TVund InternetPräsenz aus. Bei "Die Shari'ah und das Leben" ("ash-Shari'a wa'l-Hayat") handelt es sich um eine Sendung, die von dem bekannten Sender al-Jazeera des Golfemirates Qatar ausgestrahlt wird und sich großer Beliebtheit erfreut. Der ECFR versteht sich als zentrale Autorität in Schariafragen für die muslimischen Minderheiten in den europäischen Diaspora-Ländern. "Dieser Rat", so al-QARADAWI, "unterstützt die muslimische Gemeinschaft in Europa dabei, unter dem Schutz des Islam mit den anderen zusammenzuleben, unter dem Schutz des Fiqh eines wahren Islam" 45. Auch in einer Publikation des "Islamischen Zentrums München" wurde betont, dass das Gesetz, dem beide Ehepartner verpflichtet sind, die Scharia ist.46 Die Verfasserinnen befürworten die Anwendung der inhumanen Haddstrafen47: "(...) Fünftens werden geschlechtliche Beziehungen drakonische außerhalb der Ehe nach islamischem Recht nicht Strafen bei nur als Sünde, sondern auch als Vergehen betrachEhebruch tet, das nach dem Gesetz auf die gleiche Weise wie Diebstahl oder Mord bestraft wird. Die Strafe dafür wird auf Männer und Frauen gleichermaßen angewandt und ist in ihrer Auswirkung hart und abschreckend." 48 Ibrahim el-ZAYAT vertritt die saudisch-wahhabitisch beeinflusste Jugendorganisation "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY). Auf deren Webseite wird el-ZAYAT als Repräsentant der "Islamischen Weltjugendversammlung für Westeuropa und Deutschland" vorgestellt.49 Die Haltung der WAMY gegenüber Juden speist sich nicht allein aus dem Palästinakonflikt. Generell vertritt sie die Position, dass "die Juden die Feinde der Gläubigen, Gottes und der Engel sind; die Juden sind die Feinde der Menschheit".50 45 "El-Europiyya" Nr. 25 vom April 2001, Artikel S. 28-30: "Der Europäische Rat für Rechtsgutachten und wissenschaftliche Studien hat eine große Lücke in Europa ausgefüllt." 46 LEMU, Aisha B. und GRIMM, Fatima: "Frau und Familienleben im Islam."; herausgegeben vom Islamischen Zentrum München", 1999, S. 12f. 47 Die im Koran vorgesehenen teils drakonischen Strafen. 48 LEMU, Aisha B. und GRIMM, Fatima: "Frau und Familienleben im Islam."; herausgegeben vom Islamischen Zentrum München", 1999, S. 22f. 49 Internetauswertung vom 13. November 2006. 50 Internetauswertung vom 6. November 2006. 50 Islamismus In ihrer Schrift "Taudjihat Islamiya" (Islamische Ansichten) konkretisiert die WAMY ihre Vorstellung einer wirksamen Kindererziehung: "Lehrt unsere Kinder zu lieben, dass Rache an den Juden und den Unterdrückern genommen wird und lehrt sie, dass unsere Jugend Palästina und Al-Quds [Jerusalem] befreien wird, wenn sie zum Islam zurückkehren und den Jihad um der Liebe Allahs wegen ausüben." Bei der 12. Islamwoche, die vom 15. bis zum 19. Mai 2006 von der "Musli12. Islamwoche mischen Studentenunion an der Universität Stuttgart" (MSU) abgehalten in Stuttgart wurde, lagen wie schon 200551 Publikationen aus, in denen auch islamistisches Gedankengut der oben genannten wahhabitischen Jugendorganisation WAMY zu finden war: "Die Charta, die Verkündungen und die Beschlüsse der Vereinten Nationen können nicht mit den von Gott bindend gemachten Rechten verglichen werden, weil die ersten auf niemanden, die letzten aber auf jeden Gläubigen anwendbar sind. Sie sind ein Teil des islamischen Glaubens. Jeder Muslim oder Verantwortliche, der sich zum Islam bekennt, muss sie anerkennen beziehungsweise durchsetzen. Wenn es ihnen missfällt, sie durchzusetzen und sie anfangen, die von Gott garantierten Rechte zu verweigern, zu verändern oder gegen sie zu verstoßen und gleichzeitig zu ihnen ein Lippenbekenntnis ablegen, dann ist das Urteil für solche Regierungen im Quran klar und eindeutig: (...) Und wer nicht richtet nach dem, was Gott herabgesandt hat - das sind Ungläubige (5:47)." 52 Auch die 1994 gegründete "Muslimische Jugend in Deutschland" (MJD), die der IGD nahe steht, hat internationale Jugendarbeit auf dem Programm. Hierbei genießt der Da'wa-Gedanke oberste Priorität. So heißt es in dem von der MJD herausgegebenen Buch von Mustafa ISLAMOGLU mit dem Titel "Ratschläge an meine jungen Geschwister", dass "das erste, was ihr vertei51 "Die Menschenrechte im Islam". World Assembly of Muslim Youth, so publiziert auf einer DVD der MSU, erworben auf der 11. Islamwoche an der Uni Stuttgart, Juni 2005. 52 Ebd. 51 digen sollt, ist nicht euer Ego, sondern die Ehre eurer Religion", wie auch: "Wenn ihr Beamte in einem nicht-islamischen System werden wollt, dann werdet nicht Beamte dieses Systems, sondern dort 'Beamte des Islam'.53 Der Autor trat in der Vergangenheit auch bei der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) auf. Die IGMG ist ebenfalls in der FIOE vertreten. ISLAMOGLU hat die Führung über die 1990 gegründete "Akabe Bildungsund Kulturstiftung" (AKEV) inne. Auf der Homepage der AKABEStiftung heißt es: "Unsere Gemeinde beachtet das islamische Recht aufs äußerste. Sie achtet darauf, dass dieses Recht nicht nur unter ihren eigenen Angehörigen, sondern unter allen Muslimen Anwendung findet (...).54 Demzufolge steht die islamische Umma (Gemeinschaft) über der Identität als Bürger eines Staates. Regelmäßig führt die MJD Freizeitcamps und Reisen durch. So verlief beispielsweise die Route einer von der MJD durchgeführten Reise nach Spanien über Chateau-Chinon in Frankreich zum "Institut Europeen des Sciences Humaines" (I.E.S.H.), einer Bildungseinrichtung mit starkem Bezug zu MB-Organisationen in Frankreich.55 Auf der Webseite des Institutes wird unter der Rubrik "Theologie et Fatwa" auf den ECFR unter der Führung von al-QARADAWI als Quelle von Rechtsgutachten für die sozialen Probleme in Europa verwiesen.56 3.2.2 "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS) 1978 gründete Scheich Ahmad YASSIN die Organisation "Mudjamma al-Islami" ("Islamisches Zentrum"), die sich aufgrund gezielter Propaganda und Sozialarbeit bald großer Popularität bei der Bevölkerung des GazaStreifens erfreute. Ende 1987 bildete sich mit der ersten Intifada (Aufstand der Palästinenser) die "Harakat al-Muquwama al-Islamiya" (Islamische Widerstandsbewegung; HAMAS) als militanter Ableger. Im Jahre 2006 konnte die HAMAS bei den Wahlen am 25. Januar 2006 einen großen Wahlerfolg verbuchen. Dieser ist jedoch nicht auf rein politische Beweggründe zurückzuführen. Insbesondere im Gaza-Streifen unterhält die HAMAS ein dichtes Netz sozialer Einrichtungen wie Krankenstationen und Schulen. 53 Islamoglu, Mustafa: "Ratschläge an meine jungen Geschwister", Berlin 2005, S. 54. 54 Internetauswertung vom 24. November 2005. 55 MJ-Newsletter, Juni 2000, Nr. 11, S. 1. 56 Internetauswertung vom 8. August 2006. 52 Islamismus Die HAMAS spricht Israel das Existenzrecht ab. Sie erachtet das Staatsgebiet Israels als Waqf-Land.57 Dies bedeutet, dass der Kampf gegen Israel nicht in einem rein regionalen Kontext geführt wird, sondern auf der Plattform einer islamischen Umma (der islamischen Gemeinschaft).58 Somit wird der Djihad (Kampf) gegen Israel als Fard'ain59 (individuelle Pflicht) erachtet. In der Charta der HAMAS vom 18. August 1988 heißt es in Artikel 15: "Wenn die Feinde etwas vom Land der Muslime usurpieren, wird der Dschihad zu einer individuellen Pflicht für jeden Muslim. Um der Usurpation Palästinas durch die Juden zu begegnen, muss das Banner des Dschihad erhoben werden." Etwa einen Monat nach ihrem Wahlerfolg präsentierte die HAMAS VideoBotschaften von Selbstmordattentätern. Eine der Botschaften war an die jüdische Bevölkerung gerichtet: "Meine Botschaft an die zu verabscheuenden Juden ist diejenige, dass es keinen Gott außer Allah gibt, Hassbotschaft wir werden euch überall jagen! Wir sind eine an alle Juden Nation, die Blut trinkt, und wir wissen, dass es kein besseres Blut gibt als dasjenige der Juden. Wir werden euch nicht in Ruhe lassen, bis wir unseren Durst und den Durst unserer Kinder nach eurem Blut gestillt haben. Wir werden euch nicht in Ruhe lassen, bis Ihr die muslimischen Länder verlassen haben werdet." 60 Einem Interview mit HAMAS-Sprecher Mahmoud al-ZAHHAR auf "al-Manar"-TV war zu entnehmen: "In der Region mussten wir der römischen, persischen Besatzung, der Okkupation durch die Kreuzfahrer und der britischen Besatzung trotzen. Sie sind 57 Der arabische Begriff "Waqf" trägt die Bedeutung "fromme Stiftung". Territorien, welche in der islamischen Frühzeit seitens der Muslime "anwatan" (gewaltsam) erobert wurden, galten von nun an als "Stiftungsgut" im Sinne des Islam. 58 Andreas Meier, "Politische Strömungen im modernen Islam", Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 127. 59 Die Pflicht jedes einzelnen Muslims (Fard'ain) steht im Gegensatz zur Kollektivpflicht "Fard kifaya", wobei es genügt, wenn eine Anzahl von Muslimen der Pflicht nachkommt. 60 Webseite der HAMAS vom 12. Februar 2006. 53 alle verschwunden. Der israelische Feind gehört nicht in diese Region." 61 Der palästinensische Premierminister Isma'il HANIYA ließ bei einer auf al-Jazeera gesendeten Ansprache verlauten: "Wir werden Israel niemals anerkennen." 62 Neben dem politischen Flügel der HAMAS existiert mit den "al-QASSAM-Brigaden"63 ein militärischer Flügel. Die israelische Gesellschaft wird als militarisiert beschrieben. Demzufolge sieht sich die HAMAS berechtigt, mit ihrem militärischen Arm auch gegen Zivilisten vorzugehen. Der 1981 von Mitgliedern der "Muslimbruderschaft" (MB) gegründete "Islamische Bund Palästina" (IBP) repräsentiert seit 1987 die Positionen der HAMAS in Deutschland. In Baden-Württemberg sind einzelne Personen der HAMAS zuzurechnen. Ein "Wohltätigkeitsverein", der unterstützend für die HAMAS tätig war, ist bereits im August 2002 durch den Bundesminister des Innern verboten worden. Das Verbot wurde am 3. Dezember 2004 mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) bestätigt.64 3.2.3 "An-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung") Die tunesische "an-Nahda"-Partei ("Bewegung der Erneuerung") entstand Ende der sechziger Jahre aus dem "Mouvement de la Tendence Islamique" (MIT, "Bewegung der islamischen Ausrichtung"). Die MIT entstand durch den Zusammenschluss dreier Sympathisanten der pakistanischen TablighGruppe65 die um 1966/67 begann, in Tunesien zu missionieren. Diese drei 61 TV-Sender "al-Manar" am 25. Januar 2006. 62 Al-Jazeera am 6. Oktober 2006. 63 Benannt nach dem Syrer Izz ad-Din al-QASSAM, welcher in den 1930er-Jahren im Kampf gegen die britische Mandatsmacht gefallen ist. 64 BVerwG 6 A 10.02 vom 3. Dezember 2004. 65 Vgl. S. 59ff. 54 Islamismus Personen waren Scheich bin MILAD, Rached GHANNOUSHI, ihr späterer Präsident und wichtigster Ideengeber, sowie Ahmida ENNEIFAR. GHANNOUSHI, 1941 geboren, wuchs unter dem Eindruck der französischen Kolonialherrschaft auf. Während des Studiums kam er in Kontakt zu Kreisen des aufkommenden islamischen Fundamentalismus. In Paris begann er mit seinem religiösen Aktivismus und schloss sich der "Tabligh-i Jamaat" an. Unter dem tunesischen Präsidenten Bourguiba wurde er zum Tode verurteilt, später unter dessen Nachfolger mehrmals zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, weswegen er seit 1992 in London im Exil lebt. GHANNOUSHI kann sich einerseits für einen Staat, der auf Gewaltenteilung gründet, aussprechen, andererseits lehnt er ein säkulares System strikt ab. Dies ist bedenkenswert, da GHANNOUSHI Mitglied im "European Council for Fatwa and Research" (ECFR) ist. "Islam Online" zufolge zählt er zu den Mitbegründern der "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY).66 Die auf der Homepage von "an-Nahda" veröffentlichten Bilder und Texte zeigen, dass die "Befreiung" Palästinas zu den prioritären Zielen der "an-Nahda" zählt. Unter der Rubrik "Islamisches Denken" ist als erstes ein Aufsatz von Hassan al-BANNA, dem Begründer der ägyptischen "Muslimbrüder", mit dem Titel "Sind wir ein handlungsfähiges Volk" aufgelistet. In Baden-Württemberg engagieren sich Einzelpersonen für die Ziele der "an-Nahda". 3.3 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") Die "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") wurde 1953 als Abspaltung der MB von Taqi ad-Din an-NABHANI in Jerusalem als eine politische Partei gegründet. Die Anhänger dieser Gruppierung streben einen Zusammenschluss aller Muslime in einem Kalifat an. Das Kalifat wird auf der deutschsprachigen Internetseite als "einziges Regierungssystem" propagiert, das "gemäß dem Plan des Propheten Muhammad (...) der menschlichen Natur und ihren Bedürfnissen" entspräche.67 Um dieses Ziel zu erreichen, setzen die Anhänger in erster Linie auf die Verbreitung ihrer Ideen im Internet. Bei der Wahl ihrer Worte und Zitate betonen die Sprecher der Organisation einerseits, dieses Ziel auf friedlichem Wege erreichen zu wollen, doch andererseits lässt sich sehr leicht zwischen den Zeilen ein ambivalentes Verhältnis zur Gewaltanwendung erkennen. 66 Internetauswertung vom 2. November 2006. 67 Internetauswertung vom 30. November 2006. 55 In einigen der zahllosen Streitschriften, Flugblätter und Artikel, die auch im Jahr 2006 vor allem über das Internet verbreitet wurden, lassen sich noch immer Formulierungen finden, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Am 15. Januar 2003 wurde der Organisation mit dieser Begründung die Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland verboVerbot bestätigt ten. Das Verbot wurde am 25. Januar 2006 vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig bestätigt.68 deutschsprachige Homepage der "Hizb ut-Tahrir" Die "Hizb ut-Tahrir" ist in zahlreichen Ländern vertreten und versucht Anhänger für ihre Kalifatsidee zu gewinnen. Ein Schwerpunkt lässt sich in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und vor allem in Großbritannien erkennen. In zahlreichen arabischen Staaten mit Ausnahme Libanons, den Vereinigten Arabische Emiraten und des Jemen ist die Organisation verboten. In Großbritannien wurde in den letzten beiden Jahren, insbesondere nach den Anschlägen vom 7. Juli 2005 und den verhinderten Anschlägen auf Transatlantikflüge mit den Verhaftungen vom 10. August 2006 ein Verbot intensiv diskutiert. Dies hielt prominente Sprecher der Organisation aber nicht ab, öffentlich für die Ziele bei Demonstrationen und in Interviews aufzutreten. Die Verbotsdiskussion hatte zur Folge, dass sich prominente Sprecher der Organisation von umstrittenen Äußerungen distanzierten und auf der Internetseite bedenkliche Inhalte bereinigt wurden.69 Der Sprecher der "Hizb ut-Tahrir" in Dänemark wurde bereits im Oktober 2002 aufgrund seiner antijüdischen Äußerungen zu 60 Tagen Haft auf Bewährung verurteilt. Er hatte Flugblätter mit einem Koranvers (2:191) verteilt, in dem es heißt: 68 Az.: 6 A 6.05. 69 Internetauswertung vom 4. Februar 2006. 56 Islamismus "Und tötet sie, wo ihr sie trefft (...)". Im August 2005 trat er erneut in die Öffentlichkeit, als er Flugblätter verteilte, in denen er zum Kampf gegen die amerikanischen Truppen im Irak aufrief. Er meldete sich auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der dänischen Muhammad-Karikaturen zu Wort und wurde deswegen im August 2006 erneut verurteilt. Das Fehlen eines Kalifen gilt als wichtigster Grund für die zahllosen Konflikte und Probleme, mit denen die islamische Umma in der Gegenwart konfrontiert ist. So stellte ein ungenannter Autor eines Artikels vom 17. September 2006 auf der "Hizb ut-Tahrir"-Homepage70 die ironische Frage: "Hätte es der römische Papst gewagt, den großartigen Islam anzugreifen, wenn der islamische Staat - das rechtgeleitete Kalifat - vorhanden wäre?" Den Text will der Autor als Botschaft an die Muslime verstanden wissen. Diese warnte er vor dem "Betrug des interreligiösen Dialogs", den der Papst predigen würde. Der Autor erkennt an diesem Aufruf des Papstes: "Er dient dazu den Wert des Islam in den Herzen der Muslime zu schwächen und die in ihrem Überzeugungsfundament anzugreifen (...). Dies ist das wahre Motiv hinter dem päpstlichen Aufruf zum interreligiösen Dialog. In einer hinterlistigen und irreführenden Weise ist es ein Aufruf gegen den Islam und seine Anhänger. (...) Wer den Islam beleidigt und sein Buch oder seinen Gesandten, wer seine Speerspitze, den Dschihad, an den Pranger stellt, dem darf nicht erlaubt werden, islamischen Boden zu betreten. Auch darf er nicht in den Stätten des Islam empfangen werden, bis der Staat des Islam, der Staat des rechtgeleiteten Kalifats, wiedererrichtet wird. Dieser wird wissen, wie er den Feinden des Islam zu begegnen hat (...)" Am 25. Oktober 2006 wurde ein Artikel im Zusammenhang mit den in islamischen Kreisen umstrittenen Äußerungen einer türkischstämmigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages veröffentlicht, die Frauen dazu auf70 Hier und im Folgenden: "Hizb ut-Tahrir"-Website vom 5. Dezember 2006; Übernahme wie im Original. 57 rief, ihr Kopftuch abzulegen. Der Autor sah u. a. darin die "Rhetorik erklärter Islamfeinde" beziehungsweise einer "Ungläubigen". Vor solchen Anfeindungen könne es nur einen Schutz geben: "Die Gründung des Kalifats ist der einzige Weg, um den Muslimen - auch hier in Europa - ihre Würde zurückzugeben und sie in ihrer Gesamtheit vor den hinterlistigen Anfeindungen und den brutalen Attacken der Ungläubigen zu schützen." Auf der Homepage der "Hizb ut-Tahrir" wurde auch ein Themenregister des Korans mit dem Titel "Lan Tabur" des Autors RASSOUL eingestellt. Weitere Bücher von RASSOUL werden ebenfalls unter der Rubrik Sunna elektronisch veröffentlicht. Darunter auch ein Lexikon der Sira (Lebensgeschichte des Propheten) und die Hadithsammlung von al-Bukhari71. In dem Themenregister kann man gezielt nach Aussagen und Stellen im Koran in deutscher Sprache suchen. In der Hadithsammlung findet sich auch ein besonderes Kapitel "Vom Dschihad und Leben des Propheten...", in dem auch jene Prophetensprüche zu finden sind, die von djihadistischen Gruppen verwendet werden, wie etwa unter der Nummer 2818: "Und wisset, dass das Paradies unter den Schatten der Schwerter liegt!", oder auch Nummer 2926: "Die Stunde wird nicht kommen, bis ihr gegen die Juden solange kämpft, und bis der Stein, hinter dem sich der Jude versteckt hat, spricht: 'Du Muslim, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt, so töte ihn.'" Schriften in BadenSchriften der "Hizb ut-Tahrir" konnten in der Vergangenheit in größerer Württemberg Zahl bei verschiedenen Personen in Heidelberg, Karlsruhe und Stuttgart sichergestellt sichergestellt werden. Viele solcher Texte, Videos und Audiovorträge stehen allerdings auch im Internet zur Verfügung. Da die Organisation in Großbritannien nicht verboten ist, konnten ihre Anhänger im Jahre 2006 publikumswirksame öffentliche Auftritte organisieren. Besondere Aufmerksamkeit in den Medien wurde den Demonstrationen gegen die dänischen Karikaturen in London zuteil. Bei den Protestzügen der Partei am 4. Februar 2006 nahmen über 1.000 Personen teil. Am Tag zuvor trugen Demonstranten erschreckende Drohslogans auf ihren Plakaten: "7/7 is on its way" (der 7. Juli wird kommen, in Anspielung auf die Attentate in der Londoner U-Bahn); "Europe you will pay, your 9/11 is on the way" (Europa du wirst zahlen, dein 11. September ist unterwegs); "Be71 810-870. Islamischer Gelehrter, dessen Hauptwerk, der "Sahih" (eine Hadithsammlung), bis heute im sunnitischen Islam höchste Autorität genießt. 58 Islamismus head those who insult Islam" (Köpft jene, die den Islam beleidigen).72 Ein Sprecher der "Hizb ut-Tahrir" verurteilte diese Slogans. Diese Demonstranten wurden aber dem Umfeld der am 17. Juli 2006 in Großbritannien verbotenen militanten Gruppierung "Ghurabaa" (die Fremden) zugerechnet. Diese Organisation gilt als Nachfolgeorganisation einer "Hizb ut-Tahrir"Abspaltung, der aufgelösten Gruppe um den extremistischen Prediger Omar BAKRI namens "al-Muhajiroun". BAKRI floh nach den Anschlägen am 7. Juli 2005 in den Libanon. Seine Anhänger organisierten sich darauf in den im Juli 2006 verbotenen Gruppen "Ghurabaa" und "Firqat un-Naajiyah" (die errettete Schar).73 Diese Entwicklung zeigt, dass sich Personen aus dem Kern der "Hizb ut-Tahrir" für den Weg der Gewalt entscheiden können. Die ideologische Grundlage bleibt dabei nahezu identisch. Die noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen im Zusammenhang mit den verhinderten Anschlägen auf Transatlantikflüge zeigten, dass im Umfeld der Verdächtigen die hier beschriebenen Gruppierungen besonders aktiv waren. 3.4 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission") Die Bewegung der Tablighis wird in englischsprachigen Medien auch häufiger als "biggest Muslim evangelical movement" (größte muslimische evangelikale Bewegung) bezeichnet.74 Diese indische "Re-Islamisierungsströmung" steht auch unter dem Einfluss der Deobandi-Bewegung, die im 19. Jahrhundert als streng an den schriftlichen islamischen Quellen orientierte Lehrtradition nach Absetzung des letzten Mogul-Herrschers Bahadur Schah Zafar entstanden war. Die Deobandi-Bewegung beabsichtigt die Wiederbelebung eines klassischen Islam und das Beseitigen von fremden Einflüssen. Ihr Ziel war die Trennung von der hinduistischen Bevölkerung, der Zusammenschluss der muslimischen Bevölkerung und die Regelung des Alltags nach der Scharia. In der Stadt Deoband wurde dazu eine Universität gegründet, "Dar al-Ulum", die heute nach der Azhar-Universität in Kairo die größte islamische Universität weltweit ist. Innerhalb des puristischen Spektrums islamischer Strömungen, zu denen auch die bekannte Bewegung der Wahhabiya oder weitere Salafiya-Organisationen zu zählen sind, ist die "Tabligh-i Jama'at" (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) nicht unumstritten. So gibt es Kritiker dieser indischen Form einer buchstabengetreuen Quellenauslegung vor allem auf der 72 Internetauswertung vom 6. Februar 2006. 73 Siehe hierzu auch S. 19f. 74 Zum Beispiel Le Monde diplomatique English edition November 2006. 59 arabischen Halbinsel, die in den Schriften und der Glaubenspraxis der Tablighis unislamische Elemente erkennen wollten. Anhänger des Gelehrten Maulana Muhammad ILYAS (1885-1944) fallen in Europa und Deutschland vor allem durch ihre Missionstätigkeit auf. Kleine Gruppen von reisenden Missionaren versuchen, im Glauben vermeintlich nachlassende Muslime wieder auf den Pfad des "richtigen Glaubens" zurückzuführen. Die Tabligh-Bewegung wird daher häufig als unpolitisch beschrieben. So fehlen die für politische Organisationen typischen Formen der Öffentlichkeitsarbeit wie etwa Internetseiten. Eine Einschätzung der Bewegung ist daher erheblich erschwert. Es finden jedoch auch auf lokaler Ebene Zusammenkünfte statt, und es werden Vorträge und Lehrveranstaltungen angeboten. Da die Organisation offen für alle Muslime ist, konnten sich innerhalb dieser konservativen Strömung kleinere Zirkel um einzelne Prediger bilden, die der Ideologie der Djihadisten nahe stehen und die in Pakistan möglicherweise auch Kontakte zu bewaffneten Terrorgruppen und deren Ausbildungslagern unterhalten. In den letzten Jahren wurde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ermittlungsverfahren immer wieder vermutet, dass sich islamistische Terroristen aus dem Umfeld dieser Bewegung rekrutieren. Welch streng konservatives Islamverständnis in der europäischen Hochburg streng der "Tabligh-i Jama'at" in Dewsbury vorzufinden ist, zeigte auch der Fall konservatives einer Lehrerin im Oktober 2006, die nicht auf den Niqab, den Vollschleier, Islamverständnis verzichten wollte, der auch das Gesicht bedeckt. Dieser Vorfall führte dazu, dass noch mehr Frauen aus Solidarität zu dieser Form des Vollschleiers griffen. In den Medien wurde dies auch dem Einfluss der Missionsbewegung zugeschrieben. Die Ideologie der Anhänger ist nicht eindeutig mit bekannten Djihad-Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Vielmehr scheinen einzelne Protagonisten, die die Lehren besonders ernst nehmen, Schüler und Anhänger um sich zu versammeln und zu indoktrinieren. Mit gestärktem Selbstbewusstsein können diese Muslime unter bestimmten Umständen dahingehend beeinflusst werden, dass sie sich auch djihadistischen Gruppen anschließen und den Weg der Gewalt wählen. Die Vorstellungen von einer islamischen Erneuerung, wie sie von Anhängern der "Tabligh-i Jama'at" formuliert werden, sind häufig identisch mit jenen Vorstellungen islamistischer Organisationen, die eine Rückbesinnung auf den "wahren Islam" und eine Verbesserung der Situation der islamischen Umma anstreben. Daher verwundert es nicht, dass in der Vergangen60 Islamismus heit führende islamistische Aktivisten ihre ersten Anregungen für ein Engagement durch Vortragende und Anhänger der "Tabligh-i Jama'at" erhielten. Im vergangenen Jahr sind erneut Aktivitäten von Wandermissionaren in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt worden. In Großstädten BadenWürttembergs unterhalten Anhänger der "Tabligh-i Jama'at" Stützpunkte. Durchreisende Missionare wurden von Vereinen unterstützt. Ihnen bot man die Gelegenheit, für die Ziele der Bewegung zu werben und neue Anhänger zu gewinnen. 3.5 Organisation aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" ("Partei Gottes") Die "Hizb Allah" ist eine libanesische schiitisch-islamistische Organisation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1982 in vielfältiger Weise von politischen Entwicklungen in Iran beeinflusst wurde. Sie ist inzwischen mit ihren vielfältigen Infrastrukturund karitativen Projekten auch als politische Partei im Libanon fest verankert. Durch ihre allgegenwärtige straffe Organisation und auf Grund ihrer finanziellen Mittel konnte und kann die "Hizb Allah" Institutionen und Einrichtungen wie Schulen, Krankenund Waisenhäuser betreiben und damit bei der libanesischen Bevölkerung einen entsprechend positiven Rückhalt erzielen - und das nicht nur beim schiitischen Bevölkerungsteil. Die "Hizb Allah" übernahm damit Funktionen, die in den letzten Jahren der libanesische Staat nicht wahrnehmen konnte. Seit der Gründung spielte die "al-Muqawama al-Islamiya" ("Islamischer Widerstand"), der militärische Flügel der "Hizb Allah", eine entscheidende Rolle, da der ursprüngliche Anlass für die Gründung der "Hizb Allah" die Präsenz israelischer Truppen zu Beginn der 1980er-Jahre im Südlibanon war, deren Vertreibung sie sich zum Ziel gesetzt hatte. Grundsätzlich hält die "Hizb Allah" an Ayatollah KHOMEINIs Thesen des "welayat-i faqih", der Herrschaft des befähigten Rechtsgelehrten, fest. Den Rückzug der Israelis am 25. Mai 2000 schrieb sich die "Hizb Allah" als Sieg auf die Fahnen und feiert alljährlich am Jahrestag des Rückzugs ihre "Siegesfeier". Diese wird nicht nur im Libanon gefeiert, sondern auch in "Hizb Allah"-nahen Vereinen, die sich im Ausland befinden. Für Feierlichkeiten in Baden-Württemberg reisen regelmäßig "Hizb Allah"-Mitglieder ein, darunter Scheichs und Funktionsträger oder Parlamentsabgeordnete aus dem Libanon. 61 Alljährlich nehmen weltweit "Hizb Allah"-Anhänger und Sympathisanten am von Ayatollah KHOMEINI 1979 ausgerufenen "al-Quds-Tag" an Demonstrationen teil. Dieser findet jeweils am letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan statt. KHOMEINIs Absicht war, dass an diesem Tag alle Muslime für die Zerstörung Israels demonstrieren sollten. Die "Hizb Allah" verzichtete im Jahr 2006 zwar auf eine zentrale Kundgebung im Libanon, rief aber zu dezentralen Demonstrationen auf, da die Begehung dieses Tages "eine Pflicht für jeden Muslim, jeden Araber und jeden ehrenhaften MenProteste anlässlich schen" sei. Diese Protestzüge zum "al-Quds-Tag" wurden in der Vergangendes "al-Quds-Tags" heit zentral in Berlin durchgeführt. Am 20. Oktober 2006 kamen erneut mehrere Hundert Demonstranten zusammen, um unter strengen Auflagen der deutschen Sicherheitsbehörden (u.a. keine Parolen und Spruchbänder gegen Israel) durch die Straßen zu ziehen. In den letzten Jahren war der militante Arm der "Hizb Allah" sowohl für die Entführung von israelischen Soldaten, mit denen Gefangene freigepresst werden sollten, als auch für Selbstmordattentate, Anschläge und Raketenangriffe auf israelisches Staatsgebiet verantwortlich. Argentinische Staatsanwälte haben Klage gegen die "Hizb Allah" und den ehemaligen iranischen Staatspräsidenten Rafsandjani erhoben, weil sie für den Anschlag am 18. Juli 1994 auf das jüdische Kulturzentrum in Buenos Aires verantwortlich sein sollen. Bei diesem Bombenanschlag kamen 85 Menschen ums Leben und mehr als 300 wurden verletzt. Am 9. November erließ Argentinien einen Haftbefehl gegen Rafsandjani und acht weitere Personen. Der Anschlag soll laut den ermittelnden Staatsanwälten in Iran geplant und von "Hizb Allah"Angehörigen ausgeführt worden sein.75 Nach der Ankündigung von Geiselnahmen durch Hassan NASRALLAH am 26. November 2005 kam es am 12. Juli 2006 zur Entführung von zwei israelischen Soldaten, worauf bis zum 14. August 2006 ein Krieg auf libanesischem und nordisraelischem Boden entbrannte. Bei diesem kam es in erster Linie zu Kampfhandlungen zwischen der "Hizb Allah"-Miliz und Israel. An den Kämpfen waren vereinzelt auch die derzeit mit der "Hizb Allah" verbündeten schiitisch-islamistischen "Amal"Milizen76 beteiligt. Aufgrund ihrer Vorgehensweise kann man die "Hizb Allah" als eine Art "Staat im Staate" bezeichnen. Man schätzt, dass während der militärischen Auseinandersetzung circa 1.200 Zivilisten im Libanon getötet und etwa 4.400 Menschen verletzt wurden. 75 Neue Zürcher Zeitung, NZZ online vom 9. November 2006. 76 Ebenfalls eine schiitisch-islamistische Gruppierung im Libanon. 62 Islamismus Die "Hizb Allah" verlor nach eigenen Angaben 80 Kämpfer, nach anderen Schätzungen fielen bis zu 530 "Hizb Allah"-Milizionäre. Durch den Raketenbeschuss der "Hizb Allah" kamen in Nord-Israel 43 Personen um, fast 700 Menschen wurden verletzt. Auf israelischer Seite sollen 119 Soldaten gefallen sein. Die beiden entführten israelischen Soldaten wurden von der "Hizb Allah" in Gefangenschaft genommen und sollen weiterhin als Druckmittel benutzt werden, um einen erneuten Gefangenaustausch zu erzwingen. Die bewaffnete Auseinandersetzung der "Hizb Allah" mit Israel wurde im sunnitischen Teil der islamisch-arabischen Welt sehr unterschiedlich bewertet. Dabei spielte die jeweilige Zugehörigkeit zu einer bestimmten sunnitischen Richtung die entscheidende Rolle. Besonders von salafitischer Seite wurden die Unterschiede zu schiitischen Vorstellungen und zu schiitischen Politikern hervorgehoben. Es erhoben aber auch Gelehrte wie QARADAWI und verschiedene Vertreter der "Muslimbruderschaft" ihre Stimme, die diese Schiiten-feindlichen Äußerungen verurteilten. Hintergrund waren Rechtsgutachten (Fatwas) saudischer Gelehrter wie etwa das von Safar al-HAWALI, der die "Hizb Allah" als "die Partei des Teufels" schmähte.77 Der saudische Islamgelehrte Abdallah bin DJABRIN lehnte es ab, für die "Hizb Allah" und ihre Anhänger in diesen Auseinandersetzungen mit Israel zu beten. Während des Krieges im Libanon kam es in Baden-Württemberg und in der Auswirkungen übrigen Bundesrepublik zu zahlreichen Demonstrationen, die teilweise des Libanonkriegs über das Internet koordiniert und organisiert wurden. In Heidelberg, Karlsauf Badenruhe, Mannheim, Freiburg im Breisgau und Stuttgart haben sich insgesamt Württemberg mehrere Tausend an den Protesten beteiligt. Damit konnte die Organisation unter Beweis stellen, dass es ihr bei gegebenem Anlass sehr wohl gelingt, erheblich mehr Menschen zu mobilisieren, als die reinen Mitgliederzahlen vermuten lassen. Unter den Demonstranten waren auch viele "Hizb Allah"Sympathisanten, die die Flagge der Organisation trugen und ihre Slogans skandierten. Die Internetseite eines baden-württembergischen Aktivisten zeigte sehr deutlich, wie weit - durch den Krieg angeheizt - die Sympathien für die "Hizb Allah" und die Feindschaft gegen den Staat Israel und seine Bewohner reichen können. Für den ersten Internetauftritt im Juli 2006 wurde die Parole "ob friedlich oder millitant gemeinsam kämpfen wir Hand in Hand" 78 mit zwei Händen gezeigt. Eine Hand war mit der gelben Flagge der "Hizb Allah" bemalt, die andere mit der libanesischen Staatsflagge. Auf 77 Internetauswertung vom 17. November 2006. 78 Internetauswertung vom 31. Juli 2006. 63 dieser Homepage wurden im Verlauf des Libanonkriegs in einem eigens eingerichteten Forum eine Plattform für antijüdische Äußerungen und Gewaltaufrufe geboten. Am 11. August 2006 trug sich ein Leser in gebrochenem Deutsch in das Gästebuch ein: "Wallah [bei Gott] Scheiss juden habibi endlich bringt einer die wahrheit ans tageslich inshallah [so Gott will] Werden alle Juden verotten schweine." 79 Am selben Tag datiert ein weiterer Beitrag in diesem Gästebuch: "(...) ich war nie so richtige gegen Juden aber in dieunbändiger Hass sem Jahr hat sich alles geändert ich wünsche den gegen Juden PARASITEN DEN TOT OB KLEIN ODER GROSS ALLE gehören ausgerottet so wie es Hitler vor hatte doch Juden sind PARASITEN DIE WIRD MAN NIE LOS DIE KRIECHEN ALLE AUS ALLE LÖSCHE WIEDER RAUS es sind KULTUR Zerstörer (...) ihr wiest es alle das Gott am ende uns die rache nimmt und alle JUDEN auf dem Tron der Hölle landen werden (...)" 80 Der so artikulierte Hass ist nicht zuletzt auf die Propagandaparolen und das Bildmaterial auf dieser Internetseite zurückzuführen. Ein weiterer Faktor, der diesen Israelund Judenhass schürt, ist sicher in den Beiträgen des "Hizb Allah"-nahen Fernsehsenders "al-Manar" zu finden. Über Satellit erreicht dieser seine Zuschauer auch in der Bundesrepublik Deutschland. Israel war und ist sich des Ausmaßes des Einflusses dieses Propagandaorgans bewusst. Die Zerstörung des Hauptquartiers in Beirut im Laufe des Krieges konnte aber nur für wenige Minuten den Sendebetrieb unterbrechen. Ansonsten sendete der Kanal weiter die Verlautbarungen der prominenten Sprecher der "Hizb Allah" und diente der Mobilisierung der Anhänger. Am Ende des Krieges strahlte er besondere Spezialsendungen zu den "Märtyrern" aus, die bei den Kämpfen zu beklagen waren. In langen Sondersendungen durften Angehörige über die Kämpfe und die Angriffe israelischer Truppen berichten. Der Sender beteiligte sich auch an den Berichten über den Wiederaufbau und trug so zur Popularität der "Hizb Allah" in erheblichem Maße bei, da er über die Verteilung von Geldern an die Obdachlosen und Kriegsflüchtlinge ausführlich berichtete. 79 Übernahme wie im Original. 80 Übernahme wie im Original. 64 Islamismus Zum UNIFIL81-Einsatz und der deutschen Beteiligung kommentierte NASRALLAH bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Waffengang am 22. September 2006 die Äußerung der Bundeskanzlerin, der UNIFIL-Einsatz diene der Existenzsicherung Israels: "(...) und wir sagen ihnen: 'Blockiert das Meer, den Luftraum und die Grenzen! Schließt die Grenzen, das Meer, den Luftraum! Das wird den Widerstand nicht im Geringsten schwächen, nicht was den Willen des Widerstands betrifft und auch nicht die Waffen des Widerstands'." 82 Damit zeigt sich NASRALLAH vom UNIFIL-Einsatz unbeeindruckt und mit seiner Aussage, die "Hizb Allah" hätte nach den Kampfhandlungen mehr Raketen als zuvor, fordert er die Teilnehmerstaaten am UNIFIL-Einsatz heraus. Trotz NASRALLAHs vermeintlicher Akzeptanz demokratischer Spielregeln, die er unter Beweis zu stellen versucht, indem er die schwerwiegenden Streitigkeiten zwischen Konfessionsgruppen und Bündnissen im Libanon als politischen Streit herunterspielt, den es eben in einer Demokratie mit parlamentarischen Wahlen gebe, drohte NASRALLAH im November 2006 damit, die Regierung zu stürzen, wenn die "Hizb Allah" und ihre Bündnispartner im Parlament nicht ein Drittel der Minister stellen dürften und damit ein Vetorecht bei entsprechenden Beschlüssen erhielten. Seit Anfang Dezember 2006 protestierten immer wieder Hunderttausende von "Hizb Allah"-Anhängern im Zentrum Beiruts. Einige haben sich in Zelten eingerichtet, um die Forderung nach dem Rücktritt der libanesischen Regierung, der eine zu große Nähe zu den Vereinigten Staaten vorgeworfen wird, zu unterstreichen. Politische Kommentatoren sehen die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges heraufziehen, sollte NASRALLAH weiter seine Strategie der Polarisierung gegenüber den antisyrischen Teilen der Bevölkerung verfolgen. Es bleibt abzuwarten, wohin Aktionen wie "Tage des zivilen Ungehorsams" führen, wenn "Hizb Allah"-Redner wie Naim QASSIM, der Vertreter NASRALLAHs, der Masse zurufen: "Für die USA ist kein Platz im Libanon." 83 81 Die United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) ist eine Beobachtermission der UNO. 82 Live-Übertragung "al-Manar" am 22. September 2006. 83 The New York Times vom 2. Dezember 2006. 65 3.6 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Kerpen Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2005: ca. 3.600) ca. 26.500 Bund (2005: ca. 26.500) Publikation: "IGMG Perspektive" (zweisprachig); als Sprachrohr84 dient auch die türkischsprachige Tageszeitung "Milli Gazete" (Europa-Ausgabe) Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) als bedeutendste islamistische Organisation in Deutschland wird vom Verfassungsschutz beobachtet, weil sie mit ihrem langfristigen Ziel der weltweiten Durchsetzung einer auf dem Islam basierenden "göttlichen Ordnung" alle übrigen bestehenden, als "nichtig" erachteten Staatsund Gesellschaftsordnungen zu überwinden bestrebt ist. Sie verfolgt damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen, die unter anderem darauf ausgerichtet sind, das Recht des Volkes, die Staatsgewalt auszuüben, die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz durch die Errichtung eines Gottesstaates langfristig zu beseitigen (SS 4 Abs. 2 Buchst. a Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), SS 4 Abs. 2 Buchst. b BVerfSchG). Darüber hinaus sind ihre Bestrebungen darauf gerichtet, die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte - hier zumindest in Bezug auf die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz) - teilweise zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (SS 4 Abs. 2 Buchst. g BVerfSchG).85 Die regionalen Aktivitäten der IGMG in Baden-Württemberg erstrecken sich auf die so genannten Bölge (Regionen) Stuttgart, Freiburg, Schwaben (einschließlich einiger bayerischer Ortsvereine) sowie Rhein-Saar (hierzu gehören auch mehrere Ortsvereine in Rheinland-Pfalz). Den Vorsitz des Landesverbands Baden-Württemberg hat seit 2005 Adem KAYA inne. 84 Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg (Az.: 7 VG 1689/95 vom 27. April 1995); hier wird die "Milli Gazete" sogar als "Vereinsorgan" bezeichnet. 85 Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München (Az.: M 25 K 03.1431) vom 11. Dezember 2006 (nicht rechtskräftig, Stand: 11. April 2007; Antrag auf Zulassung der Berufung wurde gestellt). 66 Islamismus Die IGMG ist die dominierende Kraft im in Köln ansässigen "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", dessen Vorsitzender Ali KIZILKAYA in den Jahren 2001 und 2002 das Amt des IGMG-Generalsekretärs bekleidete. Die Jugendorganisation der IGMG ist im Vorstand der von saudischen Sponsoren geförderten und von der "Muslimbruderschaft" dominierten "Forum of European Muslim Youth and Student Organisations" (FEMYSO)86, vertreten. Bei "Milli Görüs" als einer in der Türkei Ende der 1960er-Jahre durch Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN begründeten politischen Ideologie, niedergelegt in den von ihm entwickelten Konzepten "Milli Görüs" (Nationale Sicht)87 und "Adil Düzen" (Gerechte Ordnung)88, handelt es sich gleichzeitig um eine politische Bewegung, deren einzelne Komponenten aufgrund engster struktureller und personeller Verbindungen interagieren. Die politische Basis der Bewegung bildet in der Türkei die "Saadet Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") als bislang letzte einer Reihe von durch ERBAKAN seit 1970 gegründeten Parteien.89 Die Partei wird von Recai KUTAN geführt, während ERBAKAN selbst aufgrund eines bezüglich seiner Person verhängten Politikverbots zwar keine offizielle Funktion in der SP ausübt, jedoch weiterhin als "Milli Görüs"-Führer und spiritueller Mentor verehrt wird. In Europa wird "Milli Görüs" von der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG)90 repräsentiert. Sie führt den Namen der Bewegung in ihrer Selbstbezeichnung. Istanbul war Ende Oktober 2006 Schauplatz des "1. Internationalen Milli Görüs-Symposiums" 91, bei dem die politischen Leitlinien und Ziele für die 86 Hinter der Gründung im Jahr 1996 standen neben muslimischen Jugendorganisationen verschiedener europäischer Länder die "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE) sowie die saudische "World Assembly of Muslim Youth" (WAMY). 87 Necmettin ERBAKAN, Milli Görüs, Istanbul 1975. 88 Necmettin ERBAKAN, Adil Düzen, Ankara 1991. 89 "Milli Nizam Partisi" (MNP, 1970-1971), "Milli Selamet Partisi" (MSP, 1973-1981), "Refah Partisi" (RP, 1983-1998), "Fazilet Partisi" (FP, 1997-2001); außer der MSP, die nach dem Putsch von 1981 infolge des Gesetzes zur Schließung der politischen Parteien geschlossen wurde, wurden die vorgenannten "Milli Görüs"-Parteien jeweils wegen Verstoßes gegen die Prinzipien der laizistischen Republik verboten. 90 Von der von ERBAKAN gegründeten "Türkischen Union Europa" (1976) über die "Islamische Union Europa" (1982) und die "Avrupa Milli Görüs Teskilatlari" bzw. "Milli Görüs-Organisation in Europa" (1985) lässt sich eine fortlaufende Linie verfolgen, die in die heutige IGMG mündet. 91 Veranstalter war ESAM (Ekonomi ve Sosyal Arastirmalar Merkezi/Zentrum für Wirtschaftsund Sozialstudien) in Ankara, dessen Generalvorsitzender mit dem SP-Generalvorsitzenden identisch ist. Auf der ESAM-Homepage war die Veranstaltung (in englischer Übersetzung) als "The Nation's Vision Symposium" angekündigt; diese korrekte Übersetzung des Begriffs "Milli Görüs" stellt einmal mehr die vorgebliche Deutung des Begriffs seitens der IGMG als "monotheistische Ökumene" ins Abseits. 67 gesamte Bewegung ausformuliert wurden. Auf der Homepage des Veranstalters war dieses als die "Grundsteinlegung des Rettungsprojekts 'Eine Neue Welt' für fünf Milliarden unterdrückter Menschen" angekündigt: Eine "gerechte Weltordnung" (adil bir dünya düze"Milli Görüs"ni) werde einen erheblichen Beitrag zum Weltfrieden und zum Aufbau Symposium: einer "neuen Weltordnung" leisten; der rassistischen, unterdrückerischen, globaler Anspruch kolonialistischen Ordnung werde "der Krieg erklärt" 92. Die Anwesenheit des Vorsitzenden der Kommission für Rechtleitung der IGMG-Zentrale in Kerpen bei dieser Veranstaltung spricht für die Relevanz der dort vertretenen Positionen auch für die europäische Komponente der "Milli Görüs". So wurden bei einer Veranstaltung mit Imamen und Predigern der IGMG Region Stuttgart laut Bericht der "Milli Gazete"93 die Inhalte des Symposiums seitens des Regionalvorsitzenden Adem KAYA thematisiert. In verschiedenen Artikeln der "Milli Gazete" sowie in der Abschlusserklärung des Symposiums wurde auf den "universellen Charakter" des Begriffs sowie der Inhalte von "Milli Görüs" hingewiesen: "Milli Görüs" biete, so formulierte ein Mitglied des Organisationskomitees des Symposiums in der "Milli Gazete" vom 31. Oktober 2006, "für die Menschheit einen neuen Weg. Dieser neue Weg ist die uns von unserem Herrn, unserem geliebten Propheten, aufgezeigte Marschrichtung und Marschformation für dieses Jahrhundert." In der Abschlusserklärung94 zum Symposium wurde das "Zivilisationsprojekt Milli Görüs" als "Alternative zur Mentalität des rassistischen Imperialismus" gepriesen und als "Reformbewegung" vorgestellt. Die bekannten Forderungen ERBAKANs nach eigener Währung, eigenem Finanzund Kreditsystem und eigenem Versicherungssystem für die islamische Welt wurden erneut auf die Tagesordnung gebracht. "Milli Görüs"-Institute, welche sich "dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet" fühlten, seien überall auf der Welt zu gründen. "Milli Görüs" sehe es als "eine Art von Sklavenordnung" an, wenn "eine Nation gemäß der Weltanschauung oder den Wertmaßstäben einer anderen Nation oder Gruppe regiert" werde. In Bezug auf in Europa lebende "Milli Görüs"-Anhänger ist diese Einschätzung nicht anders denn als definitive Absage an eine mögliche Einordnung in die hiesige Staatsund Gesellschaftsordnung als einer Spielart der "nichtigen Ordnung" (batil düzen) zu werten. 92 Internetauswertung vom 2. November 2006. 93 "Milli Gazete" vom 18. November 2006. 94 Veröffentlicht in der "Milli Gazete" vom 4. November 2006. 68 Islamismus Der SP-Generalvorsitzende KUTAN beschrieb "Milli Görüs" anlässlich des 2. Ordentlichen Kongresses der Partei am 9. April 2006 als eine von den Funktionären als "heilig" angenommene Pflicht (kutsal görev), für die "mit andächtiger Hingabe" gearbeitet werde. Es mache keinen Unterschied, an der Spitze dieser "Mission" oder an der Basis zu stehen; jeder einzelne "Mission" der Anhänger sei "wie ein Organ, welche zusammen einen Körper bilden". Im "Milli Görüs" weiteren Verlauf der Rede KUTANs wurde die "Vorreiterrolle, die generalstabsmäßige Führung von Prof. Dr. Necmeddin ERBAKAN innerhalb dieser Mission, der zudem das Milli Görüs-Arbeitsmodell zur Gründung der Neuen Groß-Türkei geplant und auf ein systematisches Fundament gestellt" habe, gewürdigt.95 Der Aspekt der "Mission" wurde auch auf Veranstaltungen der IGMG in Deutschland hervorgehoben, so bei einer Veranstaltung "Vertragstreue" 96 ("Ahde Vefa")97 der IGMG in Tuttlingen seitens des damaligen Vorsitzenden der Kommission für Public Relations und Rechtleitung der IGMG-Zentrale in Kerpen, Ali BOZKURT: "Milli Görüs" sei gleichbedeutend mit der "Mission Allahs"; man müsse sich der Bedeutung der "Vertragstreue" bewusst, mit festem Glauben tätig sein und dürfe Lohn für seine Tätigkeit nur von Allah erwarten. In einer Kolumne in der "Milli Gazete" vom 8. Mai 2006 wurde das Wesen der "Milli Görüs" als "Novum in der politischen Geschichte der Türkei" beschrieben. "Milli Görüs" repräsentiere "die erste politische Struktur, die deren Fluss in die Gegenrichtung gelenkt" habe. Gleichzeitig manifestiere sich hier der "Kampf zwischen dem Europäischen und dem Türkischen". In dem mit "Milli Nizam" 98 begonnenen Prozess habe "die gläubige Schicht große Erfolge verbuchen" können. Nachdem "Milli Görüs" zu einer Kraft geworden sei, mit der man rechnen müsse, sei es "in der Türkei zu sehr positiven Entwicklungen zugunsten der Muslime gekommen". Gläubige Menschen hätten sich unter dem Dach einer Organisation gesammelt; es seien Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben, ein TV-Sender gegründet und die Zahl der Vereine und Stiftungen erhöht worden. Während man damals kopftuchtragende Schülerinnen an einer Hand habe abzählen können, rede man heute von Tausenden. In jenen Jahren hätten sich die Jugendlichen rasch von der Religion abgewandt, heute sei es genau umgekehrt. In jenen Jahren seien "die Imperialisten als Freunde betrachtet" worden, jetzt sehe das Volk sie "als die größte Gefahr" an. So lange man von den Muslimen in der Türkei spreche, werde man auch von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN sprechen; wenn Gott es zulasse, werde dies mehr als tausend Jahre dauern. 95 "Milli Gazete" vom 12. Mai 2006. 96 "Milli Gazete" vom 21. März 2006. 97 In der Türkei wurde im Oktober 2006 mehr als 60 verdienten Mitgliedern der bisherigen "Milli Görüs"Parteien, so auch KUTAN, eine "Ahde Vefa-Plakette" verliehen; am "Treue-Tag" ("Vefa Günü") der "Milli Görüs" im Rahmen der "Woche der Eroberung" wurde im Rahmen einer von der SP in Istanbul veranstalteten Zeremonie 2.500 Personen eine Ehrenurkunde verliehen. 98 Bezeichnung der ersten von ERBAKAN 1970 gegründeten Partei in der "Milli Görüs"-Tradition, Verbot 1971. 69 Bei einer Rede99 im August 2006 anlässlich des 5. Jahrestags der Gründung der "Saadet Partisi" in Istanbul beschrieb ERBAKAN die von ihm als "die vor 37 Jahren begonnene "Milli Görüs-Operation" 100 bezeichnete Bewegung mit dem "Milli Görüs" eigenen Pathos folgendermaßen: "Wie Sie alle wissen, war der heilige Ebu Eyüp elEnsari 101 der Bannerträger unseres Propheten. Er war sein ganzes Leben hindurch der Fahnenträger der Heere des Islam (...) Wir haben es jedes Jahr bei den Feiern am 29. Mai 102 wiederholt: Wenn jemand Ebu Eyüp el-Ensari vor Augen hat, wie er im Alter von über 90 Jahren auf einem sich aufbäumenden weißen Pferd sitzt, mit je dreien seiner Söhne auf beiden Seiten, gegen die Pfeile der Byzantiner und die Feuer der Gregorianer [ankämpfend] (...) wenn jemand diesen Anblick vor Augen hat, sieht er, was Glaube, Bewusstsein und Entschlossenheit heißt. Was Milli Görüs ist, sieht er in eben jenem Augenblick." 103 Gleichzeitig bekräftigte ERBAKAN den globalen Führungsanspruch der "Milli Görüs": "Inzwischen kennt nicht nur unsere Türkei, sondern Heilung die ganze Welt Milli Görüs, und Milli Görüs ist der Welt nicht nur die Rettungsoperation für die Türkei, sondern steht für die Rettung der gesamten Menschheit und für die Begründung einer neuen Welt." Das unter Führung der "Milli Görüs" zu errichtende "Zivilisationsprojekt" einer "Neuen Welt" ist auch Bestandteil eines in dieser Rede wie auch häufig von Politikern der "Saadet Partisi" zitierten Slogans: "Lebenswerte Türkei" (Yasanabilir Türkiye) - "Neue Groß-Türkei" (Yeniden Büyük Türkiye) 99 Wortlaut der Rede abgedruckt in "Milli Gazete", Ausgaben vom 10./11./12./14. August 2006. 100 Mit dem hier bewusst verwendeten Begriff "harekat" ("Operation") statt des zu erwartenden Begriffs "hareket" (Bewegung") stellt ERBAKAN hier eine sprachliche Parallele zur im selben Satz erwähnten "Friedensoperation Zypern" ("Kibris Baris Harekati"), der Militärintervention von 1974, her und verleiht dadurch der "Milli Görüs" gleichsam eine militärische Dimension. 101 Der Prophetengefährte Ebu Eyüp el-Ensari fiel als Glaubenskämpfer während der ersten Belagerung von Byzanz durch die Araber (672-678 n.Chr.). Zu Zeiten der Osmanen fand in Eyüp die Zeremonie des Schwertumgürtens aus Anlass der Thronbesteigung osmanischer Sultane statt. 102 An diesem Tag veranstaltet "Milli Görüs" eine prunkvolle Feier zum Gedenken an die Eroberung Istanbuls durch Sultan Mehmet II. 103 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 10. August 2006. 70 Islamismus - "Neue Welt" (Yeni Bir Dünya).104 ERBAKAN beschrieb in der "Milli Gazete", welchen politischen Weg eine Türkei unter Führung der "Milli Görüs" verfolgen würde: "Wäre Milli Görüs heute an der Regierung, würden wir nicht einen Tag länger in den Vereinten Nationen verbleiben, sondern mit sämtlichen muslimischen Staaten austreten und neue, völlig andere Vereinte Nationen gründen, die der Menschheit Glückseligkeit bringen." 105 Deutlich benannte er die politische Kraft, die die Durchsetzung der "Milli Görüs" und damit einer "gerechten Weltordnung" bisher verhindert habe: "Indem er die Türkei schluckt, arbeitet der rassistische Imperialismus daran, durch Gründung von Groß-Israel die ganze Welt zu versklaven. Dabei hilft ihm die Mentalität der Kollaborateure. Diejenigen, die dagegen versuchen, eine Gerechte Ord"Gerechte nung (Adil bir Düzen)106 zu gründen, um der gesamOrdnung" durch ten Menschheit zu ihrem Recht zu verhelfen, sind "Milli Görüs" die Milli Görüs-Leute. (...) Der sofortige Abbruch der Verhandlungen mit der EU und die Gründung einer Neuen Welt innerhalb der D-8107 ist nur mit Milli Görüs, mit der Saadet Partisi möglich." 108 Einzig die "Saadet Partisi", mit der durch "Milli Görüs" wahre Unabhängigkeit verwirklicht werden könne, ist nach Auffassung ERBAKANs bleibend. Sämtliche sonstige Parteien sind aus seiner Sicht "Satelliten", die die "Erniedrigung", die "ausbeuterische Sicht" repräsentieren. Der SP-Generalvorsitzende KUTAN zeigte sich bei einer Parteiveranstaltung in Istanbul überzeugt, dass die Begründung der "Gerechten Ordnung" (Adil Düzen) durch die "Milli Görüs"-Mannschaften verwirklicht werde, denn würden große Missionen rechtmäßig vertreten, so gebe es niemanden, der davon nicht zu überzeu104 Die "Saadet Partisi" verfügt über eine eigene "Nationalhymne", in der die Bestandteile des Slogans den Refrain bilden. 105 "Milli Gazete" vom 11. August 2006. 106 Titel der von ERBAKAN verfassten programmatischen Schrift, die zum einen eine "gerechte Wirtschaftsordnung" ohne das "verderbte Zinssystem" und zum anderen einen Pluralismus von Rechtssystemen im Staat vorsieht. 107 Von ERBAKAN begründetes Gegenmodell zu G-8. 108 "Milli Gazete", Ausgaben vom 11. und 12. August 2006. 71 gen wäre. Ausdrücklich bezog KUTAN die Einbindung der "Milli Görüs"Repräsentanten in Europa in die Verfolgung der gemeinsamen Ziele mit ein. Wörtlich führte er aus: "Unsere Arbeit geht nicht nur in Istanbul, sondern in ganz Anatolien und in Europa weiter. Als ich vor zwei Wochen in Belgien an der Generalversammlung der Milli Görüs-Organisation in Europa [Avrupa Milli Görüs Teskilati]109 teilnahm, sah ich, dass der Saal komplett voll war (...) Nicht nur ihr, sondern auch andere Milli Görüs-Leute versuchen in dieser Stunde, überall im Land mit Vorträgen unser Volk aufzuklären. (...)110 Die weltpolitische Konstellation aus "Milli Görüs"-Sicht wird in einer Kolumne der "Milli Gazete" vom 6. und 7. Juni 2006 folgendermaßen dargestellt: "Die Religion ist die erste und einzige Tatsache des menschlichen Lebens. Die Geschichte beginnt mit dem Islam, das heißt mit Adam. Von damals an bis heute befindet sich die Menschheit zwischen zwei Polen: zwischen Recht (hak) und Nichtigem (batil). Die Menschheit ist vom Nichtigen bedroht. Der Unglaube (küfür) hat nur eine einzige Nation. Das Nichtige und der rassistische Imperialismus sind die bedeutendsten Probleme, die die Menschheit bedrohen (...) Wir sind die Bewahrer der Natur, wir sind keine Kolonialisten, sondern Bewahrer. Die Wissenschaft wurde der Welt von den Muslimen geschenkt (...) Wir sind mit dem Bau eines Palastes beschäftigt. Die Innenausstattung kommt erst noch (...) Milli Görüs gehört nicht [nur] der Türkei. Milli Görüs ist das Gehirn. Die Gerechte Ordnung (Adil Düzen) ist das Herz." Am 27. Mai 2006 feierte die "Milli Görüs"-Bewegung in einem Istanbuler Stadion den 553. Jahrestag der Eroberung Istanbuls. Organisator der Veranstaltung war laut einem Artikel der "Milli Gazete" vom 1. Juni 2006 die 109 KUTAN bezieht sich auf den am 4. Juni 2006 abgehaltenen "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" der IGMG in Hasselt. 110 "Milli Gazete" vom 26. Juni 2006. 72 Islamismus "Anadolu Genclik Dernegi" (AGD, "Verein Anatolische Jugend") als eine weitere Komponente der "Milli Görüs". Vertreter dieser Organisation treten auch bei Veranstaltungen der IGMG auf, so deren stellvertretende Vorsitzende bei einer von der IGMG-Region Stuttgart organisierten KoranRezitationsveranstaltung im Ramadan 2006, bei der auch führende Funktionäre der Kerpener Generalzentrale zugegen waren.111 Als Ehrengast bei der Veranstaltung zum Jahrestag der Eroberung sei "Milli-Görüs"-Führer ERBAKAN aufgetreten, auch die ehemaligen Generalvorsitzenden der mittlerweile geschlossenen Stiftung "Milli Genclik Vakfi"112 und Funktionsträger der "Milli Görüs"-Bewegung hätten die "Erobererjugend" unterstützt. Die Anwesenheit von Vertretern aus anderen Teilen der islamischen Welt sowie "Eroberer"von hohen Funktionären der IGMG habe der Veranstaltung eine "univerMentalität selle Dimension" verliehen. Der Vorsitzende der AGD Istanbul habe bei der Veranstaltung die Meinung vertreten, in Zeiten, in denen "Menschenrechte und Freiheiten mit Füßen getreten" würden, seien "neue Eroberungen" notwendig. Necmettin ERBAKAN habe hierzu in seiner Rede ausgeführt: "Wenn Stadien sich mit Menschen füllen, die die Herrschaft Gottes errichten (Hakk'i hakim kilmak) wollen, ist die Rettung nah. Jetzt sind die Stadien gefüllt. Also ist die Rettung nah. Nehmt [Sultan] Fatih als Vorbild! Lernt eure Geschichte, euer Volk und eure Religion kennen! Werdet Soldaten der Milli Görüs-Mission!" Der Generalvorsitzende der "Islamischen Partei Pakistans" habe bei dieser Veranstaltung ERBAKAN als "Führer" gewürdigt, der das Banner des Islams in der Türkei gehisst und in der Türkei ein Bollwerk gegen den amerikanischen Imperialismus errichtet" habe. Hasan DAMAR, Berater des Generalvorsitzenden der IGMG-Zentrale in Kerpen, habe sich bei derselben Veranstaltung mit Blick auf die Rolle der "Milli Görüs" in Europa folgendermaßen geäußert: "Wir durchschreiten einen außergewöhnlichen Prozess. Deshalb müssen wir noch zielstrebiger und eifriger sein als früher. Um Milli Görüs wieder an 111 "Milli Gazete" vom 19. Oktober 2006. 112 Die Tageszeitung Hürriyet berichtete im Jahr 2000 zu diesen "Eroberungsfeiern": "Die Regierungspräsidien werden die Feiern zum Jahrestag der Eroberung Istanbuls am 29. Mai, die seitens der MGV, die quasi als Jugendorganisation der Fazilet Partisi fungiert, geplant sind, nicht gestatten. Durch einen landesweiten Erlass des Innenministeriums wurde die Veranstaltung von Feiern zum 29. Mai lediglich dem Regierungspräsidium Istanbul zugestanden." (Ausgabe vom 19. Mai 2000). 73 die Macht zu bringen, müssen wir von Europa und müsst ihr von der Türkei aus mit aller Kraft arbeiten Befehlshaber (...) Wir als in Europa befindliche Auswanderer ERBAKAN (muhacir)113 unterstehen dem Befehl unseres Hodjas Erbakan." 114 Dass ERBAKAN gleichsam als messianische Lichtgestalt verehrt wird, wurde beim "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" am 4. Juni 2006 im belgischen Hasselt deutlich: ERBAKAN wurde von einem der Moderatoren, dem Prediger der IGMG-Region Bremen, als "der von sechseinhalb Milliarden [Menschen] erwartete Mann, der "Verteidiger" (Savunan Adam)115, der das "ihm von der Geschichte verliehene Siegel im Sinne seiner Mission einsetzt", angekündigt.116 Besonders klar manifestiert sich bei derartigen Großveranstaltungen der "Milli Görüs" das Bewusstsein einer "auserwählten Gemeinschaft", die ein spezifisches Konzept des Heilserwerbs verfolgt. KUTAN wurde dem Publikum als "der Mann aus Anatolien, dem Land der Hoffnung, dem als Lohn für seine Treue von Milli Görüs-Führer Erbakan die Stirn geküsst und der der nächste Ministerpräsident der Türkei sein [werde]," präsentiert. Neben der türkischen Nationalflagge und der Fahne mit IGMG-Emblem wurden bei der Veranstaltung grüne Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis geschwenkt, teilweise mit aufgeheftetem Porträt ERBAKANs; junge Männer mit grünen Stirnbändern, auf denen das Glaubensbekenntnis aufgedruckt war, befanden sich gleichfalls im Publikum. Als einziger nichttürkischer Gast trat auf dieser Veranstaltung der Mufti von Sandjak, Muamer ZUKORLIC117, auf, der eine ins Türkische übersetzte Rede auf Arabisch hielt, in welcher er auf die Brückenfunktion der Muslime des Balkans, auf die Notwendigkeit der "islamischen Einheit" der Muslime im Europa des 21. Jahrhunderts und gleichzeitig darauf hinwies, dass Europa "von den wahren Muslimen nur Gutes zu erwarten und sich nicht zu fürchten" habe. 113 Der Begriff spielt auf die "Auswanderung" (hidra) des Propheten Muhammad im Jahr 622 von Mekka nach Medina an; im Jahr 630 erfolgte von dort aus mit der Eroberung Mekkas die siegreiche Rückkehr. 114 "Milli Gazete" vom 29. Mai 2006. 115 Beiname ERBAKANS. 116 Hier und im Folgenden: DVD "IGMG-Tag der Brüderlichkeit und Solidarität - 4. Juni 2006, Hasselt/Belgien". 117 Absolvent einer Medrese in Sarajewo und der Fakultät für Islamisches Recht in Constantine (Algerien); 1993 zum Mufti ernannt, seit 2002 Rektor der privaten Internationalen Universität Novi Pazar; ein 2002 in Novi Pazar durchgeführtes interkulturelles Projekt der EU zu Interkulturalismus, inter-ethnischer Solidarität und Sexualerziehung stieß auf die erklärte Gegnerschaft des Mufti und des von ihm beeinflussten dortigen "Muslim Youth Club", so dass das Projekt vorzeitig abgebrochen wurde. 74 Islamismus Von ERBAKAN von jeher vertretene antisemitische Positionen spiegeln antisemitische sich exemplarisch in seiner Kommentierung des militärischen Konflikts Rhetorik zwischen der "Hizb Allah" und dem Staat Israel im Sommer 2006 wider, wo er gegenüber Landsleuten äußerte, "die Massaker [der Israelis]" seien "identisch mit deren Charakterzügen." 118 Es handele sich dabei um die "Reflexion ihrer realen Sicht auf unsere Welt". Die eineinhalb Milliarden Nichtmuslime der Welt würden "vom selben Zentrum aus gesteuert", dessen Name "rassistischer Imperialismus" laute. Die Israelis würden mit dem Terror fortfahren, weil sie sich als "überlegene Rasse" begriffen, und um die Welt zu korrumpieren, sei ihnen "jedes Mittel recht". Sie arbeiteten auf die Weltherrschaft hin und betrachteten dabei "alle anderen Nationen als Ungeziefer, welches man zertreten könne." Deshalb betrieben sie ihre Tyrannei "geradezu mit andächtiger Inbrunst". Zur Abhilfe sind laut ERBAKAN von Seiten der Muslime fünf Dinge notwendig: Gründung eigener Vereinter Nationen und einer eigenen NATO, Übergang zu einer eigenen Währung, Herstellung wirtschaftlicher Zusammenarbeit sowie Gründung einer gemeinsamen islamischen Armee. Visiten von IGMG-Delegationen bei maßgeblichen Repräsentanten der SP in der Türkei untermauern die wechselseitigen engen Beziehungen. Eine Delegation von IGMG-Mitgliedern aus Europa besuchte den SP-Generalkontinuierlicher vorsitzenden KUTAN in Ankara anlässlich seiner Wahl in dieses Amt.119 MitAustausch mit SP glieder der IGMG-Region Ruhr A besuchten den früheren IGMG-Generalvorsitzenden und derzeitigen Vorsitzenden der SP Istanbul, Osman YUMAKOGULLARI, an seinem Amtssitz. Bei diesem Besuch lobte YUMAKOGULLARI die Gäste aus Deutschland: "Inmitten eines anderen Glaubens, einer anderen Kultur, eines anderen Lebens habt ihr dank der IGMG Eure Werte bewahrt. Bemüht euch auch künftig, euch zu integrieren, indem ihr gleichzeitig diese Werte bewahrt." 120 Eine Gruppe von Jugendlichen aus IGMG-Moscheevereinen in NordrheinWestfalen wurde bei einem Schulungswochenende in der Zentrale der SP empfangen, wobei auch ein Zusammentreffen mit Prof. Dr. ERBAKAN auf dem Programm stand, dem die Jugendlichen durch Handkuss ihre Verehrung entgegenbrachten.121 Umgekehrt sind Politiker der "Saadet Partisi" regelmäßig Gäste bei Veranstaltungen der IGMG. So veranstaltete die 118 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 22. Juli 2006. 119 "Milli Gazete" vom 3. Mai 2006. 120 "Milli Gazete" vom 25. April 2006. 121 DVD des Medienprojekt Wuppertal e.V: "Jung und Moslem in Deutschland" ("Taner - Ein Jugendlicher bei Milli Görüs"). 75 IGMG Region Stuttgart Ende Mai 2006 in Ludwigsburg einen "Tag des Friedens und der Brüderlichkeit", bei dem der stellvertretende Vorsitzende der SP, Yasin HATIPOGLU, auftrat. Im Rahmen seiner Rede122 habe er zur "Brüderlichkeit unter Muslimen" referiert; derselbe Redner, der auch als Kolumnist für die "Milli Gazete" tätig ist, beschrieb in der Ausgabe dieser Zeitung vom 13. November 2006 den "edlen Marsch" der "Milli Görüs" zur "Weltherrschaft" (cihan hakimiyeti). Bei der Veranstaltung in Ludwigsburg sei die IGMG Fellbach für den ersten Platz bei der Kampagne "Jedes Mitglied [wirbt] ein Mitglied" ausgezeichnet worden. Die in der Saison 2005/2006 erfolgreichen Regionalund Vereinsvorsitzenden sowie Imame und Prediger seien mit Medaillen ebenfalls geehrt worden. Unverändert intensiv betreibt die IGMG eine auf die Bewahrung der religiösen, kulturellen und nationalen Werte und die Stärkung der muslimiFestigung der schen Identität ausgerichtete Jugendarbeit. Ein Nebeneffekt ihrer schulbeIdentität als gleitenden Kurse ist die ohnehin angestrebte Bindung der Kinder und Erziehungsziel Jugendlichen an die Moschee. Neben fortlaufenden Kursen und Ferienkursen spielen Angebote in privatem Rahmen wie "Hausgespräche" (ev sohbetleri) eine Rolle. Diese wurden auch in Baden-Württemberg, so im April 2006 in Esslingen, durchgeführt.123 Zum Jahresende 2006 richtete die IGMG-Zentrale Kerpen im Zusammenhang mit ihrer Jugendarbeit das Projekt "2.000 Hausgespräche" aus.124 "Hausgespräche" hält auch die SP in der Türkei ab; nach einem Bericht einer Stadtteilzeitung der SP Istanbul125 sollen allein im Februar 2006 in einem Stadtteil Istanbuls 1.000 dieser Veranstaltungen durchgeführt worden sein. In einer "Milli Gazete"-Kolumne zum Thema "Jahr der Wiederbelebung der Sunna 2006"126 forderte der Autor im Hinblick auf die Inhalte der "Hausgespräche" deren Ausrichtung an der Prophetenbiographie und den Hadithen.127 Die "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei und die IGMG bedienen sich folglich gleichartiger Strategien, die sowohl dem Zweck der ideologischen Festigung als auch dem der Vergrößerung der Anhängerschaft dienen sollen. 122 "Milli Gazete" vom 2. Juni 2006. 123 "Milli Gazete" vom 22. April 2006. 124 "Milli Gazete" vom 17. Oktober 2006. 125 "Saadet", Zeitung der SP für den Stadtteil Bagcilar, Nr. 11 vom April 2006. 126 Das Jahr 2006 war nach einem Kongress der "Muslimischen Weltjugend" unter Vorsitz des "Anadolu Genclik Dernegi" im August 2005 zum "Jahr der Wiederbelebung der Sunna" erklärt worden. 127 "Milli Gazete" vom 18. März 2006. 76 Islamismus Wichtig ist für die IGMG auch die eigene Bildungsarbeit. In den Kursen findet das von ihr herausgegebene dreibändige Lehrwerk "Temel Bilgiler" Verwendung. Auch in der Neuauflage findet sich die Gegenüberstellung der "einzigen Religion, die ihren Kern bewahrt" habe, mit den "im Kern verdorbenen Religionen des Judenund Christentums"128, ergänzt um den Hinweis, mit dem Auftreten des Islams seien "die Bestimmungen der anderen Religionen hinfällig" geworden. Das Ziel des Muslims, so wird hier gelehrt, müsse es sein, dass alle Menschen sich nach derselben Gebetsrichtung neigten und alle Menschen Allah anbeteten. Dafür müsse man leben, dafür müsse man kämpfen.129 Der Begriff des "Djihad" ist in diesem Lehrbuch sehr weit gefasst: "Das Leben unseres Propheten, anders ausgedrückt, sein Djihad, bedeutet die Herrschaft des Rechts (hak)130, das heißt die Sicherung des Friedens auf Erden und die Erlangung und den Schutz der Menschenrechte im eigentlichen Sinn des Wortes. Denn unser Prophet hat niemals aus einem anderen Grund gekämpft. Und er ist immer gegen Ungerechtigkeit eingetreten." 131 Die Pflicht des Djihad, so wird weiter ausgeführt, sei "diejenige Form der Andacht, die mit dem Körper, dem Vermögen und gegebenenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens auszuführen" sei. Djihad bedeute, sich mit aller Kraft für den "Sieg des Guten über das Schlechte und für das Auslöschen von Zwietracht und Übel auf Erden" einzusetzen. Die Andacht des Djihad Djihad als Form geschehe "nicht um des Individuums, sondern um der ganzen Menschheit des Gottesdienstes willen", und das durch den Djihad erworbene Verdienst übersteige deshalb das Verdienst anderer Andachtsformen um ein Vielfaches.132 Mit der Definition des Begriffs "Djihad" für den Muslim in Europa heutzutage werden zwar weit gefasste mögliche Motivationsanreize benannt, jedoch bleibt offen, mit welchen Mitteln der Djihad zu führen sei: 128 Temel Bilgiler 2, Köln 2002, S. 2f. 129 Temel Bilgiler 1, Köln 1998, S. 34. 130 Zweitbedeutung von "hak" ist "Gott". 131 Temel Bilgiler 2, Köln 2002, S. 75; Übernahme wie im Original. 132 Hier und im Folgenden: Temel Bilgiler 2, Köln 2002, S. 76, Übernahme wie im Original. 77 "Die Muslime in Westeuropa leben heute im allgemeinen in Frieden und Freiheit. In dieser Umgebung ist 'Djihad' nur als Kampf gegen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Vorurteile in der Gesellschaft zu verstehen." Mit der "Schule für Islamische Wissenschaften" in Köln, die im Sommer 2006 die ersten Absolventinnen nach vierjähriger Ausbildung entließ, verfügt die IGMG über eine speziell auf Frauen zugeschnittene Institution, durch die die künftige Ausbildung des eigenen Nachwuchses sichergestellt werden soll. Auf der Website der Schule bezeichnet es die IGMG als ihr Ziel, derartige Schulen in ganz Europa zu verbreiten. Weitere Ziele seien die "Sicherstellung einer nutzbringenden Funktion innerhalb der eigenen Gemeinschaft" sowie der "elementaren Kommunikation innerhalb der Gesellschaft".133 "Milli Gazete" Die Förderung und Verbreitung der "Milli Görüs"-Ideologie und der als Bindeglied Zusammenhalt der Bewegung werden maßgeblich durch die "Milli Gazete" sichergestellt. In der Türkei erläuterten im Lauf des Jahres 2006 Verantwortliche der "Milli Gazete" beziehungsweise der SP auf Veranstaltungen in verschiedenen Regionen Anatoliens die Bedeutung der Zeitung für die "Bewusstwerdung der Nation". Der Pressechef der Zeitung, Necdet KUTSAL, schrieb im "Brief von Milli Gazete"134 in der Ausgabe vom 27. Juni 2006: "Das Wichtigste, was an diesen Versammlungen für uns zu beobachten war, ist die Tatsache, wie die politische Bewegung der Milli Görüs und die Zeitung Milli Gazete miteinander gekoppelt sind (...) Wir haben einen einzigen Kanal, über den die Rettungskonzepte der Milli Görüs-Politik, die wir unserer Nation vorlegen, der Nation überbracht werden können, und das sind Milli Gazete und TV 5." Zum selben Thema konstatierte der Kolumnist Dr. Abdullah ÖZKAN135 in der Ausgabe vom 29. Mai 2006: 133 Internetauswertung vom 25. September 2006. 134 Rubrik der "Milli Gazete", in der sich Verantwortliche der Zeitung in eigener Sache an die Leserschaft wenden. 135 Der Kolumnist ist gleichzeitig Leiter der Nachrichtenredaktion von "TV 5". 78 Islamismus "Überall dort, wo Milli Gazete gelesen und TV 5 gesehen wird, kann man im Volk eine unglaubliche Bewusstwerdung, ein Erwachen aus dem Schlaf, ein Abschütteln einer Narkosewirkung beobachten (...) Unsere Nation kämpft auf dem Feld der Medien einen neuen Befreiungskampf (kurtulus mücadelesi)136 (...) Jeder, der Milli Gazete mit dem Volk zusammenführt und sich dafür einsetzt, dass TV 5 überall in unserem Land gesehen wird, ist ein Held in diesem Befreiungskampf." Ungeachtet ihrer formalen Unabhängigkeit wird aus der detaillierten Berichterstattung der "Milli Gazete" über Veranstaltungen in den IGMG-Moscheen und andere Interna die Rolle der Zeitung als Sprachrohr und Forum der IGMG deutlich. Nicht selten nehmen an diesen Veranstaltungen Kolumnisten der Zeitung als Gäste, aber auch als Vortragende teil. So war die Kolumnistin Mine ALPAY GÜN Mitte Oktober 2006 Gastrednerin bei der französischen "Milli Görüs"-Organisation CIMG137 in der Region Straßburg138. Der Kolumnist Sakir TARIM referierte Ende Oktober 2006 bei den "Herzensgesprächen" (gönül sohbetleri) des IGMG-Jugendverbands Hessen139 und Anfang November bei einem internen Fortbildungsseminar der IGMG Rüsselsheim.140 Die IGMG veröffentlicht darüber hinaus in der Zeitung ihre Freitagspredigten sowie Genesungs-, Glückwunschund Kondolenzanzeigen von und für Mitglieder der Organisation. Außerdem ermöglicht die IGMG der Zeitung die Mitwirkung an ihren Veranstaltungen mit Informationsständen zur Verkaufsförderung und Abonnentenwerbung. In den der IGMG-Region Stuttgart zugehörigen Moscheevereinen Mühlacker, Stuttgart-Wangen und Waiblingen richtete Kampagnen für die Stuttgarter Vertretung der Zeitung im Rahmen einer PR-Kampagne im "Milli Gazete" Mai 2006 Stände ein. Der Stand der "Milli Gazete" in der Stuttgart-Wangener Moschee wurde vom Landesvorsitzenden der IGMG, Adem KAYA, 136 Mit der terminologischen Gleichsetzung dieses "Kampfes" mit dem von Atatürk angeführten Befreiungskrieg gegen die Besatzer des anatolischen Territoriums hebt der Kolumnist diese Angelegenheit auf höchste Ebene. 137 "Communaute Islamique du Milli Gorus". 138 "Milli Gazete" vom 12. Oktober 2006 und vom 6. November 2006. 139 "Milli Gazete" vom 30. Oktober 2006. 140 "Milli Gazete" vom 6. November 2006. 79 besucht. An den drei Orten der PR-Kampagne wurden mehr als tausend Exemplare der Zeitung an Landsleute verschenkt. Anlässlich einer Massenbeschneidung in einem Festsaal in Waiblingen wurden auf jedem Tisch Exemplare der "Milli Gazete" ausgelegt.141 In Esslingen wurde an die Gemeindemitglieder im Anschluss an das Ramadan-Festgebet jeweils eine Ausgabe der Zeitung verteilt.142 Bei einer von der IGMG-Region Freiburg organisierten Koran-Festveranstaltung in Donaueschingen war ebenfalls ein "Milli Gazete"-Stand aufgebaut.143 In "Milli Gazete" vom 7. Februar 2006 wurde berichtet, im Anschluss an eine Versammlung der Vereinsvorsitzenden der IGMG-Region Freiburg hätten sich zwei Teilnehmer der "Milli Gazete-Familie" als Abonnenten angeschlossen. Der "Milli Gazete"-Funktionär Ekrem KIZILTAS, der auch bei "TV 5" als Moderator fungiert, berichtete in der Ausgabe vom 24. Juni 2006 über die "TV 5-Europa-Tage". Er sei deswegen bei Veranstaltungen in Dortmund, Köln und Duisburg zugegegen gewesen und habe die Gelegenheit genutzt, mit "TV 5"Zuschauern und "Milli Gazete"-Lesern zusammenzukommen. Vor Beginn des Ramadan 2006 wurden die IGMG-Moscheevereine per Anzeige in der "Milli Gazete"144 aufgefordert, größere Paketbestellungen der Zeitung rechtzeitig aufzugeben. Der Repräsentant der "Milli Gazete" für die Region Freiburg, Ali ATIK, antwortete in der Ausgabe der "Milli Gazete" vom 22. März 2006 auf die Zuschrift einer Leserin aus Konya, die darin ihre Zufriedenheit über die Großdemonstration der SP in Istanbul als Reaktion auf die "Karikaturenkrise" mit den Worten "Solch eine Großveranstaltung können nur der Glaubenskämpfer Hodja Erbakan und seine glaubenskämpferischen Schüler zustande bringen (...) Wie glücklich, dass wir Milli Görüs-Anhänger und die Umma des Muhammed Mustafa sind!", zum Ausdruck gebracht hatte, folgendermaßen: "(...) Ich lade alle Menschen, die Milli Görüs angehören, ein, sich unserer Zeitung, die unsere Stimme und unser Ohr ist, anzunehmen. Wenn sie nur einmal anfangen, sich einmal daran gewöhnen, legen sie sie nicht wieder beiseite (...) Wie glücklich, wer 141 "Milli Gazete" vom 9. Mai 2006. 142 "Milli Gazete" vom 28. Oktober 2006. 143 "Milli Gazete" vom 6. Mai 2006. 144 So auch in einer entsprechenden Anzeige am 12. Oktober 2006. 80 Islamismus Milli Görüs angehört und wer für Milli Gazete eintritt und sie liest (...)" Bestimmte Meinungsäußerungen, insbesondere antisemitische Positionen, antisemitische über deren abträgliche Wirkung in Deutschland sich die IGMG im Klaren Tendenzen ist, versuchte man in der Europa-Ausgabe der "Milli Gazete" zu vermeiden. Dennoch waren entsprechende Inhalte aufzufinden145, deutlicher noch in der Türkei-Ausgabe der Zeitung, in der sich in einem Fall der Autor in einer den Holocaust relativierenden Kolumne146 auf den Revisionisten Roger GARAUDY147 und den Holocaustleugner Fred LEUCHTER148 berief. Am "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" am 4. Juni 2006 in Hasselt/Belgien führte der IGMG-Buchclub an seinem Stand das aus dem Iran stammende antisemitische Propagandavideo "Zehras blaue Augen" ("Filistinli Zehra'nin Gözleri") im Angebot, das zuvor auch über "TV 5" ausgestrahlt wurde und in dem dargestellt wird, wie Juden aus rassistischen Motiven palästinensische Kinder als menschliche "Ersatzteillager" missbrauchen. In einem Artikel der "Milli Gazete" über eine Veranstaltung der Zeitung in Ankara149 wurde der Generaldirektor der Zeitung mit der Aussage zitiert, es werde in der Türkei "kein Kopftuchproblem mehr geben", sobald eine Auflage von 150.000 bis 200.000 Stück erreicht sei. Die Zeitung, die das KopfEinsatz pro tuch und die Verhüllung von Frauen propagiert, stellte hier in Aussicht, das Kopftuch Kopftuchverbot in der Türkei werde nicht mehr zu halten sein, sobald eine entsprechend große Zahl von Anhängern ihren Forderungen stärker Nachdruck verleihen könne. In Deutschland tritt die IGMG gleichfalls als Verfechterin des Kopftuchs hervor. Besonders nach dem öffentlichen Appell einer türkischstämmigen Abgeordneten des Deutschen Bundestags und weiterer türkischstämmiger Kolleginnen an muslimische Frauen in Deutschland, das Kopftuch als Zeichen ihrer Integration abzulegen, reagierte die IGMG in der Person ihres Generalvorsitzenden Yavuz Celik KARAHAN mit den Worten, man könne nicht Menschen integrieren, 145 Exemplarisch kann hier die Kolumne "Israel und die 'gläubigen Muslime'" in der Ausgabe vom 5. August 2006 angeführt werden. 146 Online-Ausgabe der "Milli Gazete" vom 13. September 2006. 147 Konvertit; wegen Leugnung des Holocaust sowie Aufstachelung zum Rassenhass in seinem 1996 erschienenen Buch "Die Gründungsmythen der israelischen Politik" 1998 von einem französischen Gericht verurteilt. 148 Im "Leuchter-Report" hatte LEUCHTER behauptet, dass in den Gaskammern der Vernichtungslager des nationalsozialistischen Regimes kein Massenmord an Menschen stattgefunden haben könne. 149 "Milli Gazete" vom 11. Oktober 2006. 81 indem man sie "dazu aufrufe, ihre Identität aufzugeben". Politisch verantwortliches Handeln gebiete vielmehr, "diese Menschen mit ihren Unterschieden in die Gesellschaft zu integrieren." 150 Der Vorsitzende des "Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland", Ali KIZILKAYA, kritisierte den Vorschlag als "Versuch der Bevormundung der muslimischen Frauen." Der Islam könne nicht über Assimilation integriert werden. Vielmehr bedeute Integration, "dass man auch die Identität bewahren darf und soll." Die Vorsitzende der IGMG-Frauenverbände, Zehra DIZMAN, wertete die Aufforderung zum Abnehmen des Kopftuchs als "in höchstem Maß diskriminierend und gewissenlos" 151. Die Äußerungen seien "äußerst betrüblich und verletzend" und es müsse "hinterfragt werden, ob diese Personen überhaupt als Volksvertreterinnen anzusehen" seien. Als muslimische Frauen verurteile man diese ehrverletzende Haltung aufs Schärfste und appelliere an das "Einsehen und das Gewissen der Urheber dieser unglücklichen Erklärungen". Die IGMG-Zentrale vergibt an angehende Studentinnen, die in der Türkei aufgrund des dortigen Kopftuchverbots in öffentlichen Einrichtungen nicht an den Hochschulen zugelassen werden, Stipendien für ein Studium in Europa, vornehmlich in Österreich und Deutschland. Die IGMG setzt diese Studentinnen auch als Lehrkräfte in ihren Kursen ein.152 Die IGMG propagiert ein allumfassendes, sämtliche Lebensbereiche einBindung an schließendes Verständnis des Islam. Die Bindung an Koran und Sunna und Koran und Sunna deren strikte Observanz sind für die IGMG essenzieller Bestandteil ihres Selbstverständnisses. Oguz ÜCÜNCÜ stellte in seiner Rede beim "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" in Hasselt am 4. Juni 2006 klar: "Wenn die Probleme, die wir als Gemeinschaft, als Milli Görüs, haben, aus unserem Verständnis von Integration herrühren, welches Assimilation kategorisch ablehnt, oder aus unserer Lebensart, d.h. unserer Bindung an Koran und Sunna, dann soll man wissen, dass wir damit einverstanden sind, diese Unannehmlichkeiten auf uns zu nehmen, denn wir sind Muslime. (...) Natürlich werden wir weiterhin den Mitgliedern unserer Organisation den Rücken stärken und unsere juristischen und politischen Aktivitäten fortsetzen." 153 150 Hier und im Folgenden: IGMG-Homepage vom 6. November 2006. 151 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 3. November 2006. 152 "Milli Gazete" vom 21. November 2006. 153 DVD "IGMG - Tag der Brüderlichkeit und Solidarität - 4. Juni 2006, Hasselt/Belgien". 82 Islamismus ÜCÜNCÜ argumentierte weiter, es könne "nichts Natürlicheres" geben, als dass eine religiöse Gemeinschaft nach ihren ureigenen Quellen handle. Wenn dies eine Straftat darstelle, so werde man "diese Straftat künftig hoffentlich auch weiterhin begehen". Bei einer Gedenkveranstaltung für den Propheten in Mannheim (IGMG-Region Rhein-Saar) sagte der Regionalvorsitzende, dass "Gesellschaften, die sich an den Koran hielten, stets überlebt" hätten154, während der Vorsitzende des IGMG-Landesverbands, Adem KAYA, in einer Ansprache in der Moschee in Esslingen den Islam als "das einzige System, das nie endet", bezeichnete.155 Zur Funktion der "Milli Görüs-Institutionen in Europa" 156 führte Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN beim "Tag der Brüderlichkeit und Solidarität" am 4. Juni 2006 in Hasselt/Belgien aus, diese Institutionen seien seinerzeit zu dem Zweck gegründet worden, dass "unsere Menschen dort ihre eigene Kultur leben und weiterentwickeln können".157 Auf derselben Veranstaltung bezeichnete ÜCÜNCÜ unter Hinweis auf den Karikaturenstreit zu Beginn des Jahres 2006 und die Pflicht zur "richtigen Darstellung" des Islams den "Sinn der Gründung unserer Organisation, den Grund unserer Existenz" damit, "der Menschheit unsere Religion und ihren Gesandten mit Weisheit und guten Worten zu erklären" und wies damit auf den bedeutenden Aspekt der Da'wa158 hin. In einem auf der Homepage der IGMG eingestellten Kommentar159 beschrieb ÜCÜNCÜ die IGMG als eine "unabhängige islamische Religionsgemeinschaft, die sich mit einer weit gefächerten Infrastruktur, im Übrigen sehr erfolgreich, der umfassenden ReligionsverwirkliZiel: umfassende chung ihrer Mitglieder" widme. Der Begriff der angestrebten "umfassenden ReligionsverReligionsverwirklichung" verdeutlicht die Zielsetzung der IGMG, für ihre wirklichung Anhänger Freiräume für ein Leben zu schaffen, das nur in dieser Ausprägung als "islamkonform" anzusehen sei, indem sie alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpft, die ihr eine freiheitliche demokratische Gesellschaft bietet, der sie allerdings im Übrigen skeptisch gegenübersteht. Zwar weist sie im Zusammenhang mit ihrer Integrationsbereitschaft stets darauf hin, sie fordere ihre Mitglieder zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft auf, was sie im Übrigen bereits als Integrationsleistung wertet. Vor dem Hintergrund des Ziels der Verwirklichung einer Lebensführung, welche vollstän154 "Milli Gazete" vom 15. April 2006. 155 "Milli Gazete" vom 13. April 2006. 156 ERBAKAN verwendete hier die frühere Eigenbezeichnung der "Milli Görüs"-Vereinigungen in Europa, "Avrupa Milli Görüs Teskilatlari", als Synonym für die IGMG. 157 Hier und im Folgenden: DVD "IGMG - Tag der Brüderlichkeit und Solidarität - 4. Juni 2006, Hasselt/Belgien". 158 Unter diesem Begriff können sämtliche Tätigkeiten subsumiert werden, die für die Sache des Islam und insbesondere seine Verbreitung "von Nutzen" sind. 159 IGMG-Website vom 10. Oktober 2006. 83 dig an einem buchstäblich ausgelegten Islam auszurichten sei, erscheint diese Maßnahme jedoch fragwürdig im Hinblick darauf, ob damit die Erwartungen des Staates an neugewonnene Staatsbürger und deren Verfassungstreue nicht konterkariert werden. Prof. Dr. Arif ERSOY160, Mitglied des SP-Vorstands und maßgeblich an der Entwicklung des Modells "Adil Düzen" beteiligt, stellte in einem am 13. Oktober 2006 in der "Milli Gazete" veröffentlichten Artikel fest, ein Teil Selbstausgrenzung der seit den 1960er-Jahren aus der Türkei ins Ausland abgewanderten Menals positive schen habe sich "um ihre gemeinsame Weltanschauung und ihre WertIntegration maßstäbe versammelt und sich in Institutionen zusammengeschlossen, die dabei halfen, die Identität und Kultur unserer Menschen zu bewahren und gleichzeitig dazu beitrugen, dass diese sich den Aufenthaltsländern unter Wahrung ihrer Identität anpassen konnten". Nach Auffassung ERSOYs handle es sich dabei um "positive Integration" (müspet entegrasyon). Tatsächlich ist hier jedoch eine Resistenz gegenüber einem Mindestmaß an Veränderung zu beobachten, welche von anderen Autoren ebenfalls als positiv hervorgehoben wird, so von Mine ALPAY GÜN, die im Vorfeld ihres Auftritts als Predigerin beim Frauenverband der IGMG-Region Straßburg im Oktober 2006 feststellte: "(...) Es ist, als ob wir hier nicht in Frankreich wären. Als ob wir keinesfalls in Paris, Lyon, Ansy [Annecy] oder Straßburg wären, sondern ganz und gar in Anatolien (...) Die Sehnsucht nach der Türkei verbrennt [diese Menschen] geradezu (...) Sie haben mich eingeladen, um eine Stimme aus der Türkei zu hören. Wie sehr möchte ich jedoch ihnen zuhören! Wie sehr ist diese Nichtveränderung, diese Bewahrung der eigenen Kultur hochzuschätzen! Was kann ich ihnen schon erzählen?! Sie sind es, die Europa anatolisiert haben." 161 Für die Identitätswahrung und gleichzeitig die Implementierung islamischer Positionen auch auf der politischen und juristischen Ebene sorgen Institutionen wie der "European Council for Fatwa and Research" (ECFR), zu dem die IGMG in engem Kontakt steht. Der Vizepräsident des Rats, Faisal 160 ERSOY betätigt sich auch als Kolumnist der "Milli Gazete"; seine Artikel erscheinen unter dem Motto "Yeni Bir Dünya" ("Eine Neue Welt"). 161 "Milli Gazete" vom 12. Oktober 2006. 84 Islamismus MAWLAWI, habe sich dafür ausgesprochen, dass die Muslime in Europa "ins politische Leben eintreten und dabei in allen ihren nutzbringenden und wohlmeinenden Anstrengungen unterstützt werden" 162 sollten. In diesem Zusammenhang habe MAWLAWI von der Notwendigkeit des Aufbaus Observanz islamieines "konstruktiven Rechtssystems" (kurucu bir fikih) gesprochen. Die scher RechtsRelevanz islamischer Rechtsvorschriften für Muslime in Europa ergibt sich vorschriften auch aus manchem Literaturangebot wie dem mehrfach in der "Milli Gazete" beworbenen rechtswissenschaftlichen Kompendium "Gurbetci Ailenin Fikhi Problemleri" ("Die [islam]-rechtlichen Probleme von Familien in der Fremde")163, welches Muslimen in der Diaspora als Leitfaden für eine umfassende islamische Lebensführung empfohlen wird. Seit 2005 wurden im Internet verschiedene, durch Inhalt und Symbolik der "Milli Görüs" nahe stehende türkischsprachige Portale und Foren festgestellt, in denen sich die Anhänger der verschiedenen Komponenten der Bewegung einschließlich der IGMG in Europa austauschen. Die meist jungen Anhänger bekennen sich durch Offenlegen ihrer Funktion innerhalb der Organisation oder ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Regionaloder Ortsverband zum Teil explizit zu ihrer IGMG-Zugehörigkeit. Im Gegensatz zu den über das Forum der IGMG-eigenen Homepage transportierten Inhalten werden hier auch extremistische Äußerungen laut. Deutlich wird, dass hier die ideologischen Grundpositionen ERBAKANs von der Basis rezipiert, verbreitet, vor allem aber uneingeschränkt geteilt werden. Dort platzierte Logos mit entsprechend martialischen Attributen verheißen keine Friedfertigkeit; häufig ist zwischen Textbeiträgen als Motto "Cihad" (Djihad), flankiert von einem Maschinengewehr auf der einen und der schwarzen Fahne des Kalifats auf der anderen, unterlegt mit dem martialischer Inhalt Hadith "Das Paradies liegt im Schatten der Waffen", eingestellt. Schriften in Internetforen des Gründers der "Muslimbrüder", Hassan al-BANNA, werden empfohlen, um die "spirituelle 'Milli Görüs'-Atmosphäre im Ägypten jener Jahre nachzuvollziehen" oder um Grundlagen wie "islamische Organisierung" und "Djihad" zu vermitteln.164 Durch diese sowie weitere Schriften von Necmettin ERBAKAN und Sayyid QUTB werde "sichtbar, dass die Mission, das Ziel und die Sicht auf die Probleme der Welt bei all diesen Autoren dieselben" seien. Im "technologischen Kampf gegen den Unglauben" 165 wird der "Geist des Djihad" 166 im virtuellen Raum beschworen. Neben dem Austausch dienen die Foren auch dem Zweck der Da'wa. Die Konversion von Nichtmuslimen wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen: 162 Hier und im Folgenden: "Milli Gazete" vom 15. April 2006. 163 Anzeige in "Milli Gazete" vom 13. Juni 2006. 164 Hier und im Folgenden: Internetauswertung vom 31. Januar 2006. 165 Internetauswertung vom 1. Februar 2006. 166 Internetauswertung vom 31. Januar 2006. 85 "Unter dem Vorwand, Arbeit zu suchen, sind wir hierher gekommen, um zu erobern. Für Europa und insbesondere für Deutschland sind WIR verantwortlich (...) Möge Allah uns mit islamischem Bewusstsein ausstatten und (...) möge er uns zum Mittel dazu machen, dass Europa muslimisch wird. Amen." 167 Ebenso wurden Beiträge festgestellt, die sich mit dem derzeitigen Stand der Da'wa in Deutschland und deren Methodik befassen.168 Ein in Deutschland ansässiger Autor bemerkte hierzu: "Denn damit Milli Görüs in Deutschland zur Herrschaft gelangen kann, muss zunächst die Bevölkerung muslimisch werden, sonst ist dies unmöglich. In einem Land, dessen Bevölkerung nicht muslimisch ist, kann man keinen islamischen Staat erwarten (...) An erster Stelle der Dienstleistungen muss folgendes stehen: die Bevölkerung warnen, aufwecken (...), also: Verkündigung betreiben. Parallel dazu muss auch politische Arbeit betrieben werden (...) Milli Görüs ist nicht nur eine politische Organisation. Die Saadet Partisi ist der politische Arm der Milli Görüs. Das heißt, sie ist die politische Bewegung, die für die Vorherrschaft der Milli Görüs tätig ist." Mit der Aufforderung "Hierher, Ihr IGMG-Anhänger!" konstatierte ein aus der IGMG Holland stammender Teilnehmer unter Angabe seines Absenderorts "Küfristan" ("Land des Unglaubens") und seines Berufs "Muslim": "Liebe Forum-'Mitbewohner', unser seit Monaten andauernder Djihad läuft nach einer Stockung wieder dem Gipfel zu. Bei dessen Verwirklichung kommt neben den Milli Görüs-Anhängern der Türkei den Milli Görüs-Organisationen in Europa (Avrupa Milli Görüs Teskilatlari), das heißt der IGMG, die bedeutendste Rolle zu!" 169 167 Internetauswertung vom 16. März 2006. 168 Internetauswertung vom 1. August 2006 (Rubrik "Islam - Djihad - So sieht der Dienst für Milli Görüs aus"). 169 Internetauswertung vom 17. Oktober 2006. 86 Islamismus Die Nähe der Forumsteilnehmer zur IGMG untermauern außerdem Fakten wie die Einstellung von Kommentaren über Veranstaltungen der IGMG170 oder die zeitweilige Einstellung der Verbandszeitschrift "IGMG Perspektive". Auch wurden die Anhänger zur Teilnahme an Unterweisungen in "Religion und Adil Düzen" im einschlägigen Forum Paltalk im eigenen "IGMG-Raum" aufgefordert.171 Zur Homepage der IGMG als einer von zahlreichen "Milli Görüs"-Internetpräsenzen besteht überdies ein Link.172 Ungeachtet des permanent vorgebrachten Anspruchs der Gültigkeit islamischer Positionen für sämtliche Lebensbereiche sieht sich die IGMG als "Motor" der Integration von Muslimen in Deutschland. Funktionäre bekräftigen tendenziell pauschale, im Allgemeinen unbestrittene Grundaussagen zur Integration, reden jedoch spezifische Integrationshindernisse als "Kommangelnde Klarheit munikationsproblem"173 schön oder blenden diese gänzlich aus. Funktionädes Integrationsre beklagen die mangelnde Anerkennung der seitens ihrer Gemeinschaft begriffs erbrachten Integrationsleistungen aufgrund angeblich latent islamophober Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft und weisen konkrete Integrationsanforderungen als Versuch der "Assimilation" zurück. Es herrscht die Auffassung vor, durch Integration werde den Muslimen die Aufgabe ihres eigenen Lebensstils abverlangt: "Die Migranten, insbesondere die muslimische Mehrheit unter den Migranten, glauben, dass ihnen durch Integration ein anderer Lebensstil aufgedrängt werden soll (...) Betrachtet man den juristischen Unterbau, so ist erkennbar, dass das Ziel der Integration darin besteht, zu verhindern, dass Muslime ihre muslimische Identität leben und einen dieser Identität gemäßen Lebensstil pflegen können. Demgegenüber garantieren aber die Verfassungen der europäischen [Staaten] mit ihrem Unterbau der 170 So der Beitrag vom 21. März 2006, in dem man sich über eine Veranstaltung der europäischen IGMGFrauenverbände vom 4. und 5. März 2006 in Wesel austauscht. 171 Internetauswertung vom 1. Februar 2006. 172 Internetauswertung vom 1. Dezember 2006. 173 Vgl. hierzu "IGMG Perspektive" vom Februar 2006, Artikel "Die IGMG und ihre Haltung zum Problem der Integration". 87 freiheitlichen demokratischen Grundordnung Angehörigen anderer Kulturen und Religionen die Pflege eines anderen Lebensstils gemäß eben diesen Kulturen und Religionen. Ungeachtet dieser Fakten wird dieses eminent wichtige Problem, verstärkt durch eine vergiftete tagespolitische Atmosphäre, einfach übergangen." 174 Die IGMG erhebt dezidiert den Anspruch auf gegenseitigen "Respekt" der jeweils anderen Identität, ohne dass sie das Erfordernis einer Offenheit gegenüber den gegebenen gesellschaftlichen und verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen auch nur im Ansatz zugestehen würde. Häufig wird auch eine gegenseitige Bereicherung postuliert, tatsächlich aber eine Parallelexistenz ohne wirklichen Austausch propagiert. In den Niederlanden trat im November 2006 erstmals eine Partei "Islamische Demokraten" mit einem Kandidaten der niederländischen "Milli Görüs"-Föderation zur Vertretung der eigenen politischen Ansprüche bei den Parlamentswahlen an, nachdem diese Partei bereits zuvor auf kommunaler Ebene Kandidaten in der Haager Stadtverwaltung platzieren konnte.175 3.7 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) Gründung: 1984 (ICCB), 1994 Umbenennung in "Kalifatsstaat" Sitz: Köln Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2005: ca. 300) ca. 750 Bund (2005: ca. 750) Verbot: Nach dem durch Änderung des Vereinsgesetzes erfolgten Wegfall des Religionsprivilegs wurden am 8. Dezember 2001 durch den Bundesminister des Inneren 19 Ortsvereine als Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" verboten; am 19. September 2002 wurde das Verbot auf 16 weitere Teilorganisationen ausgedehnt; das Verbot wurde durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 bestätigt. Bereits in den Jahren vor 1980, in denen er in der Türkei im Dienst des Amts für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi) tätig war, hatte sich Cemaleddin KAPLAN, der Gründer des "Kalifatsstaats", politisch engagiert und den Zugang zum politischen Islam zunächst über Prof. Dr. 174 "IGMG Perspektive" vom Februar 2006, Beitrag "Was meinen Muslime, wenn sie von Integration reden?" (hier: in deutscher Übersetzung). 175 "Milli Gazete" vom 15. November 2006. 88 Islamismus Necmettin ERBAKAN und dessen "Milli Görüs" gefunden. 1981, nachdem KAPLAN in der Türkei aufgrund seiner politischen Umtriebe der freiwillige Ruhestand nahegelegt worden war, entsandte ihn ERBAKAN nach Deutschland, wo KAPLAN zunächst in der "Milli Görüs" als Vorsitzender der Fatwa-Kommission tätig wurde. 1983 kam es aufgrund des Streits darüber, auf welchem Weg die Errichtung eines islamischen Staates in der Türkei zu erreichen sei, zum Bruch zwischen KAPLAN und der "Milli Görüs". ERBAKAN propagierte die Islamisierung der Gesellschaft auf dem Weg der Nutzung der demokratischen Institutionen, KAPLAN hingegen setzte auf die radikale Lösung der islamischen Revolution. Während ERBAKAN 1983 die "Refah Partisi" gründete, hielt KAPLAN im selben Jahr in Köln eine Grundsatzpredigt, in der er seinen weiteren Weg zur Erlangung der Macht beschrieb. Er vertrat die Auffassung, dass "die Partei im Islam nicht erlaubt", sondern der "Methode der Verkündigung" 176 (teblig) der Vorzug zu geben sei. Im selben Jahr gründete KAPLAN den "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden" ("Islami Cemiyet ve Cemaatler Birligi", ICCB), den er 1992 in "Föderativer Islamischer Staat Anatolien" ("Anadolu Federe Islam Devleti", AFID) und 1994 in "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti") umbenannte. KAPLAN erklärte sich selbst zum "Kalifen". Die Stadt Köln sollte bis zur angestrebten "Befreiung Istanbuls" als Hauptstadt des "exterritorialen 'Kalifatsstaats'" fungieren. Die örtlichen Mitgliedsvereine des Verbandes unterstanden so genannten Gebietsemiren, die ihrerseits an die Weisungen des "Kalifen" gebunden waren. Die Mitglieder der Organisation waren zu einem "Treueschwur" und zu unbedingtem Gehorsam dem "Kalifen" gegenüber verpflichtet. Nach dem Tode KAPLANs im Mai 1995 wurde seinem Sohn Metin Müftüoglu KAPLAN die Nachfolge im Amt des "Kalifen" übertragen. Im darauf folgenden Jahr unternahm der "Gebietsjugendemir" von Berlin, Dr. Halil Ibrahim SOFU177, der ebenfalls eine Gruppe von Getreuen um sich geschart hatte, den Versuch, Kaplan die Position des "Kalifen" streitig zu machen.178 Dieser reagierte mit einer Fatwa179, welche besagte, dass eine Person, die ungeachtet des Vorhandenseins eines Kalifen gleichfalls dieses Amt bean176 KAPLAN orientierte sich hier am Vorbild Ayatollah KHOMEINIs, der während der Jahre seines Exils in Frankreich die permanente "Verkündigung" seiner Reden und Predigten als das geeignete Mittel ansah, damit das Volk als "Empfänger" dieser "Verkündigung" schließlich zu den Waffen greife und die Revolution vollziehe. 177 Von seinen Anhängern wurde SOFU "Yusuf Hodja" genannt. 178 Mit seinem 1996 erschienenen Buch "Deccal'in Sistemi - Demokrasi" ("Demokratie - das System des Betrugs"; mit "Deccal" wird in der islamischen Mythologie der vor dem Weltende erscheinende "Antichrist" bezeichnet), in dem der Islam als ein der Demokratie überlegenes System dargestellt wird, hatte sich SOFU unter seinen Anhängern einen Namen gemacht. 179 Islamisches Rechtsgutachten. 89 spruche, zur Reuebekundung aufgefordert und im Falle des Nichtbereuens getötet werde. In der Tat wurde der "Gegenkalif" 1997 von bisher unbekannten Tätern in seiner Berliner Wohnung erschossen. Aufgrund des öffentlichen Aufrufs zu Straftaten hat das Oberlandesgericht Düsseldorf Metin KAPLAN am 15. November 2000 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Anerkennung als Asylberechtigter wurde 2002 aufgrund dieser gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe widerrufen. Ende 2004 wurde KAPLAN in einem Kölner Internetcafe festgenommen und nach Istanbul ausgeflogen, wo ihm wegen Hochverrats der Prozess gemacht wurde. Man warf ihm vor, zum Zweck der Errichtung eines Gottesstaats zum gewaltsamen Sturz der türkischen Regierung aufgerufen zu haben. Ein weiterer Vorwurf bezog sich auf einen 1998 auf das AtatürkMausoleum in Ankara befohlenen Terroranschlag, bei dem die dort zum Nationalfeiertag versammelte Staatsspitze mit einem mit Sprengstoff beladenen Kleinflugzeug angegriffen werden sollte. Am 20. Juni 2005 wurde KAPLAN zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch wurde dieses Urteil am 30. November 2005 durch Entscheidung eines Berufungsgerichts in Ankara aufgrund von Verfahrensfehlern aufgehoben. Ein Termin für die Neuverhandlung steht noch aus. Aktivitäten selbst Auch nach dem Verbot des "Kalifatsstaats" waren weiterhin Aktivitäten aus nach Verbot den Reihen der Anhänger festgestellt worden, die zu verschiedenen Ermittlungsverfahren geführt hatten. Die verbandseigene Zeitung "Ümmet-i Muhammed" erschien zunächst auch nach dem Verbot, ebenso war der organisationseigene TV-Sender "Hakk TV" weiterhin zu empfangen. Nach "Ümmet-i Muhammed" ("Die Gemeinde Muhammeds") erschienen weitere Publikationen des Kalifatsstaats wie die Zeitung "Beklenen Asr-i Saadet" ("Das erwartete Zeitalter der Glückseligkeit") und das deutschsprachige Magazin "Der Islam als Alternative" (D.I.A.). Nach bundesweiten polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen bei Beziehern dieser Publikationen im Dezember 2003 wurde deren Erscheinen eingestellt. In der Folge erschien 2004 einige Monate lang die Zeitschrift "Barika-i Hakikat" ("Das Aufleuchten der Wahrheit"). Die offizielle Internetseite des "Kalifatsstaats", die über einen Server in den Niederlanden betrieben wird, ist weiterhin abrufbar.180 Neben Schriften und Büchern Cemalettin und Metin KAPLANs, Videound Audiodokumenten sind hier Ausgaben der deutschsprachigen Publika180 Internetauswertung vom 1. Dezember 2006. 90 Islamismus tion "Der Islam als Alternative" in Volltext eingestellt.181 Eine Internetseite des Fernsehkanals "Hakk TV" unter dem Motto "Der Islam ist sowohl Religion als auch Staat, sowohl Gottesverehrung als auch Politik" ist ebenfalls geschaltet182; das Gedankengut des "Kalifatsstaats" wird folglich weiterhin verbreitet. Das Verbotsverfahren und die staatlichen Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur zwar geschwächt, gleichwohl sind die Anhänger weiterhin in Deutschland präsent. Wie sich diese längerfristig orientieren werden und ob es zu einer Neustrukturierung kommen wird, bleibt abzuwarten. 4. Weitere Informationen Im Jahr 2006 erschien eine neue Broschüre "Islamistischer Extremismus und Terrorismus" des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Aktuelle Informationen erhalten Sie auch auf unserer Homepage: http://www.verfassungsschutz-bw.de/kgi/kgi_start.htm. 181 Internetauswertung vom 27. November 2006. 182 Internetauswertung vom 1. Dezember 2006. 91 C. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Organisationen von Ausländern werden als extremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Vor allem islamistische Gruppierungen sind verstärkt in das Blickfeld geraten, einerseits durch die aus dem politischen Islamismus hervorgehenden terroristischen Bewegungen, andererseits durch das Bemühen von Organisationen, rechtliche Sonderpositionen einzunehmen, bei denen die freiheitliche demokratische Grundordnung zumindest in Teilen außer Kraft gesetzt würde. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass islamistische Bestrebungen und damit verbundene gewaltorientierte Tendenzen als Phänomen nicht mehr ausschließlich Ausländer betreffen, sondern auch als ein von Inländern befördertes Problem anzusehen sind. Der gesetzlich vorgesehenen Beobachtung unterliegen außerdem Bestrebungen, die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im jeweiligen Heimatland angestrebt wird. 92 Ausländerextremismus In Baden-Württemberg waren 8.405 (2005: 8.430) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder terroristischer Zielsetzung aktiv. Nennenswerte Änderungen zwischen den einzelnen politischen Lagern ergaben sich im Lauf des Jahres 2006 nicht. Die Gesamtzahl der politisch motivierten Straftaten im Phänomenbereich Ausländer stieg in Baden-Württemberg leicht um 1,7 Prozent beziehungsweise um eine Straftat von 58 auf 59 Fälle. Hiervon entfielen 45 (2005: 43) auf Straftaten mit extremistischem Hintergrund. Die Anzahl der Gewaltdelikte stieg ebenfalls leicht von 6 auf 7 Fälle.183 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer sowie ausländerextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2006 Die Entwicklungen im Bereich des Ausländerextremismus sind vor allem von den Ereignissen in den jeweiligen Heimatländern geprägt und können sich anlassbezogen kurzfristig ändern. Obwohl die Zahlen im Vergleich zum Rechtsund Linksextremismus wesentlich niedriger sind, darf insbesondere die vom Islamismus ausgehende Bedrohung nicht unterschätzt werden. Speziell die versuchten Anschläge mit so genannten Kofferbomben im Juli 2006 in zwei Regionalzügen bei Dortmund und Koblenz zeigen deutlich, dass Deutschland nicht mehr nur Rückzugsund Ruheraum für kriminelle Islamisten ist. Auch die weitere Entwicklung des "Volkskongresses Kurdistans" (KONGRA-GEL) beziehungsweise das Verhalten seiner Jugendorganisation, von der mutmaßlich zunehmend unfriedliche Aktionen ausgehen, ist sorgfältig zu beobachten. 183 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führt keine eigene Strafund Gewalttatenstatistik. Alle in diesem Jahresbericht aufgeführten statistischen Angaben zu politisch motivierten Straftaten beruhen auf Zahlenangaben des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. 93 2. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), jetzt: "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) KONGRA-GELLogo Gründung: 1978 (in der Türkei) Betätigungsverbot in Deutschland vom 22. November 1993 (bestandskräftig seit 26. März 1994), benannte sich im April 2002 in KADEK und im November 2003 in KONGRA-GEL um. Sitz: Grenzgebiet Türkei / Nord-Irak Vorsitzender:Zübeyir AYDAR Abdullah ÖCALAN lenkt jedoch weiterhin faktisch die Organisation. Anhänger: ca. 700 Baden-Württemberg (2005: ca. 700) ca. 11.500 Bund (2005: ca. 11.500) Publikation: "Serxwebun" (Unabhängigkeit) Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), die sich zwischenzeitlich zweimal umbenannt hat, ist die mitgliederstärkste extremistische Kurdenorganisation in Deutschland. Ihr ursprüngliches Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". Deshalb begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei 1984 ERNK-Logo mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Befreiungseinheiten Kurdistans" (HRK), der im Oktober 1986 in "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) umgewandelt wurde, einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. In Deutschland versuchte die Organisation durch politische und gewalttätige Aktionen, den Kampf im Heimatland zu unterstützen. Deshalb wurde der PKK und ihrer im März 1985 gegründeten Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet durch den Bundesminister des Innern untersagt. Dieses Verbot umfasst auch den "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und den "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL). Unter jeder dieser drei Bezeichnungen ist die Organisation auf Beschluss des Rats der "Europäischen Union" (EU) 94 Ausländerextremismus vom 2. April 2004184 auch in der "EU-Terrorliste" genannt. Außerdem entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am 21. Oktober 2004,185 dass die Führungsebene der PKK in Deutschland nach wie vor eine kriminelle Vereinigung im Sinne des SS 129 Abs. 1 Strafgesetzbuch ist. Nach der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und den anschließenden Gewaltphasen verkündete die PKK im September 1999 ihre so genannte Friedensstrategie, deren konkrete Ausgestaltung auf dem 7. Parteikongress im Januar 2000 beschlossen wurde. Vorgeblich auf politischem Weg und ohne Anwendung von Gewalt fordern sie und ihre Nachfolgeorganisationen seitdem die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr Rechte und kulturelle Autonomie. Dabei sieht sie sich als einzig legitime Vertretung der vor allem aus der Türkei stammenden Kurden. Um die politische Neuausrichtung nach außen zu dokumentieren und um sich von dem über viele Jahre hinweg geprägten Makel einer Terrororganisation zu befreien, führte die Organisation verschiedene Veränderungen HPG-Logo durch. Insbesondere wurden sowohl die PKK selbst als auch mehrere Teilorganisationen umbenannt beziehungsweise formal aufgelöst und unter neuen Namen wieder gegründet. Der militärische Arm ARGK erhielt zum Beispiel die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Die ehemalige Propagandaorganisation ERNK firmiert seit Sommer 2004 als "Demokratische Gesellschaft Kurdistans" (CDK).186 Die KONGRA-GEL-JugendorganiKomalen Ciwansation tritt seit kurzem als "Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Logo Kurdistans" (Komalen Ciwan) auf. Unabhängig von ihrer Bezeichnung ist die Organisation nach wie vor trotz der nach außen propagierten "Friedenslinie" und der vielen Veränderungen seit Herbst 1999 eine Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands, denn keine wirkliche eine grundsätzliche Wandlung ist nicht feststellbar. An dem strikt hierarchiWandlung schen Aufbau und an der autoritären Führung haben sich bis jetzt weder substanziell noch personell nennenswerte Veränderungen ergeben. Auch wird Gewalt nach wie vor als ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung der Ziele und zum eigenen Schutz angesehen, weshalb deren Anwendung in Deutschland zumindest vorbehalten bleibt oder auch - so in der Türkei - praktiziert wird. Anlassbezogen und damit insbesondere, wenn es um ÖCALAN geht, der von seinen Anhängern als große Führungsund Symbolfigur verehrt wird, besteht durchaus die Möglichkeit, einen großen Teil der Mitglieder und Anhänger auch in Baden-Württemberg für gewalttätige Aktio184 Amtsblatt der Europäischen Union L 99 vom 3. April 2004, S. 28f. 185 Urteil des BGH vom 21. Oktober 2004, Az.: 3 StR 94/04. 186 Wird auch als "Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa" bezeichnet. 95 nen zu mobilisieren. Eine zumindest teilweise Demokratisierung der Strukturen ist bislang trotz mehrerer Versuche, wenigstens einzelne demokratische Elemente einzuführen und die Basis bei Entscheidungen mit einzubeziehen, nicht erfolgt. Gebietseinteilung in Baden-Württemberg und Mobilisierung Das Jahr 2006 war von mehreren Aktionswellen geprägt, die durch Meldungen über die Haftbedingungen ÖCALANs, Ereignisse in der Türkei und restriktive Maßnahmen in Deutschland ausgelöst wurden. Die Aktions"Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) - "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) Einteilung Baden-Württemberg in 5 Gebiete 96 Ausländerextremismus schwerpunkte in Baden-Württemberg waren dabei Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Freiburg im Breisgau und Ulm, die gleichzeitig auch den fünf KONGRA-GEL-Gebieten ihren Namen geben. Das Gebiet Heilbronn entstand im Sommer 2006, nachdem es als Teilgebiet des Gebiets Mannheim abgetrennt und verselbstständigt wurde. Landesweit konnten 2006 wieder etwa 700 Personen zu dem Kreis gerechnet werden, der sich aktiv für den KONGRA-GEL beziehungsweise die ihm nahe stehenden Organisationen engagiert. Für besondere Anlässe lassen sich jedoch in Baden-Württemberg mehrere Tausend Kurden mobilisieren, die vorwiegend über die dem KONGRA-GEL nahe stehenden örtlichen Kurdenvereine erreicht werden. Öffentlichkeitswirksame Aktionen werden grundsätzlich im Namen dieser Vereine angemeldet und verlaufen weitgehend friedlich. In letzter Zeit konnten jedoch zunehmend Rangeleien bis hin zu Handgreiflichkeiten am Rand von Veranstaltungen beobachtet werden. Diese entstanden meist nach Provokationen national eingestellter türkischer Personen. Die aktuellen Ereignisse 2006 in der Türkei und in Deutschland führten in Baden-Württemberg dazu, dass der seit Jahren rückläufige Trend bei der Zahl der aktiven Anhänger und sonstigen Teilnehmer bei Veranstaltungen gestoppt werden konnte. Außerdem war eine zunehmende Unterstützung durch türkische linksextremistische Organisationen festzustellen. Dabei dürfte es sich weniger um eine Zusammenarbeit mit dem verbotenen KONGRA-GEL, als um eine Solidarisierung mit den türkischen Kurden im Allgemeinen handeln. Aktionen wegen 20-tägiger Einzelhaftstrafe für ÖCALAN Das beherrschende Thema im Januar 2006 war die 20-tägige Einzelhaftstrafe für ÖCALAN. Medienmeldungen zufolge hatte ein türkisches Gericht diese Einzelhaft als Disziplinarmaßnahme verhängt, weil er beim Besuch seiner Anwälte am 30. November 2005 Parteipropaganda betrieben haben soll. Das Präsidium des Exekutivrats des "Koma Komalen Kurdistan" KKK-Logo (KKK)187 bezeichnete ÖCALANs aktuelle Haftsituation als Gipfel der gegen ihn gerichteten "Vernichtungspolitik".188 In einer Erklärung des gegen angebliche Komitees "Freiheit für ÖCALAN" wurde die "Isolation innerhalb der Isola"Vernichtungstion" als "neues Angriffskonzept des türkischen Staates" bezeichnet.189 Die politik" 187 Deutsch "Union der kurdischen Gemeinschaften" oder "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan", von ÖCALAN am 20. März 2005 proklamiertes politisches Konzept des "Demokratischen Konföderalismus" mit einer Art Verfassung für die von den Kurden besiedelten Gebiete. 188 Internetmeldung der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vom 11. Januar 2006, Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). 189 Internetmeldung der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vom 12. Januar 2006, Arbeitsübersetzung des BfV. 97 CDK machte in ihrer Verlautbarung auch die EU und die übrigen westlichen Staaten für die Situation ÖCALANs verantwortlich. Der KONGRAGEL-Vorsitzende Zübeyir AYDAR erklärte, dass die "Isolationshaft" ÖCALANs zu einer kompletten Isolierung und psychologischen Folter umgewandelt worden sei. Dieses Verfahren sei willkürlich und nicht akzeptabel. Er betonte, dass man damit gegen das kurdische Volk einen umfassenden Angriff beschlossen habe, und rief dazu auf, die "demokratischen Aktionen zu intensivieren und sich Öcalans anzunehmen".190 In Baden-Württemberg beteiligten sich aus diesem Anlass rund 500 Personen an einer friedlichen Demonstration am 21. Januar 2006 in Heilbronn. In Mannheim demonstrierten am 28. Januar 2006 circa 200 Menschen. An einer Kundgebung unter dem Motto "IMRALI191 - 7 Jahre Kontinuität jenseits des Rechts" nahmen am 4. Februar 2006 in Friedrichshafen 60 Personen teil. Aus Solidarität und wohl auch Besorgnis um ÖCALAN beteiligten sich am 11. Februar 2006 rund 12.000 Anhänger aus ganz Europa an der alljährlichen Demonstration in Straßburg. Anlass war der 7. Jahrestag seiner Verhaftung. AYDAR richtete in seiner Rede folgende Worte an den türkischen Staat: "Es sind keine leeren Worte, wenn wir sagen ''Der Vorsitzende Apo192 ist die Brücke zum Frieden. Zerstört diese Brücke nicht.' Das kurdische Volk steht hinter seinem Vorsitzenden." 193 Offenbar stark vom Schicksal ÖCALANs emotionalisiert setzten einige Jugendliche am 12. Januar 2006 in der Mannheimer Innenstadt Benzin auf einer Straße in Brand, wodurch die Fahrbahndecke beschädigt wurde. Die herbeigerufene Polizei stellte fest, dass zudem einige wenige Flugblätter mit ÖCALAN-Bezug verbrannt worden waren. Dies ist der seit Jahren erste bekannt gewordene, in seinem Umfang aber eher unbedeutende, vermut190 Internetmeldung der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vom 11. Januar 2006, Arbeitsübersetzung des BfV. 191 Gefängnisinsel, auf der ÖCALAN als einziger Häftling inhaftiert ist. 192 Dt. Onkel, Bezeichnung für ÖCALAN. 193 Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" vom 13. Februar 2006, Arbeitsübersetzung des BfV. 98 Ausländerextremismus lich von kurdischen Jugendlichen in Baden-Württemberg verursachte Vorfall. Anders als in der Türkei, wo Pressemeldungen zufolge u.a. MolotowAngriffe und Straßenblockaden zunehmen, ist hier deshalb nicht von einer nachhaltigen oder gar flächendeckenden Ausdehnung von gewalttätigen Aktionen Jugendlicher auszugehen. Mit einzelnen anlassbezogenen Taten ist allerdings weiterhin zu rechnen, nachdem die KONGRA-GEL-Jugendorganisation in einer Erklärung jede Aktion der kurdischen Jugend als "berechtigt" und "legitim" bezeichnet hatte. Keiner dürfe mehr Geduld erwarten. Martialisch hieß es: "Es ist der Tag, an dem wir angesichts der Einzelhaft unserer Führung einen Kreis aus Feuer um unseren Führer bilden und uns opfern. Heute ist der Tag, an dem wir uns für unsere Freiheit und Ehre einsetzen, alle Orte in Feuer verwandeln und den Serhildan194 ausweiten." 195 Proteste nach dem Tod von 14 Guerilla-Kämpfern in der Türkei Nach insgesamt ruhigen Newroz-Feiern196 reagierten die KONGRA-GEL-Anhänger in Baden-Württemberg mit großer Betroffenheit und Wut auf Meldungen über den Tod von 14 HPG-Kämpfern bei einer Frühjahrsoffensive der türkischen Armee. Nach Ansicht der HPG waren die Männer durch den Einsatz von chemischen Waffen gestorben: Die Leichen sollen keine Einschusswunden, sondern Verbrennungen aufgewiesen haben. Diese Behauptung heizte die Stimmung unter den Kurden besonders auf. Nach der Beisetzung von vier dieser Kämpfer am 28. März 2006 in der Großstadt Diyarbakir/Türkei kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Teilen der überwiegend kurdischen Bevölkerung. Die mehrere Tage andauschwere Auseinernden Ausschreitungen breiteten sich nicht nur auf andere Stadtteile aus, andersetzungen 194 Volksaufstand, hier im Sinne von Rebellion gegen den Staat. 195 Internetmeldung der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vom 13. Januar 2006, Arbeitsübersetzung des BfV. 196 Das kurdische Neujahrsfest Newroz wird regelmäßig am 21. März gefeiert. 99 sondern griffen auch auf weitere Städte der Region über und forderten mehrere Tote und Hunderte Verletzte. In Baden-Württemberg führten diese Ereignisse am 1. April 2006 in Freiburg im Breisgau und in Heilbronn sowie am 3. April 2006 in Ulm zu Kundgebungen, an denen bis zu mehrere Hundert Personen teilnahmen. Dabei wurden Reden gehalten, Parolen skandiert und verschiedene Flugblätter verteilt. Außerdem wurden Fahnen, themenbezogene Transparente sowie Bilder von ÖCALAN und den getöteten Kämpfern mitgeführt. Im KONGRA-GEL-nahen Verein in Freiburg im Breisgau fand außerdem am 2. April 2006 in den anlassbezogen geschmückten Räumen eine Trauerfeier mit circa 100 Personen statt. Protestwelle nach Verhaftung von Funktionären in Deutschland Die Festnahme eines KONGRA-GEL-Funktionärs Anfang August 2006 in den Niederlanden und die Verhaftung zweier mutmaßlicher so genannter Serit197-Leiter am 8. August 2006 in Mannheim und am 9. August 2006 in Duisburg führten zu erheblicher Unruhe innerhalb der Organisation. Diese Maßnahmen wurden in mehreren Verlautbarungen allgemein als Teil einer konzertierten Aktion verschiedener Länder angesehen, um die "kurdische Freiheitsbewegung" zu vernichten. Die Türkei gehe militärisch, Deutschland mit rechtlichen Mitteln des Strafund Ordnungsrechts gegen die Organisation vor. Auch die USA spielten eine entscheidende Rolle. Die eigenen Friedensbemühungen fänden dagegen keinerlei Beachtung. Mit scharfen Worten wurde eine kurdenfeindliche Politik in Deutschland skizziert und die sofortige Freilassung der Inhaftierten gefordert. Neben den üblichen emotionalisierten Diskussionen der KONGRA-GEL-Anhänger fanden auch bundesweit Protestaktionen statt. Da üblicherweise Festnahmen nur kurz in den organisationsnahen Medien bekannt gemacht werden und darüber hinheftige aus kaum Beachtung finden, wiesen diese heftigen Reaktionen auf eine Reaktionen angespannte und nervöse Stimmung innerhalb des KONGRA-GEL hin. Die Proteste dürften deshalb auch als Ventil für aufgestaute Gefühle gedient haben. 197 Deutsch: Sektor. Der KONGRA-GEL pflegt mehrere Gebiete zu einem Sektor zusammenzufassen. 100 Ausländerextremismus Die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)198 rief ihre Mitgliedsvereine dazu auf, "aus Protest gegen die anhaltende Kriminalisierungspraxis" ab 21. August 2006 ihre Räume zu schließen und "Hungerstreiks" in Köln, Stuttgart und Berlin durchzuführen.199 Infolgedesvielfältige sen waren die KONGRA-GEL-nahen Vereine u.a. in Stuttgart, Ulm, HeilAktionen in bronn, Mannheim und Friedrichshafen über eine Woche geschlossen. In BadenStuttgart führte der örtliche KONGRA-GEL-nahe Verein vom 22. bis Württemberg 25. August 2006 eine Mahnwache am Alten Schloss durch. Dort konnten an verschiedenen Tagen durchschnittlich 30 bis 40 Personen festgestellt werden. Teilweise trugen sie Umhänge mit der Aufschrift "Hungerstreik". Da die Räume des KONGRA-GEL-nahen Vereins geschlossen waren, übernachteten die auswärtigen Teilnehmer im Stuttgarter Verein der "Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V."200. Am 22. August 2006 übergab eine Delegation eine Informationsmappe von YEK-KOM mit dem Titel "Dialog statt Verbot" an den Landtag von BadenWürttemberg. Als Höhepunkt der Protestwelle, bei der auch in verschiedenen Städten Informationsstände betrieben wurden, fanden am 26. August 2006 in Stuttgart, Mannheim und Freiburg im Breisgau Aufzüge mit Kundgebungen statt. An diesen beteiligten sich bis zu 300 Personen. In Heilbronn wurde eine bereits zu einem anderen Thema angemeldete Demonstration am 12. August 2006 dazu genutzt, um kurzfristig gegen die Verhaftungen zu protestieren. Alle Veranstaltungen orientierten sich an dem Motto "Wir protestieren gegen die Kriminalisierung und politische Verfolgung der Kurden in Deutschland". Auf die Festnahmen der Funktionäre reagierte die Organisationsführung. Auf dem von der YEK-KOM organisierten "14. Internationalen Kurdistan Kulturfestival" am 2. September 2006 in Gelsenkirchen, zu dem 45.000 Teilnehmer aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland anreisten, wurde eine Videobotschaft eines hochrangigen Kaders abgespielt. Er warf Deutschland vor, sich am "Vernichtungskonzept" der Türkei zu beteiligen. 198 Dachverband mit Sitz in Düsseldorf, in dem überwiegend die örtlichen KONGRA-GEL-nahen Vereine in Deutschland zusammengeschlossen sind. 199 Flugblatt von YEK-KOM vom 18. August 2006. 200 Steht der "Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei" (MLKP) nahe. 101 Waffenstillstand ab 1. Oktober 2006 Ende September 2006 richtete ÖCALAN sowohl an den türkischen Staat als auch an die Organisation einen Aufruf zur Waffenruhe. Das Blutvergießen müsse gestoppt und dem Frieden eine neue Chance gegeben werden. Das "Recht auf Selbstverteidigung" bleibe jedoch weiterhin gültig; man werde nicht zu den Waffen greifen, solange keine "Vernichtungsaktionen" ausgeführt würden. Diese Waffenruhe dürfe nicht wie frühere als Zeichen der Schwäche gewertet werden. Sie entspringe vielmehr dem dringenden Bedürfnis nach sozialem Frieden. ÖCALAN forderte außerdem die Kräfte in "Südkurdistan" 201, die EU und die USA zur Unterstützung der Waffenruhe auf.202 Diesem Appell entsprechend verkündete der KKK-Exekutivrat bei einer am 30. September 2006 abgehaltenen Pressekonferenz einen Waffenstillstand ab 1. Oktober 2006. Bei einem weiteren Besuch seiner Anwälte betonte ÖCALAN, dass er sich höchstens sechs Monate für diese Waffenruhe einsetzen könne. Bis Mai 2007 müssten erste Schritte zur Lösung durchgeführt werden. Dem Friedensaufruf ÖCALANs war eine Gewaltserie in der Türkei vorausgegangen. Offenbar als Vergeltung für eine weitere, ÖCALAN auferlegte Einzelhaftstrafe, verübten die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK)203 mehrere Anschläge, u.a. am 27. und 28. August 2006 in den türkischen Touristenorten Istanbul, Marmaris und Antalya. Dabei wurden auch ausländische Touristen getötet und verletzt. Die HPG lieferte sich außerdem in dieser Zeit blutige Auseinandersetzungen mit dem türkischen Militär, wobei es auf beiden Seiten viele Tote gab. Große Bestürzung und Betroffenheit löste der Bombenanschlag am 12. September 2006 in Diyarbakir aus. Ein Sprengsatz war in der Nähe eines Parks in einem Wohngebiet explodiert. Medienmeldungen zufolge wurden circa 15 Personen verletzt und über zehn - darunter auch viele Kinder - getötet. 201 Gemeint ist damit der Nordirak. 202 Bericht in der "Yeni Özgür Politika" vom 29. September 2006, Arbeitsübersetzung des BfV. 203 Die TAK sind bislang in Deutschland nicht aktiv geworden ist. Sie werden allgemein dem KONGRAGEL zugerechnet, obwohl sich dieser von der Gruppierung und ihren Taten distanziert. 102 Ausländerextremismus Finanzierung Der KONGRA-GEL benötigt für seine Propagandatätigkeit, den Parteiapparat sowie für die Versorgung seiner Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition hohe Geldbeträge. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und über Gewinne aus Großveranstaltungen. Zusätzlich sollen die angesprochenen Landsleute bei der alljährlichen Spendenquittung Spendenkampagne einen größeren Betrag in Gelder für die Abhängigkeit von ihrem Einkommen bis zur Höhe von mehreren Hundert Guerilla Euro abliefern. Dabei werden allein in Deutschland mehrere Millionen Euro eingenommen. Diese Einnahmen sind seit Verkündung des "Friedenskurses" rückläufig, weil sich zahlreiche Kurden nicht mehr ausreichend mit der Organisation identifizieren. Deshalb weigerten sich viele, den geforderten Beitrag ganz oder teilweise zu zahlen. Selbst das Argument, dass für die Kämpfer in der Heimat wegen der dortigen Aktivitäten der Guerilla mehr Gelder erforderlich seien, war nicht zugkräftig. Ausblick Das weitere Verhalten des KONGRA-GEL und seiner Anhänger in Baden-Württemberg ist nach wie vor weitgehend von den Ereignissen in der Türkei, den Entscheidungen der türkischen Regierung und dem Vorgehen des dortigen Militärs abhängig. Aufgrund der zeitlichen Befristung und der Erfahrungen mit den bisherigen folgenlosen Waffenstillständen ist davon auszugehen, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Jahr 2007 nach der üblichen Winterpause weitergehen werden. Bislang gab es trotz der sich in der Türkei verschärfenden Lage keine Anzeichen für ein Ende des "Friedenskurses" in Deutschland. angespannte Die Stimmung unter den Anhängern in Baden-Württemberg hat sich Stimmung unter jedoch im Lauf des Jahres 2006 merklich verschlechtert und konnte zeitden Anhängern weise sogar als aggressiv bezeichnet werden. Die Anhänger begrüßten die Vergeltungsaktionen der HPG als notwendige Antwort. Die Anschläge der TAK, bei denen auch Touristen betroffen waren, wurden ebenfalls befür103 wortet. Zur Schwächung der türkischen Wirtschaft müssten, so die Begründung, solche "Kollateralschäden" hingenommen werden. Außerdem hat sich das Bild Deutschlands bei den Anhängern des KONGRA-GEL nicht nur aufgrund restriktiver Maßnahmen wie den oben geschilderten Festnahmen verschlechtert. Verunsicherung und Frustration entstanden in BadenWürttemberg bei den Anhängern vor allem auch durch das entschiedene und nachdrückliche Vorgehen der Behörden beispielsweise bei Einbürgerungen, ausländerrechtlichen Fragen und Sicherheitsgesprächen. 3. Türkische Vereinigungen204 3.1 Extrem nationalistische Organisationen 3.1.1 "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF)/"Türkische Föderation Deutschland" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 Baden-Württemberg (2005: ca. 2.100) ca. 8.750 Bund (2005: ca. 8.750) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" (Bulletin der Türkischen Föderation) Die "Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V." ("Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF), auch unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" (Bozkurt)205 bekannt, ist eine extrem nationalistische Organisation mit pantürkischen206 und neofaschistischen Idealen. Die bedeutendsten baden-württembergischen Ortsvereine befinden sich in Stuttgart, Ulm und Mannheim. Die Organisation ist in Deutschland in 13 so genannte Bölge (Regionen) aufgeteilt. Seit ihrem Bestehen wird die ADÜTDF als Auslandsorganisation der türkischen Mutterpartei "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci 204 Ohne kurdische. 205 Der Legende nach führen die Türken ihren Ursprung auf den Wolf als Ahnherrn zurück, der zum nationalen Symbol des Türkentums stilisiert wurde. In der Symbolik der Nationalisten spielen der mit den Fingern der rechten Hand geformte "Wolfsgruß" und die Fahne mit den drei nach unten geöffneten Halbmonden (osmanische Kriegsflagge) eine Rolle. 206 In dem Streben nach "Turan", der zentralasiatischen Urheimat der Türken, konkretisieren sich die pantürkischen Ziele der "Idealisten", die sämtliche türkischstämmigen Völker Asiens in einem großtürkischen Reich vereinigt sehen möchten. 104 Ausländerextremismus Hareket Partisi", MHP) betrachtet, deren politische Ziele sie teilt und unterstützt. Oberstes Ziel der extremen Nationalisten, die sich selbst als "Idealisten" (ülkücü) bezeichnen und sich als die wahren türkischen Patrioübersteigerter ten verstehen, ist eine von äußeren Einflüssen unabhängige, starke, selbstNationalismus bewusste türkische Nation. In der "türkisch-islamischen Synthese"207 wird dem ethnisch definierten Türkentum die sunnitische Variante der islamischen Religion als untrennbarer kultureller Aspekt zugeordnet. Das Emblem der Organisation, welches die Silhouette einer Moschee mit Halbmond und Stern aufweist, symbolisiert diese religiöse Komponente, die sich auch in entsprechenden Unterrichtsinhalten in den Mitgliedsvereinen manifestiert. Rechtsextremistische und antisemitische Tendenzen sowie dogmatische Feindschaft in Bezug auf die "Linke" und nicht-türkische Minderheiten prägen unverändert die Ideologie der Bewegung. Alle Organisationen der "Ülkcü"-Bewegung sind auf den "Führer" (basbug), Verehrung Ex-Oberst Alparslan TÜRKES, ausgerichtet, der 1969 die MHP gründete des "Führers" und dessen Biografie auf allen Internetseiten der Bewegung einschließlich der ADÜTDF zu finden ist. Die von TÜRKES formulierte "Neun-LichterDoktrin" mit den wesentlichen Komponenten "Nationalismus" (milliyetcilik), "Idealismus" (ülkücülük) und "Ethik" (ahlakcilik), bei der es sich um die Weiterentwicklung einer Doktrin des als maßgeblicher Ideologe der Bewegung geltenden Nihal ATSIZ handelt, stellt die programmatische Basis für die Bewegung dar. Seit dem Tod des MHPGründers TÜRKES im Jahr 1997 wird die Partei von Devlet BAHCELI geführt. Devlet BAHCELI Die Verbundenheit zum "Führer" kommt im "Eid des Idealisten" (ülkücü yemini) zum Ausdruck, in dem unter Berufung auf Allah, Koran, Vaterland und Fahne mit dem "Kampf für die nationalistische Türkei und Turan208 bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Blutstropfen" insbesondere der auf dem Schlachtfeld auszutragende Kampf beschworen wird. 207 Bereits in den 1960er-Jahren in akademischen Kreisen entwickeltes Konzept einer Verknüpfung vorislamischer türkischer mit islamischen und nationalen Elementen, wobei die nationale Komponente vorherrscht. 208 Vgl. Fußnote 206. 105 Ebenso wie die islamistischen Organisationen bezwecken auch die "Idealisten" eine größtmögliche Isolation ihrer ethnisch-nationalen Gemeinschaft desintegratives von den gesellschaftlichen Gruppen und wirken desintegrativ. An deutWirken schen Schulen sahen sich im Lauf des Jahres 2006 Lehrer mit Situationen konfrontiert, in denen insbesondere männliche Jugendliche ihre "türkischnationalistische" Identität in chauvinistischer Weise zur Schau trugen, ihrer Verachtung für "Kommunisten" und Kurden Ausdruck gaben und auch ihre antisemitische Haltung nicht verhehlten.209 3.2 Linksextremisten 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol) 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und die "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C) sehen sich in der politischen Erbfolge nach wie vor jeweils als die wahre Nachfolgerin der aus der "linken" Studentenbewegung hervorgegangenen, 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke"). Diese verfolgte insbesondere das Ziel, einen Umsturz der dortigen politischen Verhältnisse herbeizuführen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Als terroristisch-linksextremistische Organisation wurde sie bereits zwei Jahre später in der Türkei und am 27. Januar 1983 (bestandskräftig seit 1989) durch den Bundesminister des Innern in der Bundesrepublik Deutschland verboten, nachdem von ihr massive und äußerst gewalttätige Ausschreitungen ausgegangen waren. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und persönliche Zwistigkeiten führender Funktionäre spalteten die konspirativ agierende "Devrimci Sol" Ende 1992 in zwei konkurrierende, alsbald verfeindete Flügel, obwohl beide bis heute die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele haben. Fortan bezeichneten sich die beiden rivalisierenden Fraktio209 taz, Online-Ausgabe vom 8. April 2006. 106 Ausländerextremismus nen nach ihren Führungsfunktionären Dursun KARATAS und dem im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften erschossenen Bedri YAGAN als "KARATAS"beziehungsweise "YAGAN"-Flügel. Mit dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" hat der "KARATAS"Flügel, der sich seitdem DHKP-C nennt, organisatorisch endgültig die Trennung vollzogen. Der "YAGAN"-Flügel verwendet seit Mitte 1994 die Bezeichnung THKP-C. Die von März 1993 bis Anfang des Jahres 1999 mit hoher krimineller Energie bis hin zu Mord ausgetragenen Flügelkämpfe und die im gleichen Zeitraum durchgeführten Anschläge gegen staatliche und vor allem gegen private türkische Einrichtungen belegen, dass beide Gruppierungen ihre politischen Ziele auch im Bundesgebiet durch Gewalt zu verwirklichen versuchten. Am 13. August 1998 erließ daher der Bundesminister des Innern gegen die THKP-C ein Betätigungsverbot. Die DHKP-C bezog er zeitgleich Betätigungsals Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" in das frühere verbot Verbot mit ein. Die Anfechtungsklage der DHKP-C hiergegen wies das Bundesverwaltungsgericht am 1. Februar 2000 letztinstanzlich ab. Die in Baden-Württemberg inaktive THKP-C entwickelte im Jahr 2006 kaum noch öffentliche Aktivitäten. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher ausschließlich auf die DHKP-C. 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung: 30. März 1994 in Damaskus/Syrien nach Spaltung der 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke), Verbot in Deutschland seit 13. August 1998 Leitung: Funktionärsgruppe um den Vorsitzenden Generalsekretär Dursun KARATAS Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2005: ca. 80) ca. 650 Bund (2005: ca. 650) Publikation: "DEVRIMCI SOL" (Revolutionäre Linke) Revolutionäre Zielsetzung Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP), politischer Flügel der "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), strebt eine revolutionäre Beseitigung der bestehenden Gesellschaftsordnung in der Türkei und die Errichtung einer "Volksmacht", das heißt einer "Gesellschaft und einer Welt ohne Ausbeutung und ohne Klassen", auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus an. Als die "Feinde des Volkes" werden neben der 107 "faschistischen" Türkei der US-Imperialismus und alle diesen unterstützenden Kräfte genannt, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland gezählt wird. Zur Bekämpfung dieser Feinde bedient sich die DHKP-C in der Türkei auch terroristischer Methoden. Zahlreiche Anschläge in der Vergangenheit, vor allem in den Großstädten der Türkei gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie gegen militärische und andere staatliche Einrichtungen gehen auf das Konto der DHKP-C. Struktur In der Bundesrepublik Deutschland, die wegen der großen Zahl der hier lebenden Türken und aufgrund ihres relativen Wohlstands wichtigstes Betätigungsfeld der DHKP-C nach der Türkei ist, bestehen fest gefügte Organisationsstrukturen. Zur Führung zählen neben dem Deutschlandverantwortlichen und dessen Vertretern die Regionsund Gebietsverantwortlichen sowie weitere, mit Sonderaufgaben betraute Funktionäre wie die Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit. Den Führungskadern der Deutschlandorganisation obliegt die eigenverantwortliche Umsetzung der vom Zentralkomitee der DHKP-C geplanten und angeordneten Aktionen, durch die der "Kampf" in der Türkei unterstützt werden soll. Die Funktionäre und Mitglieder der DHKP-C verhalten sich ausgesprochen konspirativ, d.h., sie verwenden Decknamen und wechseln häufig ihren Aufenthaltsort. Als örtliche oder regionale Basis dienen DHKP-C-nahe Vereine, deren Satzungen keinen Rückschluss auf die Organisation zulassen. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt in Baden-Württemberg liegt neben Stuttgart in Ulm. Zusammenkünfte von Aktivisten und Großveranstaltungen verlagert die Organisation zunehmend ins angrenzende Ausland, so zum Beispiel die traditionelle Veranstaltung zum Parteigründungstag am 29. April 2006 in 's-Hertogenbosch/Niederlande. Bei einer im November 2006 gegen mutmaßliche DHKP-C-Anhänger und Führungsfunktionäre durchgeführten Exekutivmaßnahme kam es in Bayern, Durchsuchungen Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu Durchsuchungen von auch in BadenPersonen und Objekten. In Baden-Württemberg waren die Städte Stuttgart, Württemberg Pforzheim und Ulm betroffen. Bei den einzelnen Durchsuchungen wurde umfangreiches DHKP-C-Propagandamaterial aufgefunden. Zeitgleich durchsuchte die Polizei in Köln die Räumlichkeiten der "Anatolischen Föderation e.V.", wo ebenfalls umfangreiches DHKP-C-Material sicherge108 Ausländerextremismus stellt wurde. Außerdem wurden in diesem Zusammenhang mehrere Personen, unter anderem auch in Baden-Württemberg, festgenommen. Die "Anatolische Föderation e.V." kritisierte den Polizeieinsatz scharf und erhob in mehreren, im Internet veröffentlichten Erklärungen, massive Vorwürfe gegen das Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden. Finanzierung Die DHKP-C finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, Spendengeldsammlungen, den Verkauf von Publikationen sowie durch Einnahmen aus Musikund anderen Veranstaltungen. Medieneinsatz Neben den regelmäßig erscheinenden Publikationen nutzt die DHKP-C intensive intensiver als andere linksextremistische Migrantenorganisationen das InterNutzung des net für Aufrufe und politische Erklärungen. Sie verfügt über eine mehrInternets sprachige Homepage. Nachdem die Publikation "Ekmek ve Adalet" (Brot und Gerechtigkeit) nach Veröffentlichung der 158. Ausgabe ihr Erscheinen eingestellt hatte, erschien ab dem 22. Mai 2005 für Europa eine neue Zeitschrift mit dem Titel "Yürüyüs" (Marsch). Äußere Aufmachung und inhaltliche Themen unterscheiden die Zeitschrift "Yürüyüs" kaum von der "Ekmek ve Adalet". Schwerpunkt ihrer Berichterstattung ist die Türkei. Neben der Agitation gegen die türkische Regierung und einen möglichen EU-Beitritt der Türkei sowie Berichten über die Gefängnissituation und das "Todesfasten" in der Türkei veröffentlicht sie auch Beiträge über Aktivitäten der "Anatolischen Föderation" in Deutschland und Europa. In ihrer Erstausgabe legte die Publikation, die sich selbst auf dem Weg zur Änderung des Systems sieht, ein klares Bekenntnis zu einem revolutionären Umsturz und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei ab. Redaktion, Druck und Vertrieb der Publikation "Yürüyüs" befinden sich seit Mitte 2005 in den Niederlanden. 109 "Todesfasten" Fortführung des Beherrschendes Agitationsund Kampagnenthema der DHKP-C blieb Hungerstreiks auch im Jahr 2006 der im Oktober 2000 in türkischen Haftanstalten begonin der Türkei nene "unbefristete Hungerstreik", der sich gegen neue Gefängnistypen210 richtete. Nach nur wenigen Wochen wurde er bereits damals zum "Todesfasten" ausgeweitet, an dem sich fast nur noch DHKP-C-Anhänger beteiligten. Bei den bisher 122 Toten, mehrheitlich Mitglieder der DHKP-C, handelt es sich nicht nur um Personen, die an den Folgen des Hungerstreiks gestorben sind. Etwa 40 Personen verstarben nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit türkischen Sicherheitskräften und einige "politische Gefangene" infolge von Selbstverbrennungen. In Deutschland trat bei Demonstrationen, Infoständen und Flugblattaktionen, die das "Todesfasten" zum Thema hatten, meist der "Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien in der Türkei" (TAYAD) in Form des "TAYAD-Komitees e.V."211 als Veranstalter auf. So initiierte das "TAYAD-Komitee" vom 10. September bis 20. Dezember 2006 in mehreren deutschen Städten eine Kampagne, die die Haftbedingungen in der Türkei zum Thema hatte. In diesem Zusammenhang fanden vom 16. bis 22. Oktober 2006 anlässlich des 7. Jahrestages des Hungerstreiks in türkischen Gefängnissen sowie zum Gedenken an die bislang 122 "Gefallenen" vom "TAYAD-Komitee e.V." organisierte Veranstaltungen statt, bei denen man u.a. Informationsmappen an die Landtage in Europa zu diesem Thema übergab beziehungsweise ein Hungerstreik in den DHKP-C-nahen Vereinen durchgeführt wurde. Anschläge Seit 2003 verübte die DHKP-C durch ihren militärischen Arm "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) mehrere Sprengstoffanschläge in der 210 So genannter F-Typ, der überwiegend aus Einzelzellen und kleinen Gemeinschaftszellen besteht. 211 Das "TAYAD-Komitee e.V." ist eine der DHKP-C nahe stehende Organisation, welche ausschließlich die Gefangenenproblematik der in der Türkei inhaftierten DHKP-C-Anhänger thematisiert. 110 Ausländerextremismus Türkei. Ziele waren staatliche türkische Einrichtungen, insbesondere Gebäude, aber auch Mitarbeiter der türkischen Sicherheitsbehörden, der Armee und der Justiz. Auch im Jahr 2006 war die DHKP-C für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich. So bekannte sich die DHKC auf ihrer Internetseite in der Erklärung Nr. 363 vom 25. Juni 2006 zum Angriff auf einen Polizeiwagen am 19. Juni 2006 in einem Stadtteil Istanbuls, bei dem ein Polizist schwer verletzt wurde: "Wir werden Rechenschaft verlangen von denjenigen, die die grausame Isolationshaft und die Massaker in den Haftanstalten weiterführen." Daneben wurden auch Bestrafungsaktionen gegen Organisationsverräter auch Aktionen durchgeführt. So nahmen Kämpfer der DHKP-C am 2. Februar 2006 einen gegen "Verräter" "Verräter" gefangen und ermordeten ihn. Wiederum übernahm die DHKC in ihrer Erklärung Nr. 355 vom 6. Februar 2006 die Verantwortung: "Kein Volksfeind und auch kein Überläufer kann der Gerechtigkeit des Volkes entkommen." 3.2.2 "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML)/"Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 (in der Türkei) Anhänger: ca. 320 Baden-Württemberg (2005: ca. 320) ca. 1.300 Bund (2005: ca. 1.300) Die Organisation ist in die folgenden Flügel gespalten: türkische links"Partizan" (im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP/ML" abgekürzt) extremistische Organisationen Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 120 in Baden-Württemberg Militärische Teilorgani"Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" sation: (TIKKO); verübt in der Türkei Guerillaaktionen 111 Publikation: "Özgür Gelecek Yolunda Isci Köylü" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg in die freien Zukunft) Der "Partizan"-Flügel wird in Europa von der "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa e. V." (ATIK) und in Deutschland von der "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF) vertreten; und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) (bis Ende 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee" - DABK - im schriftlichen Sprachgebrauch früher "TKP(ML)" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 200 in Baden-Württemberg Militärische Teilorgani"Volksbefreiungsarmee" (HKO); sation: verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) Für die MKP agiert in Europa die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK) und in Deutschland die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF). "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Anhänger: ca. 240 Baden-Württemberg (2005: ca. 240) ca. 600 Bund (2005: ca. 600) Publikation: "Politikada Atilim" (Der politische Angriff) Die MLKP wird auf europäischer Ebene durch die "Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa" (AvEG-Kon) und in Deutschland durch die "Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e. V." (AGIF) vertreten. Das linksextremistische türkische Spektrum präsentierte sich auch im Jahr 2006 aufgrund innerorganisatorischer Differenzen, Spaltungen und ideolo112 Ausländerextremismus gischer Abgrenzungen in viele kleinere und einige größere, darunter die oben genannten Gruppierungen, zersplittert. Zwangsläufige Folge ist, dass unter diesen Voraussetzungen das allen gemeinsame Ziel, das türkische Staatsgefüge zu zerschlagen und durch eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen, wenig aussichtsreich erscheint. Nach türkischem Recht sind Organisationen mit dieser Ausrichtung in der Türkei verboten, was diese aber nicht daran hindert, dennoch konspirative Parteistrukturen zu unterhalten. Zur Realisierung der selbst erklärten Ziele bedienen sich die Gruppierungen in ihrem Heimatland zunehmend ihrer dort terroristisch Gewinnen und agierenden Guerillaeinheiten. Die Geldbeschaffung zur Finanzierung des Ausbilden von Parteiapparats und der Guerillaeinheiten erfolgt weitgehend durch jährlich Nachwuchs getrennt unter den Anhängern durchgeführte europaweite Spendenkampagnen. Zusätzlich werden Gewinne aus der Durchführung von Kulturveranstaltungen und dem Verkauf von Propagandamaterial erzielt. Die ebenfalls jährlich von den Organisationen regelmäßig veranstalteten Sommercamps für ihre Jugendlichen dienen überwiegend dazu, Nachwuchs zu gewinnen. Dabei wird den teilnehmenden Jugendlichen insbesondere Wissen über das sozialistische Gedankengut vermittelt. Beispielhaft ist hier das in der Zeit vom 29. Juli bis 6. August 2006 vom Ulmer AGIF-Verein in Göppingen-Hohenstaufen durchgeführte internationale Jugendlager zu nennen. An der Ferienveranstaltung nahmen etwa 110 Personen teil, darunter Jugendliche aus Großbritannien, Frankreich und Spanien. Schulungen in Parteitheorie und Antiimperialismus sowie sportliche Betätigung wurden bei der Veranstaltung angeboten. Neben den in der Türkei verdeckten Parteistrukturen bedienen sich die Mutterparteien in Deutschland und auf europäischer Ebene offen arbeitender Dachund Basisorganisationen. Diese versorgen die im Allgemeinen in Vereinen organisierten Anhänger und Sympathisanten vorwiegend mit Propagandamaterial zu Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Rassismus, aktuelles politisches Tagesgeschehen insbesondere mit Bezug zur Türkei und zu Deutschland. Neben der Verbreitung von Flugblättern und Broschüren veröffentlichen die Organisationen immer häufiger ihre Stellungnahmen im Internet. 113 In Baden-Württemberg traten die Anhänger der linksextremistischen türkischen Szene vorwiegend in den Städten Stuttgart, Ulm und Mannheim öffentlich durch Demonstrationen, Info-Stände und Kundgebungen in Agieren in Erscheinung. Dabei agierte die Szene vorwiegend in Aktionsbündnissen, so Aktionsunter anderem am 1. Mai und zu den Themen Nahost-Konflikt oder Antibündnissen kriegstag. Hervorzuheben sind insofern eine gemeinsame Demonstration verschiedener palästinensischer und türkischer Organisationen am 22. Juli 2006 in Ulm. Im Verlauf der unter dem Thema Nahost-Konflikt stehenden Veranstaltung, an der etwa 60 Personen teilnahmen, verteilten die Angehörigen der türkischen Linken unter anderem ein Flugblatt mit dem Motto "NIEDER MIT DER ZIONISTISCHEN AGGRESSION UND BARBAREI! ES LEBE DER WIDERSTAND DES PALÄSTINENSISCHEN UND LIBANESISCHEN VOLKES!" eine 40-minütige Spontankundgebung von etwa 50 Angehörigen der linksextremistischen türkischen und deutschen Szene am 10. September 2006 auf dem Schlossplatz in Stuttgart. Anlass für diese Veranstaltung war eine am 8./9. September in der Türkei durchgeführte Verhaftungswelle, bei der 23 Personen festgenommen worden sein sollen. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen bei den Verhafteten davon aus, dass es sich um Mitglieder beziehungsweise Funktionäre der MLKP handelt. 4. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH) Diese extrem nationalistisch geprägte Organisation mit Sitz in Donzdorf/ Krs. Göppingen, die in Baden-Württemberg noch über circa 20 und bundesweit über rund 50 Mitglieder verfügt, entfaltete im Jahr 2006 nur wenig wahrnehmbare öffentliche Aktivitäten. So fungierte die B.K.D.SH am 17. März 2006 als Mitorganisator einer Gedenkveranstaltung zu Ehren gefallener Kämpfer der "Befreiungsarmee Kosovos" (USK) in Pforzheim. Am 1. April 2006 organisierte sie anlässlich einer Buchpräsentation der "Albanischen Rechten" eine Veranstaltung in Aschaffenburg. 114 Ausländerextremismus Der Präsident der B.K.D.SH hielt sich 2006 wiederholt in Albanien und im Kosovo auf, um zu versuchen, die Organisationsstrukturen neu zu gliedern. Er und einige seiner politischen Freunde nahmen erstmals an Veranstaltungen der "Albanischen Rechten" teil. Dabei handelt es sich um einen losen Kontakte zu Zusammenschluss extrem nationalistischer kosovo-albanischer Organisatioalbanischen nen, die sich eng mit der Tradition des legendären albanischen Volkshelden Nationalisten SKANDERBEK212 und den Ideen der in Albanien in den Jahren 1944 kämpfenden Einheit der albanischen SS-Division Skanderbek verbunden fühlen. Diese Einheit wird deshalb verherrlicht, weil sie im Dienst des Deutschen Reichs für ein Großalbanien kämpfte. Reststrukturen der Organisation sind in Baden-Württemberg nach wie vor existent. Politisches Ziel der B.K.D.SH ist die Schaffung eines unabhängigen Staates Kosovo in seinen ethnischen Grenzen (Großalbanien). "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) Die LPK wurde im Frühjahr 1982 in der serbischen Provinz Kosovo unter dem Namen "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ) gegründet. Nach mehreren Umbenennungen führt sie seit 1993 die Bezeichnung "Volksbewegung von Kosovo" (LPK). Ihr Ziel ist die Errichtung eines großalbanischen Staates, der Albanien, das Kosovo, von Albanern besiedelte Gebiete Südserbiens und an Albanien angrenzende Teile von Mazedonien, Montenegro und Griechenland umfassen soll. Im Bundesgebiet sind ihre Strukturen nur noch in Süddeutschland feststellbar. Die Zentrale der LPK im Kosovo verfügte im Frühjahr 2006, dass sich die Organisation im Ausland wieder neu zu strukturieren habe. Die Veranstaltungen der LPK wurden überwiegend kurzfristig terminiert und in wechselnden Veranstaltungslokalen durchgeführt, oftmals aus konspirativen Gründen auch in Wohnobjekten ausgewählter Funktionäre. Auch in Baden-Württemberg wurden wieder öffentliche Gedenkveranstaltungen dieser Organisation abgehalten, bei denen gefallener Kämpfer der "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK) und LPK-Helden gedacht und Agitation im Sinne ihrer Ideologie betrieben wurde. Bei einer am 21. Januar 2006 in Pforzheim durchgeführten Veranstaltung kam es zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen zwischen Funktionären und einzelnen Teilnehmern, weil neben Bildern von "Märtyrern" auch das des verstorbenen Präsidenten des Kosovo Rugova aufgehängt war. 212 Eigentlich: Gjergj KASTRIOTI. 115 Da den Führungsfunktionären bewusst wurde, dass die Organisationsstrukturen im Kosovo und im Ausland geschwächt sind und somit auch ihr Einfluss auf ihre Anhängerschaft schwindet, versuchte sich die LPK an Aktivitäten einer neuen "Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht" (Levizja Vetevendosje)213 zu beteiligten. So nahmen erstmals am 1. Oktober 2006 in Nürnberg auch Funktionäre der LPK aus Baden-Württemberg und Vertreter der "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) an einer Veranstaltung dieser "Bewegung" teil. Ziel dieser Organisation ist die Souveränität des Kosovo. Jedwede Fremdbestimmung soll verhindert werden. Durch demonstrative und gewaltorientierte Aktionen gegen Einrichtungen der UNMIK, die teilweise auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften führten, trat sie im Jahr 2006 regelmäßig im Kosovo in Erscheinung. In Mitteilungsblättern und über das Internet wurden die Anhänger turnusmäßig über ihre Aktionen informiert. "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH) Diese Organisation versteht sich als politischer Flügel der "Albanischen Nationalarmee" (AKSH), eigenen Angaben zufolge eine politisch-militärischen Formation, die im Dezember 1999 u. a. von früheren Angehörigen der UCK gegründet worden ist, um die Errichtung eines Großalbanien zu erkämpfen. Dies bedeutet die Abtrennung aller von "illyrisch-stämmigen" Albanern besiedelten Gebiete von den Staaten Serbien, Montenegro, Mazedonien und Nordgriechenland (Cameria) und deren Vereinigung mit dem Ziel: Schaffung albanischen Mutterland in einem neu zu schaffenden albanischen Nationaleines Großalbanien staat. Um dieses Ziel zu propagieren und zur effektiveren Unterstützung der im Untergrund agierenden militärischen Struktur wurde im Juli 2002 in Tirana/Albanien die FBKSH gegründet. Die "Albanische Nationalarmee" (AKSH) ist seit etwa 2002 durch eine Reihe von politisch motivierten Gewaltaktionen in den von Albanern besiedelten Gebieten des Balkans (Mazedonien, Kosovo, Südserbien) in Erscheinung getreten. Dabei verübten Angehörige der Gruppierung Anschläge gegen Sicherheitsorgane oder die Infrastruktur der betroffenen Staaten beziehungsweise Verwaltungsgebiete. Spektakulärste Aktion war 213 Diese Organisation hat ihren Hauptsitz im Kosovo, dort existieren 15 Ortsgruppen. Die "Bewegung" erhält vor allem finanzielle Unterstützung von Aktivisten im Ausland. In der Diaspora wurden Zweigstellen in Dänemark, Großbritannien, Irland, Norwegen, Schweden, den USA, in der Schweiz und in Deutschland etabliert. Die deutsche Sektion wurde am 29. Oktober 2005 in Dortmund gegründet. 116 Ausländerextremismus die Sprengung einer Eisenbahnbrücke zwischen Serbien und dem Kosovo. Nach diesem Anschlag hatte die UNMIK die AKSH im April 2003 als terroristische Organisation eingestuft und verboten. Bemühungen scheiterten, in Deutschland wie auch in anderen westeuropäischen Staaten ein Netzwerk der FBKSH zur propagandistischen und möglicherweise finanziellen Unterstützung der auf dem Balkan agierenden AKSH aufzubauen. Seit der Festnahme des politischen Sekretärs der Organisation Mitte Dezember 2003 an der deutsch-schweizerischen Grenze und dessen Auslieferung nach Albanien im Juni 2004 fehlt der Vereinigung und ihren Funktionären die politische Leitfigur. Auch Anschläge mutmaßlicher AKSH-Angehöriger im Heimatland sind seitdem nicht mehr bekannt geworden. Die Organisation tritt jedoch nach wie vor durch Verlautbarungen in Erscheinung. Militante Aktivitäten der AKSH sind zumindest dann wieder zu befürchten, wenn sich die hohen Erwartungen der Kosovo-Albaner auf die Unabhängigkeit des Kosovo in absehbarer Zeit nicht erfüllen sollten. Öffentliche Aktivitäten wie Informationsveranstaltungen wurden in Deutschland nicht organisiert, vielmehr trafen sich Führungsfunktionäre regelmäßig zu konspirativen Treffen im Raum Heidelberg. Um die Existenz der Organisation zu verschleiern, gründeten Funktionäre in Albanien die "Vaterlandsgesellschaft für nationale Identität und Vereinigung" (SH.A.I.B.K.). Zweigniederlassungen wurden auch im Ausland, unter anderem in Deutschland gegründet, um sich dem Focus der deutschen, schweizerischen und anderen europäischen Nachrichtendienste zu entziehen. Die "Gesellschaft" ist bisher jedoch nicht durch öffentliche Aktionen in Erscheinung getreten. 5. Sikh-Organisationen "Babbar Khalsa International" (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz: derzeit unbekannt Mitglieder: ca. 50 Baden-Württemberg (2005: 50) ca. 200 Bund (2005: 200) "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 117 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 100 Baden-Württemberg (2005: 100) ca. 600 Bund (2005: 600) "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: ca. 20 Baden-Württemberg (2005: 20) ca. 40 Bund (2005: 40) Trotz des hohen Verfolgungsdrucks indischer Sicherheitsbehörden gegenüber Sikh-Extremisten und Verurteilung dieses Personenkreises zu langjährigen Haftstrafen oder der Todesstrafe im Pandschab haben dort militante Sikhs im Jahr 2006 unverändert auch durch Gewaltanwendung für die Kampf für einen Schaffung eines unabhängigen Staates "Khalistan" (Land der Reinen) unabhängigen gekämpft. Aufgrund des konsequenten Vorgehens der indischen Regierung Staat gegen die Terrorkommandos und deren mutmaßliche Sympathisanten wurden viele Sikhs in die Emigration gezwungen. Die im Exil lebenden Anhänger der Sikh-Bewegung haben sich überwiegend in Kanada, den USA und in Großbritannien, aber auch in Frankreich und Deutschland politisch organisiert. Der am 17. April 2006 in Hasselt/Belgien an einem Mitglied der dortigen Sikhgemeinde begangene Mord löste weltweite Beachtung, tiefe Betroffenheit und Verunsicherung in den internationalen extremistischen Sikh-Kreisen aus. Maskiert mit einer Sturmhaube stürmte der Täter in das Telefonkartengeschäft seines Opfers, tötete es durch Kopfschüsse aus nächster Nähe und flüchtete unerkannt. In extremistischen Sikh-Kreisen machte man für die Tat zum einem den indische Geheimdienst214 verantwortlich, zum anderen wurde ein krimineller Hintergrund gesehen. 214 Der Getötete war im Jahre 1992 an einem missglückten Attentat auf den ehemaligen Polizeichef von Pandschab und damaligen indischen Botschafter in Bukarest/Bulgarien beteiligt. Dort wurde er wegen des Anschlags zu acht Jahren Haft verurteilt. 118 Ausländerextremismus Die ISYF und die BK sind von der Europäischen Union (EU) als terroristigeführt auf der sche Organisationen eingestuft. Terroristische Aktivitäten entwickelten sie "EU-Terrorliste" bisher fast ausschließlich in Indien. 2006 sind in Deutschland extremistische Sikh-Gruppierungen nicht durch gewalttätige Aktionen in Erscheinung getreten. Lediglich in Baden-Württemberg wurden zwei politisch motivierte Auseinandersetzungen bekannt. Protestdemonstrationen anlässlich des indischen Nationalfeiertags (26. Januar) und des Unabhängigkeitstags (15. August 1947), an denen auch Anhänger extremistischer Sikh-Organisationen aus Baden-Württemberg teilnahmen, verliefen friedlich. Deutschland dient den hier lebenden Sikh-Extremisten als Ruheund Deutschland als Finanzierungsbasis. Kultureller, religiöser und politischer Mittelpunkt sind Ruheund die Sikh-Tempel (Gurdwaras). In Baden-Württemberg sind diese in StuttFinanzierungsgart, Mannheim und Tübingen als Vereine angemeldet. In den Vereinsräubasis men treffen sich regelmäßig Anhänger der in zwei Flügel gespaltenen ISYF, der BK und der KMDI. Funktionäre dieser Gruppierungen nutzen dort durchgeführte Versammlungen oder Veranstaltungen zu Ehren gefallener Kämpfer stets zu Propagandazwecken und zum Aufruf zu großzügigen Spendenzahlungen, um den "Befreiungskampf" zu unterstützen. Neben den Tempeln konnten Stützpunkte extremistischer Sikhs in Herrenberg, Nürtingen, Reutlingen, Sigmaringen und im Raum Überlingen lokalisiert werden. Erstmals konnte unter den einzelnen Gruppierungen eine gesteigerte Aggressivität beobachtet werden, die auf permanente politische Streitigkeiten zurückzuführen ist. So wurden am 6. Juni 2006 bei einer Schlägerei vor dem Sikh-Tempel in Stuttgart zwei Sikhs verletzt. Der Tat waren anhaltende ideologische Meinungsverschiedenheiten unter verschiedenen SikhGruppierungen vorausgegangen. Im Gegensatz zu den Sikh-Tempeln in Frankfurt/Main und Köln war diese tätliche Auseinandersetzung für den Bereich des Stuttgarter Sikh-Tempels ein Novum, zumal es hier bisher gemäßigten Anhängern extremistischer Gruppierungen stets gelungen war, politische Streitigkeiten zu schlichten oder körperliche Auseinandersetzungen schon im Vorfeld abzuwenden. Ebenfalls aus politisch motivierten Streitigkeiten kam es am 14./15. Juli 2006 in Holzgerlingen/Krs. Böblingen unter Mitgliedern der KMDI zu körperlichen Auseinandersetzungen. Die in Großbritannien publizierte pandschabisprachige Zeitung "Des Pardes" ist für die in der Diaspora lebende Sikh-Gemeinde eine wichtige Informationsquelle. Hier werden sie über Ereignisse in Indien und über Akti119 vitäten im Ausland unterrichtet. Vor allem aber bietet das Blatt extremistischen Organisationen eine politische Plattform für Mitteilungen an ihre Anhänger. 6. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 110 Baden-Württemberg (2005: 110) ca. 800 Bund (2005: 800) Im Jahr 2006 eskalierte die Gewalt in Sri Lanka, wo seit über zwei Jahrzehnten die "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) mit Waffengewalt für einen eigenständigen Staat "Tamil Eelam" im mehrheitlich von Tamilen bewohnten Norden des Landes kämpfen. Bei zahlreichen Attentaten der separatistischen LTTE unter Führung von Vellupillai PRABHAKARAN und anschließenden Aktionen der sri-lankischen Armee kamen allein 2006 insgesamt über 3.000 Menschen ums Leben, 200.000 sollen inzwischen auf der Flucht sein. So starben bei einem im April durchgeführten Selbstmordanschlag im Hauptquartier der sri-lankischen Armee in Colombo zahlreiche Menschen, der Armeechef überlebte schwer verletzt. 64 Menschen, darunter auch mehrere Kinder, wurden getötet, als im Juni in der SelbstmordNähe eines Reisebusses Sprengsätze detonierten. Im Oktober verloren bei anschläge einem Selbstmordanschlag auf einen Militärkonvoi im Norden des Landes über 100 Soldaten ihr Leben. Im selben Monat verübten die LTTE einen Anschlag auf eine Marinebasis in Galle, einem Touristenort im Süden Sri Lankas, und töteten dabei über 20 Soldaten. Die Situation verschärfte sich vor allem nach einem Luftangriff der sri-lankischen Armee auf ein Kinderheim in der LTTE-Region Mullaitivu im August 2006. Die sri-lankische Regierung begründete diese Aktion damit, dass es sich bei dieser Einrichtung um ein verstecktes LTTE-Ausbildungslager gehandelt habe. Bei dem Angriff wurden 61 vorwiegend junge Mädchen getötet und 130 verletzt. Die im Jahr 2002 begonnenen Friedensgespräche zwischen den LTTE und der sri-lankischen Regierung schienen aufgrund dieser Eskalation bedeu120 Ausländerextremismus tungslos geworden zu sein. Im September 2006 mussten sich die Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, denen die LTTE eine pro-singhalesische Haltung vorwarfen, auf Druck der LTTE aus der Sri Lanka Monitoring Mission (SLMM) zurückziehen, die seither nur noch aus norwegischen und isländischen Beobachtern besteht. Im Mai 2006 setzte die Europäische Union (EU) die LTTE aufgrund der von ihr ausgehenden Gewalt auf die Liste terroristischer Organisationen.215 Die tamilische Diaspora in Deutschland nahm diese Maßnahme als ein "EU-Vererstmals auf bot" wahr und reagierte mit einer Reihe regionaler und überregionaler "EU-Terrorliste" Demonstrationen. Den Abschluss dieser Reihe bildete eine Großkundgebung in Berlin am 18. September 2006, an der mehrere Tausend Personen teilnahmen. Das "Tamil Coordinating Committee" (TCC) mit Sitz in Oberhausen hatte diese Protestaktionen in einem Flugblatt angekündigt: "Mit dem Beschluss der Europäischen Union, die LTTE - die Repräsentantin der Tamilen - als terroristische Organisation zu verbieten, hat sie einseitig in den Konflikt interveniert und damit unsere politischen Aspirationen kriminalisiert." In Baden-Württemberg fanden u. a. folgende Veranstaltungen mit LTTEBezug statt: Am 29. April 2006 richtete die Stuttgarter "Kulturvereinigung der Tamilen e.V." eine Märtyrergedenkveranstaltung aus, die ursprünglich als "Tamilisches Kulturfest" angemeldet worden war. Etwa 600 Personen nahmen daran teil. Am 25. Juli 2006 organisierte die "Kulturvereinigung der Tamilen e.V." Stuttgart auf dem Schlossplatz einen Hungerstreik unter dem Motto "Stopp der Tötung der Tamilen". Mit dieser Aktion machte man auf die aktuelle politische Situation in Sri Lanka aufmerksam, gedachte zugleich aber auch des ersten LTTE-Selbst215 Siehe Erklärung des Vorsitzes im Namen der Europäischen Union zur Einstufung der LTTE als terroristische Organisation vom 31. Mai 2006. 121 mordattentats aus dem Jahr 1987. Über 50 Personen nahmen an dieser eintägigenProtestaktion teil. Zum Gedenken an die Opfer der Bombardierung des Kinderheims in Mullaitivu organisierte die Stuttgarter LTTE-nahe "Tamilische Bildungsvereinigung e.V." (TBV) im August 2006 in mehreren Städten Mahnwachen und Infostände, darunter in Kirchheim unter Teck, Mannheim und Stuttgart. bislang friedliche Trotz der sich verschärfenden Situation in Sri Lanka blieben die Kundgepolitische bungen der LTTE-Anhänger friedlich. Deutschland dient diesem PersonenAktivitäten kreis neben der Beschaffung von Geldmitteln durch den Verkauf von Propagandaartikeln oder durch die gezielte Sammlung von Geldspenden in erster Linie als Zufluchtsort und Plattform, um auf die politische Situation in Sri Lanka aufmerksam zu machen. 7. Iranische Gruppen Die "Volksmodjahedin" unter der Bezeichnung "Modjahedin-e Khalq Organisation" (MEK oder MKO) und "People's Mojahidin of Iran" (PMOI) gelten auch in dem am 29. Mai 2006 veröffentlichten und überarbeiteten Beschluss des Rats der Europäischen Union (EU) vom 2. Mai 2002 als terroristische Organisation. Gegen diesen Beschluss haben die "Volksmodjahedin" vor dem Europäischen Gericht in erster Instanz in Luxemburg am 12. Dezember 2006 erfolgreich geklagt. Ihr militanter Flügel "National Liberation Army of Iran" (NLA) sowie die "Muslim Iranian Student's Society" werden ebenfalls als terroristische Gruppierungen genannt. Der "Nationale Widerstandsrat von Iran" (NWRI) beziehungsweise der "National Council of Resistance of Iran" (NCRI) werden von der Auflistung als Terrororganisation ausgenommen. Der international tätige NWRI wurde als scheinbar parteiübergreifende demokratische Sammlungsbewegung 1981 in Paris gegründet und versteht sich selbst als die wichtigste Oppositionsgruppe gegen das religiöse iranische Regime. Dominiert wird der "Widerstandsrat" allerdings von Anhängern und Mitgliedern der "Volksmodjahedin". Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2006 in Deutschland, an der auch die iranische Nationalmannschaft teilnahm, bestand zunächst die Befürchtung, dass diese Oppositionsgruppe die weltweite Aufmerksamkeit für ihre Zwecke nutzen könnte. Mögliche Aktionen von Anhängern der 122 Ausländerextremismus "Volksmodjahedin" während dieser Zeit konnten nicht ausgeschlossen werden. In Baden-Württemberg entstand eine besondere Brisanz dadurch, dass die iranische Fußballnationalmannschaft während des Zeitraumes der Vorrundenbegegnungen in Friedrichshafen am Bodensee ihr Mannschaftsquartier unterhielt. Hinzu kamen Ankündigungen der iranischen Staatsführung, gegebenenfalls ein Vorrundenspiel der iranischen Nationalmannschaft besuchen zu wollen. Entgegen den Aussagen einiger Kritiker der "Volksmodjahedin", die in diversen Briefen auf das Gewaltpotenzial der Organisation aufmerksam zu machen versuchten, versicherte die Deutschlandvertretung des NWRI in öffentlichen Verlautbarungen, keine Aktionen durchzuführen, die den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland zuwiderhandeln würden. Tatsächlich wurden während des gesamten Zeitraumes der Fußball-Weltmeisterschaft keine nennenswerten Aktionen der "Volksmodjahedin" bekannt. Wie auch in den Jahren zuvor richteten sich die Aktivitäten des NWRI in europaweiten Veranstaltungen gegen das iranische Regime und seinen Präeuropaweite sidenten Ahmadinejad. Die größte Kundgebung fand am 1. Juli 2006 in Le Veranstaltungen Bourget bei Paris statt. Dort versammelten sich mehrere Tausend Anhänger aus ganz Europa, um für einen demokratischen Wandel im Iran und gegen Teherans Atompolitik zu protestieren. Im Beisein von Parlamentariern aus Europa und Übersee forderte die NWRI-Präsidentin Maryam RAJAVI den "Umsturz der religiösen Diktatur".216 Weiterhin unklar blieb das Schicksal der über 3.000 Frauen und Männer der NLA, die sich auf irakischem Boden im "Camp Ashraf" aufhalten sollen. Im Jahr 2006 stand das Lager unter der Kontrolle von 120 bulgarischen Soldaten. Nach Inkrafttreten der neuen irakischen Verfassung hat man den Flüchtlingsstatus, den die Frauen und Männer der NLA vor dem Einmarsch der US-Truppen und dem Sturz Saddam Husseins im Lager Ashraf innehatten, nicht wieder bestätigt. Am 12. September 2006 trat ein durch Parlamentarier und Menschenrechtler aus der ganzen Welt gegründetes "Komitee zur Verteidigung der Mitglieder der PMOI im Irak" zu seiner 216 Spiegel Online vom 2. Juli 2006: Iranische Exil-Opposition - Hoffen auf die friedliche Revolution. 123 ersten Sitzung in Brüssel zusammen, um sich für die Anerkennung als politische Flüchtlinge und das Bleiberecht im Irak einzusetzen. Seit 1994 sind die "Volksmodjahedin" durch den NWRI in Deutschland vertreten. In Baden-Württemberg unterstützen unverändert etwa 70 Aktivisten Geldbeschaffung und zahlreiche Sympathisanten die Organisation. Auch im Jahr 2006 wichtiges demonstrierten ihre Anhänger auf zahlreichen Kundgebungen gegen das Betätigungsfeld iranische Atomprogramm, so am 12. Januar vor dem Auswärtigen Amt in Berlin. Um die zum Teil mit großem Aufwand durchgeführten Aktionen zu finanzieren, zählte auch weiterhin die Geldbeschaffung zu einem wichtigen Betätigungsfeld des NWRI. Durch Sammelvereine wurden in Städten im gesamten Bundesgebiet Spendensammlungen angeblich für humanitäre Zwecke durchgeführt. Als wahrscheinlicher gilt wohl, dass diese Gelder in die umfangreiche politische Arbeit der Organisation fließen. "Einschränkungen für die iranische Hauptoppositionskraft sind das größte Hindernis in Richtung einer demokratischen Änderung in Iran" 217, stellte RAJAVI in einer Rede am 10. April 2006 in Straßburg fest. RAJAVI sieht die Möglichkeit einer Wende im Iran nur dann für gegeben, wenn die "Volksmodjahedin" von der "Terrorliste" gestrichen werden. Ob aber die von RAJAVI in ihrer Rede genannte "große Basis im Volk" vorhanden ist, um "zusammen mit seinem organisierten Widerstand" eine demokratische Wende herbeizuführen, bleibt fraglich. Insofern muss man auch hier die weiteren Beschlüsse und Verhandlungen rund um das umstrittene iranische Atomprogramm und die weitere Entwicklung des explizit "anti-jüdisch" eingestellten Präsidenten Ahmadinejad abwarten. Die im Jahr 2006 immer schwieriger gewordene Lage im Irak wird die Bedeutung der iranischen Regierung für eine Lösung der regionalen Konflikte erhöhen. Dies wird wiederum entsprechende Auswirkungen auf die iranische Exilopposition haben, deren Einfluss mit diesen Entwicklungen wachsen oder schwinden wird. 217 Hier und im Folgenden: NWRI-Website vom 24. April 2006. 124 Ausländerextremismus 8. Weitere Informationen Weitere Informationen zum Thema Ausländerextremismus können der Broschüre "Erscheinungsformen des Ausländerextremismus" (2001) entnommen werden. Aktuelle Berichte zum Ausländerextremismus können Sie auch auf unserer Internetseite http://www.verfassungsschutz-bw.de/ausl/start_ausl.htm abrufen. 125 D. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen Der deutsche Rechtsextremismus rückte auch 2006 wiederholt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit: die seit Jahren schon ansteigende Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten; die sich verstärkende rechtsextremistische Demonstrationstätigkeit insbesondere von neonazistischer Seite, die mit einer Zunahme gewalttätiger so genannter "RechtsLinks-Auseinandersetzungen" einhergeht; der Einzug der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) in den mecklenburg-vorpommerschen Landtag; die Verteilung so genannter "Schulhof-CDs" rechtsextremistischen Inhalts zur Indoktrinierung Jugendlicher; die Prozesse gegen prominente rechtsextremistische Geschichtsrevisionisten. Diese und andere Faktoren führten auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene zu Debatten über die Dimension des gesamtgesellschaftlichen Problems Rechtsextremismus und über die richtigen Wege, es zu lösen. Aufgabe des Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem ist es unter anderem, durch Aufklärung der Öffentlichkeit einen Beitrag zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zu leisten. Es ist zu konzunehmende statieren, dass sich die NPD in den letzten Jahren zur auffälligsten rechtsBedeutung extremistischen Partei in Deutschland entwickelt hat und einen spürbaren der NPD Einfluss auch auf weite Teile der übrigen rechtsextremistischen Szene ausübt beziehungsweise auszuüben versucht. Es können sogar erste Ansätze einer Ausrichtung oder Konzentration größerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD festgestellt werden, womit sie als eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste rechtsextremistische Organisation in der Bundesrepublik einzustufen ist. Wie schon in vergangenen Jahren, so kommentierten auch im Jahr 2006 deutsche Rechtsextremisten insbesondere diejenigen gesamtgesellschaftlichen Debatten, bei denen sie Themen mitten in der Gesellschaft breit diskutiert sahen. 2006 galt dies für die Debatten um die Spannungen zwischen westlicher und islamischer Welt und die Patriotismusdebatte. Schon 2002 wurde diese Tendenz bei der Antisemitismussowie der Vertreibungsdebatte festgestellt und 2003 bei der Bombenkriegsdebatte. Rechtsextremisten verbinden mit solchen Diskussionen die Hoffnung, dass zukünftig nicht nur diese Themen gesamtgesellschaftliche Diskursfähigkeit erlangen, sondern auch rechtsextremistische Positionen zu diesen Themen. Dementsprechend interpretieren sie solche Debatten immer wieder als begrüßenswerte Tabubrüche, die eine tief greifende Trendwende des Zeitgeistes, einen 126 Rechtsextremismus umfassenden politisch-kulturellen Paradigmenwechsel in Deutschland einleiteten. Eine Beschäftigung mit den rechtsextremistischen Beiträgen zu diesen Debatten gewährt einen intensiven Einblick in rechtsextremistischideologische Denkweisen. 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale 2006 war das rechtsextremistische Gesamtpersonenpotenzial im Vergleich zu 2005 in Baden-Württemberg wie im Bund rückläufig, womit ein seit Rückgang beim Mitte der 1990er-Jahre fast bruchloser Trend seine Fortsetzung fand. Seit Personen1993 hat sich durch diesen Trend die Zahl der Rechtsextremisten im Bund potenzial um deutlich mehr als ein Drittel und in Baden-Württemberg sogar fast um die Hälfte verringert. Hinter diesem personellen Schrumpfungsprozess verbergen sich jedoch seit Jahren zwei gegenläufige Entwicklungen: Während rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse, die wie zum Beispiel die DVU über ein überdurchschnittlich lebensaltes Mitgliederreservoir verfügen, seit Jahren in der Summe teils drastische Rückgänge zu verkraften haben, sind gleichzeitig überdurchschnittlich junge rechtsextremistische Segmente, hier insbesondere die rechtsextremistische Skinhead-, aber auch die Neonaziszene, von quantitativ ehemals eher marginalen zu bedeutenden Faktoren herangewachsen, die zusammen mittlerweile rund ein Drittel der deutschen Rechtsextremisten ausmachen. Zumindest in Baden-Würt127 temberg stagnierte dieser bedenkliche Verjüngungsprozess 2006 jedoch: Zwar hatte die immer noch mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland, die DVU, auf Bundesund auf Landesebene wieder mehr oder minder deutliche Mitgliederverluste hinzunehmen, während die um einen Schulterschluss mit Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads bemühte NPD auf beiden Ebenen Mitgliederzuwächse verbuchen konnte. Auch die Neonaziszene verzeichnete in Bund wie Land wieder leichte erstmals auch Zuwächse. Doch verlor die rechtsextremistische Skinheadszene in BadenRückgang bei Württemberg erstmals seit 2002 wieder Anhänger. Und auch auf Bundesden Skinheads ebene verharrte die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die rechtsextremistischen Skinheads einen wesentlichen Teil ausmachen, in Stagnation. Der Blick auf das Abschneiden rechtsextremistischer Parteien bei den fünf Landtagswahlen des Jahres 2006 offenbart ein differenziertes Bild: Bei den beiden Landtagswahlen am 26. März 2006 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz setzte die NPD die nach ihrem Einzug in den sächsischen Landtag im September 2004 begonnene Serie der für sie desillusionierenden Wahlniederlagen fort. Zwar gelangen ihr in Baden-Württemberg, wo sie nur in 52 von 70 Wahlkreisen antreten konnte, und in Rheinland-Pfalz mit Ergebnissen von 0,7 Prozent beziehungsweise 1,2 Prozent Zugewinne auf niedrigem Gesamtniveau, doch ist die Partei von einer Etablierung als erfolgreiche Wahlpartei zumindest in Westdeutschland weiterhin weit entfernt. Die am 17. September 2006 in Berlin abgehaltene Landtagswahl bescherte der NPD mit 2,6 Prozent zwar wieder ein Scheitern an der Fünfweiterer Einzug Prozent-Hürde, doch gelang ihr am selben Tag in Mecklenburg-Vorpomder NPD in ein mern der Einzug in das Schweriner Parlament, so dass sie jetzt über eine Landesparlament zweite ostdeutsche Landtagsfraktion verfügt. Gemäß den Bestimmungen ihres "Deutschland-Paktes" mit der NPD trat die "Deutsche Volksunion" (DVU) 2006 nur in Sachsen-Anhalt an, wo sie 1998 mit 12,9 Prozent das beste Landtagswahlergebnis einer rechtsextremistischen Partei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzielt hatte. Nicht nur vor diesem Hintergrund war das Ergebnis von 3,0 Prozent eine Enttäuschung für die DVU. 1.2 Strafund Gewalttaten Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Strafwie auch der darin enthaltenen Gewalttaten stieg 2006 weiter an. Doch während die Zahl rechtsextremistischer Straftaten insgesamt im Vergleich zu 2005 (1.071) "nur" um ein knappes Fünftel (19,7 Prozent) auf 1.282 zulegte, erhöhte sich die Anzahl entsprechender Gewalttaten um knapp zwei Fünftel (39,4 Prozent). 128 Rechtsextremismus Mit 99 solcher Gewalttaten im Jahr 2006 (2005: 71) setzte sich der bereits seit Jahren anhaltende Trend fort, beschleunigte sich offenbar sogar noch (2002: 51; 2003: 56; 2004: 67). Diese Entwicklung ist unter anderem auf verZunahme bei stärkt zu registrierende "Rechts-Links-Auseinandersetzungen" zurückzufüh"Rechts-Linksren. Die Zunahme dieser Auseinandersetzungen steht in engem AuseinanderZusammenhang mit der verstärkten rechtsextremistischen, insbesondere setzungen" neonazistischen Demonstrationstätigkeit in den letzten Jahren. Hinzu kommt eine generell ansteigende Gewaltbereitschaft insbesondere von Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads gegenüber politischen Gegnern und Sicherheitskräften.218 Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts sowie rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 2006 1.3 Ideologie Die rechtsextremistische Szene in der Bundesrepublik Deutschland ist in sich ideologisch zersplittert. Dennoch gibt es diverse Ideologiebestandteile, die bereits seit vielen Jahrzehnten (teils seit dem 19. Jahrhundert) im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielen und bis heute für viele oder gar für die meisten Rechtsextremisten im Grundsatz konsensfähig sind. Dabei haben einzelne dieser Bestandteile aufgrund wechselnder historischpolitischer Rahmenbedingungen an Bedeutung innerhalb des ideologischen Gesamtgefüges verloren (zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antikommunismus seit 1989), andere gewonnen (zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antiamerikanismus seit 1989): 218 Vgl. dazu das Teilkapitel 4.3 auf den Seiten 150 bis 157. 129 Wesensmerkmale Die "Ideologie der Ungleichheit", insbesondere der rechtsextremisdes Rechtstische Nationalismus, Sozialdarwinismus219 und Rassismus. Der Rasextremismus sismus erhält eine erhöhte Brisanz, wenn er zur Begründung des im rechtsextremistischen Lager allgegenwärtigen Antisemitismus herangezogen wird (Rassenantisemitismus). Die "Ideologie der 'Volksgemeinschaft', die auch als Völkischer Kollektivismus bezeichnet wird. Rechtsextremistische Fremdenund Ausländerfeindlichkeit haben nicht zuletzt in diesem rassistisch-nationalistischen Konzept ihren Ursprung. Autoritarismus. Konkrete Ausformungen des rechtsextremistischen Autoritarismus sind Militarismus und Antiliberalismus220, aber auch ein auf das "Führerprinzip" reduziertes Staatsund Politikverständnis, das wiederum Demokratiefeindschaft und Antiparlamentarismus beinhaltet. Revisionismus. Von Geschichtsrevisionismus spricht man, wenn Rechtsextremisten die NS-Verbrechen - besonders den Holocaust und die nationalsozialistische Schuld am Ausbruch des 2. Weltkrieges - verschweigen, rechtfertigen, verharmlosen, durch Aufrechnung mit vermeintlichen und tatsächlichen Verbrechen anderer Nationen und politischer Systeme relativieren oder sogar leugnen. Von Gebietsrevisionismus ist die Rede, wenn Rechtsextremisten die Anerkennung der deutschen Gebietsverluste, wie sie sich aus den beiden Weltkriegen ergeben haben, verweigern oder noch weitere Gebiete entgegen den vertraglichen Verpflichtungen, die Deutschland seit 1918 beziehungsweise 1945 eingegangen ist, für Deutschland beanspruchen. Der rechtsextremistische Antimodernismus äußert sich in deutlich ablehnenden Reaktionen auf geistige, wissenschaftlich-technische, ökonomische, soziale und kulturelle Modernisierungsschübe und in der Verklärung vergangener Zustände. 219 Sozialwissenschaftliche Theorie, die Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften überträgt. 220 Ablehnung einer Staatsund Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gewährt werden soll. 130 Rechtsextremismus 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt Im Jahr 2006 stieg die Zahl der rechtsextremistisch motivierten GewalttaAnstieg bei den ten weiter an, nämlich auf 99 (2005: 71). Damit setzte sich der bereits seit GewalttatenJahren anhaltende Trend auf diesem Gebiet fort, beschleunigte sich offenzahlen bar sogar noch (2002: 51; 2003: 56; 2004: 67). Diese Entwicklung ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass aufgrund der verstärkten rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Demonstrationstätigkeit in den letzten Jahren die Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten zunehmen. Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit sind heutzutage im deutschen Rechtsextremismus zwar in der Regel fast ausschließlich auf die Skinheadszene und Teile der Neonaziszene - hier ist generell eine ansteigende Gewaltbereitschaft gegenüber politischen Gegnern und Sicherheitskräften festzustellen221 - begrenzt. Dennoch können bei diesem Thema auch andere Teile der rechtsextremistischen Szene nicht aus der Mitverantwortung entlassen werden: Denn schon seit Jahren ist eine mehr oder minder ausgeVernetzung prägte Vernetzung nicht nur von Skinheads und Neonazis untereinander, sondern auch mit anderen Rechtsextremisten zu beobachten, beispielsweise mit der NPD, die bei ihrer seit 2004 betriebenen "Volksfront"-Strategie den Schulterschluss mit Neonazis und Skinheads übt und Vertreter dieser beiden Gruppen auf ihren Demonstrationen zumindest duldet, wenn nicht begrüßt. Wer sich in dieser Weise mit gewaltbereiten Rechtsextremisten vernetzt, ihnen ein Forum bietet und sie damit in der Konsequenz aufwertet, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, sich von deren Gewaltbereitschaft entschieden und eindeutig zu distanzieren. Eine erhebliche Nähe zur Gewalt ist schon seit dem 19. Jahrhundert in den ideologischen Grundlagen des Rechtsextremismus (hier besonders: Sozialdarwinismus; Militarismus; Hass auf Feindbilder) angelegt. Diese Ideologiebestandteile werden bis heute - in verschiedenen Abwandlungen - in der rechtsextremistischen Szene - und nicht nur unter Skinheads und Neonazis - verbreitet. 221 Vgl. dazu das Teilkapitel 4.3 auf den Seiten 150 bis 157. 131 2.2 Die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene: Ein Boom schwächt sich ab? Manche zentralen Indikatoren, an denen man noch - und gerade - im Jahr 2005 den bis in die frühen 1990er-Jahre zurückreichenden Boom der rechtsextremistischen Skinheadszene222 im Allgemeinen und der dazugehörigen Musikszene im Besonderen223 hatte ablesen können, wiesen im Jahr 2006 nach unten, insbesondere die Anzahl der in Baden-Württemberg registrierten rechtsextremistischen Skinheads und die Zahl der von rechtsextremistischen Skinheadbands im Land gegebenen Konzerte. Zugleich aber stieg die Zahl der baden-württembergischen Skinheadbands auf bereits hohem Niveau noch weiter an (2006: 19; 2005: 18), was mit der Entwicklung auf Bundesebene konform geht, wo die entsprechende Vergleichszahl von 142 im Jahr 2005 auf 153 im Jahr 2006 anwuchs. Auch die Zahl der von baden-württembergischen Skinheadbands produzierten CDs, die in den letzten Jahren sogar rückläufig war (2003: neun; 2004: sieben; 2005: fünf), zog wieder auf acht an. Hinzu kamen zwei CD-Sampler aus Anlass der Fußball-WM, zu denen auch baden-württembergische Skinheadbands Titel beisteuerten: der Sampler "no one like's us, we don't care", unter anderem mit Beiträgen der Skinheadbands "Act of Violence" aus dem Raum Ulm, "Schutt & Asche" aus Friedrichshafen und "Propaganda" aus dem Raum Horb am Neckar sowie der Sampler "...zu Gast bei uns, der Fußballsampler", wiederum unter anderem mit einem Beitrag von "Act of Violence". Rückgang der Die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads ging auf circa 840 zurück224 Skinheadzahl und unterschritt damit nicht nur die 2005 (circa 1.040) erstmals überschrittene Tausender-Marke, sondern auch die Zahl für 2004 (circa 960). Dadurch verringerte sich auch ihr Anteil an den gewaltbereiten Rechtsextremisten insgesamt (2006: circa 900; 2005: circa 1.080; 2004: circa 1.000). Die badenwürttembergische Entwicklung des Jahres 2006 liegt damit nicht im Bun222 Nicht alle Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. Neben rechtsextremistischen existieren auch linksorientierte, linksextremistische, aber auch unbis antipolitische Skinheads. 223 Für die Details, Hintergründe und Ursachen dieses Booms siehe: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 115-129. 224 Der Anteil der weiblichen Skinheads, der so genannten "Renees", blieb mit circa 19% konstant (20032005: 19%). 132 Rechtsextremismus destrend: Hier stagnierte die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, unter denen die rechtsextremistischen Skinheads einen Großteil ausmachen, bei circa 10.400 (2005: circa 10.400). Übersicht über rechtsextremistische Skinheadbands und Vertriebe in Baden-Württemberg Vertriebe Skinheadbands Stand: 31.12.2006 Grafik: LfV BW Die räumliche Zuordnung der Skinheadbands orientiert sich an den Wohnsitzen der aktuellen bzw. Gründungsmitglieder. 1 Die zwei Skinheadbands werden als eine gezählt, da Personenidentität besteht. 133 Die Zahl der in Baden-Württemberg veranstalteten Skinheadkonzerte ging 2006 im Vergleich zu 2005 (26) drastisch auf 14 und damit wieder auf den Wert des Jahres 2004 zurück. Zudem nahm die durchschnittliche Konzertbesucherzahl weiter auf circa 115 Personen ab (2005: circa 140). Damit fällt die Tendenz in diesem Bundesland noch deutlicher aus als im Bund insgesamt, wo statt 193 Konzerten (2005) 2006 nur noch 163 Konzerte stattfanden (durchschnittliche Konzertbesucherzahl Bund 2005: circa 160, 2006: circa 135). Erklärungsansätze für die Entwicklung im Jahr 2006 mögliche Es ist noch zu früh, in den zum Teil rückläufigen Zahlen für das Jahr 2006 Trendwende bereits eine grundsätzliche Trendumkehr zu erkennen. Schon in der Vergangenheit zeigten vorübergehend einzelne Indikatoren abwärts225, und dennoch ergab sich in der Gesamtschau seit den Anfängen der 1990er-Jahre ein regelrechter Boom der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene. Zwar fallen die jetzigen Rückgänge der Konzertzahlen und der Zahl rechtsextremistischer Skinheads in Baden-Württemberg, deren Rückgang unter die Tausender-Grenze sicherlich nicht nur von symbolischer Bedeutung ist, relativ deutlich aus. Doch gilt dieser Befund in Bezug auf die Skinheadzahlen eben nur für Baden-Württemberg, nicht für die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten im Bund insgesamt, und außerdem bezüglich der Konzertzahlen nur im Vergleich zu 2005. Beide Werte, sowohl die Zahl badenwürttembergischer Skinheads wie auch der im Land veranstalteten Skinheadkonzerte, liegen immer noch über den Werten für 2003, als der Boom der rechtsextremistischen Skinhead(musik)szene bereits im vollen Gange war. Es lassen sich für die Entwicklung des Jahres 2006 Erklärungsansätze aufzeigen. Manche dieser Faktoren könnten, wenn sie auch in den kommenden Jahren wirksam bleiben, zu einem weiteren, dann vielleicht kontinuierlichen Schrumpfen der rechtsextremistischen Skinheadszene beitragen: * Es liegen Anzeichen dafür vor, dass die repressiven Maßnahmen, mit denen sich die rechtsextremistische Skinhead(musik)szene seit Jahren konfrontiert sieht, im Jahr 2006 Wirkung gezeigt haben. Dabei schien sich die Entwicklung des Jahres 2005 bei den Skinheadkonzerten in Baden-Württemberg zu Anfang des Jahres 2006 fortzusetzen: Am 21. Januar 2006 fanden gleichzeitig in Karlsruhe und Geislingen-Eybach/Krs. Göppingen die ersten beiden Konzer225 So fiel beispielsweise von 2001 auf 2002 die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads in Baden-Württemberg von circa 820 auf circa 770. Von 1999 auf 2000 sank die Zahl der im Land veranstalteten Skinheadkonzerte von zehn auf acht. 134 Rechtsextremismus te des Jahres statt, wovon das erstgenannte mit gut 450 Teilnehmern (darunter auch Schweizer und Franzosen) das bestbesuchte Skinheadkonzert in Baden-Württemberg seit Juli 2004 war (Geislingen: circa 130). Doch beide Konzerte wurden von der Polizei aufgelöst, obwohl sich die Veranstalter des Karlsruher Konzertes - wie in der Szene mittlerweile üblich - im Vorfeld sehr konspirativ verhalten hatten und die Verantwortlichen in Geislingen - auch das ein in der Szene mittlerweile üblicher Winkelzug - die Auflösung ihres Konzertes im letzten Moment dadurch zu verhindern versucht hatten, dass sie es faktenwidrig in eine Geburtstagsfeier umdeklarierten. Es erfolgreiche kann davon ausgegangen werden, dass die beiden KonzertauflösunRepression gen gleich zu Beginn des Jahres, zumal sie 2006 nicht die einzigen blieben, erheblichen Eindruck in Form von Abschreckung, Frustration und Demotivation auf die Szene gemacht haben dürften: Veranstalter sahen ihre Konspirationsbemühungen nicht fruchten und ihre Profiterwartungen unerfüllt, blieben womöglich sogar auf hohen Ausgaben sitzen. Teilnehmer sahen sich nach zum Teil langer Anfahrt um ihr "Vergnügen" gebracht. Beide Gruppen mussten bei zukünftigen Konzerten damit rechnen, dieselben Erfahrungen wieder zu machen. * Die hohe Konzertzahl von 2005 war auch einer vorübergehenden Sonderkonstellation geschuldet: Acht und damit fast ein Drittel der 2005 in Baden-Württemberg registrierten Skinheadkonzerte fanden zwischen Mitte Januar und Ende Mai 2005 im damaligen Clubhaus der Rockergruppe "MC Bandidos" in Mannheim-Rheinau statt, obwohl damals wie heute nicht von einer inhaltlich-ideologischen Annäherung der rechtsextremistischen Skinheadszene an die Rockergruppe "MC Bandidos" im Speziellen oder an die Rockerszene im Allgemeinen - oder umgekehrt - ausgegangen werden konnte. Vielmehr scheinen hier vorrangig kommerzielle Interessen im Vordergrund gestanden und private Beziehungen eine Rolle gespielt zu haben, zumal die damaligen Skinheadkonzerte zumeist von einem bekannten, damals vor Ort in Mannheim ansässigen Rechtsextremisten veranstaltet worden waren. Nach dem 21. Mai 2005 wurde im "Bandidos"-Clubhaus kein Skinheadkonzert mehr durchgeführt, da der "MC Bandidos" dieses Gebäude zum 31. Mai 2005 verlassen musste. Eine ähnlich günstige Gelegenheit, viele Konzerte relativ kurz aufeinander folgend an einem Ort zu veranstalten, ergab sich nach Mai 2005 und auch im Jahr 2006 für die baden-württembergische Szene nicht wieder. 135 * Im bisherigen Boom der rechtsextremistischen Skinheadmusikszene steckt eine wichtige Teilerklärung für die eklatanten Rekrutierungserfolge der dazugehörigen Skinheadszene der vergangenen Jahre - und umgekehrt. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass die beiden Phänomene sich zumindest zum Teil gegenseitig erzeugen, bedingen und somit füreinander ebenso Ursache wie Folge sind: Zum einen geht von der rechtsextremistischen Skinheadmusik ein Rekrutierungseffekt für die rechtsextremistische Skinheadszene aus. Über den Konsum der Musik finden umso mehr Jugendliche Zugang zum Rechtsextremismus, je präsenter die Szene durch ein vielfältigeres CDund ein flächendeckenderes Konzertangebot wird. Umgekehrt stellen rechtsextremistische Skinheads naturgemäß die Hauptzielgruppe und die primären Konsumenten rechtsextremistischer Skinheadmusik. Durch ihre bisher steigende Anzahl verbreiterten sie also wiederum den Markt für die rechtsextremistische Skinheadmusik. Alle diese Mechanismen können jedoch auch in die Gegenrichtung Wirkung entfalten: So ist nicht auszuschließen, dass die drastisch zurückgegangene Zahl der rechtsextremistischen Skinheadkonzerte im Land auch eine Abwärtsspirale bei der Zahl der rechtsextremistischen Skinheads in Gang setzt, da weniger Konzerte - im Zusammenspiel mit der relativ deutlich gesunkenen durchschnittlichen Konzertbesucherzahl - demnach eine geringere Rekrutierungswirkung ausüben. Die sinkende Zahl rechtsextremistischer Skinheads verkleinert wiederum den Markt für rechtsextremistische Skinheadmusik. Diese These wird allerdings durch die im Jahr 2006 gestiegene Zahl baden-württembergischer Skinhead-CDs zum Teil relativiert. Strukturierungsansätze in der rechtsextremistischen Skinheadszene geringer OrgaSkinheads erweisen sich zumeist als unwillig und/oder unfähig, eigene, fesnisierungsgrad tere Organisationsstrukturen zu bilden oder in bereits vorhandenen rechtsextremistischen Organisationen kontinuierlich mitzuarbeiten. Ursache dafür sind für die Szene typische Eigenschaften wie Desinteresse an ideologisch-politischen Fragen, Hang zu exzessivem Alkoholkonsum und Disziplinlosigkeit. Dennoch gegründete regionale Skinhead-Vereinigungen sind häufig kurzlebig. Auch 2006 waren in Baden-Württemberg keine erwähnenswerten Neugründungen zu verzeichnen, während bereits bestehende Gruppierungen weniger aktiv waren. 136 Rechtsextremismus Die seit circa 2000 existierende baden-württembergische Skinhead-Gruppierung "Stallhaus Germania" aus Mühlacker, die mit einer eigenen Seite im Internet vertreten ist, setzte ihre Aktivitäten auch 2006 fort. So versuchte sie am 7. Oktober 2006 in ihrem Clubhaus in Mühlacker-Lomersheim ein Skinheadkonzert zu veranstalten, das jedoch von der Polizei verhindert wurde. Internetseite der "Stallhaus Germania" Die deutsche "Division" der neonazistisch geprägten Skinheadorganisation "Blood&Honour" (B&H) wurde bereits im September 2000 verboten. Dennoch wurden vor allem in Südwestdeutschland seit 2003 Nachfolgebestrebungen beobachtet. Dabei blieben maßgebliche Personen weitgehend in ihrem früheren Hauptbetätigungsfeld - der Organisation rechtsextremistischer Skinheadkonzerte - aktiv. Aufgrund dessen wurden am 7. März 2006 in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Sachsen und Thüringen 120 Wohnobjekte von insgesamt 80 Rechtsextremisten durchsucht. Die Beschuldigten standen im Verdacht, B&H fortzuführen oder Nachfolgestrukturen zu unterstützen, also gegen das Vereinigungsverbot gemäß SS 85 StGB verstoßen zu haben. Die Durchsuchungen waren die umfangreichste Exekutivmaßnahme gegen B&H-Angehörige seit dem Verbot. In Baden-Württemberg waren 19 Wohnobjekte von der Aktion betroffen. Schwerpunkt war der Großraum Karlsruhe. Es wurden zahlreiche Gegenstände mit B&H-Bezug beschlagnahmt, darunter Textilien, Tonträger und PCs. Die 1986 in den USA gegründeten, dezidiert rassistischen "Hammerskins" haben sich die Schaffung einer so genannten "Hammerskin-Nation" zum Ziel gesetzt, die alle Skinheads weißer Hautfarbe umfassen soll. Doch dieses Ziel wird zumindest in Deutschland weit verfehlt: Bundesweit werden ihnen nur circa 100 Personen zugerechnet. Ihre Anhängerschaft in BadenWürttemberg beschränkt sich auf einzelne Personen. 137 Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg nach Wohn-, Veranstaltungsorten/Szeneaktivitäten Stand: 31.12.2006 Grafik: LfV BW 3. Rechtsextremistische Musikszene Prozess gegen Am 21. November 2006 begann vor dem Landgericht Stuttgart der Prozess "Race War" gegen vier Mitglieder der rechtsextremistischen Skinheadband "Race War" aus dem Ostalbkreis. Schon am folgenden Tag wurden die vier Angeklagten, nachdem sie umfassende Geständnisse abgelegt hatten, unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (SS 129 StGB) zu Freiheitsstrafen von 17 bis 23 Monaten auf Bewährung verurteilt. Dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung hatte sich zuvor erst eine rechtsextremistische Band ausgesetzt gesehen, die neonazistische Berliner Band "Landser". Drei ihrer Mitglieder wurden am 22. Dezember 2003 vom Kammergericht Berlin unter anderem wegen Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu Freiheitsund Geldstrafen verurteilt, darunter der Sänger und Texter der Band zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten. 138 Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Musikszene reduziert sich nicht allein auf die zwar stilistische stilistisch relativ vielfältige, aber doch deutlich auf einen jugendlichen Vielfalt Musikgeschmack ausgerichtete Skinheadmusik. Sie wird ergänzt durch eine ganze Reihe rechtsextremistischer Liedermacher, die in der Regel traditionelle Musikstile pflegen und dadurch auch ältere Rechtsextremisten ansprechen. Der wohl bekannteste rechtsextremistische Liedermacher des deutschsprachigen Raums ist Frank RENNICKE, der bis September 2006 in Ehningen/Krs. Böblingen wohnhaft war und dann nach Bayern verzog. Doch unabhängig von seinem Wohnort erreicht er durch seine vielfältigen Kontakte und Auftritte bei Veranstaltungen verschiedener rechtsextremistischer Organisationen bundesweit ein breites, an einzelnen Tagen in die Tausende gehendes Publikum aus allen Altersstufen. Skinheadkonzerte in Baden-Württemberg 2006 Stand: 31.12.2006 Grafik: LfV BW 139 3.1 "Schulhof-CDs" als rechtsextremistische Rekrutierungsmittel und Wahlkampfmedien Bereits seit Anfang 2004 entwarf eine breite Allianz von Rechtsextremisten aus dem Inund Ausland, darunter auch einschlägig bekannte Rechtsextremisten aus Südwestdeutschland, eine Propagandaoffensive mit damals neuer, singulärer Dimension: das so genannte "Projekt Schulhof". Im Zentrum dieses Projekts stand die erklärte Absicht der Initiatoren, eine CD mit dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" in außerordentlich hoher Stückzahl bundesweit, kostenlos und an jugendspezifischen Orten (zum Beispiel auf Schulhöfen) an Jugendliche zu verteilen, um diese für den Rechtsextremismus zu interessieren und letztlich zu rekrutieren. Das "Projekt" fand schon bald verschiedene rechtsextremistische Nachahmer, so dass sich mittlerweile mehrere "Schulhof-CD"-Varianten im Umlauf befinden. Alle diese Jugendliche im CD-Projekte haben im Kern ein Hauptziel gemeinsam: Sie sollen für den Visier von Rechtsdeutschen Rechtsextremismus die Jugend und damit die Zukunft gewinextremisten nen. Die Konzepte, die den CD-Projekten zugrunde liegen, erweisen sich dabei - zumindest in der Theorie - als ausgesprochen zielgerichtet und zielgruppenorientiert. Tatsächlich aber wird die Praxis der Theorie nicht immer gerecht, zumal wenn - wie in der Vergangenheit wiederholt geschehen - die Verteilung der CDs eher willkürlich und eben nicht an jugendspezifischen Orten erfolgt. Mit der Multimedialität ihrer Produkte (vom klassischen Werbeplakat über die CD selbst bis zur Projekt begleitenden Internetseite) und der Vielfalt der auf den CDs vertretenen musikalischen Stilrichtungen (vom Hardrock über Liedermacher-Balladen bis zum Deutschlandlied) zeigen sich die CD-Macher jedoch innovativ und undogmatisch. Inhaltlich-ideologisch bewegen sich die CDs aber auf ausgetretenen rechtsextremistischen Pfaden und predigen somit in letzter Konsequenz rechtsextremistische, antimodernistische Gegenentwürfe zur westlichen Moderne. Insbesondere die NPD entdeckte in den letzten Jahren das Propagandapotenzial von "Schulhof-CDs" für ihre Wahlkampfund sonstigen Rekrutierungszwecke und produzierte verschiedene eigene Tonträger. 140 Rechtsextremismus 3.1.1 Das ursprüngliche "Projekt Schulhof"226 Nachdem die Verteilung der CD mit dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" im August 2005 angelaufen war und zur Sicherstellung von bundesweit circa 3.700 Tonträgern (davon etwa 850 in Baden-Württemberg) geführt hatte, tauchten 2006 in Baden-Württemberg weitere Exemplare auf. So wurden in der Nacht zum 25. Januar 2006 insgeVerteilaktionen in samt 130 "Schulhof-CDs" an drei Schulen in Bad Säckingen und Wehr im BadenLandkreis Waldshut ausgelegt. Damit wurde erstmals in Baden-WürttemWürttemberg berg die ursprüngliche Projektintention umgesetzt, die CDs an jugendspezifischen Orten zu platzieren. In beiden Städten wiederholten sich solche Aktionen unter anderem an Haltestellen und wieder an öffentlichen Schulen am 22. Juni 2006 mit insgesamt 168 CDs. Ende Juni 2006 tauchten auch im benachbarten Schopfheim/Krs. Lörrach weitere rund zwei Dutzend CDs auf. Schon am 20. Mai 2006 waren elf "Schulhof-CDs" in Briefkästen in Waldbronn-Busenbach/Krs. Karlsruhe entdeckt worden. Am 8. Februar 2006 wurde der Auftraggeber der 50.000 Exemplare des "Projekt Schulhof"-Samplers vom Vorwurf der schweren Jugendgefährdung erstinstanzlich freigesprochen. In seiner Urteilsbegründung hob das Amtsgericht Stendal/Sachsen-Anhalt darauf ab, dass die Inhalte der "SchulhofCD" zwar rechtsextremistisch und verfassungsfeindlich seien, jedoch nicht den Straftatbestand der schweren Jugendgefährdung erfüllen. Die Staatsanwaltschaft Halle legte noch am selben Tag Revision gegen das Urteil ein. Damit hat der allgemeine bundesweite Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts Halle vom 4. August 2004 vorerst weiterhin Bestand. Am 6. April 2006 indizierte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) die zum Projekt gehörige Internetseite. Die CD selbst ist nach wie vor nicht indiziert. Anfang September 2006 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart Anklage gegen zwei Rechtsextremisten aus Stuttgart und Laupheim. Der Vorwurf lautet auf Verunglimpfung des Staates und Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz. Bei den beiden waren 2005 bei einer Durchsuchung in Stuttgart 235 beziehungsweise bei einer Fahrzeugkontrolle im Raum Ulm 425 "Schulhof-CDs" gefunden worden. Ein Urteil steht noch aus. 226 Zu den Details des ursprünglichen "Projekts Schulhof": Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 176-181. Dass. (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 124-126. 141 3.1.2 "Schulhof-CDs" der NPD Die NPD griff die Strategie des "Projekt Schulhof" schon 2004 erstmals auf und setzte in den Landtagswahlkämpfen in Sachsen 2004 und in SchleswigHolstein 2005 eine eigene kostenlose "Schulhof-CD" mit dem polemischpopulistischen Titel "Schnauze voll? Wahltag ist Zahltag" ein. Nicht zuletzt aufgrund ihres Wahlerfolges in Sachsen, wo Jungwähler weit überdurchschnittlich für die Partei gestimmt hatten, veröffentlichte die NPD schon zur Bundestagswahl am 18. September 2005 eine zweite NPD-"SchulhofCD" mit dem provokativen Titel "Hier kommt der Schrecken aller linken Spießer und Pauker!". Eine strafrechtliche Relevanz der beiden CDs ist nach Prüfung verschiedener Staatsanwaltschaften nicht gegeben.227 Im Zuge des baden-württembergischen Landtagswahlkampfes brachte der NPD-Regionalverband BöblingenStuttgart-Ludwigsburg eine eigene CD heraus. Gerade diese CD ist das klassische Beispiel eines MultimediaPaketes. Auf ihr sind abspielbeziehungsweise abrufbar: insgesamt zehn Titel von Frank RENNICKE und der rechtsextremistischen Skinheadband "Noie Werte" aus dem Raum Stuttgart, über ein Dutzend NPD-Flugblätter, die NPD-Satzung, drei programmatische NPDTexte, ein Unterschriftenformular gegen einen EU-Beitritt der Türkei, zwei Wahlkampfzeitungen, ein NPDAufnahmeantragsformular und ein Video-Wahlkampfspot. Teile der CD wurden auf strafrechtliche Relevanz überprüft und nicht beanstandet. Nach Angaben des Regionalverbands wurde eine "Auflage von zunächst 5.000" CDs hergestellt, die "an Schulen in den Landkreisen Böblingen und Ludwigsburg sowie in der Stadt Stuttgart verteilt werden" sollte. CD und Hülle wurden bewusst unauffällig gestaltet, um "die Tonträger vor Lehrer-Beschlagnahmungen, beziehungsweise -Raub zu schützen".228 Neben dieser neuen, anlassbezogenen und Baden-Württemberg spezifischen CD tauchten im März 2006 in Langenau/Alb-Donau-Kreis und im Juli 2006 in Ellwangen Exemplare der NPD-CD "Hier kommt der Schrecken aller linken Spießer und Pauker!" auf. 227 Zu diesen beiden CDs siehe: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2005, S. 126-128. 228 Meldung ""Regionale Schulhof-CD im Umlauf! NPD startet in der Region Stuttgart Jugendaufklärung mit Musik" vom 15. März 2006, Homepage des NPD-Regionalverbands Böblingen-Stuttgart-Ludwigsburg vom 6. April 2006, Übernahme wie im Original. 142 Rechtsextremismus Zu den beiden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin Werbeträger im am 17. September 2006 publizierte die Partei eine in der TitelzusammenWahlkampf stellung teilweise veränderte Neuauflage der CD "Hier kommt der Schrecken aller linken Spießer und Pauker!". Auch ihr Inhalt liefert keinen Anlass für strafrechtliche Beanstandungen. Aus Baden-Württemberg waren dieselben rechtsextremistischen Musiker vertreten wie schon in der ursprünglichen Version: "Noie Werte" steuerten ebenso wieder einen Titel bei wie "Faktor Widerstand", ein Projekt, das aus einzelnen Mitgliedern von "Noie Werte" und einer rechtsextremistischen Liedermacherin aus Niedersachsen besteht. "Carpe Diem" aus dem Raum Esslingen und ihre Nachfolgeband "Odem" aus Stuttgart, die sich beide zu diesem Zeitpunkt allerdings schon aufgelöst hatten, tauchen ebenso wieder auf wie Frank RENNICKE. Nach Angaben der Partei wurde die CD in einer Auflage von 25.000 Exemplaren hergestellt. Die NPD führte am 5. September 2006 einen "landesweite[n] Aktionstag zur Verteilung von Tausenden Exemplaren" 229 der CD in Mecklenburg-Vorpommern durch. Bewertung Die NPD dürfte sich nicht zuletzt durch ihre beiden Wahlerfolge in Sachsen 2004 und in Mecklenburg-Vorpommern 2006, bei denen sie insbesondere unter jungen Wählern überdurchschnittlich hatte abschneiden können, in ihrer Strategie, "Schulhof-CDs" einzusetzen, grundsätzlich bestätigt sehen. Ihnen kommt wie schon dem ursprünglichen "Projekt Schulhof" auf jeden Fall eine - allerdings schwer in ihrer Tragweite einzuschätzende - Bedeutung bei der mittelund langfristigen Indoktrination Jugendlicher zu. Es besteht die Gefahr, dass solche CDs, deren Zahl durch immer neue CDGefährdung Projekte fortwährend erhöht wird, ähnlich wie Skinhead-CDs und Skinder Jugend headkonzerte junge Menschen generell an den Rechtsextremismus heranführen können, unabhängig von Wahlkampfzeiten und dem aktuellen (Wahl-)Alter der CD-Konsumenten. Dass die NPD bei der Verbreitung dieser CDs nicht nur an kurzfristiger Wählersondern auch an möglichst langfristiger Mitgliederrekrutierung interessiert ist, wird schon allein durch den Umstand deutlich, dass auf der während des baden-württembergischen Landtagswahlkampfes vom NPD-Regionalverband Böblingen-StuttgartLudwigsburg veröffentlichten "Schulhof-CD" auch ein NPD-Aufnahmeantragsformular abrufbar ist. Noch eindeutiger wird dies am Beispiel der im Juni 2006 mit einer eigenen Auftaktveranstaltung ins Leben gerufenen "Schulhof-Kampagne" des NPD-Bezirksverbands Mittelfranken mit dem 229 Meldung "MVP: Landesweiter Schulhof-CD-Aktionstag", NPD-Homepage vom 1. September 2006. 143 Titel "Rebellion im Klassenzimmer - NPD rockt".230 Die dazugehörige, nach Angaben des Bezirksverbands seither schon mehrfach in Bayern verteilte CD heißt zwar "Rebellion im Klassenzimmer...gegen Umerziehung und Multikulti", ist jedoch von ihren Musiktiteln her deckungsgleich mit der ursprünglichen Version der NPD-CD "Hier kommt der Schrecken aller linken Spießer und Pauker!", lediglich das Booklet und die CD-Oberfläche wurden neu gestaltet. Zweck dieser Kampagne ist ausschließlich die Indoktrination von Jugendlichen und die Mitgliederrekrutierung für NPD und deren Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN). 3.1.3 CD-Projekte der DVU Die DVU startete im Vorfeld der sachsen-anhaltinischen Landtagswahl am 26. März 2006 ein eigenes CD-Projekt mit dem Titel "Stolz und frei!". Es zielte offensichtlich nicht nur auf die eigentliche Landtagswahl ab, sondern auch darauf, "die eine Woche vor der regulären Wahl stattfindende offiziöse U-18-Abstimmung" zu "beeinflussen".231 Bei dem Projekt "U18 - Deine Wahl" konnten zwischen dem 13. und dem 18. März 2006 alle Jugendlichen in Sachsen-Anhalt "auf einem Stimmzettel, der analog zu dem der Landtagswahl gestaltet war", ihre Stimme abgeben, ohne dass diese Stimmen in das Landtagswahlergebnis am 26. März einflossen.232 erfolgloser NachDas CD-Projekt dürfte auf das gute Abschneiden der DVU bei der sachsenahmungsversuch anhaltinischen U18-Wahl wie auch auf das Scheitern der Partei an der Fünfder DVU Prozent-Hürde bei der darauf folgenden Landtagswahl ohne Einfluss geblieben sein. Zwar wurden acht Lieder von der CD auf den Internetseiten der Bundes-DVU und des sachsen-anhaltinischen DVU-Landesverbands ins Internet eingestellt.233 Doch wurde von Verteilaktionen in Sachsen-Anhalt nichts bekannt. Und auch der Inhalt der CD, von der DVU als "Eine Musiksammlung [...] nach Art einer rechten Schulhof-CD" 234 angekündigt, dürfte kaum dazu angetan sein, ein jugendliches Publikum anzusprechen: Trotz 230 Bericht "03. Juni/Auftaktveranstaltung zur Schulhof-Kampagne", Homepage des NPD-Bezirksverbands Mittelfranken vom 29. November 2006. 231 "National-Zeitung" (NZ) Nr. 11 vom 10. März 2006, Artikel "Sachsen-Anhalt-Wahlkampf in der Zielgeraden - Wie viel von der 'Schnauze voll'-Stimmung kann die DVU in Stimmen ummünzen?", S. 10. 232 URL: http://www.u18-Isa.de vom 14. Dezember 2006. Die U18-Wahl, an der insgesamt 3.660 Kinder und Jugendliche teilnahmen und bei der die DVU 9,6% erreichte, war ein Projekt der "Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V." Zu den Unterstützern des Projekts zählten unter anderem das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und das Land Sachsen-Anhalt. 233 Homepages des DVU-Bundesverbands und des DVU-Landesverbands Sachsen-Anhalt vom 14. Dezember 2006. 234 NZ Nr. 10 vom 3. März 2006, Artikel ",Dampf raus' bei Etablierten, 'Prinzip Provokation' bei der DVU - In Sachsen-Anhalt beginnt der Wahlkampf-Endspurt", S. 11. 144 Rechtsextremismus der Ankündigung, auf dieser "rockig-schmissigen Musiksammlung" sei auch "Rechtsrock" zu hören,235 sind rechtsextremistische Skinheadbands unter den acht im Internet eingestellten Liedern nicht vertreten. Lediglich zwei rechtsextremistische Liedermacher steuerten insgesamt drei Titel bei. Darüber hinaus sind unter anderem das "Deutschlandlied" mit allen drei Strophen und "Das DVU-Lied" namens "Stolz und frei sind wir geboren!" abrufbar. Hinzu kommen zwei Lieder aus der Zeit der Befreiungskriege und ein Lied aus den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, die in Stil wie Sprache kaum dazu angetan sein dürften, ausgerechnet Jugendliche für die DVU zu begeistern. 4. Neonazismus 4.1 Allgemeines Jeder Neonazi ist Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist NeoDefinition nazi. Der Neonazismus ist nur eine von mehreren Erscheinungsformen des Gesamtphänomens Rechtsextremismus, die vom ganz besonders ausgeprägten ideologischen Fanatismus ihrer Angehörigen gekennzeichnet ist. Die im öffentlichen Sprachgebrauch häufig vorgenommene Gleichsetzung "Rechtsextremismus = Neonazismus" läuft also auf eine Vereinfachung hinaus, die der komplexen Realität der ideologisch zersplitterten rechtsextremistischen Szene nicht gerecht wird. Als neonazistisch werden Personenzusammenschlüsse und Bestrebungen bezeichnet, die ein direktes oder indirektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem Vorbild des "Dritten Reiches" ausgerichtet sind. Dieses Eintreten für die Wiedererrichtung einer NS-Diktatur führte in den 1990er-Jahren zum Verbot zahlreicher neonazistischer Vereinigungen, was 235 NZ Nr. 11 vom 10. März 2006, Artikel "Sachsen-Anhalt-Wahlkampf in der Zielgeraden - Wie viel von der 'Schnauze voll'-Stimmung kann die DVU in Stimmen ummünzen?", S. 10. 145 das Erscheinungsbild dieser Szene nachhaltig veränderte. Um sowohl Organisierung bereits vollzogene als auch für die Zukunft erwartete Vereinsverbote zu ohne unterlaufen, sind seither in der Neonaziszene an die Stelle fester OrganisaOrganisation tionsstrukturen zumeist lockere, organisationsunabhängige und informelle Personenzusammenschlüsse getreten. Diese Gruppen verfügen zumeist nur über eine regionale Basis, über relativ wenige Angehörige (in der Regel pro Gruppe nicht mehr als circa fünf bis 20 Personen, meist junge Männer) und geben sich den Anstrich privater Cliquen oder Freundeskreise. Diese Aspekte kommen auch in den Selbstbezeichnungen der Gruppen zum Ausdruck: zum Beispiel "Kameradschaft Karlsruhe" oder "Kameradschaft Rastatt". Die typische Aktivität dieser "Kameradschaften" ist der so genannte "Kameradschaftsabend", bei dem man in Privatwohnungen oder Gaststätten unter sich bleibt, keine Außenwirkung entfaltet und die Zeit mit politisch-ideologischen Schulungen, der Vorbereitung von Aktionen oder einfach mit Geselligkeit verbringt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast jede dieser Gruppen meist fest in die bundesweite Neonaziszene, zum Teil aber auch in andere Teile der rechtsextremistischen Szene eingebunden ist und zuweilen bis ins Ausland Kontakte zu Gesinnungsgenossen pflegt. Dabei kommt den Neonazis ihre hohe Mobilität und ihre teils moderne Ausstattung mit Kommunikationstechnik (zum Beispiel Internetportale, "Nationale Info-Telefone" (NIT) mit abrufbaren Ansagetexten) zugute. Innerhalb dieser netzwerkartigen Strukturen legen sie einen nicht unerheblichen Aktionismus an den Tag, den sie vor allem durch Teilnahme an zahlreichen, nicht nur neonazistischen Demonstrationen - auch fernab ihrer regionalen Basis - ausleben. Die Überschneidungen zwischen Neonaziund rechtsextremistischer Skinheadszene äußern sich unter anderem in der Existenz entsprechender Mischszenen und in der Teilnahme einzelner Neonazis an Skinheadkonzerten. Versuche der Die Furcht vor staatlichen Repressionsmaßnahmen hat mittlerweile manche Abtarnung Neonazis zu "Tarnmaßnahmen" bewogen. Ziel ist dabei, nicht immer sofort als - gesellschaftlich stigmatisierter - Neonazi erkannt zu werden, vielleicht sogar mit den eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen Gehör auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene zu finden. Einzelne Neonazis nehmen hierzu äußerliche Anleihen bei der linksextremistischen autonomen Szene auf, beispielsweise, indem sie sich die Selbstbezeichnung "Autonome Nationalisten" zulegen. Aus ähnlichen Motiven vereinigen sich Neonazis immer wieder zu unverdächtig klingenden "Bürgerinitiativen" beziehungsweise "Bürgerbewegungen". 146 Rechtsextremismus 4.2 Bundesweite Aktivitäten 4.2.1 Rudolf Heß: Zentrale Symbolund Integrationsfigur der Neonaziszene Der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (1894-1987) ist eine, wenn nicht die Personenkult zentrale Symbolund Integrationsfigur der deutschen und internationalen Neonaziszene. Obwohl sich Heß' Todestag 2007 schon zum zwanzigsten Mal jährt, nimmt die kultische, teilweise religiös anmutende Verehrung seiner Person noch an Inbrunst zu. Kam zum Beispiel die neonazistische Monatszeitschrift "Nachrichten der HNG"236, die seit Jahren auf ihrer Seite 3 ein Heß-Bild samt entsprechender Huldigung abdruckt, bis zu ihrer Ausgabe vom Februar 2006 dafür mit einer knappen halben Seite aus, so nehmen Bild und Huldigungstext seit der 300. HNGAusgabe vom März 2006 unter der Überschrift "Rudolf Hess - Märtyrer des Friedens" die gesamte Seite 3 ein. Der neue Text ist ein aussagekräftiges Beispiel für kritiklosen Personenkult und ideologischen Fanatismus: "Als Parlamentär hielten sie Dich 46 Jahre lang schlimmer als ein Tier, menschenunwürdig in ihrem Isolationskäfig, brachen ihre eigenen Gesetze - das Völkerrecht! Kalt lässt die Antimenschen des deutschen Menschen Schicksal. Für sie und Rudolf Hess: Weder Recht noch Menschlichkeit! Nach 46 Jahren freilassen, wollte Dich der Russe, aber Du wusstest zuviel von den Lügen gegen das Reich. Ermordet haben sie Dich darum. Deine Mörder kamen vom anglo-usraelischen Geheimdienst. Totgeschwiegen wird es von den Democraten. Verleumdet wirst Du. Am meisten von den Verwaltern der - brddr - Märtyrer des Friedens bist Du - Rudolf Hess - Träger der geschändeten Wahrheit in Deutschland und - überall in der Welt!" 237 236 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG), vgl. 4.2.2, S. 150. 237 "Nachrichten der HNG" Nr. 307 vom Oktober 2006, S. 3, Übernahme wie im Original. Publikation der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V., vgl. 4.4.2, S. 150. 147 Die faktenwidrige, längst widerlegte Verschwörungstheorie, Heß habe im Berlin-Spandauer Kriegsverbrechergefängnis nicht Selbstmord begangen, sondern sei ermordet worden, um die "wahren" Hintergründe seines Großbritannien-Fluges vom Mai 1941 zu vertuschen, wird nicht nur in diesem Text vertreten, sondern ist in der Neonaziszene seit 1987 zum Allgemeingut geworden. Sie wird manchmal auch von anderen Rechtsextremisten kolportiert, die nicht der Neonaziszene zuzuordnen sind. Deshalb ist auch nicht Heß' Geburtstag, sondern sein Todestag (17. August) ein wichtiges Datum im neonazistischen Veranstaltungskalender: Gilt es doch, nicht nur den Märtyrerkult um Heß zu pflegen, sondern auch klassische rechtsextremistische Feindbilder (hier vor allem, aber nicht nur die westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges) als vermeintlich eiskalt berechnende Mörder an einem 93-jährigen, angeblich schuldlosen Greis zu diffamieren. Schon vor geraumer Zeit hatte der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen RIEGER bis 2010 jährliche Gedenkveranstaltungen um dieses Datum herum im bayerischen Wunsiedel angemeldet, wo Heß begraben liegt. Daraufhin konnte die Neonaziszene in den Jahren 2001 bis 2004 zentrale "Rudolf-Heß-Gedenkmärsche" in dieser Stadt durchführen. Die Zahl der Demonstrationsteilnehmer stieg dabei von rund 900 (2001) auf laut Polizeiangaben circa 3.800 (2004). kein zentraler 2006 konnte jedoch wie schon 2005 kein zentraler "Rudolf-Heß-GedenkMarsch in marsch" in Wunsiedel stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht hatte ein Wunsiedel entsprechendes Verbot des Landratsamtes Wunsiedel bestätigt. So wich die Szene wieder auf diesmal insgesamt zehn kleinere, dezentrale Veranstaltungen aus, die am oder um den 17. August, vor allem am 19. August, durchgeführt wurden. Daran nahmen insgesamt circa 1.200 Personen teil, was im Vergleich zu den rund 2.000 Teilnehmern, die 2005 die verschiedenen Ersatzveranstaltungen besucht hatten, noch einmal ein deutlicher Rückgang war. Die teilnehmerstärkste Demonstration fand mit gerade einmal rund 480 Personen in Jena statt. Zwei Ersatzdemonstrationen fanden auch in Baden-Württemberg statt, zogen jedoch nur wenige Teilnehmer an. Zu der von den JN angemeldeten Veranstaltung unter dem Motto "Für freie Meinung und gegen Zensur" versammelten sich am 17. August 2006 in Langenau/Alb-Donau-Kreis lediglich 24 Personen. Ging der Heß-Bezug dieser Demonstration aus dem Motto 148 Rechtsextremismus kaum hervor, so räumten die Demonstranten eventuelle diesbezügliche Zweifel aus, indem sie die Parole "Märtyrer des Friedens - Rudolf Heß" skandierten. Zwei Tage später fand in Schopfheim/Krs. Lörrach eine SponAktivitäten in tandemonstration mit circa 30 Teilnehmern statt, die Flugblätter mit HeßBadenBezug verteilten. Daneben kam es in mehreren baden-württembergischen Württemberg Städten zu Plakatklebeaktionen mit Heß-Bezug, unter anderem in Friedrichshafen, Karlsruhe, im Bereich Freudenstadt und im Landkreis Waldshut. Heß-Aufkleber, für die der neonazistische "Freie Widerstand - Süddeutschland" verantwortlich zeichnete, tauchten unter anderem in Friedrichshafen, Ravensburg und Wangen auf. An Brücken über die Bundesautobahnen A5 im Bereich Karlsruhe und A8 im Bereich Pforzheim wurden einschlägige Transparente unter anderem mit dem Text "Rudolf Hess/Das war Mord!!" angebracht. Das Verbot eines zentralen "Rudolf-Heß-Gedenkmarsches" in Wunsiedel basierte 2006 wie schon im Vorjahr auf dem erst 2005 in Kraft getretenen Absatz 4 des SS 130 StGB.238 Es wird vom Ausgang des beim Bayerischen Vergerichtliche waltungsgerichtshof anhängigen Hauptsacheverfahrens, durch das die VerEntscheidung fassungsmäßigkeit und die Anwendung des neuen SS 130 Abs. 4 StGB im steht noch aus konkreten Fall geklärt werden soll, abhängen, ob auch 2007 wieder ein zentraler Gedenkmarsch verhindert werden kann. Die Ereignisse von 2005 und 2006 haben bewiesen, dass die Variante der Heß-Verehrung mit mehreren dezentralen Ersatzveranstaltungen für die neonazistische Szene nicht nur unattraktiver ist als die zentrale, sondern immer unattraktiver zu werden scheint. Ein Gedenkmarsch in Wunsiedel mitsamt seines Symbolwerts und seiner Mobilisierungskraft ist für die Szene also nicht ersetzbar. Dass die Ersatzveranstaltungen aus juristischen Rücksichtnahmen in ihren Mottos keinen direkten Heß-Bezug mehr aufwiesen (zum Beispiel "Nur ein Esel glaubt noch an den Sozialstaat in der BRD! Rückführung statt Integration" auf der NPD-Demonstration am 19. August 2006 in München) und dadurch zu thematisch fast beliebigen rechtsextremistischen Demonstrationen wurden, dürfte manchen potenziellen Teilnehmer demotiviert haben. Die mangelnde Attraktivität, die von den dezentralen Veranstaltungen für die Szene ausging, war schon im Vorfeld des 17. August 2006 darin abzulesen, dass weder Mobilisierungen noch Busanmietungen durch baden-württembergische Rechtsextremisten registriert werden konnten. 238 Dieser Absatz 4 lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt." 149 4.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 60 Baden-Württemberg (2005: ca. 70) ca. 600 Bund (2005: ca. 600) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ist mit ihrer Langlebigkeit und ihrer relativ hohen Mitgliederzahl - die HNG ist die mitgliederstärkste Einzelorganisation in der Neonaziszene - untypisch für den deutschen Neonazismus, der im Hinblick auf die zahlreichen Verbote neonazistischer Vereinigungen in den 1990er-Jahren feste Organisationsstrukturen kaum noch ausbildet. In ihren Aktivitäten ist die HNG absolut spezialisiert: Sie verfolgt den selbst gestellten Auftrag, inhaftierte Gesinnungsgenossen moralisch und materiell zu unterstützen, zum Beispiel durch Rechtsberatung, Überlassung rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten. Ihr Ziel ist dabei, diese Gesinnungsgenossen auch während der Haft sozial und ideologisch weiter an die rechtsextremistische Szene zu binden und somit die staatlichen Ausstiegsangebote zu unterlaufen. Ansonsten erschöpft sich die Bedeutung der HNG in der monatlichen Veröffentlichung ihrer 20-seitigen Publikation "Nachrichten der HNG" und in der jährlichen Abhaltung einer Jahreshauptversammlung, die 2006 mit circa 200 Teilnehmern am 18. März im thüringischen Dillstädt stattfand. Trotz ihrer letztjährigen Ankündigung, in Zukunft nicht mehr für das Amt der HNG-Vorsitzenden zu kandidieren, bekleidet Ursula MÜLLER aus Mainz diese Funktion weiterhin wie schon seit 1991. 4.3 Verstärkte Demonstrationstätigkeit als Agitationsschwerpunkt der Neonaziszene Seit einigen Jahren nimmt die Anzahl rechtsextremistischer Demonstrationen239 in Bund wie Land deutlich zu. Neonazi-Demonstrationen haben an 239 Hierbei werden unter Demonstrationen angemeldete wie unangemeldete Kundgebungen und Aufzüge, aber auch Eilund Spontanversammlungen verstanden. Letztere machen mit ihrem in der Regel sehr kleinen Teilnehmerkreis (meist im unteren zweistelligen Bereich) einen erheblichen Anteil der rechtsextremistischen Demonstrationen aus. 150 Rechtsextremismus dieser Zunahme entscheidenden Anteil: Auf Bundesebene stieg ihre Zahl deutlicher von 61 (2001) auf 145 (2005), die der entsprechenden NPD-Veranstaltungen Anstieg der von 50 (2003) auf 60 (2005). In Baden-Württemberg verläuft die EntwickDemonstrationslung in dieselbe Richtung: Zwischen 2001 und 2005 verzehnfachte sich Zahl zahlen der Neonazi-Demonstrationen hier von zwei auf 20. Für 2006 waren rund 25 Demonstrationen mit eindeutigem Neonazi-Bezug zu verzeichnen. Dagegen stagnierte die Anzahl der baden-württembergischen NPD-Demonstrationen in den Jahren 2001 bis 2005 zwischen zwei und fünf. Doch ist für 2006 auch hier eine Steigerung zu verzeichnen, schlugen doch allein die JN mit sieben Demonstrationen zu Buche. Die NPD selbst trat 2006 dreimal als Demonstrationsanmelderin auf. Hinzu kommen fünf Wahlkampfkundgebungen des Neonazis und NPD-Landtagskandidaten Lars KÄPPLER aus Neckarwestheim/Krs. Heilbronn, die bei der Gegenüberstellung von NPDund Neonazi-Demonstrationen eine Art Zwitterstellung einnehmen. Insgesamt fanden rund 35 rechtsextremistische Demonstrationen in Baden-Württemberg statt - worin die fünf Wahlkampfkundgebungen noch nicht einmal enthalten sind -, was einer erneuten Steigerung im Vergleich zu 2005 (22 rechtsextremistische Demonstrationen) entspricht. Die Gründe, die dieser Entwicklung zugrunde liegen, sind zahlreich und vielschichtig: Ein zentrales, schon länger gültiges Motiv, das Rechtsextremisten, insbesondere Neonazis, aber auch NPD-Aktivisten bei ihrer (verstärkten) Demonstrationstätigkeit leitet, besteht darin, rechtsextremistische beziehungsweise neonazistische Präsenz auf der Straße zu zeigen. Vor dem Hintergrund der eigenen gesamtgesellschaftlichen Überwindung Isolation, die sich nicht zuletzt in einer äußerst negativen Mediender Isolation berichterstattung über den Rechtsextremismus beziehungsweise Neonazismus niederschlägt, erscheint dieser Demonstrationsaktionismus Aktivisten wie KÄPPLER offensichtlich als die beste Möglichkeit, die Szene und ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen und Aufmerksamkeit zu erregen. Neonazis versuchen dabei, ihr trotz in den letzten Jahren steigender Zahlen immer noch relativ geringes Personenpotenzial (Bund 2006: 4.200, 2005: circa 4.100; Land 2006: circa 320, 2005: circa 310) dadurch aufzufüllen, dass sie sich der rechtsextremistischen Skinheadszene als Mobilisierungspotenzial bedienen, wodurch die bereits seit Jahren festzustellenden Überschneidungen (zum Beispiel in Form von Mischszenen) zwischen diesen beiden rechtsextremistischen Teilszenen partiell zu erklären sind. Das Spektrum der Rechtsextremisten, die Demonstrationen veranstalten, hat sich in den letzten Jahren deutlich aufgefächert. Bis vor 151 wenigen Jahren trat vorwiegend die NPD als Demonstrationsveranstalterin auf, was nicht zuletzt auf ihren Parteienstatus, aber auch auf ihren erklärten Willen, im Zug ihres "Drei-[mittlerweile Vier-]Säulen-Konzeptes" 240 auch einen "Kampf um die Straße" führen zu wollen, zurückzuführen war. Schon damals nahmen häufig Neonazis an NPD-Demonstrationen teil. Seit 2000 erzielte jedoch auch die neonazistische Szene selbst, insbesondere der Hamburger Neonazi Christian WORCH, Erfolge bei der juristischen Anfechtung von AgitationsVerboten eigener Demonstrationen. Daher verlagerte sich ab 2001 schwerpunkt bundesweit der Agitationsschwerpunkt der Neonaziszene auf die Durchführung möglichst vieler öffentlichkeitswirksamer Demonstrationen. Wie die oben angeführten Zahlen beweisen, hat sie auf diesem Gebiet der NPD mittlerweile zumindest quantitativ den Rang abgelaufen. Allerdings ist es angesichts der relativ engen Kooperation zwischen NPD und Neonaziszene in Einzelfällen nicht mehr einfach, zwischen NPDund Neonazi-Demonstration trennscharf zu unterscheiden, wofür KÄPPLERs Wahlkampfkundgebungen Beispiele sind. Seit wenigen Jahren treten vereinzelt auch rechtsextremistische Skinheads als Demonstrationsveranstalter auf. "Doppel-" und Seit 2003 trägt auch in Baden-Württemberg das Konzept der "Dop"Mehrfachdemos" pel-", manchmal auch "Mehrfachdemo" dazu bei, die Zahl rechtsextremistischer, speziell neonazistischer Demonstrationen in die Höhe zu treiben. Dabei werden mit demselben Personenpotenzial an einem Tag an mindestens zwei verschiedenen Orten, die jedoch nahe beieinander liegen oder verkehrstechnisch sehr günstig miteinander verbunden sind, Demonstrationen durchgeführt. Bestimmte Ereignisse und Kampagnen trugen dazu bei, dass das rechtsextremistische und insbesondere das neonazistische Demonstrationsaufkommen gerade 2006 weiter zunahm: Wie bereits dargestellt, ermöglichte die Neufassung des SS 130 StGB 2006 wie schon 2005 ein Verbot eines zentralen "Rudolf-HeßGedenkmarsches" im bayerischen Wunsiedel. Von den daraufhin durchgeführten dezentralen Ersatzveranstaltungen mit Heß-Bezug war Baden-Württemberg wie beschrieben am 17. August in Langenau und am 19. August in Schopfheim betroffen. Doch bereits im Herbst 2005 waren für den 28. Januar 2006 bundesweit mehrere Demonstrationen gegen den SS 130 StGB allgemein angemeldet wor240 Vgl. S. 169. 152 Rechtsextremismus den, darunter zunächst auch eine durch einen Neonazi aus dem Raum Karlsruhe in Karlsruhe unter dem Motto "Gegen staatliche Repressionen, weg mit dem SS 130 StGB". Nachdem dem Anmelder Protest gegen von der Stadt Karlsruhe bereits am 10. Januar 2006 eröffnet worden staatliche war, dass diese Demonstration verboten werden würde, führte er Repression zusammen mit weiteren rund 25 Rechtsextremisten noch am selben Tag eine spontane Protestkundgebung in Karlsruhe durch. Eine der Teilnehmerinnen, eine Stuttgarter Rechtsextremistin, meldete kurz danach eine Demonstration in Stuttgart für den ursprünglich vorgesehenen 28. Januar unter dem nun abgeänderten Motto "Keine Demonstrationsverbote - Meinungsfreiheit erkämpfen!" an. Das von der Stadt Stuttgart verhängte Verbot wurde sowohl vom Verwaltungsgericht Stuttgart als auch vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim aufgehoben. Insgesamt mobilisierten zu dieser Demonstration rund 20 rechtsextremistische Gruppierungen aus Baden-Württemberg und Bayern, darunter neonazistische "Kameradschaften", rechtsextremistische Skinhead-Vereinigungen und mehrere Untergliederungen der JN, so dass schließlich mindestens 300 überwiegend jüngere Teilnehmer aus der Neonaziund rechtsextremistischen Skinheadszene erschienen. Dabei führte das Aufeinandertreffen zum Teil gewaltbereiter Demonstrationsteilnehmer mit ihren linksextremistischen, ebenfalls gewaltbereiten Gegnern aus der "Antifa"und Autonomenszene in einigen Fällen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Steinwürfen, Schlägereien und verletzten Personen, darunter auch Einsatzkräften der Polizei241. Auch die 2006 gestartete, laut Unterstützerliste vorwiegend von AntikapitalismusNeonazis, NPDund JN-Unterorganisationen - in BW vom neonaKampagne zistischen "Aktionsbüro Rhein-Neckar" und vom JN-Landesverband - getragene242 bundesweite Antikapitalismuskampagne verstärkte die rechtsextremistische Demonstrationstätigkeit in BadenWürttemberg. So fand am 22. Juli eine von den JN angemeldete Versammlung unter dem Motto "Freie Menschen statt freie Märkte - Globalisierung und Kapitalismus stoppen" mit circa 50 TeilnehInternetbanner des "Aktionsbüro Rhein-Neckar" 241 Vgl. S. 206. 242 Internetauswertung vom 22. November 2006. 153 mern in Buchen/Neckar-Odenwald-Kreis statt. Noch am selben Tag versammelten sich rund 80 Rechtsextremisten auf Anmeldung der NPD unter dem Motto "Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre" in Eberbach/Rhein-Neckar-Kreis. Außerdem demonstrierten Rechtsextremisten an diesem Tag im Rahmen der Kampagne noch in mehreren mehr oder minder direkt an das nördliche BadenWürttemberg angrenzenden Orten in Hessen und Bayern, so dass von einer regelrechten Demonstrationsserie am 22. Juli 2006 gesprochen werden muss. "Tag der Arbeit" Während die NPD am 1. Mai 2006 eine zentrale Mai-Kundgebung in Rostock veranstaltete, kam es bundesweit zu mehreren dezentralen neonazistischen Demonstrationen am "Tag der Arbeit", von denen zwei - erstmals seit 2002 - in Baden-Württemberg stattfanden. Insgesamt veranstalteten Neonazis auf geographisch engstem Raum entlang der baden-württembergisch-hessischen Grenze sogar drei Mai-Demonstrationen mit jeweils rund 300 Teilnehmern. Nachdem zunächst schon Monate zuvor sowohl im hessischen Heppenheim unter dem Motto "Stoppt den Sozialabbau - Schafft Arbeitsplätze" als auch in Weinheim unter dem Motto "Arbeitsplätze zuerst für Deutsche - Kapitalismus und Globalisierung stoppen!" zwei als "Doppeldemo" konzipierte Veranstaltungen angemeldet worden waren243, erfolgte nur wenige Tage vor dem 1. Mai eine dritte Anmeldung für Ladenburg durch einen bekannten Rechtsextremisten aus Koblenz. Bei dem Anmelder der Heppenheimer Demonstration handelte es sich um KÄPPLER als Vertreter der von ihm im Dezem"Bürgerinitiative" ber 2004 gegründeten und faktisch allein personifizierten "Bürgerinitiative für ein besseres Deutschland" (BIBD). KÄPPLER trat in Heppenheim auch als Redner auf. Nachdem es dem in Ludwigshafen wohnhaften Anmelder der Weinheimer Demonstration, der in diesem Zusammenhang als Vertreter der neonazistischen, nach Oktober 2005 nur noch selten in Erscheinung getretenen "Bürgerinitiative für soziale Gerechtigkeit" auftrat, aus formalen Gründen nicht Internetbanner der "Bürgerinitiative für soziale Gerechtigkeit" 243 "Demonstrationsaufruf für Heppenheim (Südhessen) & Weinheim (Nordbaden)", Internetauswertung vom 22. November 2006. 154 Rechtsextremismus gelungen war, rechtswirksam Widerspruch gegen einen restriktiven Auflagenbescheid der Stadt Weinheim einzulegen, erfolgte umgehend eine weitere Anmeldung für Weinheim durch einen aus dem Saarland stammenden bekannten Rechtsextremisten. Das Motto dieser Demonstration lautete "Gegen staatliche Willkür". Diese personellen Konstellationen belegen, welch geringe Bedeutung Ländergrenzen für die weitläufig vernetzte Rechtsextremistenbeziehungsweise Neonaziszene haben. Ohnehin ist ungeachtet der "Aktionsbüro einzelnen Anmelder als zentraler Koordinator dieser DemonstraRhein Neckar" tionsserie das seit 2003 bestehende neonazistische "Aktionsbüro Rhein-Neckar" anzusehen. Es koordiniert im gesamten RheinNeckar-Raum die Aktivitäten der dort vertretenen Neonaziund rechtsextremistischen Skinheadgruppierungen, ist mittlerweile personell mit der NPD verflochten und verfügt über enge Kontakte zu rechtsextremistischen Führungspersonen und Gruppierungen in den angrenzenden Regionen. Sein Internetportal, auf dem das "Aktionsbüros Rhein-Neckar" der "Bürgerinitiative für soziale Gerechtigkeit" Speicherplatz für deren Internetseite zur Verfügung stellt, gehört mittlerweile zu den bundesweit wichtigsten rechtsextremistischen Internetseiten. Während die überwiegend aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen angereisten rechtsextremistischen Demonstranten am späten Vormittag des 1. Mai in Heppenheim begleitet von starken Polizeikräften noch relativ ungestört ihre Aufzugsstrecke absolvieren konnten, musste die Polizei am Nachmittag in Ladenburg einen massiven Blockadeversuch linksextremistischer Gegendemonstranten unterbinden und konnte mehrfach nur noch unter großen Anstrengungen ein gewalttätiges Aufeinandertreffen beider Lager verhindern. Anschließend begaben sich die rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmer via Nahverkehr nach Weinheim und hielten am frühen Abend auf dem Bahnhofsvorplatz noch eine kurze stationäre Kundgebung ab. Ebenfalls am 1. Mai störte eine rund 25 Personen umfassende, geschlossen und teilweise vermummt auftretende Gruppe von Rechtsextremisten massiv eine öffentliche Kundgebung des DGB und der IG Metall auf dem Marktplatz in Gaggenau/Krs. Rastatt, wobei rechtsextremistische Parolen skandiert und Veranstalter bedroht und beleidigt wurden. Die der regionalen Neonaziszene zuzuordnende Gruppe führte ein rotes Transparent mit der Aufschrift "1. Mai seit 1933 arbeitsfrei. Nationale Sozialisten" mit sich. Die Vorfälle in Ladenburg und Gaggenau am 1. Mai 2006, aber auch schon am 28. Januar 2006 in Stuttgart stehen stellvertretend für zwei immer aku155 tere Probleme, die in engem Zusammenhang stehen mit der verstärkten rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Demonstrationstätig"Rechts-Linkskeit: das zunehmende Auftreten von so genannten "Rechts-Links-AuseinAuseinanderandersetzungen" und die ansteigende Gewaltbereitschaft insbesondere von setzungen" Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads gegenüber politischen Gegnern und Sicherheitskräften. Da es seit vielen Jahren erklärtes Ziel gewaltbereiter Linksextremisten ist, rechtsextremistische Veranstaltungen - auch mit Gewalt - zu stören oder zu verhindern, führt die verstärkte rechtsextremistische Demonstrationstätigkeit zu einem deutlichen Anstieg bei den "Rechts-Links-Auseinandersetzungen", also zu Gewalttätigkeiten zwischen rechtsextremistischen Demonstranten und ihren linksextremistischen Kontrahenten. Gingen diese Gewaltakte in der Vergangenheit in der Regel und auch heute noch in der Mehrzahl von linksextremistischer Seite aus, ist seit wenigen Jahren bei solchen Gelegenheiten auch eine gesteigerte Gewaltbereitschaft von Seiten mancher Rechtsextremisten zu beobachten. Während selbst Neonazis sich bislang in den seltensten Fällen provozieren ließen und ganz überwiegend polizeiliche Auflagen und Weisungen einhielten, um so den Behörden keine Handhabe für ein Demonstrationsverbot oder eine Auflösung zu liefern sowie sich keiner Strafverfolgung auszu"Autonome setzen, hat sich dieses Bild etwa seit Mitte 2004 gewandelt. Verstärkt treten Nationalisten" - seit 2005 auch in Baden-Württemberg - "Autonome Nationalisten", häufig Internetbanner der "Autonome Nationalisten" schwarz gekleidet und teilweise vermummt, bei Demonstrationen als "schwarzer Block" in Erscheinung, drohen Gewalt an und lassen sich mit Einsatzkräften und gewaltbereiten Gegendemonstranten auf Auseinandersetzungen ein, die teilweise sogar bewusst provoziert werden. In der Szene wird dieses Vorgehen ausgiebig diskutiert, teilweise auch kritisiert, dennoch ist klar zu erkennen, dass es eine wachsende Strömung unter Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads gibt, die im Falle von Blockaden und gewalttätigen Protesten das entschlossene Vorgehen gegen Polizeiketten und Gegendemonstranten bejaht. Motive sind hier offenbar sowohl die Absicht, sich das Demonstrationsrecht nicht nehmen zu lassen beziehungsweise es notfalls gewaltsam durchzusetzen, als auch es dem politischen Gegner mit gleicher Münze heimzuzahlen und aus der vermeintlichen Opferrolle herauszukommen. Zunehmend ist auch zu beobachten, dass Rechtsextremisten ihrerseits versuchen, gezielt Veranstaltungen des politischen Gegners zu stören. 156 Rechtsextremismus KÄPPLER war auch 2006 wieder zu den zentralen Protagonisten der baden-württembergischen Neonaziszene zu zählen, dessen Aktivitäten jedoch nicht ausschließlich auf dieses Bundesland begrenzt sind, wie sein Auftreten am 1. Mai in Heppenheim belegt. So lebte er seinen ideologisch motivierten Aktionismus nicht nur unter dem Signum BIBD aus, sondern stellte sich auch bei der baden-württembergischen Landtagswahl am 26. März 2006 wie schon bei der vergangenen Bundestagswahl der NPD als Kandidat zur Verfügung (Wahlkreis 18 Heilbronn: 1,2 Prozent; Wahlkreis 22 Schwäbisch Hall: 1,7 Prozent). Zudem wählte ihn das im Oktober 2004 gegründete und im November 2006 aufgelöste "Nationale Bündnis Heilbronn" (NBH) auf seiner Mitgliederversammlung am 8. September 2006, auf der es sich zugleich in "Nationales Bündnis Heilbronn-Franken" umbenannte, zu seinem neuen Vorsitzenden.244 Die BIBD zählte zu den offiziellen Unterstützern des NBH.245 Das berufliche Standbein KÄPPLERs war 2006 seine Funktion als Geschäftsführer des in Rosenberg-Hohenberg/Ostalbkreis ansässigen "Verlagsund Medienhauses Hohenberg OHG", das unter anderem die neonazistische Zeitschrift "Volk in Bewegung - Vierteljahrsschrift für eine neue Ordnung!" herausgibt, als deren verantwortlicher Schriftleiter er 2006 fungierte. Mit Wirkung zum 1. Juni 2006 wurde die 2005 vom Verlag herausgegebene 48-seitige Schrift "Neue Ordnung. Grundlagen des nationalen Weltund Menschenbildes" von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert.246 Am 7. September 2006 erfolgte die Indizierung der kompletten Internetseite des Verlags durch die BPjM. Da der Verlag in erster Linie als Internethandel agiert, bedeutete diese Indizierung einen herben Schlag für KÄPPLER. Seit Mitte Oktober 2006, sofort nach Rechtswirksamkeit der Indizierung, der mit dem Abschalten der bisherigen Internetseite formal Genüge getan wurde, befindet sich der Verlag zwar wieder mit einer Internetseite im Netz. Doch fällt KÄPPLER auf auf, dass KÄPPLER seit Herbst 2006 seinen ideologisch motivierten Aktiodem Rückzug nismus offensichtlich deutlich zügelt. So sagte er drei für Oktober beziehungsweise Dezember 2006 angemeldete Demonstrationen in Schwäbisch Hall, Crailsheim und Heilbronn wieder ab. Die bereits seit Ende 1993 bestehende und damit älteste Neonazi-"Kameradschaft" in Deutschland, die "Kameradschaft Karlsruhe", die lange Zeit 244 Meldung "Nationales Bündnis Heilbronn-Franken bestimmt neuen Vorstand: Lars Käppler als neuer Frontmann gewählt!", Homepage des NBH vom 12. Oktober 2006. 245 Homepage des NBH vom 12. Oktober 2006. 246 Vgl. BPjM Aktuell 2/2006, S. 59. 157 die bekannteste und aktivste neonazistische Kameradschaft in Baden-Württemberg war, verschwindet wegen ihrer Inaktivität immer mehr aus der "Kameradschaft Öffentlichkeit. An ihre Stelle scheint die "Kameradschaft Rastatt" getreten Rastatt" auf zu sein. Sie rückte 2006 unter anderem dadurch in den Fokus der ÖffentVormarsch lichkeit, dass sie eine ehemalige Pizzeria in Rastatt anmietete, die seitdem als überregionales Treffund Veranstaltungslokal der rechtsextremistischen Skinheadund der Neonaziszene genutzt wird. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 Parteien mit rechtsextremistischer Zielsetzung 5.1.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 400 Baden-Württemberg (2005: ca. 390) ca. 7.000 Bund (2005: ca. 6.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus In den letzten Jahren hat sich die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) zur auffälligsten rechtsextremistischen Partei in Deutschland entwickelt, die einen spürbaren Einfluss auch auf weite Teile der übrigen rechtsextremistischen Szene ausübt beziehungsweise auszuüben versucht. zentrale Rolle Es können sogar erste Ansätze einer Ausrichtung oder Konzentration gröder NPD ßerer Teile der rechtsextremistischen Gesamtszene auf die NPD konstatiert werden. Die Partei ist somit als eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste rechtsextremistische Organisation in der Bundesrepublik einzustufen. Ihr baden-württembergischer Landesverband steht aber in seiner innerparteilichen Bedeutung immer noch hinter einigen anderen, geschlossener auftretenden, aktiveren, mitgliederstärkeren und bei Wahlen erfolgreicheren Landesverbänden wie zum Beispiel dem sächsischen und dem mecklenburg-vorpommerschen deutlich zurück. Der Bedeutungsgewinn der NPD fällt in die Amtszeit ihres Bundesvorsitzenden Udo VOIGT, der die Partei seit 1996 anführt und auf dem NPDBundesparteitag vom 11./12. November 2006 mit deutlicher Mehrheit in seinem Amt bestätigt wurde. Die herausgehobene Position der NPD innerhalb der rechtsextremistischen Organisationslandschaft lässt sich unter anderem an folgenden Anhaltspunkten festmachen: 158 Rechtsextremismus * Seit der Einstellung des 2001 gegen die NPD angestrengten Verbotsverfahrens (18. März 2003) wächst der Mitgliederbestand der Partei wieder und lag 2006 bei nunmehr ca. 400 (2005: ca. 390) im Land und 7.000 im Bund (2005: ca. 6.000). Damit hat die Partei die Mitgliederverluste, die ihr das Verbotsverfahren eingebracht hatte (Mitgliederbestand 2000 im Land: circa 480; im Bund: circa 6.500; Mitgliederbestand 2003 im Land: circa 380; im Bund: circa 5.000), zumindest zum Teil wieder wettgemacht und ist im Jahr 2006 auf deutlicher Anstieg Bundesebene zur personell zweitstärksten rechtsextremistischen bei den Partei hinter der DVU aufgestiegen. Seit 1996, als die Partei auf Mitgliederzahlen ihrem bisherigen Tiefpunkt angekommen war, hat sich die Bundesmitgliederzahl sogar verdoppelt (1996: circa 3.500), während die Landesmitgliederzahl im gleichen Zeitraum allerdings leicht zurückging (1996: circa 440). Mit dem personellen Zuwachs zumindest auf Bundesebene hebt sich die Mitgliederentwicklung der NPD von derjenigen der DVU in der Tendenz deutlich ab, die nämlich im Gegensatz dazu in den letzten zehn Jahren dramatisch an Mitgliedern verlor: Bund 1996: circa 15.000; 2006: 8.500; DVU im Land 1996: 1.900; 2006: 800. * Die Tatsache, dass sich die NPD trotzdem immer noch auf personell relativ niedrigem Niveau bewegt, wird zum Teil dadurch kompensiert, dass die Partei nicht nur in der Bundesspitze, sondern auch auf mancher Landesund Kommunalebene über aktionistihohes Aktionssche, kampagnefähige Kader verfügt, die zudem häufig ideologisch potenzial geschult und gefestigt sind. Auch diese Faktoren unterscheiden die NPD von der DVU und verleihen der Partei eine öffentliche Präsenz (zum Beispiel aufgrund von Demonstrationstätigkeit), die von den anderen rechtsextremistischen Parteien nicht erreicht wird. * Die NPD bemüht sich intensiv um einen Schulterschluss mit der Neonaziszene, was in der von ihr seit 2004 betriebenen "Volksfront"-Strategie zum Ausdruck kommt. Dabei kalkuliert die NPD den Eintritt von - teils führenden - Neonazis in die Partei bewusst mit ein. So wurde im September 2006 der Parteieintritt des Hamburger Rechtsanwalts und bundesweit bekannten Neonazis Jürgen Parteieintritte RIEGER gemeldet247, der schon bei der Bundestagswahl vom von Neonazis 18. September 2005 die Hamburger NPD-Landesliste angeführt hatte. Auf dem Bundesparteitag am 11./12. November 2006 in Berlin wurde er zudem als Beisitzer in den Bundesvorstand gewählt. 247 Pressemitteilung des NPD-Unterbezirks Stade "Rechtsanwalt Jürgen Rieger tritt der NPD bei" vom 5. September 2006, Homepage des NPD-Regionalverbands Südlicher Oberrhein vom 11.Oktober 2006. 159 Bereits seit Oktober 2004 ist mit Thorsten HEISE ein weiterer bundesweit bekannter Neonazi Mitglied im NPD-Bundesvorstand. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl am 26. März 2006 stellte sich der Neonazi KÄPPLER wie schon bei der vergangenen Bundestagswahl der Partei als Kandidat zur Verfügung. Diese personelle Verzahnung zwischen Neonaziszene und NPD verstärkt nicht nur die ohnehin schon vorhandenen neonazistischen Tendenzen innerhalb der Partei, sondern verbessert auch das früher immer wieder angespannte gegenseitige Verhältnis, was wiederum das Ansehen und damit die Einflussmöglichkeiten der NPD in der Neonaziszene erhöht. * Die NPD strebt auch einen Schulterschluss mit der rechtsextremistischen Skinheadszene an. Zu diesem Zweck veranstaltet sie zum Beispiel - zumindest vereinzelt - Skinheadkonzerte oder lässt Skinheadbands auf ihren Veranstaltungen auftreten. Hintergedanke Einbindung der beziehungsweise Ziel ist dabei, die jugendliche Skinheadszene als Skinheadszene Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial zu gewinnen. So traten auf dem 5. Pressefest des "Deutschen Stimme"-Verlags am 5. August 2006 in Dresden mehrere Skinheadbands auf, darunter "Carpe Diem" aus dem Raum Stuttgart/Göppingen. Nicht zuletzt auf diese Musikdarbietungen dürfte zurückzuführen sein, dass das Pressefest 2006 trotz widriger Witterungsbedingungen mit rund 7.000 Teilnehmern (NPD-Angaben: rund 8.000)248 so gut besucht war wie keines seiner vier Vorgänger. Aufgrund der für Skinheads typischen Unfähigkeit beziehungsweise Abneigung, sich langfristig in eine Organisation einbinden zu lassen und dort auch diszipliniert mitzuarbeiten, sind die langfristigen Erfolgsaussichten dieser Annäherungsversuche jedoch wohl begrenzt. Schon im Verfassungsschutzbericht 2005 wurde darauf hingewiesen, dass die seit geraumer Zeit zu beobachtende personelle Verflechtung der NPD mit anderen rechtsextremistischen Organisationen zunehmend enger wird. Dies äußert sich unter anderem darin, dass führende NPD-Mitglieder Leitungsfunktionen in solchen Organisationen übernehmen, was der Partei entsprechende Einflussmöglichkeiten eröffnet. So sitzt der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER aus VillingenSchwenningen, der zudem gemäß eines Beschlusses des Berliner NPDBundesparteitages zukünftig wie alle NPD-Landesvorsitzenden dem Bundesvorstand der Partei angehören soll, im Vorstand der rechtsextremisti248 Sonderausgabe der "Deutschen Stimme" (DS) vom September 2006 zum Pressefest 2006, Artikel "Breitgefächertes Spektrum nationalen Wollens - Das fünfte Pressefest der Deutschen Stimme", S. 1. 160 Rechtsextremismus schen "Gesellschaft für Freie Publizistik e. V." (GFP), als deren Vorsitzender Andreas MOLAU fungiert. MOLAU war 2006 stellvertretender Chefredakteur der im sächsischen Riesa erscheinenden NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS). Gleichzeitig ist SCHÜTZINGER als führender Funktionär der "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH) tätig. Die zunehmende zunehmende personelle Verflechtung der NPD mit anderen rechtsextrepersonelle mistischen Organisationen lässt sich aber auch am Beispiel des NBH nachVerflechtungen vollziehen. Dieses wählte auf seiner Mitgliederversammlung am 8. September 2006, auf der es sich zugleich in "Nationales Bündnis Heilbronn-Franken" umbenannte, den NPD-Bundestagsund Landtagskandidaten KÄPPLER zu seinem neuen Vorsitzenden, wodurch zugleich das neonazistische Element im NBH gestärkt wurde. Im Amt eines der beiden stellvertretenden NBH-Vorsitzenden wurde der damalige stellvertretende NPD-Landesvorsitzende und Vorsitzende des NPD-Kreisverbands Heilbronn, bestätigt.249 Außerdem zählten die NPD und JN seit jeher zu den offiziellen Unterstützern des NBH.250 Der NBH-Homepage war zu entnehmen, dass das Bündnis laut "Jahreskalender 2006" von "Januar bis März Unterstützung" im "NPD-Landtagswahlkampf" geleistet hatte.251 Auch die Art und Weise, wie die im November 2006 erfolgte Auflösung des NBH im Dezember 2006 der breiten Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde, dokumentiert die enge Verflechtung dieser beiden Organisationen: Die Bekanntmachung erfolgte auf der Internetseite des NPD-Kreisverbands Heilbronn mit einer Erklärung, die vom Kreisverband unterschrieben worden war. Darin wurde ausdrücklich betont, dass es von "Anfang an" die NPD gewesen sei, "die das NBH maßgeblich getragen [...] und durch seine Strukturen auch hauptsächlich unterstützt" habe.252 Wahlen Die Bilanz des Wahljahres 2006 fällt für die NPD ambivalent aus. Zwar trat sie bei vier der fünf Landtagswahlen des Jahres an und zeigte sich somit wieder als aktive Wahlpartei. Nur in Sachsen-Anhalt verzichtete 249 Meldung "Nationales Bündnis Heilbronn-Franken bestimmt neuen Vorstand: Lars Käppler als neuer Frontmann gewählt!", Homepage des NBH vom 12. Oktober 2006. 250 Als seine weiteren Unterstützer gab das NBH unter anderem an: die im Vergleich zur NPD weitgehend unbedeutende rechtsextremistische "Deutsche Partei" (DP), die DVU, die dem neonazistischen Spektrum zuzuordnende "Freiheitliche Initiative Heilbronn" und die BIBD (Homepage des NBH vom 12. Oktober 2006). 251 Ebd., Übernahme wie im Original. 252 Beitrag "Nationales Bündnis Heilbronn löst sich auf - NPD-Heilbronn meldet sich 2007 mit neuem Schwung zurück!", Homepage des NPD-Kreisverbands Heilbronn vom 19. Januar 2007, Übernahme wie im Original. 161 sie gemäß der Bestimmungen des "Deutschland-Paktes" vom 15. Januar 2005 zugunsten der DVU. Auch gelang ihr in Mecklenburg-Vorpommern (17. September) mit 7,3 Prozent (2002: 0,8 Prozent) der Zweitstimmen zum zweiten Mal nach 2004 (9,2 Prozent am 19. September 2004 in Sachsen) der weiterer Einzug Einzug in ein Landesparlament, nachdem sie 36 Jahre lang - seit den badenin ein Landeswürttembergischen Landtagswahlen von 1968 (9,8 Prozent) - bei Wahlen im parlament Wesentlichen die Existenz einer Splitterpartei gefristet hatte. Doch beschränkt sich ihr Comeback als halbwegs erfolgreiche Wahlpartei auf Ostdeutschland. Denn bei den beiden westdeutschen Landtagswahlen des Jahres in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz (beide am 26. März) schnitt sie mit 0,7 Prozent (2001: 0,2 Prozent) beziehungsweise 1,2 Prozent (2001: 0,5 Prozent) erfolglos ab und knüpfte damit nahtlos an ihre beiden westdeutschen Wahlniederlagen des Jahres 2005 an (Schleswig-Holstein 1,9 Prozent und Nordrhein-Westfalen 0,9 Prozent). Auch die 2,6 Prozent (2001: 0,9 Prozent) in Berlin (17. September) bedeuteten für die NPD ein klares, allerdings auch erwartetes Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde. Schon seit 2005 wird der baden-württembergische Landesverband der NPD von internen Querelen erschüttert, die nicht nur innerhalb relativ kurzer Zeit zu einem zweimaligen Wechsel an der Spitze der Landespartei führten, sondern mit dazu beitrugen, dass die NPD bei der Landtagswahl am 26. März nur in 52 von 70 Wahlkreisen antreten konnte. Hinzu kommt, dass der offene Schulterschluss, den Bundeswie Landespartei seit 2004 mit der Neonaziszene üben, die NPD dieser Szene vielleicht näher bringt, gleichzeitig jedoch geeignet ist, potenzielle Wähler abzuschrecken, die nicht dieMisserfolge in sem härtesten Kern des deutschen Rechtsextremismus zuzurechnen sind. BadenDie Tatsache, dass die NPD unter der 1-Prozent-Marke blieb und damit keiWürttemberg nen Anspruch auf staatliche Teilfinanzierung erheben kann, bedeutet zudem einen herben finanziellen Verlust für die Partei. Internetbanner der NPD Dort, wo funktionierende NPD-Kreisverbände oder charismatische Mitglieder fehlen, erzielte die Partei besonders schlechte Wahlergebnisse, beispielsweise im Wahlkreis Stuttgart II mit 0,4 Prozent (2001: 0,1 Prozent). In Wahlkreisen mit bekannten NPD-Funktionären oder einem aufwändigeren Wahlkampf konnte die NPD hingegen ihre höchsten Zuwachsraten errei162 Rechtsextremismus chen. Ihr Landesvorsitzender SCHÜTZINGER trat in den Wahlkreisen Villingen-Schwenningen und Tuttlingen-Donaueschingen an und schnitt mit 2,6 Prozent (bestes NPD-Wahlkreisergebnis bei dieser Landtagswahl; 2001: 0,4 Prozent) beziehungsweise 1,3 Prozent (2001: 0,4 Prozent) überdurchschnittlich ab.253 Bei der am gleichen Tag stattfindenden Wahl in Rheinland-Pfalz verbesserTeilerfolg in te sich die NPD zwar ebenfalls leicht und kam sogar in den Genuss der Rheinland-Pfalz Wahlkampfkostenerstattung. Doch konnte sie auch bei dieser Wahl nicht die Führung im rechtsextremistischen Parteienspektrum erringen oder gar in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde gelangen. Die Wahlniederlagen der NPD in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bestätigten den sich schon 2005 in Schleswig-Holstein und NordrheinWestfalen deutlich abzeichnenden Trend, dass es der Partei momentan nicht möglich ist, einen Erfolg wie zuvor in Sachsen in westlichen Bundesländern zu wiederholen. Auch deshalb war schon der in der Euphorie des sächsischen Wahlerfolges von manchen NPD-Kadern beschworene Einzug in den Bundestag ein Wunschtraum geblieben. Die Hoffnungen der NPD ruhten nun auf der mecklenburg-vorpommerschen Landtagswahl am 17. September 2006. Dort hatte sie mit 3,5 Prozent bei der letzten Bundestagswahl ihr drittbestes Landesergebnis erzielt. Unbestreitbar gelang der Partei am 17. September 2006 mit dem Einzug einer sechsköpfigen Fraktion in den Schweriner Landtag ein Erfolg. Doch steht die Partei nun unter noch stärkerem Druck, nachzuweisen, dass sie Ergebnisse wie in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern nicht nur unter den besonders prekären ökonomischen und sozialen Bedingungen Ostdeutschlands erringen kann, sondern auch in Westdeutschland. Andernfalls wird sie in der Öffentlichkeit endgültig als ostdeutsches Sonderphänomen ohne ernstzunehmende Chanostdeutsches cen in Westdeutschland wahrgenommen. Gesamtdeutsch aber, zum BeiSonderphänomen spiel bei zukünftigen Bundestagsoder Europawahlen, bieten ihr Ergebnisse relativ knapp über der Fünf-Prozent-Hürde in nur wenigen ostdeutschen Bundesländern keine Perspektive. Bei den ebenfalls am 17. September 2006 abgehaltenen Wahlen zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen konnte die NPD lediglich kleinere Erfolge verzeichnen. Sie trat zwar nur in fünf von zwölf Bezirken an, zog aber in vier Bezirksverordnetenversammlungen mit Ergebnissen bis zu 6,4 Prozent ein und verfügt dort nun über insgesamt elf Sitze.254 Möglich wurde 253 Wahlnachtbericht zur Landtagswahl am 26. März 2006 in Baden-Württemberg, URL: http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de vom 3. April 2006. 254 URL: http://www.statistik-berlin.de vom 21. September 2006. 163 dieser Erfolg vor allem dadurch, dass pro Bezirk nur eine Drei-ProzentHürde zu überwinden war. Ermutigt von den Wahlerfolgen seiner Parteifreunde in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gründete der baden-württembergische NPD-Landes"kommunalverband am 24. September 2006 in Ludwigsburg einen 20-köpfigen "kompolitischer munalpolitischen Arbeitskreis", dessen Zielvorgabe darin besteht, ein mögArbeitskreis" lichst gutes Abschneiden der Partei bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen 2009 zu erreichen. Dabei soll sich der "Arbeitskreis" schwerpunktmäßig auf die Region Stuttgart konzentrieren, "da hier auch der Einzug in das Regionalparlament angestrebt wird". Die von der Südwest-NPD angestrebte Verankerung auf kommunaler Ebene soll dabei langfristig als Schritt hin zu einem Einzug in den baden-württembergischen Landtag im Jahr 2011 dienen.255 Ideologische Ausrichtung Die NPD ist eine unverhohlen rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei. Das Spektrum der in der Partei repräsentierten Rechtsextremismusvarianten reicht bis in den Neonazismus. Dementsprechend wird aus den Reihen der NPD der bundesdeutschen Verfassungsordnung immer wieder der Kampf angesagt und ein baldiger Untergang nicht nur prophezeit, sondern auch ausdrücklich gewünscht. Gegenteilige Beteuerungen von NPD-Vertretern, die das zu relativieren oder abzustreiten versuchen, stellen sich bei genauerer Analyse als taktisch motiviert heraus. Sie sollen insbesondere dazu dienen, ein erneutes Verbotsverfahren gegen die Partei zu vermeiden, dessen Einleitung in Medien und Politik im Jahr 2006 wieder diskutiert wurde. betonte Diese betonte Verfassungsfeindlichkeit ist auch bei den JN verankert und Verfassungswird entsprechend nach innen wie außen propagiert. So endet ein vom JNfeindlichkeit Bundesvorstand am 28. Januar 2006 in Berlin verabschiedeter Beschluss unter der Überschrift "Vorwärts zur deutschen Revolution!" mit den kämpferisch-nationalrevolutionären Worten: "Revolutionär ist ideologischer und nicht bewaffneter Kampf. Voraussetzung für das Beschreiten des revolutionären Weges ist ein geschärftes politisches Bewusstsein unserer Mitstreiter. Das bedeutet die Erkenntnis, dass das System, bei einigen Annehm255 Meldung "NPD gründet kommunalpolitischen Arbeitskreis", Homepage des NPD-Landesverbands Baden-Württemberg vom 18. Oktober 2006. 164 Rechtsextremismus lichkeiten, prinzipiell schlecht ist. Die Konsequenz daraus heißt nun logischerweise, dass man dieses System nicht reformieren kann, sondern beseitigt und durch etwas Neues ersetzt werden muss. Eine solche Vorgehensweise nennt man üblicherweise Revolution. Ist das Bewusstsein der aktiven nationalistischen Kampfgefährtinnen und Kampfgefährten dahingehend ausgerichtet, geht es im nächsten Schritt darum, das Bewusstsein möglichst vieler Menschen in diese Richtung zu schärfen. In Verbindung mit der zunehmenden Verschärfung der sozialen Frage wird die Revolution wahrscheinlich und die Chance für eine revolutionäre Kampfpartei wird zunehmen. Dann wird der organisierte Nationalismus vom Objekt zum Subjekt der Politik, vom Verteidiger zum Angreifer!" 256 Internetbanner der JN Die in diesem Zitat geäußerte Absage an einen bewaffneten Kampf mindert nicht die darin zum Ausdruck kommende kompromisslose Frontstellung des JN-Bundesvorstands gegen die bundesdeutsche Verfassungsordnung. Doch ist die Bedeutung der hinter dieser martialischen Kampfansage stehenden Organisation zu relativieren: Die JN verfügen nicht bundesweit über Organisationsstrukturen. Der Landesverband Baden-Württemberg hat Aktivitäten zwar die Zahl der von ihm offiziell ausgewiesenen "Stützpunkte" von fünf der JN im Jahr 2005 auf zehn im Jahr 2006 (im Bereich Bodensee mit Postfach in Friedrichshafen, in Esslingen, Göppingen, Heilbronn, Luwigsburg, im Bereich Ostalb mit Postfach in Schwäbisch Gmünd, Pforzheim, Schwäbisch Hall, Stuttgart und Ulm/Heidenheim)257 verdoppeln können und zudem mit einer relativ regen Demonstrationstätigkeit auf sich aufmerksam gemacht, doch steigerte sich sein Mitgliederbestand nur leicht auf circa 60 (2005: circa 50). Auf dem JN-Landeskongress, der am 4. November 2006 "in der Nähe von Heilbronn" stattfand, wurde Lars GOLD aus Stimpfach/Krs. Schwä256 Text "Revolution statt Reform - Vorwärts zur deutschen Revolution!", Homepage des JN-Bundesvorstands vom 10. Oktober 2006, Übernahme wie im Original. 257 Homepage des JN-Landesverbands Baden-Württemberg vom 14. Dezember 2006. 165 bisch Hall zum neuen JN-Landesvorsitzenden gewählt. Sein Vorgänger Alexander NEIDLEIN fungiert seither nur noch als stellvertretender JN-Landesvorsitzender. Auf diesem Kongress wurde aus verschiedenen Wortbeiträgen deutlich, dass zumindest die Führung des baden-württembergischen JN-Landesverbands die nationalrevolutionäre Linie des Bundesvorstands mitträgt. Schon zu Kongressbeginn äußerte NEIDLEIN laut NPD-Internetbericht wörtlich: "'Nationalismus heißt Revolution. Und unsere Revolution findet im 21. Jahrhundert statt. Unsere Revolution ist keine kleine Veränderung, sondern wir müssen uns ein komplett anderes politisches System erkämpfen!'" Bei dieser Gelegenheit wurde von NEIDLEIN auch "der bedingungslose Wille" beschworen, "dieses kranke System auf die Müllhalde der Geschichte zu katapultieren". Zum Abschluss betonte GOLD laut NPD-Internetbe"revolutionärer richt wörtlich: "Wir stehen im Jahre 2006 im revolutionären Kampf gegen Kampf gegen dieses System".258 dieses System" Entschiedene Verfassungsfeindlichkeit charakterisiert auch den baden-württembergischen NPD-Landesverband. Beispielsweise wurde Ende September 2006 auf dessen Internetseite eine Nachbetrachtung zur Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern eingestellt, in der es unter anderem heißt: "Das eigentlich schöne waren neben dem Erfolg der NPD, die tiefe Krise des Establishments - ja, die nicht mehr zu verbergende Schwäche des gesamten politischen Systems. (...) Ein politisches System ist sichtbar an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen, es ist weder Wunschdenken noch übertrieben, von einem politischen Erdbeben zu sprechen, insbesondere deshalb nicht, weil die Risse im Fundament des gegenwärtigen politischen Systems weder zu übersehen, noch zu übertünchen sind." 259 Verfassungsfeindliche Aussagen finden sich nicht zuletzt in der DS. Beispielsweise hieß es in der Mai-Ausgabe im Nachgang zu den drei Landtagswahlen vom 26. März 2006: "Es bedarf (...) eines kollektiven Aufschreis, der die vielen Lüfte und Winde der Frustration zu einem 258 Bericht "Erfolgreicher JN-Landeskongress 2006", Homepage des NPD-Landesverbands Baden-Württemberg vom 9. November 2006. 259 Text "Der Herbstwind fährt über Mecklenburg - ein Kommentar zu den Landtagswahlen", Homepage des NPD-Landesverbands Baden-Württemberg vom 17. Oktober 2006, Übernahme wie im Original. 166 Rechtsextremismus gewaltigen Sturm zusammenführt, der erst die Kraft besitzt, ein marodes System hinwegzufegen. (...) Demokratie A la BRD braucht das Volk nicht." 260 Die DS ist aber nicht nur ein Forum für dezidierte Systemopposition. In ihr leisten mehr oder minder prominente NPD-Mitglieder auch theoretisch-strategische Grundlagenarbeit, sie ist ein Ort für Grundsatzdebatten. Beispielsweise wird in der DS einer Aktualisierung beziehungsweise Modernisierung des rechtsextremistischen Propagandathemenkanons das Wort geredet. Dabei wird eine Abkehr von vergangenheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen (insbesondere aus dem Bereich des Geschichtsrevisionismus) gefordert, die außerhalb der rechtsextremistischen Szene niemanden interessieren. Stattdessen wird eine stärkere Hinwendung zu gegenwartsbezogenen bis hin zu tagesaktuellen Themen (beispielsweise aus dem Bereich der Sozialund Wirtschaftspolitik) angemahnt, die gesamtgesellschaftlich relevant sind und daher auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene diskutiert werden. Ziel ist es dabei, die eigene Propaganda attraktiver, oberflächlich weniger angreifbar und damit effektiver zu machen, also möglichst bis in die Mitte der Gesellschaft neue Bündnispartner, Anhänger, Mitglieder und Wähler zu gewinnen. Den verganVersuch der genheitsbezogenen, rückwärtsgewandten Themen scheint in dieser StrateModernisierung gie nur noch eine Rolle in der parteibeziehungsweise szeneinternen Kommunikation zugedacht zu sein, insbesondere bei der ideologischen Selbstvergewisserung längst eingeschworener Rechtsextremisten, die es nicht mehr zu überzeugen gilt. Mit der Überholung des eigenen Themenkanons ist keine Aufgabe oder auch nur Relativierung althergebrachter rechtsextremistischer Positionen in der NPD beabsichtigt. Ganz im Gegenteil: Mit der Aufbereitung zeitgemäßer Themen soll rechtsextremistisches Gedankengut erfolgreicher transportiert werden. In der Februar-Ausgabe 2006 brachte der sächsische NPD-Abgeordnete Jürgen W. GANSEL diesen Ansatz auf den Punkt: "Für mich markiert der Nationalsozialismus eine historisch abgeschlossene Epoche. Er war so stark zeitund personenabhängig, dass er selbst dann nicht wiederzubeleben wäre, wenn man es unbedingt wollte. Für den so genannten Hitlerismus gilt dies 260 DS Nr. 05/06 vom Mai 2006, Artikel "Es ist Wahl - und keiner geht hin! Eine Nachbetrachtung zu den Landtagswahlen", S. 8. 167 durch den Tod des Namensgebers vor 61 Jahren erst recht. Ich habe immer wieder betont: Adolf Hitler und die NSDAP sind Vergangenheit, Hartz IV und Globalisierung, Verausländerung und EU-Fremdbestimmung aber bitterböse Gegenwart. Insofern haben wir Nationalisten zwingend Gegenwartsthemen aufzugreifen und die soziale Frage konsequent zu nationalisieren. Laden wir die soziale Frage weiterhin völkisch auf - 'Wir Deutschen oder die Fremden', 'Unser Deutschland oder das Ausland' - und untermauern wir den Schlachtruf 'Gegen Verausländerung, Europäische Union und Globalisierung' noch stärker programmatisch, werden wir die etablierten Volksbetrüger schon bald das Fürchten lehren." 261 Aktivitäten Auch 2006 legte die NPD im Rahmen des von ihr verfolgten "Vier-SäulenKonzepts" ("Kampf um die Straße", Kampf um die Köpfe", Kampf um die Parlamente", "Kampf um den organisierten Willen") vielfältige Aktivitäten an den Tag, was nicht nur durch die vier Landtagswahlteilnahmen und die Veranstaltung des 5. DS-Pressefestes dokumentiert wird. Auch der badenwürttembergische Landesverband erwachte während des Landtagswahlkampfs zumindest zeitund teilweise aus seiner Lethargie, wurde bei dieser Gelegenheit jedoch auch an seine Zerstrittenheit erinnert, die ein flächendeckendes Antreten und damit ein auch nur halbwegs achtbares Ergebnis verhindert hatte. Am 19. November 2006 hielt die baden-württembergische Landesparteitag NPD ihren 42. ordentlichen Landesparteitag ab, der von den Medien weitgehend unbeachtet in Villingen-Schwenningen stattfand. Der baden-württembergische JN-Landesverband machte mit mehreren Demonstrationen von sich reden. So meldeten die JN im Rahmen einer rechtsextremistischen Antikapitalismuskampagne für den 22. Juli 2006 eine Versammlung unter dem Motto "Freie Menschen statt freie Märkte - Globalisierung und Kapitalismus stoppen", zu der sich aber nur etwa 50 Teilnehmer in Buchen/Neckar-Odenwald-Kreis einfanden. Diesen standen insgesamt circa 130 Gegendemonstranten gegenüber. Mit der von ihr für den 23. September 2006 in Göppingen angemeldeten Demonstration hatte die 261 DS Nr. 02/06 vom Februar 2006, Interview "Hartz IV und Verausländerung ist heute - Jürgen Gansel zum Vorwurf der Vergangenheitsorientierung der NPD", S. 8, Übernahme wie im Original. 168 Rechtsextremismus JN mehr Mobilisierungserfolg: Etwa 200 Rechtsextremisten, darunter als Redner NEIDLEIN und KÄPPLER, demonstrierten an jenem Tag unter dem fremden-feindlichen Motto "Ein Rückflug kostet 19 Euro, Integration Millionen". Unter den bis zu 500 Gegendemonstranten befanden sich circa 150 gewaltbereite Personen, aus deren Reihen es zu Gewalttätigkeiten (zum Beispiel Steinwürfen) gegen Einsatzkräfte der Polizei kam. Nur zwei Wochen später, am 7. Oktober 2006, demonstrierten die JN mit circa 165 Demonstrationen Teilnehmern in Laupheim unter dem Motto "Her mit dem schönen Leben - Mut zu Alternativen", wohinter sich wiederum eine rechtsextremistischantikapitalistische Stoßrichtung verbarg. Zwischen den Demonstrationsteilnehmern und den insgesamt über 500 Gegendemonstranten kam es zu keinen ernsthaften tätlichen Auseinandersetzungen. Die NPD ist eine von Männern dominierte Partei mit antifeministisch-antiemanzipatorischer Programmatik, deren Führungspersonal sowie Wählerschaft, wie Wahlanalysen zeigen, sich in weit überproportionalem Maße aus Männern zusammensetzen. Die mangelnde Attraktivität der NPD auf Frauen ist von der Parteiführung offensichtlich als Problem erkannt worden, denn am 16. September 2006 erfolgte im sachsen-anhaltinischen Sotterhausen die Gründung einer eigenen NPD-Frauenorganisation, des "Ringes Nationaler Frauen" (RNF). Ein erklärtes Ziel des RNF besteht darin, "verstärkt weibliche Mitglieder für die nationale Opposition zu gewinnen".262 Auch wolle man die für Frauen "möglicherweise existierende Hemmschwelle, in die Partei einzutreten, abbauen" 263 sowie "die Wählerinnen ansprechen". Es ist sogar die Rede davon, man wolle Frauen zur "Übernahme von Mandaten" "ermutigen": "Wie kann es (...) sein, dass der Großteil unserer Mandatsträger Männer sind? (...) Die NPD ist keine altbackene Herrensekte (...)" 264 Solche Bekundungen sind jedoch nicht nur in sich zumindest partiell widersprüchlich. Vollends konterkariert wird ihr vermeintlich emanzipatorischer Gehalt, wenn sie in der DS auf exakt derselben Seite mit einem halbseitigen Artikel publiziert werden, in dem antifeministische Rollenmuster von der Frau als nicht berufstätiger Hausfrau und Mutter und vom Mann als zur Hausarbeit nicht geschaffenen Ernährer propagiert werden.265 262 Meldung "NPD-Frauen schließen sich zusammen" vom 13. September 2006, NPD-Homepage vom 11. Oktober 2006. 263 Meldung ",Ring Nationaler Frauen' gegründet" vom 16. September 2006, RNF-Homepage vom 19. Oktober 2006. 264 DS Nr. 08/06 vom August 2006, Interview "In der Verantwortung - Im September wird der Nationale Frauenring gegründet", S. 20, Übernahme wie im Original. 265 Ebd., Artikel "Kinderland in Mütterhand - Gedanken einer deutschen Mutter", S. 20. 169 5.1.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 800 Baden-Württemberg (2005: ca. 900) ca. 8.500 Bund (2005: ca. 9.000) Sprachrohr: "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus und Aktivitäten Noch in den 1990er-Jahren war die "Deutsche Volksunion" (DVU) schon aufgrund der relativ hohen Zahl ihrer Mitglieder (1993: circa 26.000) ein zumindest quantitativ bedeutender Faktor innerhalb des deutschen Rechtsextremismus. Auch 2006 war sie die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Doch die Zahl von nunmehr circa 8.500 Parteizugeweiterhin hörigen (2005: circa 9.000) dokumentiert ihren drastischen personellen deutliche Niedergang innerhalb der letzten 13 Jahre. In diesem Zeitraum büßte auch Mitgliederverluste der baden-württembergische DVU-Landesverband mit seinen mittlerweile nur noch circa 800 Mitgliedern (2005: circa 900) deutlich mehr als zwei Drittel seiner personellen Substanz ein (1993: circa 2.900). Hinzu kommt, dass die meisten DVU-Mitglieder heute wie damals eine ausgeprägte Passivität an den Tag legen. Beispielsweise spielte 2006 selbst der seit Oktober 2005 amtierende baden-württembergische DVU-Landesvorsitzende Heinrich DEINZER aus Dischingen/Krs. Heidenheim trotz seiner formal hohen Position weder in der Partei noch im Rest der rechtsextremistischen Szene eine auffällige Rolle. Stattdessen wird die Partei seit ihrem Bestehen von ihrem Gründer und seither einzigen Bundesvorsitzenden, dem finanzkräftigen Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY, dominiert. Sie steht in einem weitgehenden finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, was er dazu nutzt, jeden innerparteilichen Pluralismus oder gar Widerspruch zu unterbinden. Daher kann sich weder auf Bundesnoch auf Landesebene eine eigenständige, nicht aus München gelenkte Parteiarbeit entwickeln. FREYs dominanter Führungsstil hat zudem zur Folge, dass neben ihm kaum überregional bekanntes, profiliertes DVU-Führungspersonal existiert. Aktivitäten des baden-württembergischen Landesverbands sind kaum festPhantomstellbar. So verfügt er wie die meisten der anderen DVULandesverbände charakter der nicht einmal über eine eigene Internethomepage, was ein Schlaglicht auf Partei den Phantomcharakter der Partei wirft. Von den beiden DVU-Stammtischen in Aalen/Heidenheim und Schwäbisch Hall, die auf der DVU170 Rechtsextremismus Bundeshomepage und in der NZ beworben werden266, geht, soweit sie überhaupt stattfinden, keine Außenwirkung aus. Das Sprachrohr der DVU, die von FREY herausgegebene Wochenzeitung "NationalNZ, ist das auflagenstärkste und in der Öffentlichkeit wohl bekannteste Zeitung" rechtsextremistische Presseorgan in Deutschland, womit ihm nicht nur für als Sprachrohr die Partei, sondern auch für die gesamte rechtsextremistische Szene eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Inhaltlich vertritt die NZ eindeutig rechtsextremistische Positionen, zum Beispiel auf dem Gebiet des Geschichtsrevisionismus. So leistete sie 2006 einem der weltweit bekanntesten Geschichtsrevisionisten, dem 2005 in Österreich verhafteten, am 20. Februar 2006 vom Landgericht Wien wegen Verstoßes gegen das NS-Verbotsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ohne Bewährung verurteilten Briten David IRVING, wiederholt publizistische Schützenhilfe.267 Wahlen Ihre größte Bedeutung kommt der DVU noch als Wahlpartei zu. Auf diesem Gebiet ist sie erfolgreicher als jede andere rechtsextremistische Partei: Seit 1987 konnten rechtsextremistische Parteien dreizehnmal in deutsche Landesparlamente einziehen, davon allein achtmal die DVU. Allerdings waren drei ihrer Wahlerfolge einer Besonderheit des Bremer Bürgerschaftswahlrechts geschuldet.268 Diese Erfolge sind vor allem darauf zurückzuführen, dass FREY seine Partei nur zu Wahlen antreten lässt, bei denen er ihr eine wenigstens halbwegs realistische Aussicht auf Erfolg einräumt,269 und dann auch bereit ist, erhebliche Summen in den Wahlkampf zu investieren. Momentan ist die DVU mit einer sechsköpfigen Fraktion im brandenburgischen Landtag vertreten und mit einem einzelnen Abgeordneten in der Bremischen Bürgerschaft. Seit 266 NZ Nr. 36 vom 1. September 2006, S. 14. DVU-Homepage vom 27. Oktober 2006. 267 Siehe beispielsweise: NZ Nr. 5 vom 27. Januar 2006, Artikel "Der Fall David Irving: Freiheit, die sie meinen - Iran oder Israel - wer gefährdet den Weltfrieden?" von Dr. Gerhard FREY, S. 3-4. 268 Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft muss eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete, in Bremen oder Bremerhaven, die 5-Prozent-Hürde überwinden, um in das Parlament einzuziehen. Lediglich bei der Bürgerschaftswahl 1991 gelang der DVU mit 6,2 Prozent im gesamten Land Bremen der Sprung in das Parlament in Fraktionsstärke. 1987, 1999 und 2003 überwand sie diese Hürde nur in Bremerhaven. 269 Die DVU trat seit 1987 daher nur zu 16 Landtagswahlen, einer Bundestagsund einer Europawahl an. 171 Januar 2005 ist die DVU durch den "Deutschland-Pakt" vor Konkurrenzkandidaturen durch die NPD geschützt, was sie allerdings nicht davor bewahrte, bei der einzigen Landtagswahl, zu der sie 2006 antrat (am Misserfolg in 26. März in Sachsen-Anhalt), mit 3,0 Prozent der Stimmen relativ deutlich Sachsen-Anhalt an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. In Sachsen-Anhalt hatte die DVU noch bei der Landtagswahl 1998 mit 12,9 Prozent der Stimmen ihren bisher größten Wahlerfolg verbuchen können, war 2002 aber aufgrund heftiger fraktionsinterner Streitigkeiten, die bis zur Spaltung der Fraktion geführt hatten, nicht einmal mehr angetreten. 5.2 Parteien mit Anhaltspunkten für eine rechtsextremistische Zielsetzung 5.2.1 "Die Republikaner" (REP) Gründung: 1983 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 900 Baden-Württemberg (2005: ca. 950) ca. 6.000 Bund (2005: ca. 6.500) Publikation: "Zeit für Protest!" "Die Republikaner" (REP) gleiten immer mehr in die Bedeutungslosigkeit ab. 1993 circa 23.000 Mitglieder stark und Mitte der 90er-Jahre sogar die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland, fielen die drastische REP im Jahr 2006 mit gerade einmal noch rund 6.000 Mitgliedern (2005: Mitgliederverluste circa 6.500) selbst hinter die traditionell mitgliederschwache NPD zurück (circa 7.000). In Baden-Württemberg lag die Partei mit rund 900 Parteigängern (2005: circa 950) zwar noch vor DVU (circa 800) und NPD (circa 400), doch sind auch hier seit Jahren in der Summe drastische Mitgliederverluste zu verzeichnen (REP in Baden-Württemberg 1993: circa 2.500 Mitglieder). Auch die REP-Landtagswahlergebnisse des Jahres 2006 dokumentieren den Bedeutungsverlust der Partei. Insbesondere ihr Abschneiden bei der badenwürttembergischen Landtagswahl am 26. März 2006 geriet den REP zur Enttäuschung: Obwohl sie Kandidaten in allen 70 Wahlkreisen hatten aufstellen können, erreichten sie nur 2,5 Prozent der Stimmen. 2001 waren sie mit 4,4 Prozent nur relativ knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und aus dem Landtag ausgeschieden. Das baden-württembergische Wahlergebnis lässt - zusammen mit dem noch schlechteren Abschneiden der Partei in Rheinland-Pfalz (Landtagswahl am 26. März 2006: 1,7 Prozent), Sachsen172 Rechtsextremismus Anhalt (Landtagswahl am 26. März 2006: 0,5 Prozent) und Berlin (AbgeWahlniederlagen ordnetenhauswahl am 17. September 2006: 0,9 Prozent) - außerdem darauf schließen, dass die REP-Bundesführung mit ihrem innerparteilich ohnehin umstrittenen Kurs der Abgrenzung gegenüber (anderen) Rechtsextremisten es nicht geschafft hat, die Attraktivität der Partei auf breitere Wählerschichten zu erhöhen. Schon seit Jahren gilt: Nicht jedes einzelne REP-Mitglied verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Zudem setzten sich auf dem Bundesparteitag der REP am 9./10. Dezember 2006 im bayerischen Höchstadt die Befürworter des bisherigen Abgrenzungskurses gegenüber den rechtsextremistischen Parteien NPD und DVU erneut durch. Diese Beschlusslage veranlasst immer mehr Rechtsextremisten innerwie außerhalb der Partei, die Partei zu verlassen beziehungsweise in den REP, zumindest aber in dem dominierenden Flügel der Abgrenzungsbefürworter politische Gegner zu sehen, die der rechtsextremistischen Szene nicht (mehr) zuzurechnen seien. Gleich2006 noch Anwohl waren in Teilen der REP im Jahr 2006 weiterhin tatsächliche Anhaltshaltspunkte für punkte für rechtsextremistische Bestrebungen gegeben, insbesondere im rechtsextremisHinblick auf eine Zusammenarbeit mit NPD und DVU. tische Bestrebungen 6. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 6.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"HohenrainVerlag" Der 1953 von Dr. Herbert GRABERT (verstorben 1978) in Tübingen als "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" gegründete "GRABERT-Verlag" firmiert seit 1974 unter seinem jetzigen Namen. Seit 1972 fungiert GRABERTs Sohn Wigbert als Verlagsleiter und seit dem Tod seines Vaters als alleiniger Geschäftsführer. Der Verlag zählt aber nicht nur zu den ältesten, sondern auch zu den bedeutendsten organisationsunabhängigen rechtsextremistischen Verlagen in Deutschland: Mittlerweile hat er sich mehrere Tochterunternehmen zugelegt, darunter den 1985 gegründeten und ebenfalls in Tübingen ansässigen "Hohenrain-Verlag", der wie der "GRABERTVerlag" seit 2004 mit einer eigenen Seite im Internet vertreten ist. Über die "Versandbuchhandlung GRABERT" vertreiben die beiden Verlage ihre Produkte jedoch auch weiterhin auf konventionelle Weise. Die Mitglieder des "Deutschen Buchkreises" sind berechtigt, Bücher der beiden Verlage unter bestimmten Bedingungen zu günstigeren Konditionen zu beziehen. 173 In den relativ zahlreichen Veröffentlichungen des "GRABERT-" und des "Hohenrain-Verlages" werden immer wieder entschieden rechtsextremistische Positionen propagiert. Schon mehrfach wurden daher Publikationen der beiden Verlage wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfens Verstorbener eingezogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert. So wurden am 8. Juni 2006 auf Anordnung des Amtsgerichts Tübingen die Restexemplare der Nummer 1 vom März 2006 aus dem 54. Jahrgang der vierteljährlich in Tübingen erscheinenden Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" (DGG; Untertitel: "Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik") beschlagnahmt. Wigbert GRABERT, wurde am 6. Februar 2007 in dieser Sache wegen Volksverhetzung (SS 130 StGB) vom Amtsgericht Tübingen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. GRABERT gibt (laut Impressum in Zusammenarbeit mit dem faktisch inexistenten "Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte") die pseudowissenschaftlich aufgemachte, meist 50-seitige DGG heraus. In dem in diesem Zusammenhang vom Amtsgericht Tübingen inkriminierten Artikel "Bericht aus Finnland" eines mutmaßlichen Finnen heißt es unter anderem: "(...) in Finnland gab es im zurückliegenden Sommer und Herbst eine erschreckende Vielzahl von Fällen brutaler Gewalt und Kriminalität von Immigranten gegen die Volksangehörigen unseres Landes. Obwohl die Zeitungen wie auf geheime Anordnung zum Beispiel die vielen Gruppenvergewaltigungen finnischer Frauen und Mädchen durch Negerbanden im letzten Sommer verschwiegen, kamen diese trotz der offensichtlichen Zensur ans Tageslicht. (...) Kann es sein, dass es hier um etwas ganz anderes geht als um Schutz vor Verfolgung oder um ''Bereicherung' durch Multikultur - zum Beispiel um eine spezielle Methode von Völkermord?" 270 In einem dem Artikel zur Seite gestellten Text der beiden finnischen Übersetzer werden dieselben verschwörungstheoretischen und fremdenfeindlich-rassistischen Behauptungen inhaltlich wiederholt und ausgeweitet: "In 270 DGG Nr. 1 vom März 2006, Artikel "Bericht aus Finnland. Multikultur - eine unmögliche Vision", S. 1012, hier: S. 11-12, Übernahme wie im Original. 174 Rechtsextremismus Schweden ist die Situation mit den Vergewaltigungen durch Negerbanden ebenfalls sehr schlimm (...)".271 Mit dem "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten" verfügt rechtsextremisder "GRABERT-Verlag" über ein weiteres Periodikum, das sogar alle zwei tische Publizistik Monate erscheint, dafür aber weit weniger umfangreich ist als die DGG. Der rechtsextremistische Charakter vieler der im "Euro-Kurier" veröffentlichten Beiträge, die zu einem erheblichen Teil auch der Werbung für Publikationen aus den beiden Verlagen dienen, steht demjenigen der meisten DGGArtikel in Nichts nach. 6.2 "Gesellschaft für Freie Publizistik e. V." (GFP) Die "Gesellschaft für Freie Publizistik e. V." (GFP) wurde 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründet, ist heutzutage jedoch trotz ihrer eindeutig rechtsextremistischen Ausrichtung nicht dem neonazistischen Spektrum zuzurechnen. Wie schon 2005 verfügt sie bundesweit über circa 500 und in Baden-Württemberg über circa 40 Mitglieder. Sie bleibt damit die mitgliederstärkste rechtsextremistische Kulturvereinigung in Deutschland und rekrutiert sich vor allem aus rechtsextremistischen Verlegern, Redakteuren, Publizisten und Buchhändlern. Ihr Mitteilungsblatt "Das Freie Forum" erscheint vierteljährlich. Zum GFP-Jahreskongress unter dem Motto "Sturm auf Europa" (Untertitel des Kongress-Reports: "Europa im Fadenkreuz von Masseneinwanderung und Amerikanismus") versammelten sich diesmal nach GFP-Angaben "knapp 300 Teilnehmer" (2005: über 300) vom 28. bis 30. April 2006 in Bayreuth.272 Die personelle Verflechtung der GFP-Führung mit der NPD wird immer enger: Seit dem Jahreskongress 2005 amtiert der stellvertretende Chefredakteur der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme", Andreas MOLAU, als GFP-Vorsitzender. Sein langjähriger Vorgänger, Dr. Rolf KOSIEK, aus Nürtingen ist seither nur noch einer von zwei stellvertretenden Vorsitzenden. Im GFP-Vorstand sitzt zudem bereits seit Jahren der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Jürgen SCHÜTZINGER. Seit Ende 2006 gehört das GFP-Vorstandsmitglied Dr. Olaf ROSE dem Parlamentarischen Beratungsdienst der sächsischen NPD-Fraktion an.273 271 Ebd., S. 11. 272 Beitrag "Bericht vom GFP-Kongress 2006 im April unter dem Motto: ''Sturm auf Europa'", GFP-Homepage vom 31. Oktober 2006. 273 Meldung "NPD-Fraktion erhält kompetente Verstärkung - Dr. Olaf Rose wird Parlamentarischer Berater der Nationaldemokraten im Sächsischen Landtag" vom 6. Oktober 2006, Homepage der sächsischen NPD-Landtagsfraktion vom 31. Oktober 2006. 175 7. Aktionsfeld Geschichtsrevisionismus274: Ein Beispiel für die internationale Dimension des Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Geschichtsrevisionistenszene hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker internationalisiert. Unter ihren Protagointernationale nisten waren beziehungsweise sind neben Deutschen zum Beispiel auch Vernetzung Briten, Franzosen oder US-Amerikaner anzutreffen. Diese Tatsache mag auf den ersten Blick erstaunen, da es rechtsextremistischen Geschichtsrevisionisten doch (unter anderem) darum geht, das nationalsozialistische Deutschland von der Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Gegensatz zu den historischen Fakten freizusprechen, im Gegenzug jedoch den Kriegsgegnern des "Dritten Reiches" - also zum Beispiel Großbritannien, Frankreich oder den USA - diese Schuld in die Schuhe zu schieben. Trotzdem fühlen sich nichtdeutsche Geschichtsrevisionisten - offenbar aus mehr oder minder großer ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus - dem historischen Ansehen des "Dritten Reiches" mehr verpflichtet als dem ihrer eigenen Nation. Schwächung Schon 2005 wurde die internationale rechtsextremistische Geschichtsrevider Szene sionistenszene personell erheblich geschwächt. Damals gingen insgesamt vier ihrer führenden Protagonisten den deutschen beziehungsweise österreichischen Strafverfolgungsbehörden ins Netz. Am 1. März 2005 wurde der aus Baden-Württemberg stammende Ernst ZÜNDEL von den kanadischen Behörden nach Deutschland abgeschoben und befindet sich seither in Haft. Die Staatsanwaltschaft Mannheim hatte gegen ihn seit 1996 unter anderem wegen des Verdachts der Volksverhetzung (SS 130 StGB) ermittelt und 2003 den nun vollstreckten Haftbefehl erlassen. Im November 2005 begann vor dem Landgericht Mannheim der Prozess gegen ZÜNDEL, der mehrmals ausgesetzt wurde und am 15. Februar 2007 mit einer Verurteilung ZÜNDELs endete: Das Gericht erkannte wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (SSSS 130, 185 und 189 StGB) auf die Höchststrafe von fünf Jahren Haft. Gegen dieses Urteil legten ZÜNDELs Verteidiger beim Bundesgerichtshof Revision ein. 274 Definition vgl. Kap. 1.3. 176 Rechtsextremismus Der Haftbefehl gegen den am 1. November 2005 von den niederländischen Behörden an die Bundesrepublik ausgelieferten belgischen Geschichtsrevisionisten Siegfried VERBEKE wurde auf Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 5. Mai 2006 gegen Zahlung einer Kaution von 1.000 Euro außer Vollzug gesetzt. Grund für diesen Schritt war die aus Sicht des Gerichts unverhältnismäßig lange Untersuchungshaft. VERBEKE musste jedoch seinen Pass hinterlegen und darf sich unter strengen Meldeauflagen nur in Deutschland und Belgien aufhalten. Laut Pressemitteilung vom 18. April 2006 hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim gegen VERBEKE Anklage wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener erhoben. Seine Festnahme im August 2005 in Amsterdam war auf Grundlage eines internationalen Haftbefehls des Amtsgerichts Mannheim erfolgt. strafprozessuale Erfolge Der am 14. November 2005 von den USA nach Deutschland abgeschobene Germar RUDOLF hat mittlerweile seine 14-monatige Freiheitsstrafe verbüßt, zu der er 1995 vom Landgericht Stuttgart wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Beleidigung und Aufstachelung zum Rassenhass verurteilt worden war275 und der er sich 1996 durch Flucht ins Ausland entzogen hatte. Allerdings begann am 14. November 2006 vor dem Landgericht Mannheim bereits der nächste Prozess gegen RUDOLF. Am 15. März 2007 wurde er wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Noch im Gerichtssaal nahm RUDOLF das Urteil an, das somit rechtskräftig ist. Der bekannte britische Geschichtsrevisionist David IRVING, der am 11. November 2005 während eines Aufenthaltes in Österreich verhaftet worden war, wurde am 20. Februar 2006 vom Landgericht Wien wegen Verstoßes gegen das NS-Verbotsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Seit 1989 hatte in Österreich ein Haftbefehl gegen IRVING in dieser Sache bestanden. Gegen das Urteil legten beide Seiten Berufung ein. In der Berufungsverhandlung wurde das Strafmaß zwar bestätigt, doch setzten die Richter zwei Drittel der Strafe nun 275 Gegenstand des Verfahrens war unter anderem das so genannte "Rudolf-Gutachten", ein wissenschaftlich aufgemachtes Scheingutachten, mit dem der Chemiker die Existenz von Gaskammern in Konzentrationslagern widerlegen wollte. 177 zur Bewährung aus, so dass IRVING am 20. Dezember 2006 aus der Haft entlassen wurde. Am 21. Dezember 2006 erfolgte die Ausweisung IRVINGs aus Österreich. Er wurde zudem mit einem lebenslangen Aufenthaltsverbot belegt. "HolocaustDie internationale Dimension des rechtsextremistischen GeschichtsrevisioKonferenz" nismus kam insbesondere auf der so genannten "Holocaust-Konferenz" am in Iran 11./12. Dezember 2006 in der iranischen Hauptstadt Teheran zum Ausdruck. Unter den Teilnehmern der Konferenz, die unter dem Motto "Review of the Holocaust: Global Vision" von dem iranischen "Institute for Political and International Studies" ausgerichtet wurde, befanden sich einschlägig bekannte Geschichtsrevisionisten und andere Rechtsextremisten unter anderem aus Deutschland, Frankreich, den USA, Österreich, der Schweiz und Australien. Allerdings konnten mehrere prominente Protagonisten der Geschichtsrevisionistenszene nicht nach Teheran anreisen, weil sie sich zum Zeitpunkt der Konferenz in Europa in Haft befanden. Dem ehemaligen baden-württembergischen NPD-Landessowie früheren NPD-Bundesvorsitzenden Günter DECKERT, der wegen Leugnung des Holocaust bereits verurteilt wurde, entzog die Stadt Weinheim den Reisepass,276 so dass er zu der Teheraner "Holocaust-Konferenz" ebenfalls nicht anreisen konnte. Rechtsextremistische Geschichtsrevisionisten verbreiten ihre Thesen häufig über das Internet, da sie sich hier vor Strafverfolgung sicher fühlen. Dieser Kalkulation steht aber ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 entgegen, wonach sich auch in Deutschland strafbar macht, wer Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des SS 130 Abs. 1 oder des SS 130 Abs. 3 StGB erfüllen ("Auschwitz-Lüge") und die konkret zur Friedensstörung im Inland geeignet sind, auf einem ausländischen, aber Internetnutzern in Deutschland zugänglichen Server in das Internet einstellt. Aber das World Wide Web ist nicht das einzige Medium, über das geschichtsrevisionistische Thesen Verbreitung finden. Die zweimonatlich bei der rechtsextremistischen "VGB Verlagsgesellschaft Berg mbH" im bayerischen Inning erscheinende rechtsextremistische Zeitschrift "Deutsche Geschichte - Europa und die Welt" (DG) widmet sich auf über 60 Seiten schwerpunktmäßig historischen Themen, die für die rechtsextremistische Szene aus verschiedenen ideologischen Grün276 Gemäß SSSS 10, 7 Abs. 1 Passgesetz kann einem Deutschen die Ausreise unter anderem dann untersagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. 178 Rechtsextremismus den von Bedeutung sind. Das umfasst auch geschichtsrevisionistische Umdeutungen der für Rechtsextremisten neuralgischen Ereignisse, ohne dass dabei jedoch strafrechtliche Normen verletzt werden. Im Redaktionsbeirat der Zeitschrift und unter ihren wechselnden Mitarbeitern befinden sich mehrere einschlägige Rechtsextremisten. Mit ihrem unverdächtigen pseudowissenTitel und ihrer bunten, oberflächlich ansprechenden Titelseite ähnelt sie im schaftlicher Layout einigen der auf dem Markt befindlichen populärwissenschaftlichen Charakter Geschichtszeitschriften, die nicht extremistisch ausgerichtet sind. Das führt dazu, dass sie leicht mit diesen unbedenklichen Publikationen verwechselt werden kann und manchmal im öffentlichen Zeitschriftenhandel neben diesen angeboten wird. Die DG tritt auch als Veranstalterin von Tagungen und Vortragsveranstaltungen auf. So kündigte sie in ihrer Oktober-Ausgabe 2006 eine geschlossene Vortragsveranstaltung zum Thema "Wer wollte den Zweiten Weltkrieg? Kriegsursachen 1939/41" für den 25. November 2006 "im Raum Tübingen, Ludwigshafen, Esslingen" an, die dann auch - allerdings in Stuttgart - stattfand. Schon am 6. Mai 2006 hatte die DG in München nach eigenen Angaben "in Zusammenarbeit mit der" in Tübingen erscheinenden rechtsextremistischen Vierteljahresschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" zu dem ähnlich lautenden Thema "'Wollte Adolf Hitler den Krieg?' ein historisches Seminar" veranstaltet. Bei dieser Gelegenheit sprach laut DG einer der Vortragenden im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch 1939 von "entscheidenden Bemühungen der damaligen Reichsregierung, die den Frieden retten wollte und um beinahe alles in der Welt einen Krieg zu vermeiden suchte." 277 Die in dieser Aussage zum Ausdruck kommende, jeden seriösen Forschungsstand ignorierende Behauptung, Hitler-Deutschland habe nicht einmal den Krieg gegen Polen gewollt und sei daher gänzlich unschuldig am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gewesen, gehört zu den klassischen Konstanten in der verzerrten Realitätswahrnehmung rechtsextremistischer Geschichtsrevisionisten. 8. Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus (Rechts)extremistische Ideologien reduzieren die komplexen Realitäten des modernen Lebens auf wenige ideologische Leitsätze, präsentieren zur Erklärung (vermeintlicher und tatsächlicher) gesellschaftlicher Missstände wenige Feindbildgruppen (zum Beispiel Juden oder Ausländer) als "Alleinschuldige" und bieten vermeintlich einfache Lösungen für tatsächlich schwierige Probleme an. Eine solche Vereinfachung der komplizierten 277 DG Ausgabe 84 vom Juli/August 2006, Veranstaltungsbericht "Wer wollte den Zweiten Weltkrieg wirklich?", S. 60-61. Eine DVD, auf der die Vorträge dieser Veranstaltung in Bild und Ton aufgezeichnet sind, bewirbt die DG auf dem rückwärtigen Cover dieser Ausgabe. 179 Hang zur Wirklichkeit und die Verheißung simpler Problemlösungen können gerade Vereinfachung für tendenziell weniger gebildete und intellektuelle Menschen sehr attraktiv sein. Daneben existiert eine nicht unerhebliche Zahl rechtsextremistischer Intellektueller. Es reicht ein Blick auf die Erfolge, die der NS-Studentenbund schon vor 1933 an deutschen Universitäten verbuchen konnte, um festzustellen, dass selbst eine äußerst fanatische Rechtsextremismusvariante wie der Nationalsozialismus auch für formal hoch qualifizierte, mutmaßlich intelligente und gebildete Menschen durchaus attraktiv sein kann. Heutzutage kann von einer ähnlichen Verankerung des Rechtsextremismus, gar des Neonazismus an den deutschen Universitäten keine Rede sein. Auch sind, wie Wahlanalysen belegen, formal hoch qualifizierte Wähler (zum Beispiel Akademiker) innerhalb der Wählerschaft rechtsextremistischer Parteien in der Regel deutlich unterrepräsentiert. Die aus diesen Tatsachen sprechende tendenziell geringe Attraktivität des heutigen deutschen Rechtsextremismus auf bildungsnahe Bevölkerungsschichten kommt nicht eklatante von ungefähr: Denn ein eklatanter Mangel an ideologisch-theoretischer Mängel Homogenität und Fundierung zusammen mit - nicht zuletzt daraus resultierender - Zerstrittenheit und organisatorischer Zersplitterung zählen schon seit Jahrzehnten zu den schwerstwiegenden internen Problemen, mit denen sich der aktuelle Rechtsextremismus konfrontiert sieht und die sein öffentliches Erscheinungsbild entsprechend negativ prägen. Bereits seit Jahren versuchen daher einige rechtsextremistische Zirkel, Periodika und Fortbildungseinrichtungen, aber auch einzeln agierende rechtsextremistische Intellektuelle, diese Defizite abzubauen und die rechtsextremistische Szene auf breiter Front mit einem möglichst einheitlichen ideologischen und intellektuellen Rüstzeug zu versehen, um damit in der Konsequenz ihre Attraktivität auf bildungsnahe Schichten zu erhöhen, aber auch ihrer organisatorischen Zersplitterung Herr zu werden. Bisher war ihnen damit aber kaum Erfolg beschieden. Das "Deutsche Kolleg" (DK), das als Kontaktadresse ein Postfach in Würzburg angibt, bezeichnet sich selbst als "Schwert und Schild des Deutschen Geistes", als "geistige Verbindung reichstreuer Deutscher und reichstreuer Schutzgenossen des Deutschen Volkes" und "somit" als "Denkorgan des Deutschen Reiches".278 Hinter dieser Selbstcharakterisierung verbirgt sich eine kleine Gruppe rechtsextremistischer Theoretiker, in deren Verlautbarungen immer wieder ein besonders fanatischer Rechtsextremismus zum Ausdruck kommt. Das DK verbreitet entsprechende Positionspapiere über seine eigene Internet-Homepage und führt Schulungsveranstaltungen durch. 278 DK-Homepage vom 2. November 2006. 180 Rechtsextremismus Die "Deutsche Akademie" (DA) gibt auf ihrer neu gestalteten Homepage als Kontaktadresse ein Postfach in Wuppertal an. Der DA steht ein zweiköpfiger Sprecherrat vor. In ihrer "Selbstdefinition" bezeichnet sich die DA als "eine parteiunabhängige Initiative national gesinnter Deutscher, die an der geistigen Wiedergeburt ihres Volkes arbeiten". In ihrem Zwischenziel der "Heranbildung einer geistigen Gegenelite zum pseudodemokratischen Vasallensystem auf deutschem Boden" kommt die verfassungsfeindliche Stoßrichtung der DA schon sehr viel deutlicher zum Ausdruck.279 Langfristinationalges Ziel der DA ist die nationalrevolutionäre Überwindung der bundesrevolutionäre deutschen Verfassungsordnung, getreu ihrem Motto "Ohne revolutionäre Theorien Theorie keine revolutionäre Praxis". Um ihr rechtsextremistisches Gedankengut zu verbreiten, "führt" die DA "mehrmals im Jahr Wochenend-Seminare zu unterschiedlichen Themen durch", zum Beispiel zum Thema "nationalrevolutionär heute".280 Zumindest Teile der NPD bemühen sich verstärkt darum, sich in die Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus einzubringen. So hat beispielsweise die NPDParteizeitung "Deutsche Stimme" in den letzten Jahren den Charakter eines führenden rechtsextremistischen Theorieund Strategieorgans angenommen. Ebenfalls dem Willen zur intellektuellen Unterfütterung und Propagierung rechtsextremistischer Ideologieelemente fühlen sich die im Umfeld der sächsischen NPD-Fraktion angesiedelte so genannte "Dresdner Schule" und deren organisatorische Konkretisierung, das "Bildungswerk für Heimat und nationale Identität e. V." (i. G.) (BHNI), verpflichtet. Die Vertreter der "Dresdner Schule" gerieren sich als "Dresdner Schule" lose gruppierter rechtsextremistischer "Think Tank", der sich inhaltlich als ideologischer Gegenentwurf zur "Frankfurter Schule"281 anpreist. Da die "Dresdner Schule" den politischen und sonstigen demokratischen Eliten der Bundesrepublik unterstellt, seit der Studentenrevolte von 1968 unter dem Einfluss und in der Tradition der "Frankfurter Schule" zu stehen, ist ihr Wirken letztlich und ausdrücklich gegen diese Eliten gerichtet: "Das heutige BRD-Establishment in Politik, Medien und Kulturbetrieb ist das geistige Deformationspro279 "Selbstdefinition" vom Januar 2005, DA-Homepage vom 2. November 2006. 280 DA-Homepage vom 2. November 2006. 281 Bezeichnung für den Kreis von Sozialund Kulturwissenschaftlern um Max Horkheimer und das Frankfurter "Institut für Sozialforschung" sowie die hier entwickelten, auf Karl Marx und Sigmund Freud basierenden soziologisch-philosophischen Lehren (auch: "Kritische Theorie"). 181 dukt der Frankfurter Schule. (...) Die Achtundsechziger, und damit die charakterlich und geistig verlumpte Klasse, welche die Schaltstellen in Politik, Medien und Kulturbetrieb besetzt hat, sind die Ziehsöhne ebendieser Frankfurter Schule. (...) Wer den politischen Kampf gegen die volkswie staatszersetzende BRD-Nomenklatura aufnehmen will, muss die Frankfurter Schule als deren Ideengeberin erkennen und eine geistig-politische Gegenfront aufbauen. Mit der 'Dresdner Schule' (...) hat sich diese Front gegen die herrschenden Volksund Staatsabwickler aufgebaut. (...) Es ist etwas im Entstehen begriffen, dem die geistlos, korrupt und feige gewordenen Nachkommen der Frankfurter Schule nicht gewachsen sind: der organisierten Intelligenz einer selbstbewussten deutschen Nation!" 282 Das BHNI wurde nach NPD-Angaben bereits im April 2005 in den Räumen der sächsischen NPD-Fraktion gegründet, nahm aber laut eigener Pressemitteilung erst mit einer Veranstaltung am 6. Juli 2006 in Dresden die Arbeit auf. Bei dieser Gelegenheit sprach der Vorsitzende Peter DEHOUST "von der einstweilen noch ungesicherten Finanzierung" des Bildungswerks, womit ein wichtiger Grund für die gut einjährige Untätigkeit des BHNI benannt sein dürfte.283 Die 1951 gegründete, in der Regel monatlich im bayerischen Coburg "Nation & Europa" erscheinende Zeitschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" ist das älteste rechtsextremistische Theorieund Strategieorgan und damit eine der langlebigsten Konstanten des deutschen Nachkriegsrechtsextremismus. Ihre Auflage beträgt 18.000 Exemplare. Außerdem ist sie mit einer eigenen Seite im Internet vertreten. 9. Aktionsfelder Generell kommentieren deutsche Rechtsextremisten diejenigen gesamtgesellschaftlichen Debatten, bei denen sie Themen mitten in der Gesellschaft breit diskutiert sehen, die aus ihrer Sicht bislang von der Mehrheitsgesellschaft vernachlässigt wurden, in der rechtsextremistischen Szene aber einen hohen Stellenwert einnehmen. Rechtsextremisten verbinden mit solchen 282 Erklärung "Wesen und Wollen der ''Dresdner Schule'" vom 3. Mai 2005, NPD-Homepage vom 2. November 2006, Übernahme wie im Original. 283 Beitrag "Bildungswerk für Heimat und nationale Identität nimmt Arbeit auf", Homepage des NPDKreisverbandes Löbau-Zittau vom 12. Oktober 2006. 182 Rechtsextremismus Diskussionen die Hoffnung, dass zukünftig nicht nur diese Themen gesamtgesellschaftliche Diskursfähigkeit erlangen, sondern auch rechtsextremistische Positionen zu diesen Themen. Dementsprechend interpretieren sie Aufgreifen gesolche Debatten immer wieder als begrüßenswerte Tabubrüche, die eine samtgesellschafttief greifende Trendwende des Zeitgeistes, einen umfassenden politischlicher Debatten kulturellen Paradigmenwechsel in Deutschland einleiten sollen. In den letzten Jahren wurden zum Beispiel die Antisemitismusbeziehungsweise die Vertreibungsdebatte von 2002 und die Bombenkriegsdebatte von 2003 von deutschen Rechtsextremisten in dieser Weise interpretiert. 2006 traf dies auf die Patriotismusdebatte sowie auf die Debatte um einen vermeintlichen so genannten "Kampf der Kulturen" zwischen westlicher und islamischer Welt zu. 9.1 Rechtsextremistische Positionen zur Patriotismusdebatte anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft Dass die nicht erst durch die Fan-Euphorie während der Weltmeisterschaft, sondern teilweise schon vor dem 9. Juni im Feuilleton und durch Buchpublikationen ausgelöste Patriotismusdebatte in der rechtsextremistischen Szene auf ein positives Echo stoßen würde, war zu erwarten. Und tatsächlich wurde sie mehrheitlich positiv bis euphorisch von der Szene aufgenommen. Dennoch mischten sich in die rechtsextremistischen Kommentare immer wieder auch Zweifel, ob diese Debatte und die Richtung, die sie nahm, wirklich im rechtsextremistischen Sinne waren. Die zentrale Frage, die dabei immer wieder durchschien, lautete sinngemäß: Bezog sich der Patriotismus, der sich im Zuge der WM Bahn brach, konkret auf die Bundesrepublik als politisch-konstitutionelles System oder allgemeiner auf Deutschland als Heimat der deutschen "Volksgemeinschaft". Das macht für systemoppositionelle Rechtsextremisten einen entscheidenden Unterschied, wie zum Beispiel in der Plakataktion zum Ausdruck kam, die im Vorfeld der WM vom später durch das brandenburgische Innenministerium verbotenen "Schutzbund Deutschland" unter anderem auch im Landkreis Freudenstadt und im Zollernalbkreis gegen einen farbigen deutschen Nationalspieler betrieben wurde: "Nein [Vorname des Spielers], Du bist nicht Deutschland[,] Du bist BRD!" Denn im Falle, dass die patriotischen Emotionen des Sommers 2006 sich konkret auf die Bundesrepublik Deutschland bezögen, wirkte das aus rechtsextremistisch-systemoppositioneller Sicht systemstabilisierend und damit Bestrebungen entgegen, "Volksgemeindie Bundesrepublik durch ein nach rechtsextremistischen Maßstäben (zum schaft" Beispiel als "Volksgemeinschaft") organisiertes Deutschland zu ersetzen. 183 Auch drängte die Form, in der deutsche Fußballfans ihre patriotische Begeisterung zum Ausdruck brachten, Rechtsextremisten die Frage auf, ob es sich hier wirklich um einen politischen, in ihrem Sinne instrumentalisierbaren Patriotismus handelte oder lediglich um einen Pseudo-Patriotismus, der nach ihrer Meinung unpolitischen Massen nur als Anlass und Vorwand für Massenvergnügungen gedient habe, bei denen Schwarz-Rot-Gold284 lediglich als Accessoire und das Deutschlandlied nur als Partyhit fungiert hätten. Ohnehin bezeichnet sich ein erheblicher Teil der deutschen Rechtsextremisten (zum Beispiel Neonazis) gar nicht primär als Patrioten, sondern als "Nationalisten", frönen also einem Nationalismus, der sich bei genauerer Betrachtung oft sogar als Chauvinismus und/oder Rassismus entpuppt, der aus einem - zuweilen als Ethnopluralismus verbrämten - rasRassismus sistischen Nationsverständnis heraus Deutsche nichtdeutscher Abstammung aus der deutschen "Volksgemeinschaft" ausschließen will, wie manche rechtsextremistischen Äußerungen in Bezug auf farbige deutsche Nationalspieler belegen. Beispielsweise sprach zu WM-Beginn im Juni 2006 der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT, sich dabei vordergründig von rassistischen zugunsten ethnopluralistischer Vorstellungen distanzierend, einem namentlich genannten farbigen Nationalspieler rundheraus ab, ein Deutscher zu sein oder auch nur sein zu können. Aus verschiedenen Gründen protestiere die NPD unter seiner Führung ("wir" ) "(...) gegen die Versuche, das bereits gescheiterte Modell einer multikulturellen Gesellschaft nun auf Nationalmannschaften übertragen zu wollen. Wir haben dies immer abgelehnt, nicht etwa, weil es für uns eine qualitative Werteordnung unter den verschiedenen Menschen, Kulturen und Rassen gäbe, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass sich unterschiedliche Kulturen am besten dadurch entwickeln, wenn sie ihre Identität und Eigenständigkeit bewahren können. So mag [Nachname eines farbigen Nationalspielers] ein netter Kerl und toller Spieler sein, Angehöriger des deutschen Volkes wird er auch nicht durch zehn Pässe der BRD." 285 284 Bei den bundesdeutschen Nationalsymbolen Schwarz-Rot-Gold handelt es sich um Farben, die aufgrund der mit ihr verbundenen demokratisch-republikanischen Traditionen manche Rechtsextremisten ohnehin nicht als die ihren ansehen und durch die ehemaligen Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot ersetzen wollen. 285 DS Nr. 06/06 vom Juni 2006, Artikel "WM 2006: Wir begrüßen die Völker der Welt" von Udo VOIGT, S. 2, Übernahme wie im Original. 184 Rechtsextremismus Solch ein - trotz gegenteiliger Beteuerungen - rassistisch grundierter NatioNationalismus nalismus ist mit den Formen von Patriotismus, wie sie 2006 in der Gesellschaft diskutiert wurden, nicht kompatibel. Die rechtsextremistische Stimmungsmache gegen farbige deutsche Fußballnationalspieler stieß übrigens - zumindest vereinzelt - auch in der rechtsextremistischen Szene selber auf relativ entschiedenen Widerspruch.286 Im Juni 2006 veröffentlichte der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen W. GANSEL im Internet einen ausführlichen Text zur Patriotismusdebatte, in dem er die Bedenken und Vorbehalte systemoppositioneller Rechtsextremisten zusammenfasste: "Ist das alles nun bloß patriotisch verbrämter Partyund Fußball-Hedonismus oder der Beginn einer ReNationalisierung des gesellschaftlichen Lebens? Zunächst stimmt es misstrauisch, wenn man sieht, wer in diesen schwarz-rot-gold drapierten Tagen so alles eine Lanze für den Patriotismus bricht. (...) Angesichts der patriotischen Schalmeienklänge aus den Reihen des antideutschen Establishments fragt man sich, welcher Film vor unser aller Augen da eigentlich abläuft? Warum die Patriotismusforderung aus der Systemecke? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten. Die Herrschenden in Politik und Kultur haben festgestellt, dass über sechzig Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann. Dass es unter den Deutschen einen übermächtigen Wunsch nach nationaler Normalisierung und Identitätsfindung gibt, zeigte sich (...) bereits an der Art und Weise, wie in den letzten Jahren über die deutschen Opfer des letzten Weltkrieges gesprochen wurde. (...) Ließen die Herrschenden diesen Normalisierungswunsch in Sachen Volk und Vaterland weiterhin unberücksichtigt oder belegten ihn gar mit dem Bannfluch der NS-Verharmlosung, würde sich die Kluft zwischen Regierenden und Regierten um den Preis eines galoppierenden Legitimitätsschwundes 286 NZ Nr. 26 vom 23. Juni 2006, Artikel "Wer hat Angst vor David Odonkor? Warum deutsche Staatsbürger (halb)afrikanischer Herkunft in unserer WM-Auswahl zuallerletzt als Feindbild taugen" von Dr. Gerhard FREY, S. 6. 185 des Gesamtsystems noch weiter vergrößern. (...) Während der Nationalismus (...) diesen Verhältnissen den Kampf ansagt, soll der von tonangebenden Kreisen neuerdings propagierte Patriotismus die gesellschaftlichen Verhältnisse vielmehr stabilisieren und hat eindeutig Ablenkungscharakter. (...) Den neuen Patriotismus verstehen die Herrschen"Fußballden überdies augenzwinkernd als Probe auf die Patriotismus" Integrationsbereitschaft der nun offiziell 15 Mio. Menschen mit 'Migrationshintergrund' im Lande. Der Fußball-Patriotismus integriert in der Tat jeden, dessen Deutschkenntnisse ihn dazu befähigen, bei irgendeinem Mitmigranten ein schwarz-rot-goldenes Tuch zu erwerben. Was mit der Schwarzenparade im Weiß der Nationalelf vorexerziert wird, klappt auf der tanzenden Straße sowieso. Hier werden selbst Neger zu deutschen Patrioten (...). Und schließlich soll der BRD-Patriotismus erklärtermaßen der NPD das Wasser abgraben und ihr das Monopol aufs Nationale streitig machen. Die Herrschenden wissen nur zu genau, dass sie das Ventil des Druckkessels, in dem die unterdrückten nationalen Leidenschaften, Sehnsüchte und Bedürfnisse brodeln, etwas öffnen müssen, damit ihnen eines Tages nicht der ganze Kessel um die Ohren fliegt. (...) Aus Sicht des Establishments muss sich also etwas ändern, damit alles beim Alten bleibt. Gemeint ist: Wir brauchen etwas Patriotismus, damit wir keinen Nationalismus bekommen." Trotz solcher Bedenken überwogen in der rechtsextremistischen Szene diejenigen Stimmen, die letztlich eine im rechtsextremistischen Sinne positive Bewertung der Patriotismusdebatte vornahmen. Auch GANSEL machte hier letztlich keine Ausnahme: "Die Rechnung wird für die Systemkräfte aber nicht nur deshalb nicht aufgehen, weil der Wohlstandskitt für einen solch windelweichen Patriotismus nicht mehr vorhanden ist, sondern weil die gefühlsschweren Urwerte von Volk und Vaterland eine ganz besondere Eigendynamik entwickeln können, wenn sie erst einmal im öffentlichen Raum stehen 186 Rechtsextremismus und in wirtschaftlichen Krisenzeiten von den Menschen als entscheidend auch für das eigene Wohl und Wehe begriffen werden. Ideen, deren Zeit gekommen ist, weil 'die da oben' nicht mehr können und 'die da unten' nicht mehr wollen, können ganze morsche Systeme hinwegfegen. Wenn der nationale Geist nun der Flasche entweicht, in den die inneren und äußeren Feinde Deutschlands ihn nach 1945 gesperrt haben, lässt er sich dorthin nicht mehr zurückbannen. Einmal aus der bisher verordneten Schmuddelecke geholt, ist der nationale Gedanken nicht mehr diskreditierbar, sondern wird sich zwangsläufig politisch aufladen, wenn die eigenen wirtschaftlichen Belange im Globalisierungszeitalter mit der ganzen Nation identifiziert werden (Wohlstandsund Standortnationalismus). Was in der gegenwärtigen Schwarz-Rot-Gold-Begeisterung aufscheint, die Ineinssetzung von Person und Nation, wird mittelfristig nicht ohne politische Folgen bleiben. Das (...) im ganzen Stadion so kraftvoll geschmetterte 'Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland' und 'Blüh' im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland' reimt sich - ins Politische übersetzt - doch förmlich auf 'Deutschland zuerst' und 'Deutsches Geld für deutsche Aufgaben'. (...) Der gegenwärtige Fußball-Patriotismus hat - trotz seines trivialen und partyhaften Charakters - einen bislang nur unterirdisch wirkenden Normalisierungsnationalismus zutage treten lassen. Aus dem postnationalen Homo bundesrepublicanus wird wieder der aufrecht gehende Deutsche, der ein ganz natürliches nationales Identitätsund Gemeinschaftsbewusstsein pflegt." 287 Die Hoffnungen, die deutsche Rechtsextremisten mit der Patriotismusderechtsextremisbatte verbanden, dürften sich als subjektives Wunschdenken erweisen. tisches WunschDenn während Rechtsextremisten dieses Thema in den letzten Jahren denken meinten weitgehend für sich monopolisieren und Menschen, denen dieses Thema wichtig war, auf diese Weise für sich interessieren zu können, wird es ihnen durch gesamtgesellschaftliche Debatten wie die im Jahr 2006 teil287 Text "Der Fußball und der deutsche Normalisierungsnationalismus" von Jürgen W. GANSEL, NPDHomepage vom 6. Juli 2006, Übernahme wie im Original. 187 weise aus der Hand geschlagen. Entscheidend ist nämlich in diesem wie in ähnlich gelagerten Fällen nicht, welche Themen in der Gesellschaft diskutiert, sondern welche Positionen dazu vertreten werden. So gesehen kann eine breite gesellschaftliche Debatte über einen toleranten, demokratisch grundierten Patriotismus ein indirekter Beitrag zur weiteren Marginalisierung rechtsextremistischer, hier nationalistisch-chauvinistischer und rassistischer Positionen sein. Auf eine solche Debatte zu verzichten, hieße, sich indirekt von rechtsextremistischen Themenvorgaben treiben zu lassen. 9.2 Der "Kampf der Kulturen" aus rechtsextremistischer Sicht Gerade im Jahr 2006 gaben einige, zum Teil sehr spektakuläre Ereignisse der These von einem heraufdämmernden oder schon akuten "Kampf der Kulturen" zwischen westlicher und islamischer Welt neue Nahrung. Zu diesen Ereignissen zählten der so genannte "Karikaturenstreit", die Spannungen zwischen der iranischen Führung um den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad einerseits und den USA, Israel, der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der EU andererseits, der ungelöste Nahostkonflikt, der im Sommer 2006 mit den mehrwöchigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der "Hizb Allah" eine weitere Eskalationsstufe erreichte, aber auch die weiter schwelenden Kriege in Irak und Afghanistan mit ihren Begleiterscheinungen. In Deutschland führte die Angst vor eventuell gewalttätigen islamistischen Reaktionen zur vorübergehenden Absetzung der Mozart-Oper "Idomeneo" an der Deutschen Oper Berlin, was wiederum eine heftige gesellschaftliche Debatte über die Vereinbarkeit von westlichen und islamischen Werten zur Folge hatte. Welch hoher Stellenwert dem Themenkomplex "Kampf der Kulturen" in der rechtsextremistischen Propaganda im Jahr 2006 eingeräumt wurde, wird schon daraus ersichtlich, dass die NPD im baden-württembergischen Landtagswahlkampf einen Schwerpunkt auf das Thema "Islamismus" legte. Die innenpolitische Dimension Fast alle deutschen Rechtsextremisten versuchten, die oben genannten InstrumentalisieEreignisse des Jahres 2006 innenpolitisch zur Agitation gegen Phänomene rungsversuche und Entwicklungen zu instrumentalisieren, die sie ohnehin seit Jahrzehnten entschieden ablehnen: gegen Zuwanderung, multikulturelle Gesellschaft, aber auch gegen einen türkischen EU-Beitritt. Sie sahen sich in ihren ideologischen Überzeugungen und daraus resultierenden (zum Beispiel ausländerpolitischen) Forderungen zu diesen Themen durch diese Ereignisse bestätigt. Als Beleg kann die neonazistische Vierteljahresschrift "Volk in 188 Rechtsextremismus Bewegung" zitiert werden, die ihre erste Ausgabe des Jahres 2006 ganz dem Thema "Eskaliert der Kampf der Kulturen?" widmete: "Europa präsentiert sich in einer tiefen Krise, ja in einem erbärmlichen Zustand. Die Multikulti-Utopisten haben eine Identitätskrise und breite Verunsicherung auf dem Kontinent verursacht. Das wiederum ermutigt natürlich die Moslems in der Islamischen Welt und in Europa zu allerhand herausfordernden Handlungen. (...) All diesen Konflikten kann nur durch konsequente ethnische Separation die Grundlage entzogen werden. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Europa und der Islamischen Welt: Der Bosporus und die Straße von Gibraltar bilden nicht nur eine geographische Barriere - sie müssen auch wieder eine ethnische, kulturelle und selbstverständlich eine politische Grenze bilden. (...) Verschiedene Kulturkreise können nebeneinander, aber nicht miteinander leben. (...) Kein Halbmond über Europa - Kein EU-Beitritt der Türkei - Europa endet am Bosporus!" 288 Ideologisch besonders strikte Rechtsextremisten bezogen im "Kampf der Kulturen" sowohl gegen die moslemische als auch gegen die westliche Welt Position, da sie beide - aus unterschiedlichen ideologischen Gründen und teils mit unterschiedlicher Intensität - ablehnen. Beispielsweise sahen diese Rechtsextremisten keinen Sinn darin, im "Karikaturenstreit" westliche Meinungsund Pressefreiheit zu verteidigen, da sie unter Hinweis auf den SS 130 StGB und die daraus resultierenden Gerichtsverfahren gegen Rechtsextremisten behaupten, dass es diese Freiheiten in der Bundesrepublik Deutschland - und in anderen Teilen der westlichen Welt - ohnehin nicht gebe. In diesem Sinne hieß es in dem bereits zitierten "Kulturkampf"-Themenheft von "Volk in Bewegung": "(...) es ist zynisch, ja pervers, wenn sich im 'Karikaturen-Streit' jene als Verteidiger einer Meinungsfreiheit aufspielen, die im Normalfall immer die erste Geige bei der Verfolgung der Nationalen Opposi288 "Volk in Bewegung" (ViB) Nr. 1-2006, Artikel "Kampf der Kulturen", S. 4-7, hier: S. 5. 189 tion spielen. Eine Meinungsfreiheit, die es in weiten Teilen Europas und insbesondere in der Bundesrepublik nicht gibt. (Von der stalinistischen Politjustiz in Österreich ganz zu schweigen......). Oder sitzen die Revisionisten Zündel, Rudolf und Verbeke etwa nicht wegen ihrer Forschungen und ihrer verbotenen Meinung in Haft?" 289 Aus Sicht dieser Rechtsextremisten müssen Deutschland und Europa in einer kulturell multipolaren Welt eine eigenständige Kultur entwickeln, die an nationalistischen Interessen ausgerichtet ist. Diese Position brachte der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen W. GANSEL im April 2006 in einem DS-Grundsatzartikel zu dieser Thematik auf den Punkt: "Islamismus und Amerikanismus sind raumfremde Mächte, die dem Europa der Vaterländer völlig wesensfremd sind und hier nur zerstörerisch wirken. Für Islamisten wie Amerikanisten stellen Völker keine Kollektivpersönlichkeiten mit Eigenwert da, für sie spielen ethno-kulturelle Identitäten keine Rolle und gelten Nationalstaaten nur als Hindernisse auf dem Weg zur je eigenen Weltherrschaftsordnung. Letztlich macht es keinen großen Unterschied, ob die Völker in die Herde der muslimischen Umma (...) oder in die Idiotenmasse der amerikanischen McWorld hineingetrieben werden sollen - Souveränität und Identität der Völker kommen bei beiden Universalismen unter die Räder. (...) So gesehen mag nun ein gewaltiger Konflikt zwischen Umma und Americanopolis heraufziehen, ein Kampf zwischen Dschihad und McWorld toben. Europa sollte dabei jede sich ergebende Schwächung der beiden Konfliktparteien zur Durchsetzung eigener Interessen nutzen und damit zum 'lachenden Dritten' in der Weltarena werden. Nicht um missionarisch und imperialistisch auf den Spuren von Islamismus und Amerikanismus zu wandeln, sondern um dem Europa der Vaterländer neues Leben einzuhauchen und wieder Herr im überfremdeten Eigenheim zu werden." 290 289 Ebd. 290 DS Nr. 04/06 vom April 2006, Artikel "Der Nationalismus im 'Kampf der Kulturen' - Eine Positionsbestimmung zwischen Islamismus und Amerikanismus" von Jürgen W. GANSEL, S. 19, Übernahme wie im Original. 190 Rechtsextremismus Die außenpolitische Dimension Neonazis und andere besonders fanatische Rechtsextremisten beziehen im Konflikt zwischen westlicher Welt und Islam beziehungsweise Islamismus nur dann Stellung gegen Muslime beziehungsweise Islamisten, wenn sie Deutschland direkt und im Innern von deren Handlungen und/oder Gegenwart negativ betroffen sehen. Sobald sie den Konflikt als einen rein außenpolitischen wahrnehmen (zum Beispiel in Palästina, Irak oder Iran), in dem deutsche Interessen aus rechtsextremistischer Sicht nicht oder nur geringfügig betroffen sind, können sich diese rechtsextremistischen Positionierungen in ihr Gegenteil verkehren. Dann nämlich werden reflexartig ganz andere rechtsextremistische Ideologeme aktiviert, insbesondere Antiamerikanismus, Antisemitismus (beziehungsweise konkrete Israelfeindschaft) und die Ablehnung der westlichen Moderne. Denn mit den USA, Israel und der westlichen Wertegemeinschaft sind in den "Kampf der Kulturen" drei Parteien involviert, die klassische Feindbilder dieser Rechtsextremisten verkörpern und denen sie keinesfalls zur Seite stehen wollen. Rein außenpolitisch betrachtet werden aus dieser rechtsextremistischen Sicht Muslime beziehungsweise Islamisten zu willkommenen, vitalen, zu allem entschlossenen Bündnispartnern im Kampf gegen diese drei Feindbilder, streng nach dem Motto gemeinsame "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". In solchen außenpolitischen Feindbilder Zusammenhängen gilt der ideologisch-religiöse Fanatismus der Islamisten deutschen Rechtsextremisten als positiver Gegensatz zu der vermeintlichen Inhaltsleere, Beliebigkeit und Dekadenz des Westens. Muslime als vorübergehende innenpolitische Verbündete gegen den modernen, vermeintlich linksliberalen Zeitgeist Die Zweiteilung bei dieser rechtsextremistischen Beurteilung des "Kampfes der Kulturen" in eine innenpolitische und in eine außenpolitische Dimension belegt auch das folgende Zitat aus einer unter anderem über die Internetseite des NPD-Kreisverbands Heilbronn verbreiteten Pressemitteilung der Bundes-NPD: "Das eigentliche Problem ist nicht, dass in Riad oder Teheran aufgebrachte Menschen gegen den dekadenten Westen demonstrieren. Der eigentliche Sprengstoff liegt in der Frage, wann die hier lebenden Moslems gegen ihnen nicht genehme Institu191 tionen vorgehen werden. Frankreich warnt. Die Hoffnung der Systemparteien, dass man die inzwischen in vielen Städten zur Mehrheit gewordenen moslemischen Gemeinden durch Konsum und Materialismus verwestlichen und abrichten könnte, wird sich als trügerisch erweisen." 291 In diesem Zitat klingt aber auch ein weiterer wichtiger Aspekt rechtsextremistischer Wahrnehmung des vermeintlichen westlich-islamischen "Kampfes der Kulturen" an: ein nicht unerhebliches Maß an Bewunderung für die Muslime, und hier insbesondere für diejenigen, die sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und anderen westlichen Ländern niedergelassen haben. Dazu muss vorausgeschickt werden, dass ein wichtiger Aspekt rechtsextremistischer Feindbildkonstruktion zuweilen übersehen wird, der sich jedoch wie ein roter Faden durch die Geschichte des deutschen Rechtsextre"Furcht und Hass mismus seit dem 19. Jahrhundert zieht. Dieser Aspekt lässt sich auf die Foraus Bewunderung" mel bringen "Furcht und Hass aus Bewunderung". Was auf den ersten Blick paradox erscheint, ist tatsächlich nur ideologisch konsequent. Deutsche Rechtsextremisten hassen bestimmte Feindbilder vor allem auch deswegen, weil diese in ihrer auf Stereotypen ausgerichteten Wahrnehmung angeblich so sind, wie nach ihrer Meinung die Deutschen sein sollten, aber aufgrund ihrer vermeintlich typischen Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit nicht sind. Das heißt in Bezug auf die rechtsextremistische Wahrnehmung der in Deutschland lebenden Muslime: Sie gelten als traditionsverhaftet-konservativ (unter anderem als sehr religiös), als aggressiv-nationalistisch, selbstbewusst, intolerant, höchst gebärfreudig und insgesamt als immun gegenüber den Anfechtungen durch die westliche Moderne. Da deutsche Rechtsextremisten seit jeher davon ausgehen, dass all dies auf die Deutschen nicht oder doch zuwenig zutrifft, schreibt man den zugewanderten Muslimen eine ursprüngliche, antimoderne Kraft, einen Willen, eine Vitalität und Durchsetzungsund Verdrängungskraft zu, denen die aus rechtsextremistischer Sicht durch westlich-modernistische Einflüsse wachsweich, nihilistisch, genusssüchtig, feige und schwach gewordenen Deutschen, die sich zudem nicht mehr ausreichend fortpflanzen, nicht gewachsen sind. Also lehnen deutsche Rechtsextremisten die Muslime in Deutschland nicht deshalb ab, weil sie die aktuellen, westlich-modernistisch beeinflussten Deutschen den türkischen, kurdischen oder arabischen Muslimen als so über-, sondern ganz im Gegenteil als so unterlegen ansehen. 291 Pressemitteilung "Karikaturen-Streit: Doppelmoral als politisches Prinzip" vom 8. Februar 2006, Homepage des NPD-Kreisverbands Heilbronn vom 17. Februar 2006, Übernahme wie im Original. 192 Rechtsextremismus Die "National-Zeitung" (NZ) des Münchener Verlegers und DVU-Bundesvorsitzenden FREY spricht sich seit Jahrzehnten konsequent gegen Zuwanderung aus der islamischen Welt aus, beschwört außenpolitisch jedoch eine angeblich traditionelle deutsch-arabische beziehungsweise deutsch-islamische Freundschaft, vor deren Hintergrund sie jedes deutsche Engagement in der islamischen Welt an der Seite der USA oder Israels ebenso entschieden ablehnt. Dennoch zollte ein NZ-Artikel im Februar 2006 den bereits hier lebenden Muslimen Respekt für ihre vermeintliche Immunität gegenüber Respekt vor den Verlockungen der westlichen Moderne und konstatierte ein Scheitern Muslimen der Hoffnungen, die die bundesdeutschen Politikverantwortlichen in die Zuwanderung gesetzt hätten: "Die Merkels dieser Republik stehen (...) vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Ausländerpolitik. (...) Jetzt ist das Gejammere groß, weil man nämlich feststellt, dass die Fremden im Land sich weniger für 'Wetten, dass...', sondern eher für den Koran interessieren. Die Eindeutschung und Entwurzelung hier lebender Ausländer will einfach nicht funktionieren. Kein Wunder, denn unter 'Integration' verstehen arrogante Herrschende in erster Linie, islamischen Mädchen das Kopftuch wegzunehmen und sie bauchnabelfrei in die angebliche Freiheit der nächsten Diskothek zu entsenden. (...) Gutmenschen begreifen tatsächlich erst in diesen Tagen, dass die islamische Geistlichkeit im Grunde genommen gegen alles predigt, was Etablierten heilig ist. Hiesige Etablierte haben keine Chance, Islamisten vor ihren klapprigen antideutschen Karren zu spannen. Und das ist gut so. Kopftuch statt Love Parade. Herd statt westlicher Tittenkultur. Wer wollte das unseren Gästen verdenken! Muslime haben an einer Zwangsgermanisierung beziehungsweise 'Verwestlichung' kein Interesse. Sie plappern eben nicht Michel Friedman nach dem Mund, sie umschleimen nicht die Israel-Lobby, sie wagen es, die USA zu kritisieren, sie kreischen nicht vor Begeisterung, wenn sie einen schwulen bundesdeutschen Politiker erblicken, sie wollen ihre Töchter behüten und neigen nicht dazu, sich von [Name eines Moderators] und irgendwelchen Verblödungs-Shows politisch ruhigstellen zu lassen. Und sie werden wohl auch nicht 193 die Merkel wählen, selbst wenn sie denen eines Tages das Wahlrecht in die Wiege legen würde." Vor diesem Hintergrund interpretierte der NZ-Autor den gesellschaftlichen verschwörungsDiskurs um den "Kampf der Kulturen" verschwörungstheoretisch: Dieser theoretischer Diskurs sei von bundesdeutscher Politik und Medien initiiert, um die Erklärungsansatz angeblich unbotmäßigen islamischen Migranten, die die Erwartungen ihrer Zauberlehrlinge enttäuscht hätten, auszugrenzen und als Feindbilder zu markieren. In diesem Zusammenhang deutete der Autor sogar einen Vergleich mit dem Schicksal der Juden im "Dritten Reich" an: "Nach Kampfhunden, Skinheads und Serben haben Bundesdeutschlands Vorzeige-Größen ein neues Feindbild: Moslems, Islamisten, Mullahs! Vorbei das 'Mein-Freund-ist-Ausländer'-Geplärre. (...) Was Massenmedien und etablierte Politiker dieser Tage veranstalten, ist an kleinkarierter, verlogener und gefährlicher Hetze kaum zu unterbieten. Man fragt sich, was die aus der Geschichte eigentlich wirklich gelernt haben. (...) Neben Machtgier und miesem Abzockertum ist es vor allem ein ganz finsteres Menschenbild, das hier die üblichen Verdächtigen auszeichnet und einer miesen Hetzkampagne die Feder führt (...). Islamisten sind gegenwärtig an allem schuld. Gleichgeschaltet die großen Medienorgane, lesen wir an jedem Zeitschriftenkiosk die gleichen platten Parolen. So etwa hat schon einmal ein Kesseltreiben gegen Andersgläubige begonnen. (...) Wehret den Anfängen!" 292 Ethnisch-religiöse Ghettos und Parallelgesellschaften: Aus rechtsextremistischen Perspektiven Bedrohung und Chance Die Herausbildung ethnisch mehr oder minder homogener Ghettos und Parallelgesellschaften ist aus rechtsextremistischer Sicht sichtbarster Ausdruck der von ihnen so genannten "Überfremdung" Deutschlands und der Deutschen, Europas und der Europäer. Sie wird dementsprechend fundamental von den meisten deutschen Rechtsextremisten abgelehnt, weil angeblich der "Kampf der Kulturen" in Deutschland und anderen europäischen Staaten in einen Bürgerkrieg zwischen einer immer größeren, vitalen 292 NZ Nr. 8 vom 17. Februar 2006, Artikel "Der Nachbar als Feind? Was Merkel und Gesinnungsfreunde anrichten", S. 5. 194 Rechtsextremismus Zuwandererbevölkerung und einer schwindenden, überalterten deutschen beziehungsweise europäischen Bevölkerung auszuarten drohe, der langfrisangeblich droht tig, wenn nicht schon mittelfristig in die endgültige Verdrängung oder gar ein Bürgerkrieg Vernichtung des deutschen Volkes und der Europäer münde. Auch das "Kulturkampf"-Themenheft von "Volk in Bewegung" malte dieses Menetekel an die Wand und verlieh ihm zudem eine deutlich rassistisch-sozialdarwinistische Färbung: "Die multikulturelle Wahnutopie, Rassenund Völkervermischung führen mit naturgesetzlicher Sicherheit zu blutigen Konflikten. (...) Die Rassenunruhen die Europa in immer kürzeren Abständen erschüttern, nehmen (...) immer größere Ausmaße an, Holland und Frankreich waren mit Sicherheit erst der Anfang! (...) Der 'Kampf der Kulturen' ist v.a. in den städtischen Ballungsräumen in ganz Westeuropa Realität und die Einheimischen werden von den Einwanderern in immer brutalerer Weise aus ihrem angestammten Lebensraum verdrängt: Sie werden immer mehr - und wir werden immer weniger! (...) Das 21. Jahrhundert (...) wird Konflikte in noch nie dagewesenen Größenordnungen mit sich bringen. Nicht nur einzelne Staaten, ganze Kontinente, die weiße und die farbige Welt werden aufeinanderprallen. Dieser Prozess hat wenig mit vordergründiger Machtpolitik zu tun, er vollzieht sich unaufhaltsam und unerbittlich wie die Natur selbst. Denn die Natur duldet keine schwachen Völker und Rassen: Wenn sich Europa und die weiße Rasse nicht ihre große Dekadenzkrise überwinden, werden sie am Ende unseres Jahrhunderts Geschichte sein, so einfach lautet dann der Richtspruch der Natur. Der "Kampf der 'Kampf der Kulturen' ist von dieser Warte aus Kulturen" ist betrachtet ein Naturzustand, ihn wegdiskutieren zu "Naturzustand" wollen, ist lächerlich und ein Zeichen von Dummheit und Schwäche." 293 Gleichzeitig jedoch werden von anderen deutschen Rechtsextremisten die sprachliche, kulturelle und religiöse Absonderung immer breiterer Einwandergruppen und die daraus resultierende geographische Absonderung in 293 ViB Nr. 1-2006, Artikel "Kampf der Kulturen", S. 4-7, hier: S. 5 und 7, Übernahme wie im Original. 195 Form von Ghettos und Parallelgesellschaften ausdrücklich begrüßt. Sie sehen in ethnischen Ghettos und Parallelgesellschaften die letzte Möglichkeit, das deutsche Volk in einer Zwischenphase vor einer Vermischung mit den Zuwanderern und damit vor dem "Rasse-" beziehungsweise "Volkstod" zu bewahren. Gleichzeitig, so lautet der zweite Teil dieser rechtsextremistischen Logik, werden die Zuwanderergesellschaften in ihrer Eigenart konserviert, was für die Zeit nach einer rechtsextremistischen Machtübernahme die Möglichkeit offen halte, diese ethnischen Ghettos und Parallelgesellschaften geschlossen aus Deutschland auszuweisen, ohne in großem Umfang auf Mischehen, deutsche Ehepartner und deren Kinder Rücksicht nehmen zu müssen. Dazu wieder GANSEL in der DS vom April 2006: "Als größtes Integrationshindernis gilt derweil der Islam, weshalb man vielen orientalischen Landbesetzern bis zum Tag ihrer Rückführung nur viel Koranfestigkeit wünschen kann. Für die Multikulturalisten sind die Islamisten längst 'Spielverderber' geworden, die sich einfach nicht in die Dekadenzgesellschaft des Westens einschmelzen lassen wollen. Der Islam bindet die Fremden zu einem kulturellen Kollektiv zusammen, das seine Angehörigen vollständig vereinnahmt und die unaufhebbare kulturelle Differenz zum Gastland unterstreicht. So bewirkt die Lehre des Propheten Mohammed in Europa eine positive Selbstghettoisierung der Gläubigen und einen Verzicht auf Mischehen mit Ungläubigen. Damit leistet der Islam einen wichtigen Beitrag zum ethnobiologischen Erhalt auch der Deutschen. Solange die Fremden wegen der politischen Verhältnisse noch nicht ausgewiesen werden können, muss ihre islamische Identitätsund Glaubensgemeinschaft intakt bleiben, damit es nicht zu kulturellem Einheitsbrei und Völkervermischung kommt. Diese partielle Wertschätzung des Islam darf aber nur vorübergehender und taktischer Natur sein, um in einer Zeit, in der die Völker von den "Islam in Europa Globalisten durch den Vermischungswolf gedreht ist Fremdund werden, eine wichtige Integrationsbremse zu haben. Feindreligion" Niemand darf bezweifeln, dass der Islam in Europa eine Fremdund Feindreligion ist." 294 294 DS Nr. 04/06 vom April 2006, Artikel "Der Nationalismus im 'Kampf der Kulturen' - Eine Positionsbestimmung zwischen Islamismus und Amerikanismus" von Jürgen W. GANSEL, S. 19. 196 Rechtsextremismus Diese Position gründet auf zwei Annahmen: Erstens, dass irgendwann eine Umgestaltung der Bundesrepublik nach rechtsextremistischen Maßstäben stattfinden werde, die innenpolitisch die machtpolitischen Voraussetzungen irreales für die Vertreibung von Millionen Muslimen schaffen würde. Zweitens, dass Wunschdenken die internationale Staatenwelt eine derartig verbrecherische "Ausländerpolitik" dulden würde. In beiden Fällen handelt es sich weniger um realistische Annahmen als um irreales Wunschdenken. 10. Weitere Informationen Im Jahr 2006 erschien eine neue Broschüre "Rechtsextremismus", die neue neben Informationen über ideologische Grundlagen und rechtsextremistiBroschüre sche Bestrebungen im Einzelnen auch eine Abhandlung über Ursachen und Anlässe für rechtsextremistisches Denken und Handeln enthält sowie Strategien gegen den Rechtsextremismus aufzeigt. Aktuelle Informationen erhalten Sie auch auf unserer Homepage: http://www.verfassungsschutz-bw.de/rechts/start_rechts.htm. Dort ist auch die Broschüre "Rechtsextremistische Skinheads" (2001) abrufbar, deren gedruckte Auflage vergriffen ist. 197 E. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Das Jahr 2006 brachte Linksextremisten teils hoffnungsvoll, teils eher pessimistisch stimmende politische Entwicklungen. Hoffnungsträger ist das neue Partei als Projekt einer neuen Partei "Der Linken" geblieben, das aus der Vereinigung Zukunftsträger von "Linkspartei.PDS" und "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG)295 hervorgehen soll. Entgegen der Idee einer umfassenderen Sammlungsbewegung zeichnete sich bereits der prägende Einfluss der "Linkspartei.PDS" ab. War aus dem Konzept einer Fusion beider Partner lediglich ein Beitritt der WASG zur "Linkspartei.PDS" geworden, so ließen auch bislang veröffentlichte gemeinsame Papiere deutlich die Handschrift der "Linkspartei.PDS" erkennen und künftig deren politische Dominanz befürchten. Während die "Fusion" auf der Führungsebene beschlossene Sache war, traf der Parteibildungsprozess nicht zuletzt deshalb vor allem an der Basis beider Parteien auf misstrauisch-kritische Stimmen. Auch die Entscheidung zur Fortsetzung der heftig umstrittenen Regierungsbeteiligung in Berlin nach der Landtagswahl am 17. September 2006 trug dazu bei, dass die Parteiformierung von spürbaren Dissonanzen begleitet war. Vor allem seit ihrem Wahlerfolg bei der Bundestagswahl 2005 nimmt die "Linkspartei.PDS" im Spektrum der linksextremistischen Parteien eine Schlüsselrolle ein. Ihre durchaus erfolgreiche Selbststilisierung als "Partei der sozialen Gerechtigkeit" sollte sie als wählbare "linke" Alternative zum politischen Kurs von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ausweisen. Im Bundestag erneut und stärker denn je als Fraktion präsent, fungiert sie als Transmissionsriemen außerparlamentarischer Bewegungen. Dadurch und noch zusätzlich auf internationaler Ebene hat die "Linkspartei.PDS" der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) längst den Rang abgelaufen. Die DKP dürfte sich ihrer weitgehenden Bedeutungslosigkeit bewusst sein. Dennoch legt sie Wert darauf, als eigenständige Partei fortzubestehen. Die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) ist im Gegensatz zu der von ihr angestrebten und ständig propagierten Entwicklung zur kommunistischen "Massenpartei" noch immer eine Randerscheinung, wenngleich sie stärker als in früheren Jahren öffentlich in Erscheinung getreten ist und auf örtlicher Ebene sogar auf vereinzelte bündnispolitische Erfolge zurückblicken kann. 295 Die WASG ist kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 198 Linksextremismus Stark in den Vordergrund ist für Linksextremisten das angebliche Weiterdrehen des Staates an der "Repressionsschraube" getreten, angeblich insbesondere zur "Diskriminierung" und "Unterdrückung" "linken Widerstands". Als Belege dafür, dass sich die unterstellte politisch motivierte Repression bevorzugt gegen den "unliebsamen" Gegner von "links" richte, wurden besonders Maßnahmen gegen linksextremistische "Antifaschisten" angesehen, sei es in Form polizeilichen Einschreitens, von "Berufsverboten" oder mit Mitteln des Strafrechts. Das Agitationsfeld des "Antifaschismus" als solches hat zugleich, spiegelbildlich zur erhöhten Aktivität von Rechtsextremisten, weiter an Bedeutung gewonnen und maßgeblich zum sprunghaften Anstieg der Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten beigetragen. Gegen "Repression" und "Unterdrückung" wendet sich letztendlich auch der Kampf um den Erhalt beziehungsweise die Neugründung so genannter Autonomer Zentren. Während sich Linksextremisten verstärkt als Opfer staatlicher "politischer Willkür" betrachteten, reichten die eigenen Kräfte indes weiterhin nicht dazu aus, "offensiv" gegen die "herrschenden Verhältnisse" vorzugehen. Dazu trugen szeneinterne Kontroversen bei, die vor allem in teils diametral entgegen gesetzten Positionen zum Nahost-Konflikt ihren Ausdruck fanden. Wegen der damit in Zusammenhang stehenden Uneinigkeit in der Haltung zum Irakkrieg blieb auch hier die Resonanz eher verhalten. Gleichwohl wurde der Besuch des amerikanischen Präsidenten im Juli 2006 zu Protesten genutzt und dazu, die Gefahren eines möglicherweise drohenden Kriegs gegen den Iran zu beschwören. Indikatoren wie "Sozialabbau", zunehmende "Repression nach innen" oder Kriegseinsätze der Bundeswehr schienen 2006 für Linksextremisten eine Entwicklung des kapitalistischen Systems wie aus dem kommunistischen Lehrbuch anzukündigen. Die ständig verlängerte Kette "sozialer Grausamkeiten", flankiert von einer am reinen "Profitinteresse" orientierten, "neoliberal" geprägten Wirtschaft, musste nach Ansicht von Linksextremisten breiten Bevölkerungsschichten das wahre Gesicht und die Konsequenzen eines von seinen sozialen Fesseln zunehmend befreiten "Turbokapitalismus" vor Augen führen. Eine in Deutschland geführte "Kapitalismusdebatte" wie auch zuletzt die "Unterschichtendebatte" waren zusätzlich Wasser auf die Mühlen von Linksextremisten. Allerdings blieb der erhoffte Mobilisierungsschub zu einer breiten Protestbewegung aus. Andere Themen, die in den letzten Jahren kontinuierlich an Attraktivität G8-Gipfel verloren hatten, standen erneut auf der Agenda. Dass der Gipfel der acht im Focus größten Industrienationen (G8-Gipfel) 2007 in Deutschland stattfinden 199 wird, verlieh der Bewegung der Globalisierungsgegner neuen Schub. Die Planungen und Vorbereitungen dazu hatten bereits 2005 eingesetzt. Die Gipfelveranstaltung von 2006 in St. Petersburg/Russland rief hingegen wenig Resonanz hervor. Es zeichnete sich deutlich ab, dass für Linksextremisten der G8-Gipfel in Heiligendamm ein zentrales Thema des Jahres 2007 sein wird. 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Die Bemühungen linksextremistischer beziehungsweise linksextremistisch beeinflusster296 Parteien und Organisationen um einen Mitgliederzuwachs waren auch 2006 selten von Erfolg gekrönt. Namentlich die MLPD und die DKP räumten der Gewinnung neuer Mitglieder eine zentrale Bedeutung ein. Die Angabe der MLPD, wonach sie seit ihrem Parteitag von 2004 eine Steigerung um 30 Prozent zu verzeichnen habe, muss bezweifelt werden, wenngleich von gewissen Zuwächsen vor allem in den neuen Bundeslän296 Extremistisch beeinflusst sind solche Organisationen, die außer extremistischen auch nichtextremistische Mitglieder haben. Die Extremisten, die unter den Mitgliedern nicht die Mehrheit bilden müssen, bestimmen jedoch den Kurs der Organisation und vertreten diesen nach außen. 200 Linksextremismus dern ausgegangen werden kann. Für diese Partei dürfte - ähnlich wie für trotzkistische Vereinigungen - gelten, dass Neuzugänge schon bald nach Erkennen des sektenhaften beziehungsweise autoritär-doktrinären Charakters der jeweiligen Organisation nicht lange zu halten sind. Rückgänge, bestenfalls Stagnation kennzeichneten demzufolge die Situation im Allgemeinen. Selbst für eine Organisation wie die "Rote Hilfe e.V." (RH), die sich jahrelang im Aufwärtstrend befunden hat, fehlten Anhaltspunkte für eine Fortsetzung dieser Tendenz. Ähnlich wie bei der DKP dürfte auch der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) die Überalterung ihres Mitgliederbestandes anhaltend Sorgen bereiten. Eine Ausnahme bildete die "Linkspartei.PDS". Durch erneut möglich gewordene Doppelmitgliedschaften dürften vorrangig Mitglieder der WASG der Partei beigetreten sein, wie dies im Übrigen umgekehrt gilt. In Baden-Württemberg bewegen sich die Mitgliederzahlen seit einigen Jahren kontinuierlich nach oben. Weiterhin vorhandene interne Zerwürfnisse haben die zahlenmäßige Relevanz auch der autonomen Szene weitgehend unverändert gelassen. Verstärkte Aktivitäten im Bereich "Antifaschismus" dürften weniger auf ein gestiegenes Potenzial, als vielmehr auf vermehrte Aktivitäten des politischen Gegners zurückzuführen sein. 2.2 Strafund Gewalttaten Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links sowie linksextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2006 Gewalttaten in BadenWürttemberg nahezu verdoppelt 201 Linksextremistisch motivierte Straftaten haben in Baden-Württemberg erneut und deutlich zugenommen. Während erwartete Ausschreitungen im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft weitestgehend ausblieben, wuchsen dagegen vor allem die tätlichen Auseinandersetzungen mit Rechtsextremisten in Reaktion auf eine ansteigende Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen, aber auch bei gewaltsamen Zusammenstößen mit Polizeikräften im gleichen Zusammenhang spürbar an. 3. Gewaltbereiter Linksextremismus Gewaltbereite Linksextremisten konzentrierten ihre Aktivitäten erneut und verstärkt auf die Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten. Dabei war eine zunehmende Gewaltbereitschaft und Zielstrebigkeit bei entsprechenden Aktionen erkennbar. Dass die Anwendung von Gewalt gegen "Nazis" nach wie vor in der autonomen Szene auf große Akzeptanz stieß, bestätigten auch Kommentare etwa aus der Heidelberger Szene: "Letzte Meldung: Einige Nazis aus Mannheim, Ludwigshafen und dem Raum Heppenheim staunten am frühen Abend des 3. Dezember [2005] nicht schlecht, als sie in Hockenheim aus dem Zug stiegen. Acht ihrer Autos - darunter zwei dickere Schlitten - waren demoliert und fahruntüchtig gemacht worden. Auch eine Art des Umgangs mit Neonazis." 297 Hab und Gut von Rechtsextremisten befanden sich weiterhin im Visier "Antifaschismus" linksextremistischer Gewalttäter. Im Fokus aber stand die direkte Konfronbleibt tation mit "Nazis" auf der Straße. Für den 28. Januar 2006 war bundesweit Schwerpunkt zu Gegenaktionen anlässlich der geplanten rechtsextremistischen Demonstrationen in Stuttgart, Dortmund und Lübeck mobilisiert worden. In Stuttgart gelang es gewaltbereiten Linksextremisten nach Beendigung der bürgerlichen Gegenkundgebung teilweise, in "Kleingruppentaktik" zu den "rechten" Demonstranten vorzudringen. Dabei kam es zu Schlägereien zwischen beiden Lagern. Ein anderer Teil der gewaltbereiten linksextremistischen Demonstrationsteilnehmer lieferte sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. 297 Monatsschrift der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" (AIHD) "break-out" 12/2005, S. 4. 202 Linksextremismus Bei Gegenaktionen zu einer rechtsextremistischen "Doppeldemo" in Heppenheim und Weinheim am 1. Mai 2006 kam es zum Teil zu schweren Übergriffen auf Rechtsextremisten und zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, nachdem die "rechten" Demonstranten nach Ladenburg ausgewichen waren. Unter den Linksextremisten gab es Festnahmen wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot und wegen des Werfens von Flaschen, Steinen, Dosen und Knallkörpern. Demonstrationen boten darüber hinaus die Gelegenheit, Gewalttaten unerkannt im "Schutz der Masse" zu begehen. Priorität wurde geschlossenem und kollektivem Auftreten - etwa in Form eines "Schwarzen Blocks" - aus Gründen des Selbstschutzes in der Szene gegenüber dem "individuellen Spaßfaktor" isolierter Einzeltäter eingeräumt. Presseberichterstattung über Demonstrationen als regionale (Groß-) Ereignisse verstärkte die von den Tätern selbst beabsichtigte propagandistische Wirkung von Gewalttaten, die bei solchen Anlässen begangen wurden. Im Verlauf der Demonstration in Stuttgart am 21. Oktober 2006 gegen die Sozialreformen der Bundesregierung etwa kam es zu schweren Sachbeschädigungen. Aus einem "schwarzen Block" heraus wurde die Fassade einer Bank in der Stuttgarter Innenstadt mit Farbbeuteln, Glasflaschen und pyrotechnischen Gegenständen beworfen. Nach Beendigung der Veranstaltung wurden Glasflaschen mit schwarzer Flüssigkeit gegen das Gebäude der Geschäftstelle einer demokratischen Partei in Stuttgart geschleudert. Polizeiliche Maßnahmen gegen gewalttätige Demonstranten, von Linksextremisten als politisch motivierte "Repression" eingestuft, können wie in diesem Fall gewaltsame Reaktionen aus der Szene auslösen. In der Nacht zum 23. Oktober 2006 bewarfen unbekannte Täter einen Mannheimer Polizeiposten mit Farbbeuteln. Mit diesem "symbolischen Angriff" bezog sich eine "Autonome Gruppe gegen Repression" in einer Erklärung auf vorausgegangene "militante Aktionen" gegen Polizeiwachen in Stuttgart und Karlsruhe298. 298 "Dokumentation" des Bekennerschreibens auf der Homepage des "Infoladens Ludwigsburg"; Internetauswertung vom 26. Oktober 2006. 203 4. Parteien und Organisationen 4.1 "Linkspartei.PDS" Gründung: 1946 (als SED) Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 700 Baden-Württemberg (2005: ca. 600) ca.60.000 Bund (2005: ca. 61.600) Publikationen: "Disput", "Die Linke.PDS-Pressedienst", "PDS Landesinfo Baden-Württemberg" Die heutige "Linkspartei.PDS" ist nach mehreren Umbenennungen aus der ursprünglich 1946 gegründeten "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED), der Staatsund Regierungspartei der früheren DDR, hervorgegangen. Im wiedervereinigten Deutschland nach 1990 vermochte sich die Partei in den neuen Bundesländern als eine Art Volkspartei mit noch immer sehr beachtlichen Wahlergebnissen zu etablieren. Im Westen konnte sie hingegen kaum Fuß fassen. Ihre dortigen Landesverbände sind seit ihren Anfängen in unterschiedlichem Grad von Mitgliedern anderer linksextremistischer Organisationen, vor allem ehemaliger K-Gruppen299, durchsetzt. Ihre Schwäche im Westen hat die "Linkspartei.PDS" schon seit langem als ihr Problem erkannt. Seit der Zusammenarbeit mit der WASG erlebt die Partei einen Aufschwung. Auf dem Parteitag am 29./30. April 2006 in Halle stellte der Parteivorsitzende Lothar BISKY fest, die Partei schaue "mit mehr Selbstbewusstsein auf die letzten beiden Jahre. Wir haben uns aus eigener Kraft seit der Krise 2003 wieder stabilisiert und im Jahr 2005 haben wir erstmals in der Geschichte der PDS einen leichten realen Mitgliederzuwachs erzielt." 300 So beteiligte sich die "Linkspartei.PDS" 2006 zum ersten Mal an einer Landtagswahl in Baden-Württemberg, indem sie mit mehreren Kandidaten auf 299 Sammelbezeichnung für politische Gruppierungen wie den "Kommunistischen Bund Westdeutschland" (KBW), die "Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten" (KPD/ML) oder die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD), die sich vor allem in den 1960erbis 1980er-Jahren am chinesischen Marxismus-Leninismus (Maoismus) orientiert und beabsichtigt hatten, das bestehende Gesellschaftssystem in Deutschland zu beseitigen. 300 "Lothar BISKY: "Für eine politikfähige neue Linke. Rede des Vorsitzenden der Linkspartei.PDS auf der 1. Tagung des 10. Parteitages in Halle am 29./30. April 2006." Homepage der "Linkspartei.PDS" vom 19. Oktober 2006. 204 Linksextremismus der Liste der WASG vertreten war. Nachdem letztere die "Linkspartei.PDS" bei den Bundestagswahlen 2005 unterstützt hatte, verzichtete die "Linkspartei.PDS" absprachegemäß ihrerseits in Baden-Württemberg auf eine Eigenkandidatur. Nach langen Auseinandersetzungen darüber, ob der Wahlkampf unter dem Logo der "Linkspartei.PDS" oder dem der WASG geführt werden sollte, hatte sich die WASG schließlich durchgesetzt. Insgesamt erreichte sie 3,1 Prozent der Stimmen. Nach dem Erfolg der "Linkspartei.PDS" bei der Bundestagswahl 2005 hatte diese Landtagswahl als ein weiteres Etappenziel gegolten. Entsprechend weitreichende Hoffnungen wurden mit dem verpassten Einzug in den Landtag enttäuscht. Das Projekt einer "neuen" Partei der "Linken" in Deutschland war das alles überragende Thema des Jahres 2006. Dabei wurden bereits entscheidende Schritte auf dem Weg der Vereinigung von "Linkspartei.PDS" und WASG zur Gesamtpartei "DIE LINKE" unternommen. Beide Parteien hatten bereits Anfang des Jahres "Programmatische Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland" vorgestellt. Im September 2006 folgte eine überarbeitete, inhaltlich aber weitestgehend gleiche Version dieses Eckpunktepapiers. Im Zuge des Parteiformierungsprozesses entstandene Strömungen wie die "Antikapitalistische Linke" oder die "Sozialistische Linke" brachten weitere Positionspapiere ein. Diese und eine ganze Reihe weiterer Stellungnahmen deuteten darauf hin, dass über das neue Gesamtprojekt keineswegs einheitliche Vorstellungen herrschten. Die angestrebte neue Partei fand von Anfang an nicht nur Befürworter. Nach außen gedrungenen Vereinnahmungsängsten von Seiten der WASG standen Befürchtungen eines Identitätsverlusts aus der "Linkspartei.PDS" gegenüber. Vorbehalte wurden beispielsweise bei einer offenen Verständigungsrunde Anfang September 2006 unter dem Motto "Wie weiter mit der WASG und dem Parteiprojekt der Neuen Linken?" deutlich. Hier trafen sich unter anderem Vertreter der Strömungen "Antikapitalistische Linke" und "Sozialistische Linke". Es wurde darüber debattiert, dass sich die ursprünglichen Ziele des Parteineubildungsprozesses nicht aufrechterhalten ließen. Auch das "Neue Deutschland" vom 11. September 2006 schrieb, dass die geplante Neugründung "offenbar über einen Beitritt der Wahlalternative WASG zur Linkspartei PDS ablaufen" werde. Ein von der "Linkspartei.PDS" in Auftrag gegebenes Gutachten riet beiden Parteien zu einer "Verschmelzung durch Aufnahme" und dazu, "dass die kleinere der verschmelzungswilligen Parteien (...) der größeren beitritt." 301 301 Gutachten zu Fragen einer Fusion zwischen WASG und Linkspartei von Prof. Dr. Martin Morlok, Düsseldorf, August 2006. 205 Voranschreiten Währenddessen schritt der Fusionsprozess weiter voran. Bei einer gemeindes Fusionssamen Vorstandssitzung von "Linkspartei.PDS" und WASG am 22. Oktober prozesses 2006 in Erfurt wurden mit einem Programmentwurf, einer Satzung sowie einer Bundesfinanzordnung gemeinsame Gründungsdokumente für die bis Mitte 2007 angestrebte neue Gesamtpartei beschlossen. Der Programmentwurf unterschied sich nicht wesentlich von den bisher erschienenen Entwürfen der "Programmatischen Eckpunkte". Vor allem sind zentrale Aussagen - auch aus dem Parteiprogramm der "Linkspartei.PDS" von 2003 - erhalten geblieben beziehungsweise zusätzlich auch in den Satzungsentwurf übernommen. Als Ziel der neuen Gesamtpartei wurde u. a. formuliert: "Ziel unseres Handelns ist eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung einer und eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird, eine Gesellschaft, die über den Kapitalismus hinausweist und die ihn in einem transformatorischen Prozess überwindet." Diese Passage, die unverkennbar an entsprechende Formulierungen im "Kommunistischen Manifest" von Karl Marx und Friedrich Engels anknüpft, ist für die "Linkspartei.PDS" von offenbar unverzichtbarem Stellenwert. Sie war bereits im Parteiprogramm von 2003 enthalten und wurde jetzt in die Präambel des Satzungsund in den Text des Programmentwurfs für die Prägender neue Partei aufgenommen. Die neue "Linke", so heißt es unter anderem Einfluss der weiter, lege "programmatische Grundzüge einer umfassenden gesellschaft"Linkspartei.PDS" lichen Umgestaltung vor, um die Vorherrschaft der Kapitalverwertung über Wirtschaft und Gesellschaft zu beenden". Notwendig sei deshalb die "Überwindung aller Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse, 'in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist' (Karl Marx)".302 Wie zuvor schon in den "Programmatischen Eckpunkten" kehren hier neben dem neuerlichen Bezug auf Marx Schlüsselbegriffe marxistisch-leninistischer Ideologie wie die "Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse" wieder. Die Anerkennung der neuen Partei gelte - so heißt es im Programmentwurf weiter - den Bemühungen um eine "Eindämmung des Kapitalismus ebenso wie Versuchen einer Überwindung der kapitalistischen Eigentumsund Herrschaftsverhältnisse." Der Kapitalismus sei nicht das Ende der Geschichte. Mit solchen Formulierungen wird unterschiedlichen - von "reformistischen" bis zu "transformatorischen" - politischen Ansätzen und Strömungen die Mitarbeit in der neuen Partei ermöglicht. 302 Hier und im Folgenden "Programmatische Eckpunkte. Beschluss der gemeinsamen Vorstandssitzung von Linkspartei.PDS und WASG am 22. Oktober 2006 in Erfurt." Homepage der "Linkspartei.PDS" vom 24. Oktober 2006. 206 Linksextremismus Insgesamt trägt das Projekt der neuen Gesamtpartei deutlich die Handschrift der "Linkspartei.PDS", die auf zentrale Elemente ihres Selbstverständnisses weiterhin nicht verzichten will. Dazu gehören vor allem die Vision des "demokratischen Sozialismus" und eine prinzipielle Gegnerschaft zum bestehenden politischen und gesellschaftlichen System in Deutschland. Auf einer Pressekonferenz im Anschluss an die gemeinsame Vorstandssitzung vom 22. Oktober 2006 äußerte BISKY: "Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen uns verändern, ohne unsere Herkunft zu verleugnen. Wir erweitern unsere Identität, ohne gesellschaftliche Visionen und den demokratischen Sozialismus aus den Augen zu verlieren. Wir stehen in Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, ohne auf einen Gestaltungsanspruch zu verzichten." 303 Nach der Verabschiedung der Entwürfe der Gründungsdokumente im Oktober 2006 wurden diese an der Basis diskutiert. In allen Ländern fanden Regionalkonferenzen statt. Auf einer gemeinsamen Parteivorstandssitzung am 10. Dezember 2006 wurden Änderungsanträge beraten und neue Entwürfe der Gründungsdokumente vorgelegt. Diese wurden als Leitanträge auf den parallel tagenden Bundesparteitagen am 24./25. März 2007 eingebracht. Dort erfolgte die endgültige Beschlussfassung über die Entwürfe. In beiden Parteien werden dann Urabstimmungen durchgeführt. Der Gründungsparteitag der neuen Partei soll am 16. Juni 2007 stattfinden. Um die Fusion rechtlich einwandfrei vollziehen zu können, haben beide Parteien im November 2006 jeweils ihre Umwandlung in den Status eines rechtsfähigen Vereins vorgenommen. Ein endgültiges Parteiprogramm ist erst für 2008 vorgesehen. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: unter 500 Baden-Württemberg (2005: ca. 500) unter 5.000 Bund (2005: weniger als 4.500) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) 303 Presseerklärung vom 22. Oktober 2006; Homepage der "Linkspartei.PDS" vom 24. Oktober 2006. 207 Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) sieht sich unverändert in der Tradition der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD). Sie fordert weiterhin den "revolutionäre(n) Bruch mit den kapitalistischen Machtund Eigentumsverhältnissen". Mit programmatischen Aussagen wie derjenigen, dass es "Menschenrechte für alle Bewohner dieser Erde" nur auf der Basis von "Gemeineigentum an Produktionsmitteln" und der "politischen Macht des arbeitenden Volkes" 304 geben könne, hält sie unter bewusster terminologischer Umschreibung an der Überzeugung von der Notwendigkeit der "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" und der "Diktatur des Proletariats" und damit an Kerninhalten der Lehre des Marxismus-Leninismus fest. Als angestrebtes Ziel definiert sie weiterhin den "Sozialismus/Kommunismus", wobei der Sozialismus als "erste Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation" gilt. Nach jahrelangem Ringen gelang es der DKP, auf der zweiten Tagung ihres neues Partei17. Parteitags am 8. April 2006 in Duisburg-Rheinhausen ein neues Parteiprogramm programm zu verabschieden. Damit verlor das "Mannheimer Programm" verabschiedet von 1978 seine Gültigkeit. Bis zuletzt war der vorgelegte Entwurf umstritten gewesen und die hohe Zahl an Gegenstimmen und Enthaltungen bei der Abstimmung zeigte, dass die Richtungskämpfe innerhalb der Partei noch immer nicht überwunden sind und die Einigung auf ein gemeinsames Programm nicht das Ende politisch-ideologischer Unstimmigkeiten bedeutet. Ursache für die sich in den letzten Jahren zuspitzenden innerparteilichen Dissonanzen war die mangelnde Bereitschaft eines starken, von Anhängern aus dem Westen unterstützten Minderheitenflügels aus Ostdeutschland, sich von alten ideologischen Gewissheiten zu trennen und insbesondere eine kritischere Sicht auf die ehemalige DDR und die Ursachen für den Untergang der sozialistischen Staaten zuzulassen. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 26. März 2006 verzichtete die DKP auf eine eigene Kandidatur zugunsten einer "Linkskandidatur" der WASG. Dieser taktische Schritt sollte es ermöglichen, dass "endlich eine Stimme der außerparlamentarischen Opposition in den Landtag" 305 einziehe. Von den beiden auf der WASG-Liste nominierten DKP-Landtagskandidaten erreichte der Kandidat für Heidenheim 3,3 Prozent, der Kandidat für Sinsheim 3,2 Prozent der Stimmen. Das Gesamtergebnis für die WASG mit 3,1 Prozent war angesichts offenbar auch bei der DKP vorhandener Erwartungen eine Enttäuschung. 304 Hier und im Folgenden: "Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP)"; Homepage der DKP vom 3. November 2006. 305 "Am 26. März WASG wählen!", Flugblatt der DKP zur Landtagswahl. 208 Linksextremismus Mit ihren Kandidaturen unterstützte somit die DKP das Projekt der neuen "Linkspartei" im Sinne der Herausbildung einer einheitlichen "linken" Opposition trotz ihrer Vorbehalte gegenüber der "Linkspartei.PDS". Letztere beurteilte sie als eine "linksreformistische", innerhalb des Rahmens des bürgerlich-parlamentarischen Systems agierende Kraft ohne revolutionäre Perspektive. Deshalb sei der Verzicht auf eine eigene Kandidatur und die Unterstützung der "Linkspartei.PDS" auf die Dauer "nicht hinnehmbar".306 Ziel der DKP müsse sein, eigene kommunalpolitische Kontinuität "in möglichst vielen Städten und Gemeinden" zu erreichen. Die Kraft der Partei reichte indes nicht aus, um resonanzfähige eigene Aktivitäten zu organisieren. Gleichwohl beteiligte sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an Aufrufen zu zentralen, örtlichen oder überregionalen Demonstrationen. In einem eigenen, in ihrem Regionalblatt "Stuttgart links" unter dem Motto "Stoppt die Regierung der großen asozialen Zumutungen!" veröffentlichten Aufruf forderte sie zur Teilnahme an der landesweiten Gewerkschaftsdemonstration am 21. Oktober 2006 in Stuttgart auf. Große Ausdauer bewies die DKP Karlsruhe, die sich das ganze Jahr über nahezu regelmäßig an den "Montagsdemonstrationen" in Karlsruhe beteiligte. Hierbei kamen auch die von der DKP Baden-Württemberg herausgegebenen "montags-infos" zur Verteilung. Im Frühjahr 2006 startete die DKP aus Anlass des 50. Jahrestags des KPDVerbots ihre Kampagne zur Aufhebung des Verbots und zur Rehabilitierung Kampagne der "Opfer des Kalten Krieges". Gegen das fortbestehende Verbot agitiergegen ten auch andere linksextremistische oder linksextremistisch beeinflusste KPD-Verbot Organisationen, darunter die "Linkspartei.PDS". Ab dem 10. März 2006 veröffentlichte die DKP auf ihrer Homepage einen Appell an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, den man mittels Online-Unterschrift unterstützen konnte. Im Parteiorgan "Unsere Zeit" (UZ) wurde das Thema verstärkt publizistisch aufbereitet. Dazu zählte auch eine Sonderausstellung in der Hamburger "Gedenkstätte Ernst Thälmann" und als Höhepunkt der Kampagne eine zentrale Veranstaltung der DKP am 19. August 2006 in Berlin unter dem Motto "Kommunisten-Verfolgung beenden! KPD-Verbot aufheben!" mit rund 600 Teilnehmern, darunter Funktionären der VVNBdA und der "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ). 306 Hier und im Folgenden: "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 8 vom 24. Februar 2006, S. 12. 209 Die SDAJ, der Jugendverband der DKP, trat 2006 mit nur wenigen nennenswerten Aktivitäten in Erscheinung. In Baden-Württemberg brachte er im Februar 2006 erstmals die Kleinzeitung "Baschda!" heraus, die laut Impressum als "SchülerInnenzeitung" gedacht sein sollte. Nach einer Erstausgabe mit 2.500 Exemplaren war im Internet eine Extraausgabe vom März 2006 zum damaligen Streik im öffentlichen Dienst abrufbar. Im Mai 2006 erschien die bislang letzte Ausgabe. Ihr jährliches Pfingstcamp veranstaltete die SDAJ vom 2. bis 5. Juni 2006 in Warburg/Bonenburg (Nordrhein-Westfalen). Dabei wurden unter dem Motto "Party for your right to fight" der für linksextremistische "Antifaschisten" zentrale Slogan "Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln bleibt unsere Losung!" mit einem Vertreter der VVN-BdA behandelt oder Themen wie "Lateinamerika: Startschuss für eine neue Offensive gegen den Imperialismus?" diskutiert. 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 1.300 Baden-Württemberg (2005: ca. 1.300) ca. 6.000 Bund (2005: ca. 6.000) Publikationen: "antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur" "AntiFa-Nachrichten" Bereits 1947 und ursprünglich unter massivem kommunistischem Einfluss gegründet, löste sich die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) erst nach Jahrzehnten verstärkt aus ihrer Rolle als Vorfeldorganisation der DKP. Dennoch vertritt sie vor allem auf ihrem Hauptbetätigungsfeld, dem "Antifaschismus", unverändert orthodox-kommunistische Positionen: "Die Option Faschismus unmöglich zu machen, dazu brauchen wir den antifaschistischen Kampf, brauchen wir die VVN/BdA. Die Bewährung in diesem Kampf ist auch Voraussetzung, um an grundlegende soziale Veränderungen heranzukommen - zum Sozialismus." 307 Politische Einseitigkeit innerhalb einer gewissen Bandbreite dürfte die Organisation trotz ihres propagierten Sammlungscharakters auch in der 307 "AntiFa-Nachrichten" Nr. 2 vom Mai 2006, S. 32. 210 Linksextremismus Zukunft prägen. Dies offenbarte sich unter anderem anlässlich der Suche nach neuen Mitstreitern, die angesichts des insgesamt überalterten Mitgliederbestands für den Erhalt der Organisation lebensnotwendig wurde, und der sich die Organisation erklärtermaßen verstärkt zuwenden wollte. Wie die VVN-BdA selbst schrieb, habe der Erfolg der "Linkspartei.PDS" bei der Bundestagswahl von 2005 gezeigt, dass die Gelegenheit "günstig" sei, "inakweiterhin tive Linksstehende zu motivieren" 308. Zu dieser Zielgruppe gehörten unverWerben um ändert auch Linksextremisten. So berichtete sie an gleicher Stelle ausdrückLinksextremisten lich, unter anderem ein MLPD-Mitglied und ein Mitglied der trotzkistischen Organisation "Linksruck" neu gewonnen zu haben. Die Gelegenheit, für den Fortbestand der eigenen Organisation zu sorgen, boten öffentliche Veranstaltungen, darunter insbesondere Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. Gerade hier glaubt die VVN-BdA, im Sinne erfolgreicher Eigenwerbung auf "Verdienste" verweisen zu können. Dies gelte an erster Stelle für "die vielen Gegenaktionen gegen Naziaufmärsche (...), die wir im Zusammenwirken mit anderen Gruppen und Organisationen initiiert und organisiert haben." 309 In der Tat legte die VVN-BdA 2006 offenbar gezielt Wert darauf, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Die gestiegene Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen bot entsprechend öfter Möglichkeiten, als Initiator, Anmelder oder Unterstützer von Gegenveranstaltungen in Erscheinung zu treten. Auf ihrer Landesdelegiertenkonferenz am 20./21. Mai 2006 in Heidelberg hatte sie als einen "Schwerpunkt der Arbeit" beschlossen, "Bündnisse gegen neofaschistische Aufmärsche und Aktivitäten zu initiieren und zu unterstützen".310 Stärker noch als in den Vorjahren wurde dabei allerdings die Zusammenarbeit der VVN-BdA mit gewaltbereiten Autonomen deutlich. Erstaunlich offen bekannte sich die Organisation zu solchen Bündnissen und rechtfertigte die von Autonomen ausgehende Gewalt gegen den politischen Gegner. Um vermehrt jugendliche Anhänger zu gewinnen, traten selbst bei der Gewaltfrage taktische Erwägungen zunehmend in den Hintergrund. Da die VVN-BdA "Erfolge" ihres "antifaschistischen" Engagements unter anderem daran misst, inwieweit es gelingt, "Nazi-Aufmärsche" zu beoder verhindern, und dies in der Regel auf das Konto - auch gewaltsam agierender - Autonomer geht, zählen diese mittlerweile offenbar zu ihren unverzichtbaren Bündnispartnern. 308 "AntiFa-Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2006, S. 10. 309 "AntiFa-Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2006, S. 10. 310 "AntiFa-Nachrichten" Nr. 3 vom August 2006, Beilage S. II. 211 Für den 28. Januar 2006 hatte die VVN-BdA eine Gegendemonstration zu einer rechtsextremistischen Kundgebung in Stuttgart angemeldet. Nach vorzeitiger Auflösung der Gegenveranstaltung gelang es, die rechtsextremistische Kundgebung zu stoppen. Obwohl es dabei durch gewaltbereite Autonome zu teils schweren Übergriffen auf Polizei und Rechtsextremisten kam, sprachen die "AntiFa-Nachrichten" von einer "gelungene(n) Protestaktion": "Die friedliche und gewaltfreie Blockade der zahlreichen Nazigegner, hat den faschistischen Aufmarsch gestoppt." 311 Der VVN-BdA-Landesgeschäftsführer wurde an gleicher Stelle mit den anerkennenden Worten zitiert: ''Das war ein guter Tag für Stuttgart.'" In einer Pressemitteilung vom 28. Januar 2006 hatte sich die VVN-BdA "ausdrücklich bei allen" bedankt, "die zu diesem Erfolg beigetragen haben." 312 Anders dagegen verschwieg der VVN-BdA-Bundesvorsitzende Heinrich FINK nach einer Darstellung in der "jungen Welt"313 die begangenen Gewalttaten nicht, machte dafür aber die Gerichte verantwortlich: "Durch die Aufhebung der zuvor erlassenen Demonstrationsverbote in den drei Städten [u. a. Stuttgart] hätten die Gerichte ''den Neonazis zum wiederholten Mal den Weg bereitet'. Die Richter trügen somit die ''komplette Verantwortung für die gewalttätigen Auseinandersetzungen' (......)." 314 Ebenfalls im Januar 2006 äußerte sich FINK noch deutlicher: "Man darf nicht vergessen, dass das Gros unserer Mitglieder nicht aus Jugendlichen besteht und wir 311 Hier und im Folgenden: "AntiFa-Nachrichten" Nr. 2 vom Mai 2006, S. 4; Übernahme wie im Original. 312 Presserklärung der VVN-BdA vom 28. Januar 2006. 313 Bei der "jungen Welt" - ein bedeutendes Druckerzeugnis im linksextremistischen Bereich - handelt es sich um eine vom Verlag "8. Mai GmbH" (Berlin) herausgegebene Tageszeitung. Sie pflegt eine traditionskommunistische Ausrichtung und propagiert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. 314 "junge Welt" Nr. 25 vom 30. Januar 2006, S. 1. 212 Linksextremismus daher zwar viele Aktivitäten junger Antifaschisten solidarisch begleiten, uns aber nicht immer aktiv daran beteiligen können. Ich will aber sehr deutlich betonen, dass mir eine Reihe von Mitgliedern unseres Verbandes bekannt sind, die sehr intensiv mit jungen autonomen Antifaschisten zusammenarbeiten. Dass es hier und da einmal zu Spannungen kommen kann, ist ein ganz normaler Vorgang. Ich bin aber immer bemüht, politische Bündnisse mit Zusammenarbeit allen ernsthaften Antifaschisten einzugehen, seien mit Autonomen sie nun Mitglieder autonomer Gruppen oder beierneut bekräftigt spielsweise der Gewerkschaften. Den autonomen Antifaschisten kann ich deutlich versichern, auf ihrer Seite zu stehen und jederzeit zu einer Zusammenarbeit mit ihnen bereit zu sein." 315 Polizeiliche oder strafrechtliche Maßnahmen gegen linksextremistische Gewalttäter wiederum kommentierte die VVN-BdA mit Empörung. Mitglieder autonomer Antifagruppen wurden von ihr als "Bürger" umschrieben, "die den 'Aufstand der Anständigen' ernst nehmen und in die Tat umsetzen", dafür aber durch staatliche Behörden "überwacht, verfolgt und kriminalisiert" würden.316 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 600 Baden-Württemberg (2005: ca. 600) mehr als 2.300 Bund (2005: mehr als 2.300) Publikationen: "Rote Fahne" (RF) "Lernen und Kämpfen" (LuK) "REBELL" Die maoistisch-stalinistisch geprägte "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) strebt unverändert die revolutionäre Überwindung der parlamentarischen Demokratie an und rechtfertigt ihr politisches Wirken mit dem "Verrat des Sozialismus in der Sowjetunion und der DDR nach dem XX. Parteitag der KPdSU 317 1956" 318. Dort - wie nach dem Tode 315 "junge Welt" Nr. 12 vom 14./15. Januar 2006, Beilage S. 2; Übernahme wie im Original. 316 "AntiFa-Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2006, S. 3. 317 "Kommunistische Partei der Sowjetunion". 318 Hier und im Folgenden: "Rote Fahne" (RF) Nr. 38 vom 22. September 2006, S. 2. 213 Mao Tsetungs auch in China - sei der Sozialismus zerstört worden, weil die "demokratische Kontrolle über die verantwortlichen Führer in Partei, Wirtschaft und Staat nicht ausreichte". Die MLPD zog daraus den Schluss, dass der "echte Sozialismus nur mit einer proletarischen Denkweise erkämpft und erhalten werden kann", und wendet den "Marxismus-Leninismus und die Maotsetungideen schöpferisch auf die heutige Situation an". Damit nimmt die MLPD noch heute ausdrücklich die Lehren Mao Tse-tungs zum Vorbild. So würdigte sie 2006 den chinesischen Diktator in ihrem Zentralorgan "Rote Fahne" aus Anlass seines 30. Todestags und des 40. Jahrestags des Beginns der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" als "zweifellos bedeutendste Persönlichkeit der marxistisch-leninistischen Weltbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts".319 Die Partei verleugnet dabei völlig den unter der Diktatur Mao Tse-tungs begangenen millionenfachen Mord und sieht den chinesischen Machthaber im Gegenzug als "Hauptziel wilder Attacken und unglaublicher Verleumdungen der Herrschenden und ihres Antikommunismus".320 Die MLPD und ihr Jugendverband REBELL arbeiten eigenen Angaben zufolge "mit aller Energie daran, sich als würdige Kraft im Sinne dieses großartigen Revolutionärs zu erweisen!" Nach der logistisch aufwändigen flächendeckenden Beteiligung der MLPD an der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat sich die Parteiagitation im Jahr 2006 im Verhältnis zum Vorjahr abgeschwächt. Grund hierfür dürfte in der mittlerweile begonnenen und kräftebindenden Umstrukturierung der Partei liegen, die mit der Einführung neuer Kontrollebenen in Form von Landesund künftig 50 Kreisverbänden den Parteiaufbau unter zentralistischer Führung vorantreiben soll. Der langjährige Parteivorsitzende Stefan ENGEL begründete die Umstrukturierung mit dem "schnelle(n) Wachstum der Partei" und den "vielfältigen neuen Aufgaben", die "ein größeres Bedürfnis an konkreter und allseitiger Anleitung und Kontrolle und Ausbildung usw." 321 zum Ausdruck brächten. Das Zentralkomitee allein habe diese "konkrete unmittelbare Anleitung und Kontrolle auf Grund des schnellen Wachstums der Partei mit ihrer bisherigen Struktur nicht mehr 319 RF Nr. 37 vom 15. September 2006, S. 24. 320 Hier und im Folgenden: RF Nr. 40 vom 6. Oktober 2006, S. 21. 321 Hier und im Folgenden: RF Nr. 26 vom 30. Juni 2006, S. 16, 17 (Übernahme einschließlich Fettdruck wie im Original). 214 Linksextremismus zufriedenstellend leisten" können. Deshalb solle eine "Reorganisierung der Partei in sieben Landesverbände und 50 Kreise bis zum VIII. Parteitag" im Jahr 2008 durchgeführt werden. Dies sei die "größte organisationspolitische Umwälzung in der Geschichte der MLPD" und eine "Offensive zum Einsatz, zur Ausbildung und Förderung neuer Kader für die künftigen Aufgaben der Partei im Klassenkampf". Es liege daher auf der Hand, dass "sich die gesamte Partei damit gründlich beschäftigen" müsse.322 Nach der "erfolgreichen Gründung des Landesverbands Nordrhein-Westfalen" 323 im Dezember 2005 sollte im Jahr 2006 nach Sachsen-Anhalt auch der Landesverband Baden-Württemberg gegründet Reorganisation werden. Diese Planungen wurden jedoch bis Ende 2006 nicht umgesetzt. im Vordergrund Allerdings wurde laut Aussage von ENGEL in allen sieben Landesverbänden damit begonnen, "Landesaufbaugruppen einzusetzen, regionale Büros einzurichten und die Strukturen der Anleitung und Kontrolle der Partei auf diese Landesverbände umzustellen." 324 In Stuttgart eröffnete die "Landesaufbaugruppe (LAG) Baden-Württemberg" am 16. Dezember 2006 ihr Büro in den Räumlichkeiten der bisherigen MLPD-Kreisleitung in StuttgartUntertürkheim. Der "Politische Leiter" der LAG Baden-Württemberg ist ein Mitglied des MLPD-Zentralkomitees, das seinen Wohnsitz aus diesem Grund vom Ruhrgebiet nach Stuttgart verlegt hatte.325 Ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geriet die Partei 2006 durch ihr stetig wachsendes Parteivermögen, das vor allem in den letzten beiden Jahren auf einzelne Großspenden und Spendenaktionen zurückzuführen war. Am 30. Juli 2006 trat ein Großspender aus Nordrhein-Westfalen, der der MLPD in den Jahren 2005 und 2006 eine Erbschaft in Höhe von insgesamt 2,5 Millionen Euro vermacht hat, in einer bekannten Talkshow auf, zu der er als Studiogast eingeladen worden war. Auf diese Weise verschaffte er der MLPD vor einem Millionenpublikum eine willkommene Werbung in eigener Sache. In der Ausgabe Nr. 31 der "Roten Fahne" vom 4. August 2006 wurde die große Resonanz, die sich auch noch im Anschluss an die Sendung in der Presse ergab, freudig zur Kenntnis genommen. Laut ihrem in der "Roten Fahne" Nr. 22 vom 2. Juni 2006 veröffentlichten Finanzrechenschaftsbericht war das Gesamtvermögen der MLPD, das zu einem Großteil in Immobilien angelegt ist, schon bis zum Jahresende 2004 322 LuK Nr. 3 vom Juli 2006, S. 2. 323 Hier und im Folgenden: LuK Nr. 2 vom April 2006, S. 14. 324 RF Nr. 51/52 vom 22. Dezember 2006, S. 21. 325 Ebd. S. 6. 215 auf rund 14,7 Millionen Euro angestiegen. Eine im Bundestagswahlkampf 2005 begonnene und in MLPD-Kreisen übliche "Spendenkampagne zur Finanzierung der Offensive für den echten Sozialismus" 326 brachte bis zum Juni 2006 zusätzlich ein Ergebnis von über 561.000 Euro, Großspenden nicht eingerechnet. In einem Interview verkündete ENGEL stolz, dass seit Beginn des Jahres 2005 somit über drei Millionen Euro für die Partei gespendet worden seien. Das habe es seit Gründung der MLPD noch nie gegeben. Neben der Bestreitung der Kosten bilde dies "zusätzlich eine hervorragende Reserve für die künftigen Aktivitäten der Partei" 327. Ansonsten ist die MLPD wiederum im Zusammenhang mit Protesten gegen die Sozialreformen der Bundesregierung hervorgetreten. Trotz starker Rückläufigkeit der "Bewegung der Montagsdemonstrationen", zu deren Spaltung sie durch ihren eigenen Dominanzanspruch selbst beigetragen hatte, versuchte die MLPD weiterhin, die Durchführung der von ihr maßgeblich beeinflussten, regelmäßig stattfindenden Kundgebungen aufrechtzuerhalten. Die MLPD war Hauptinitiatorin der bundesweiten Demonstration am 16. September 2006 in Berlin. Zu diesem "3. Sternmarsch gegen die Regierung" rief unter anderem die von der MLPD maßgeblich beeinflusste bundesweite "Montagsdemobewegung" mit Parolen wie "Gegen die große Koalition der Sozialräuber - Weg mit Hartz IV!" auf. Damit sollte ein "unübersehbares Zeichen des gemeinsamen Kampfes gegen die volksfeindliche Politik der großen Koalition" 328 gesetzt werden. 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz: Dortmund Geschäftsstelle: Göttingen Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2005: ca. 300) ca. 4.300 Bund (2005: ca. 4.300) Publikation: "Die Rote Hilfe" In der Tradition der historischen "Roten Hilfe" stehend, widmet sich die "Rote Hilfe e.V." als "parteiunabhängiger, strömungsübergreifender linker Organisationszusammenhang" 329 unverändert der finanziellen und politischsolidarischen Unterstützung von "Menschen, die im bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaatsgefüge BRD auf Grund ihrer politischen Betätigung verfolgt, also in der einen oder anderen Form zu Zielscheiben der staat326 RF Nr. 26 vom 30. Juni 2006, S. 16. 327 RF Nr. 26 vom 30. Juni 2006, S. 16. 328 Internetauswertung vom 19. Juli 2006; Fettdruck im Original. 329 Hier und im Folgenden "Die Rote Hilfe" Nr. 3 von 2006, S. 5. 216 Linksextremismus lichen Repression werden", so unter anderem in den Bereichen "Antifaschismus", "Soziale Freiräume/Autonome Zentren", "Antikapitalismus", "Antimilitarismus" oder "Antirassismus/Internationalismus". 2006 stellte die "Rote Hilfe e.V." die "Antirepressionsarbeit" in den Vordergrund. Diesem Thema widmete sie schwerpunktmäßig zwei Ausgaben ihrer vierteljährlich erscheinenden Publikation "Die Rote Hilfe". Insbesondere zwei im Text hervorgehobene Zitate machen den politisch-ideologischen Hintergrund deutlich. Danach ist nach dem Verständnis dieser Organisation das grundlegende "Ziel staatlicher Repression (...) die Machterhaltung", welche "durch Abschreckung, Ausgrenzung und Entpolitisierung der politischen GegnerInnen durchgesetzt" werde.330 Im Verlauf des Artikels "politische wurde an anderer Stelle ebenso deutlich ein Zitat optisch betont, wonach Repression" als ein "wirksames und reichlich erprobtes Mittel zur Bekämpfung politischer Schwerpunkt GegnerInnen (...) die Kriminalisierung und politische Unterdrückung" 331 darstelle. Zum 18. März, dem alljährlich begangenen "Tag der politischen Gefangenen"332, erstellte der Bundesvorstand eine "Sonderausgabe der Roten Hilfe" als Beilage zur Tageszeitung "junge Welt" vom 10. März 2006, die neben Berichten über inhaftierte Linksextremisten im Inund Ausland auch die Forderung nach der "Freiheit für die Gefangenen aus der RAF" enthielt. Das Interesse aus der linksextremistischen Szene an den im Zusammenhang mit dem "Tag der politischen Gefangenen" durchgeführten bundesweiten dezentralen Aktionen blieb in Baden-Württemberg wie bereits in den vergangenen Jahren hinter den Erwartungen zurück. So beteiligten sich am 18. März 2006 lediglich etwa 70 Personen an einer Kundgebung vor der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. 4.6 Sonstige Vereinigungen Aufgefallen sind erneut politische Aktivitäten von Trotzkisten. Vor allem bei der trotzkistischen Organisation "Linksruck" war nach Abwendung von der globalisierungskritischen Sammlungsorganisation "attac" eine Fokussierung auf die WASG zu beobachten. Die WASG gilt für "Linksruck" als Aus330 "Die Rote Hilfe" Nr. 3 von 2006, S. 5. 331 Ebd., S. 7. 332 Das Datum 18. März soll historische Bezüge zu den Barrikadenkämpfen in Berlin während des Revolutionsjahrs 1848, zum Beginn der Pariser Commune im März 1871 und dem erstmals am 18. März 1923 von der damaligen KPD-nahen "Roten Hilfe" ausgerufenen "Internationalen Tag der politischen Gefangenen" knüpfen. 217 gangspunkt für den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterpartei nach trotzkistischen Vorstellungen. Die Übernahme von Funktionen ermöglicht es dabei, auf Mitglieder und Entwicklung der Partei Einfluss zu nehmen. So wurde ein Angehöriger von "Linksruck" erneut in den Landesvorstand der WASG Baden-Württemberg gewählt. Welchen Einfluss Trotzkisten im Einzelfall auf die Organisation zu erlangen vermögen, zeigte das bundesweit bekannt gewordene Beispiel des Berliner Landesverbands der WASG, der unter Führung eines bekennenden Mitglieds der "Sozialistischen Alternative VORAN" (SAV) gegen den Willen des Parteivorstands eine separate Kandidatur zu der Landtagswahl 2006 durchsetzte. Angehörige beider trotzkistischer Organisationen kandidierten auch auf der Liste der WASG zur Landtagswahl 2006 in Baden-Württemberg. Trotzkisten Trotzkisten tauchten auch 2006 überall dort auf, wo es galt, Protest gegen vielfältig aktiv die "Herrschenden" zu initiieren oder nach Kräften zu unterstützen, sei es bei den Studentenprotesten gegen die Einführung von Studiengebühren, bei Streiks von Belegschaften wegen Entlassungen, bei Tarifauseinandersetzungen, Demonstrationen gegen "Sozialabbau", Kundgebungen gegen den Irakkrieg oder im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt. Neben der Mobilisierung möglichst breiter Bevölkerungskreise ging es dabei vorrangig um die Bekanntmachung der eigenen Organisation und die Verbreitung von Propagandamaterial. 5. Aktionsfelder 5.1 "Antifaschismus" "Antifaschismus" hat als Agitationsfeld von Linksextremisten weiter an Bedeutung gewonnen. Im Zuge der zunehmenden Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen stand dabei mehr denn je die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner "auf der Straße" im Vordergrund. Als "Erfolg" gilt dabei die aktive Beoder möglichst Verhinderung "faschistischer Aufmärsche". So wurde am 28. Januar 2006 die von der VVN-BdA organisierte Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt unter dem Motto "Schöner Leben ohne Nazis - Gemeinsam gegen Rassismus, Faschismus und Gewalt" durchgeführt. Sie richtete sich gegen eine gleichzeitig stattfindende Kundgebung der "Kameradschaft Stuttgart" und weiterer rechtsextremistischer Vereinigungen. Autonome Gruppen hatten außerdem dazu aufgerufen, "den Auf218 Linksextremismus marsch mit allen Mitteln zu verhindern" 333. Im Anschluss an die vorzeitig beendete Veranstaltung kam es zu teilweise massiven Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern beider Demonstrationen. Gegen eine Demonstration der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) in Göppingen am 23. September 2006 gab es Aufrufe mehrerer autonomer GrupAktionen und pen, die dazu aufforderten, den "Naziaufmarsch [zu] verhindern" bezieKampagnen hungsweise "Neonazis entgegen[zu]treten". Mehreren hundert Personen gelang es, den Aufzug der Rechtsextremisten schon am Bahnhofsvorplatz zu blockieren, der daraufhin von Polizeikräften durch die Stadt umgelenkt wurde. Während einer Zwischenkundgebung errichteten "Störer" auf der weiteren Demonstrationsroute Barrikaden und setzten Müllcontainer in Brand. Hinzu kamen Sachbeschädigungen an geparkten Autos. Bei einer versuchten Gefangenenbefreiung wurde eine Polizeibeamtin leicht verletzt. Während der Abschlusskundgebung wurden aus der autonomen Szene heraus Steine geworfen. Es kam zu Festnahmen. Wie in den Jahren zuvor erstreckte sich das Ziel, öffentliches Auftreten von "Nazis" zu verhindern, noch auf weitere Anlässe. Die Gruppe "Antifaschistisches Projekt Pforzheim" (APP) versuchte auch am 23. Februar 2006 wieder, das jährliche Fackelgedenken des rechtsextremistischen "Freundeskreises ''Ein Herz für Deutschland' e. V." (FHD) auf dem Pforzheimer Wartberg zu verhindern. Hierzu hatte bereits im Sommer 2005 ein Angehöriger des Pforzheimer "Antifa"-Spektrums eine Kundgebung auf dem Pforzheimer Wartberg angemeldet. Diese wurde jedoch von der Stadt mit dem Hinweis auf die Rechtslage untersagt, wonach eine Veranstaltung dann nicht genehmigt werden könne, wenn sie lediglich dazu diene, eine andere Versammlung zu verhindern. Dennoch versuchten Autonome am Abend des 23. Februar 2006 zur Mahnwache des FHD vorzudringen. Dies konnte durch starke Polizeikräfte unterbunden werden. Daneben wurden im Jahr 2006 jedoch auch andere "klassische" Aktionsformen weiter praktiziert. Dazu gehörten das öffentliche Anprangern von Rechtsextremisten, etwa durch das Verteilen von Flugblättern mit einschlägigen Informationen über die betroffenen Personen oder Organisationen, das Erstellen von Broschüren und das Vorgehen gegen "Nazitrefforte" oder Parteitage rechtsextremistischer Parteien. So hatten verschiedene autonome 333 Internetauswertung vom 13. November 2006. 219 "Antifagruppen" über das Internet dazu aufgerufen, den 42. Landesparteitag der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) am 19. November 2006 zu "kippen". Dass dieser dann nicht, wie ursprünglich vorgesehen, in Bruchsal, sondern am Wohnort des NPD-Landesvorsitzenden in Villingen stattfand, versuchten Linksextremisten als eigenes Verdienst darzustellen. Das Internetportal "indymedia" berichtete, den "Antifas" sei die angemietete Gaststätte etwa eine Woche vor dem Parteitagstermin bekannt geworden: "Aufgrund der lokalen und überregionalen antifaschistischen Interventionen geriet der Pächter so sehr unter Druck, dass er der NPD nicht mehr länger seine Räume vermieten mochte." 334 5.2 "Repression" Linksextremisten behaupten, dass bürgerliche Staaten grundsätzlich dazu neigen, speziell die "Linke" als politisch-gesellschaftliche Oppositionskraft mittels Polizei und Justiz zu bekämpfen. In Krisenzeiten würden zum Zwecke der Herrschaftssicherung die Zügel angezogen. Genau das, nämlich eine verstärkte "Repression", glauben sie in Zeiten des "Sozialabbaus" zu beobachten, in denen der Staat angeblich "Widerstand" gegen den von ihm damit zugleich betriebenen Abbau "sozialer Rechte" unterdrücken und im Keim ersticken wolle. Indem staatlichem Handeln dabei die Bindung an Recht und Gesetz im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit abgesprochen und solches Handeln stattdessen als politisch motivierte Willkür denunziert wird, agitieren Linksextremisten gegen tragende Prinzipien der Verfassung. angeblich Die subjektive Wahrnehmung angeblich zunehmender "Repression" gegen zunehmende "Linke" bei einer angeblich immer geringeren staatlichen Eingriffsschwelle "Repression" hat zu steigender Gewaltbereitschaft der Szene geführt. So kam es in der gegen "Linke" Nacht zum 23. Oktober 2006 in Reaktion auf Festnahmen und eine Hausdurchsuchung nach den Ausschreitungen auf der Stuttgarter Demonstration vom 21. Oktober 2006 zu einem Farbbeutelanschlag auf eine Mannheimer Polizeiwache. Laut Tatbekennung einer "Autonomen Gruppe gegen Repression" richtete er sich ausdrücklich gegen die Repression gegen "Linke" in Baden-Württemberg. Die Erklärung endete mit den Parolen "Getroffen ist eine, gemeint sind sie alle! Weg mit dem Polizeistaat! Für die soziale Revolution!".335 Mit einem ähnlichen Anschlag in Karlsruhe hatte in der Nacht zum 20. Oktober 2006 eine "Revolutionäre Gruppe Boomerang (R.G.B.)" ihren Protest gegen die fortdauernden "staatlichen Angriffe" auf 334 Internetauswertung vom 21. November 2006. 335 "Dokumentation" des Bekennerschreibens auf der Homepage des "Infoladens Ludwigsburg"; Internetauswertung vom 26. Oktober 2006. 220 Linksextremismus "linke" Aktivisten und Strukturen, darunter namentlich die Räumung autonomer Zentren, "brutale Übergriffe auf linke Demonstrationen (...) und skandalöse Prozesse gegen AntifaschistInnen" zum Ausdruck gebracht. Man werde sich jedoch nicht länger "durch reaktionäre Politik einschüchtern lassen und weiter für eine fortschrittliche, linke Perspektive kämpfen." 336 5.3 Antiglobalisierung Agitation gegen die Globalisierung stand 2006 bereits ganz im Zeichen des vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm stattfindenden G8-Gipfels. Die linksextremistische Szene befasst sich schon seit dem Spätsommer 2005 intensiv mit Protestplanungen. Demgegenüber traten andere Ereignisse wie die Jahrestagung des "Weltwirtschaftsforums" (World Economic Forum) in Davos/Schweiz in den Hintergrund. Selbst die Teilnehmerzahlen der Großdemonstration "Gegen das Treffen der NATO-Kriegsstrategen im Bayerischen Hof" am 4. Februar 2006 gegen die 42. Konferenz für Sicherheitspolitik in München blieben mit rund 1.700 Personen weit hinter den Erwartungen zurück. Die Vorbereitungen von Aktionen gegen den G8-Gipfel 2007 werden bundesweit vor allem von drei Gruppierungen mit jeweils unterschiedlich weitreichenden bündnispolitischen Zielsetzungen vorangetrieben. Die von Linksextremisten unterschiedlicher Herkunft dominierte "Interventionistische Linke" (IL) strebt ein möglichst breites Bündnis an, an dem "linke, linksradikale, trotzkistische, kirchliche, parteinahe, gewerkschaftliche Gruppen, aber auch die Linkspartei und attac" 337 beteiligt sein sollen. In zwei "Internationalen Aktionskonferenzen" versuchte die IL 2006, den Kreis der Beteiligten noch zu erweitern und den Protest auf internationale Mobilisierung auszudehnen. "Dissent+X", ein als "Organisierung im linksradikalen/autonomen/emanzipatorischen/anarchistischen Spektrum" 338 beschriebener deutschsprachiger Ableger des von britischen Globalisierungskritikern anlässlich des G8-Gipfels 2005 in Gleneagles (Schottland) gegründeten Netzwerks "Dissent" führte seit Herbst 2005, zuletzt vom 27. - 29. Oktober 2006 in Osnabrück, bisher insgesamt fünf bundesweite Vorbereitungstreffen durch, an denen teilweise auch Angehörige des autonomen Spektrums aus Mannheim, Heidelberg, Tübingen und Stuttgart teilnahmen. Des Weiteren sind Personen von "Dissent+X" Organisatoren einer "internationalen Infotour". Diese "Infotour" führt in einer Mobilisierungskampagne gegen den G8-Gipfel 336 Homepage des "Infoladens Ludwigsburg"; Internetauswertung vom 26. Oktober 2006. 337 Darstellung zur "Interventionistischen Linken" (IL); Internetauswertung vom 8. November 2006. 338 Darstellung zu "Dissent"; Internetauswertung vom 8. November 2006. 221 2007 seit Herbst 2005 in bundesdeutschen Städten, darunter in BadenWürttemberg in Tübingen, Heidelberg und Karlsruhe sowie auch im europäischen Ausland Vorbereitungsveranstaltungen durch. Anfang März 2006 gründete sich in Berlin das "Anti-G8 Bündnis für eine revolutionäre Perspektive". Die Einladung zu diesem Treffen wurde von der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS) verfasst.339 Das "antiimperialistisch" ausgerichtete Bündnis, dem unter anderem Gruppen aus Berlin und Stuttgart angehören, formulierte in dem Aufruf "Stop G8 KAPITALISMUS.IMPERIALISMUS.KRIEG" unter anderem: "Wir gehen davon aus, dass der G8-Gipfel gerade in der aktuellen Situation eine wichtige Gelegenheit für die revolutionäre, klassenkämpferische und internationalistische Linke bietet. (...) Dazu ist es unserer Meinung nach notwendig, auf der Basis grundlegender Positionen und klarer Forderungen zu agieren, die sich gegen die zentralen Angriffspunkte des Kapitals richten: Widerstand gegen den Generalangriff des Kapitals im Inneren! (...) Solidarität mit allen revolutionären und emanzipatorischen Kräften und ihrem Kampf gegen Imperialismus. (...) Freiheit für alle politischen Gefangenen weltweit! Nein zu den so genannten Anti-Terrorund Schwarzen Listen! Widerstand ist kein Terrorismus!" 340 Daneben engagiert sich bundesweit eine Fülle von Organisationen gegen den G8-Gipfel von 2007, darunter linksextremistische wie die "Antifaschistische Linke Berlin", der "antiimperialistisch" orientierte Zusammenschluss "Libertad", "Linksruck" oder die PDS-nahe Jugendorganisation "solid". Die "Linkspartei.PDS" startete zusammen mit der WASG, "solid" und der parteinahen "RosaLuxemburg-Stiftung" eine Kampagne "Keine Macht der G8 - Menschen vor Profite". In Vorbereitung auf das Großereignis 2007 in Heiligendamm waren unter anderem diese drei Bündnisstrukturen maßgeblich in die Durchführung des Camps "Camp Inski - Anti-G8 Camping direkt an der Ostsee" vom 4. bis 13. August 2006 in Steinhagen eingebunden. Im Rahmen des Camps, an dem sich circa 500 Personen des linksextremistischen Spektrums aus dem Inund 339 Internetauswertung vom 8. November 2006. 340 Flugblattaufruf des "Anti-G8-Bündnisses für eine revolutionäre Perspektive". 222 Linksextremismus benachbarten Ausland beteiligten, wurden Vortragsund DiskussionsveranVorbereitung auf staltungen sowie Workshops abgehalten. Ziel dieser Veranstaltung, so hieß G8-Gipfel es in dem Aufruf "Für globale soziale Rechte und ein ganz anderes Ganzes!", sei es, "bis zum Sommer 2007 einen breiten, entschlossenen und wirkungsvollen internationalen Widerstand zu organisieren". Die Protestplanungen nahmen Ende 2006 immer konkretere Formen an. Vertreter aller drei Bündnisprojekte und eine Vielzahl weiterer Organisationen, darunter die "Linkspartei.PDS", trafen sich am 10. November 2006 zur "Internationalen Aktionskonferenz Rostock II", an der nach eigenen Angaben mehr als "450 Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Europa" teilnahmen, um sich auf den "Fahrplan" für eine "Protestwoche" gegen den G8-Gipfel zu verständigen.341 Diesem zufolge sind unter anderem vorgesehen: eine Großdemonstration, eine große Auftaktveranstaltung, ein "migrationspolitischer Aktionstag", im Rahmen einer Blockade des Flughafens Rostock-Laage ein "Aktionstag gegen Militarismus, Krieg, Folter und den globalen Ausnahmezustand", ein "Alternativgipfel" und eine "Massenblockade" des G8-Gipfels. Die mit dem am 28. Juli 2005 verübten Brandanschlag auf das Dienstfahrzeug des Vorstandsvorsitzenden einer Aktiengesellschaft in Hamburg eingeleitete militante Begleitkampagne wurde im Jahr 2006 fortgesetzt. Dazu gehörten bislang am 23. Oktober 2006: ein versuchter Brandanschlag auf das Gebäude einer Reederei in Hamburg Brandanschläge am 28. September 2006: ein versuchter Brandanschlag auf das Fahrzeug des Niederlassungsleiters einer Versicherung in Hamburg am 10. September 2006: ein versuchter Brandanschlag auf vier Lastkraftwagen einer Firma in Eberswalde am 20. Juli 2006: ein Brandanschlag auf zwei Klein-Lastkraftwagen auf dem Gelände eines Autohauses in Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg am 27. April 2006: ein Brandanschlag auf das Fahrzeug des Direktors des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts sowie Sachbeschädigung an dessen Haus am 27. März 2006: ein Brandanschlag auf fünf Fahrzeuge einer Firma in Bad Oldesloe am 26. Dezember 2006: ein Brandanschlag auf das Fahrzeug des Staatssekretärs im Bundesministerium der Finanzen in Hamburg am 31. Januar 2006: ein Brandanschlag auf zwei Kleinlastwagen einer Firma in Hamburg. 341 Homepage zu Heiligendamm vom 23. November 2006. 223 Insgesamt wurden bisher im Rahmen der "militanten Kampagne" zum G8Gipfel zwölf Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge beziehungsweise Gebäude in Berlin, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Brandenburg verübt. 5.4 "Sozialabbau" Vermochte die Demonstration in Straßburg am 14. Februar 2006 gegen die "Bolkestein-Richtlinie"342 der Öffentlichkeit noch den Eindruck von "Massenprotesten" zu vermitteln, gelang es bei bundesweiten Veranstaltungen hingegen nicht mehr, die Mobilisierungserfolge vorheriger Jahre zu wiederholen. Die Grundstimmung in der Bevölkerung konterkarierte Anstrengungen von Linksextremisten, die gegenwärtige Situation in eine kämpferische Stimmung gegen den fortschreitenden "Abbau sozialer Grundrechte", "Ausbeutung" und "Unterdrückung" umzumünzen. So versuchten Trotzkisten, steuernd auf die Studentenproteste gegen die Einführung von Studiengebühren Einfluss zu nehmen. Sie und andere Linksextremisten beteiligten sich an Streiks im Rahmen von Tarifkonflikten. Das Ziel einer Zusammenführung der Proteste und deren Ausweitung zu Massenveranstaltungen blieb jedoch unerreichbar. MobilisierungsBefürchtungen, dass der Funke von den gewaltsamen Ausschreitungen erfolge rückläufig Jugendlicher in Pariser Vororten im Frühjahr 2006 auf Deutschland überspringen könnte, erwiesen sich als unbegründet. Wohl aber errangen die erfolgreichen Proteste in Frankreich gegen die Einführung eines "Ersteinstellungsvertrags" 343 einen gewissen Vorbildcharakter, der sich etwa in der von der MLPD geprägten Parole "Kämpfen wie in Frankreich" niederschlug. Mit der abschließenden Parole "Schaffen wir französische Verhältnisse!" rief die "Interventionistische Linke" (IL) zur Großdemonstration in Berlin am 3. Juni 2006 auf. Auch die traditionelle Demonstration am 1. Mai 2006 in Stuttgart stand im Zeichen des "Sozialabbaus". So verschieden die zahlreichen derzeitigen sozialen Konflikte auch seien, hieß es im Aufruf der "Initiative für einen Revolutionären 1. Mai in Stuttgart", sie hätten die gleiche Ursache: "Die Wirtschaft soll durch weniger Ausgaben für Staat und Kapital sowie 342 Richtlinie zur Liberalisierung des EU-Binnenmarkts. 343 Der "Ersteinstellungsvertrag" sollte eine neue Form des Arbeitsvertrages für junge Berufstätige unter 26 Jahren werden. Vorgesehen war eine Probezeit von zwei Jahren, während der man jederzeit und ohne Angabe von Gründen hätte entlassen werden können. 224 Linksextremismus durch die intensivere Ausbeutung der Beschäftigten angekurbelt werden." 344 Die "Leidtragenden" dieses Systems müssten sich zusammenschließen und ihre Interessen selbst durchsetzen. Alle diese verschiedenen "Kämpfe" dürften jedoch das "Grundproblem" nicht aus den Augen verlieren, "eben ein System, das auf Kapital-Verwertung und Konkurrenz beruht, das darauf aufbaut, dass eine Minderheit die Produktionsmittel besitzt, die Mehrheit ausbeutet, manipuliert und unterdrückt. Eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die all dies infrage stellt, die den gesellschaftlichen Reichtum und die Produktivkräfte zum Wohle aller einsetzt, entwickelt und verteilt und auf der gemeinsamen Solidarität statt auf Konkurrenz und Profitstreben aufbaut, kann nur die Lösung sein. Unsere täglichen Kämpfe sind als die ersten Schritte dorthin zu verstehen". Genau dafür sei der 1. Mai als "internationaler Kampftag des Proletariats" ein "wichtiges Symbol". Weiter heißt es unter anderem: "Aber wir betonen gerade am 1. Mai, dass wir die Versuche der Kapitalisten und ihrer Regierungen, die Lasten ihrer krisenhaften Wirtschaftsordnung auf uns abzuladen, nur dann wirklich bekämpfen können, wenn wir ihr System in Frage stellen." Als immer weniger ergiebig erwies sich der Versuch, mit den wöchentlichen "Montagsdemonstrationen" die Proteste gegen Sozialreformen kontinuierlich wach zu halten. Allein aus Anlass der 100. "Montagsdemonstration" kam es kurzfristig zu einem erhöhten Zulauf. Dennoch konnte der Rückgang der Teilnehmerzahlen an diesen angeblich noch immer in über 100 Städten in Deutschland stattfindenden Veranstaltungen nicht aufgehalten werden. Eine erwähnenswerte Resonanz bei der Bevölkerung blieb auch im Jahr 2006 aus. In baden-württembergischen Städten wie Mannheim, Tübingen oder Stuttgart lag die durchschnittliche Teilnehmerzahl bei nur noch 20-30 Personen. Dennoch wollte man an der Durchführung der Montagsdemonstrationen festhalten. 5.5 Nahost-Konflikt Der durch die Entführung zweier israelischer Soldaten Mitte 2006 ausgelöste Libanonkrieg ließ erneut eine Konfliktlinie in der linksextremistischen Szene weiterhin Szene aufbrechen, die schon seit Jahren für Lähmungserscheinungen in diegespalten sem politischen Spektrum verantwortlich ist. Dabei stehen sich eine verbal344 Hier und im Folgenden: "Heraus zum Revolutionären 1. Mai!"; Flugblattaufruf der "Initiative für einen Revolutionären 1. Mai in Stuttgart". 225 militante, das Existenzrecht Israels negierende ("Antiimperialisten") und eine weit über die Anerkennung des Existenzrechts hinausgehende, bedingungslose Unterstützung und Solidarität einfordernde, bis zur Befürwortung kriegerischer Auseinandersetzungen reichende "bellizistische" Strömung ("Antideutsche") gegenüber. Dazwischen finden sich gemäßigtere Positionen. Marxisten-Leninisten, Maoisten und Trotzkisten verharrten weiterhin unbeirrt in ihrer "antiimperialistischen" Sichtweise. Die alten Sympathien für den "Befreiungskampf" des palästinensischen Volkes blieben lebendig. Die DKP blendete die für das Handeln Israels maßgeblichen Ereignisse weitestgehend aus. Nicht von einer Entführung, sondern verharmlosend von "Gefangennahme" der beiden israelischen Soldaten war die Rede. Mit Blick auf Israel sprach sie von "terroristischen Kräfte(n)" 345. Israel galt als der "Aggressor". Mit gleicher Terminologie, nämlich "israelischer Aggression", agitierte die MLPD. Das "Zentralkomitee" der Partei nahm in einer "Erklärung (...) zur kriegerischen Aggression des israelischen Regimes gegen Palästina und den Libanon" vom 25. Juli 2006 Stellung. Darin erklärte es Israel zum Verantwortlichen für die Entwicklung. Die "völkerrechtswidrige Aggression Israels" stehe "unter direkter Regie des US-Imperialismus" und dessen weiteren Zielsetzungen. In den "bürgerlichen" Medien in Deutschland ziele eine "an den Haaren herbeigezogene, weitgehend gleichgeschaltete Berichterstattung auf die Unterdrückung jeglicher Kritik an der israelischen Regierung" ab. Überhaupt werde jede Kritik an der israelischen Regierung "mit dem Bannstrahl des Antisemitismus belegt". Doch sich "gegen die Aggression Israels für Frieden und Völkerfreundschaft und für die Solidarität mit dem antiimperialistischen Befreiungskampf der palästinensischen und arabischen Volksmassen einzusetzen", habe damit nichts zu tun. Es gehe in der Region weder um Selbstverteidigung Israels noch um einen Krieg der Religionen, sondern allein um die Konkurrenz der "führenden imperialistischen Länder" um ihren strategischen Einfluss in dieser weltweit wichtigsten Ölregion. Da der Imperialismus die Wurzel allen Übels und Ursache aller Kriege sei, gelte es, diesen zu bekämpfen und für den "Sieg der internationalen sozialistischen Revolution" einzutreten. Der trotzkistische "Linksruck" titelte auf seiner Zeitung "Der Terror kommt aus Israel". Israel behaupte, sich zu verteidigen, führe tatsächlich aber schon 40 Jahre einen Krieg gegen die Palästinenser.346 Repräsentanten der "Linkspartei.PDS" beteiligten sich ebenfalls an antiisraelischen Demonstrationen, doch wurde die politische Position der Partei eher zurückhaltend formuliert. In einer Erklärung von Abgeordneten der Partei vom 20. Juli 2006 nach der besonderen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses zur Lage im 345 UZ Nr. 29 vom 21. Juli 2006, S. 1. 226 Linksextremismus Nahen Osten wurde auch der Angriff der "Hizb Allah" auf israelisches Territorium als "Akt der Aggression" bezeichnet, doch lag der Hauptakzent auf der Kritik an Israel, dem ihm unterstellten Missbrauch der UN-Charta und seinem "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg", der "offensichtlich in Absprache mit den USA von langer Hand vorbereitet" worden sei. Im gesamten Bundesgebiet gab es Kundgebungen, Mahnwachen und Aktionen in Demonstrationen, darunter in Baden-Württemberg z. B. in Karlsruhe am Baden29. Juli 2006 oder am 5. August 2006 in der Heidelberger Innenstadt. Die Württemberg Teilnehmerzahlen rangierten vom zweistelligen Bereich bis zu einigen Tausend Personen. Losungen wie "Israel, Libanon, Gaza: Sofortige und bedingungslose Waffenruhe! Deutsche Unterstützung der israelischen Kriegspolitik beenden!" - so in Heidelberg am 5. August 2006 - bekundeten einseitige politische Sichtweisen. Entsprechend setzten sich die Teilnehmer an antiisraelisch ausgerichteten Demonstrationen überwiegend aus Mitgliedern "antiimperialistisch" ausgerichteter Gruppen und Zusammenhängen aus dem autonomen Spektrum, marxistisch-leninistisch, trotzkistisch oder maoistisch orientierten Organisationen zusammen. Ein Flugblattaufruf zur Veranstaltung in Heidelberg wurde von fast ausschließlich linksextremistischen beziehungsweise linksextremistisch beeinflussten Organisationen wie dem "Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg", der VVN-BdA, DKP oder von "Linksruck" getragen. Andererseits fanden jedoch auch proisraelische Demonstrationen mit zum Teil unerwartet hohen Teilnehmerzahlen statt. Die Veranstaltungen verliefen trotz häufig emotional aufgeheizter Atmosphäre meist friedlich. Rangeleien bis hin zur Gewaltanwendung gab es hingegen wiederholt beim Auftauchen israelischer Fahnen auf antiisraelischen Kundgebungen. 5.6 "Autonome Zentren" Der Kampf um ein neues "Autonomes Zentrum" (AZ) war eines der beherrschenden Themen der autonomen Szene von Heidelberg. Das frühere AZ war bereits 1999 ersatzlos geschlossen worden. Auch 2006 versuchte die Szene, neben verschiedenen demonstrativen Aktionen mit zwei Hausbesetzungen am 22./23. April 2006 und 8./9. Juli 2006, die allerdings eher symbolischen Charakter hatten, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Am 6. April 2006 wurde die "Ex-Steffi", ein von der Szene als selbst verwaltetes "Wohnund Kulturzentrum" bezeichneter Anlaufpunkt, in Karls346 "Linksruck. Zeitung für Internationalen Sozialismus" Nr. 221 vom 19. Juni 2006, S. 6/7. 227 ruhe geräumt. Ein Ersatzobjekt gibt es bisher nicht. Ein von der Szene vorgeschlagenes Alternativgebäude wurde von der Stadt abgelehnt. "Mit allen Mitteln", so hieß es daraufhin in der Szeneschrift "break-out", versuchten "Polizei und Staatsanwaltschaft" seither, "Personen, die sie dem Ex-SteffiUmfeld zurechnen, zu kriminalisieren und in der Öffentlichkeit zu diskreditieren." 347 Die Räumung der "Ex-Steffi" in Karlsruhe sei dabei "Teil eines neuen europaweiten Anlaufs, autonome kulturelle Zentren zu zerstören". Doch die vielen "Soli-Aktionen" nach der Räumung machten deutlich, dass "wir und auch viele andere weiterhin für eine herrschaftsfreie, emanzipatorische Gesellschaft kämpfen. Eine wichtige Grundlage dafür" seien "selbstverwaltete Strukturen und autonome Zentren, die einen wertKampf um vollen Beitrag zur Identifikation und Mobilisierung" leisteten. "Freiräume" Nachfolger des seit dem 1. September 2006 nach Ablauf des Mietvertrags nicht mehr bestehenden "Bedingt Autonomen Zentrums" (BAZ) in Stuttgart und damit neuer Treffpunkt der linksextremistischen/autonomen Szene ist das "Soziale Zentrum in Stuttgart" in Stuttgart-Heslach. Eine landesweite Demonstration "für den Erhalt und Ausbau selbstverwalteter Zentren" am 20. Mai 2006 in Stuttgart, veranstaltet von einem "Bündnis für den Erhalt und Ausbau selbstverwalteter Jugendund Kulturzentren in Baden-Württemberg" und unterstützt von verschiedenen autonomen Antifagruppen sowie der VVN-BdA Baden-Württemberg, sollte erneut auf die "desolate Situation linker Zentren" aufmerksam machen. Sie habe mit der Räumung des Stuttgarter Gebäudes in der Oberen Weinsteige 9 ("OBW9") und der "Ex-Steffi" einen "dramatischen Höhepunkt" erreicht.348 Dieser Trend sei "Teil einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die in Form von staatlicher Repression und Räumungen direkt die linke Szene" betreffe. Dies sei eine Tendenz, die, beeinflusst vom "globalen Neoliberalismus und dem damit verbundenen regionalen und nationalen Wettbewerb, geprägt von Konkurrenz und Vereinzelung der Individuen, stark in Richtung eines sich verschärfenden autoritären und ausgrenzenden Staates" dränge. Die "Instrumente der Ausgrenzung", seien es "Rassismus, Sexismus, Sozialkahlschlag, Überwachung oder eben auch die Repression gegen die linke Bewegung", würden "von großen Teilen der Politik getragen und von der deutschen Bevölkerung toleriert, wenn nicht sogar befürwortet". Hierauf sei eine "offensive Antwort" gefordert. Dazu müsse unter anderem die "linke Bewegung (...) ihre Handlungsunfähigkeit überwinden und weg von 347 Hier und im Folgenden: Monatsschrift der AIHD "break-out" 06/2006, S. 3-8. 348 Hier und im Folgenden: Ebd. 228 Linksextremismus einer reinen Abwehrhaltung selbstbewusst auf regionaler wie überregionaler Ebene ein nicht vernachlässigbarer Problemfaktor für die herrschende Politik werden". Ein Aufruf des "AK Antifa Mannheim" endete mit den Parolen: "Solidarität mit den geräumten und bedrohten Projekten. Kapitalismus und autoritäre Formierung angreifen. Linke Politik verteidigen, linke Zentren schaffen und ausbauen." 349 6. Weitere Informationen Derzeit sind zum Thema Linksextremismus folgende Broschüren erhältlich: "Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung" (2003), "Antifaschismus als Aktionsfeld von Linksextremisten" (2002) und "Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) - Auf dem Weg in die Demokratie?" (2000). Aktuelle Informationen zum Linksextremismus erhalten Sie auch auf unserer Internetseite: http://www.verfassungsschutz-bw.de/links/start_links.htm. 349 Aufruf des "AK Antifa Mannheim"; Internetauswertung vom 24. Oktober 2006. 229 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, 1970 erste Niederlassung in Deutschland, 1972 erste Niederlassung in Baden-Württemberg Gründer: Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) Nachfolger: David MISCAVIGE (Vorstandsvorsitzender "Religious Technology Center", RTC) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: Baden-Württemberg ca. 1.000 (2005: ca. 1.000 - 1.100) Bundesgebiet ca. 5.000 - 6.000 (2005: ca. 5.000 - 6.000) weltweit ca. 100.000 - 120.000 (2005: ca. 100.000 - 120.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Mission News", "Good News", "Free Mind", "International Scientology News", "Prosperity", "Impact", u.a. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Expansion in die Gesellschaft war auch 2006 oberstes Ziel der "ScientologyOrganisation" (SO). Sie verschleiert ihre politischen Ziele nach außen mit Ziele der SO angeblich karitativen Programmen. Die SO will langfristig mit massiver Mitgliederwerbung und Infiltration bis auf die Ebene der Europäischen Union (EU), die von SO-Funktionären als "Viertes Reich" 350 verunglimpft wurde, Macht erlangen. Sie verschärfte auch ihre Agitation zur "Vernichtung" der Psychiatrie. Im Bildungssektor bemühte sich die SO verstärkt, ihre Konzepte anzubieten. Ungeachtet ihrer totalitären Ziele versuchte sie, das Thema Menschenrechte zu vereinnahmen. Mit solchen PR-Kampagnen will sie vor allem soziale Akzeptanz insbesondere auch bei Jugendlichen gewinnen. Um in eine schwerer angreifbare Position zu gelangen, strebt die SO weiterhin an, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erwerben. Funktionäre der "Class V Org" 351 in Stuttgart übten gegenüber der Basis zum Teil massiven Druck aus, um hohe Spenden für den Erwerb eines repräsentativen Gebäudes in der Landeshauptstadt zur Errichtung einer "Idealen Org"352 zu erlangen. Dabei werden rigorose Methoden, wie etwa Aufrufe zur Bespitzelung angewandt. Das zeigt, dass die Menschenrechtskampagnen letztlich der Täuschung der Öffentlichkeit dienen. Die SO ist bereit, Grundrechte der Mitglieder schon aus geringem Anlass zu missachten. Aufgrund der Methoden der SO steht ihr die Öffentlichkeit weitgehend kritisch bis ablehnend gegenüber, weswegen die Mitgliederzahl der SO im Land auch nach wie vor stagniert. 350 Le Soir Magazine, Artikel "La Scientologie vise Bruxelles" vom 16. Mai 2006. 351 Die einer SO-Basisorganisation übergeordnete Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 352 Die SO verbindet mit dieser Aufwertung die Vorstellung einer prosperierenden, repräsentativen SONiederlassung mit hoher Anziehungskraft in der Bevölkerung. 230 Scientology-Organisation 2. Programmatik und Erscheinungsbild Die SO betrachtet die von L. Ron HUBBARD entwickelte Lehre als in der Tradition des Buddhismus stehende "Erlösungsreligion" und als einzige Rettung einer angeblich vom Niedergang gekennzeichneten, "geisteskranken Gesellschaft".353 HUBBARDs kostenträchtig angebotene Techniken sollen Menschen "geistig befreien" ("individuelle Dianetik"), die anschließend dem Anspruch nach als nahezu fehlerlos funktionierende "Clears" beziehungsweise höher trainierte "Operierende Thetane" ("OTs") zunehmend Kontrolle über ihre Umgebung ausüben. Die Schaffung des vermeintlich neuen, omnipotenten Menschen ("homo L. Ron HUBBARD novis") mündet in einen dogmatischen politischen Alleinvertretungsanspruch ("politische Dianetik"): Durch "Expansion" der scientologische Zahl hochtrainierter Scientologen in "Schlüsselpositionen" und durch die GesellschaftsEinführung von HUBBARD-Verfahren ("Administrative Technologie") auf ordnung breiter Front in Politik, Staat und Wirtschaft will die Organisation langfrisangestrebt tig im Stil einer Sozialutopie eine gänzlich konfliktfreie und perfekt funktionierende scientologische Gesellschaftsordnung errichten. Für den gesellschaftlichen Fortschritt sieht diese Programmatik es als wünschenswert an, Gegner wie in einer Quarantäne zu "isolieren" und nur "Clears" Bürgerrechte zu gewähren. Diese Vision bezeichnet die SO mit "Clear Deutschland", "Clear Europe" oder "Clear Planet". Im Innenverhältnis besteht ein rigides System von Belohnungen und Strafen ("Ethik") und eine eigene "Justiz". Unbotmäßigkeit Einzelner wird mit disziplinarischen beziehungsweise repressiven "Ethik"-Maßnahmen354 geahndet. Vor allem durch die umfassende Fragetechnik des "Auditing" 355 und "SicherheitsüberprüfunÜberprüfung am E-Meter gen" ("Security Checks") am "E-Meter", eine Art einfacher Lügendetektor, sowie durch weitere Kontrolle mittels "Wissensberichten" der Scientologen kann die Organisation intimste Kenntnisse über ihre Mitglieder erlangen und Kritiker frühzeitig erkennen. Das Management in den USA degradiert die Scientologen an der Basis weitgehend zu 353 New Era Publications UK, Flugblatt "Planetary Dissemination Survey", Juni 2006, Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. 354 Siehe hierzu Abschnitt 5, S. 236ff. 355 Scientologische Methode zur Persönlichkeitsveränderung des Menschen. 231 Befehlsempfängern und erwartet fortwährende finanzielle Opfer. Die Führung kann sich zur Durchsetzung ihrer Vorgaben auf die Sea Org-Logo paramilitärisch organisierten Kader der "Sea Organization" ("Sea Org") stützen. "Sea Org" Inspektion Hohe Konfliktträchtigkeit ergibt sich auch durch das Menschenbild der SO, das zwischen angeblich überlegenen Scientologen, unterlegenen NichtKVPM-Logo scientologen ("Wogs") und minderwertigen Gegnern unterscheidet. Kennzeichnend ist ferner ein rigoroser Durchsetzungswille, die Schaffung von Feindbildern und ein Weltbild, das Züge einer Verschwörungstheorie trägt: Eine "unter Drogen stehende Bevölkerung" werde durch die Psychiatrie unmündig gehalten und kontrolliert. Insbesondere die SO-Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" OSA-Logo (KVPM) führt deshalb immer wieder Diffamierungskampagnen durch. Der organisationseigene Nachrichtendienst "Office of Special Affairs" (OSA) hat die Aufgabe, Kritiker und Gegner auszuforschen und unter Umständen repressive Maßnahmen zu treffen. Kritiker der SO werden grundsätzlich als "Kriminelle" und als zu bekämpfende "unterdrückerische Personen" ("supressive persons" - "SPs") stigmatisiert. Die Sozialund administrativen Techniken nach HUBBARD - in der SO Vorbild für die Gesellschaft - zielen darauf ab, Befehle kompromisslos durchzusetzen und Widerstand aus dem Weg zu räumen. Kritikund Kompromissfähigkeit - Grundvoraussetzungen für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens - sind nicht erwünscht. Das HUBBARD-Programm lässt auch keine Gewaltenteilung, die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz oder das Recht auf Bildung einer Opposition erkennen. Es ist unvereinbar mit der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. 3. Organisation und Mitgliederbestand Die SO ist eine streng hierarchische, straff von ihrem Management in Los Angeles aus geführte Organisation. Die Europazentrale, das "Kontinentale Verbindungsbüro", befindet sich in Kopenhagen/Dänemark. Im Vergleich zum übrigen Bundesgebiet besitzt die SO in Baden-Württemberg das dichteste organisatorische Netzwerk. Es umfasst eine "Class V Org" 356 in Stuttgart und vier etablierte "Missionen" als Basisorganisationen in Ulm, Karls356 Die einer SO-Basisorganisation übergeordnete Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 232 Scientology-Organisation ruhe, Göppingen und Erlenbach/Krs. Heilbronn, wobei letztere unbedeutend ist. In Kirchheim/Teck ist eine "Feldauditorengruppe" 357 aktiv, die einen sozial gehobenen Personenkreis anspricht. Sie gilt in der SO als eine der wichtigsten "Feldgruppen" Europas und kann überregional etwa 100 Personen an sich binden. Dem SO-Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) gehören in Baden-Württemberg rund 50 Mitglieder an, entweder Einzelpersonen oder Firmen mit weniger als 20 Mitarbeitern. Schwerpunkte sind die Immobilienund Finanzdienstleistungsbranche sowie Managementberatung und Informationstechnologie. In Stuttgart besteht ein "WISE Charter Committee" (WCC) als "Justiz"-Stelle für WISE-Mitglieder. Im WCC-Logo Bereich der Hilfsorganisationen betreibt die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) Vereine in Stuttgart und Karlsruhe. In Stuttgart ist eine "Applied Scholastics" (ApS)-Niederlassung 357 Personen, die "Auditing" außerhalb der "Org" anwenden. 233 etabliert, die als "Professionelles Lerncenter" firmiert und Scientology-Lerntechniken anbietet. Ein zweiter ApS-Anbieter trat 2006 im Raum Göppingen auf. Trotz erheblicher Anstrengungen gelang es der SO nicht, ihr organisatorisches Netz nachhaltig auszudehnen und eine dynamische Mitgliederentwicklung einzuleiten. So wurden seit 2003 rund ein halbes Dutzend neue "Missionen" in Baden-Württemberg gegründet, die bislang keinen nennenswerten Mitgliederstamm gewinnen konnten. Scientologen versuchten ohne großen Erfolg, eine Art Jugendorganisation unter dem Namen "Fun Treff junger Scientologen" (FTJS) aufzubauen. Ein Vergleich der WISE-Mitgliederverzeichnisse der Jahre 1999 bis 2005 zeigt zudem, dass sich die Zahl der von WISE genannten Mitglieder in Deutschland nicht gravierend verändert hat (2005: etwa 250). Dieses Problem versucht das Management gegenüber der Basis und nach außen durch stereotype Behauptungen einer fortwährenden Expansion und weit übertriebene Mitgliederzahlen zu kaschieren. In einer Presseerklärung gab die "Scientology Kirche Deutschland" (SKD) mit angeblich 12.000 "aktiven Scientologen" 358 zwar immer noch überzogene Mitgliederzahlen an, rückte damit jedoch von früheren Behauptungen ab, über 30.000 Anhänger in Deutschland zu verfügen. Damit räumte man indirekt ein, dass die ständige Propaganda einer Expansion in Deutschland keine ernsthafte Grundlage hat. Die SO will weiterhin Körperschaft des öffentlichen Rechts werden, wobei sie intern behauptete, zur Verwirklichung benötige die SO in Deutschland insgesamt 10.000 LebensIAS-Logo zeitmitglieder der Mitgliederorganisation "International Association of Scientologists" (IAS). Auch dadurch offenbarte die SO indirekt die Unglaubwürdigkeit ihrer offiziellen Zahlen.359 Sie verfügt bislang nicht über genügend Mitglieder, um ihre ehrgeizigen Ziele auf breiter Front verfolgen zu können und hat Probleme, Mitarbeiter und Lizenznehmer in ausreichender Zahl zu rekrutieren. 4. Mitgliederwerbung Gegenüber der Öffentlichkeit stellt die SO ihre Mitgliederwerbung grundsätzlich nur als individuelle Lebenshilfe dar und weist auf den angeblich karitativen Charakter ihrer "Sozialprogramme" hin. Sie versandte im 358 Presserklärung "L. Ron Hubbards ,Reise zum ICH' bricht neue Rekorde" vom 24. Januar 2006. 359 Vgl. hierzu den auf der Internetseite des Landesamtes für Verfassungsschutz eingestellten Beitrag "Die Legende von den 8 Millionen Scientologen". 234 Scientology-Organisation Berichtsjahr Propagandamaterial an Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung und führte in Baden-Württemberg zahlreiche Werbeaktionen mit gelben Großraumzelten und Informationsständen durch. Die SO intensivierte während der Fußballweltmeisterschaft 2006 die Straßenwerbung ("Body Routing") und etablierte "Testcenter" in den Zentren von Stuttgart und Ulm. Die SO erreichte jedoch nicht die erhoffte hohe Präsenz im öffentlichen Raum. Scientologen nutzten auch Geschäftskontakte oder persönliche Bekanntschaften, um für die SO zu werben. Die Werbung für die Lehre HUBBARDS erfolgt teilweise verdeckt. So ist die PR-Kampagne "Jugend für Menschenrechte" meist nicht ohne weiteres als Scientology-Aktion erkennbar. Sie dient nicht nur der Imagepflege, sondern auch dazu, neue Mitglieder - insbesondere Jugendliche - zu werben. Der "Programm-Koordinator" der Kampagne äußerte in einem Rundschreiben an Scientologen, Menschenrechte seien das "Werkzeug", um die breite Öffentlichkeit zur SO zu bringen. In Kirchheim/Teck und Überlingen/Bodensee wurden Seminare beworben, die einen psychologischen Hintergrund (Stressbewältigung, Lebensbewältigungshilfe) vermuten ließen. Für Außenstehende war nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Referenten Scientologen waren. Im Raum Konstanz wurden Zeitungsinserate für einen "Freizeitgesprächskreis" geschaltet. Interessierte seien anschließend jedoch mit Scientology-Werbung konfrontiert worden. In Freiburg im Breisgau versuchen SO-Anhänger, ein "Zentrum für Lebensfragen" zu etablieren. Eine GmbH mit Sitz in der Schweiz und ein "Kontaktbüro" in Karlsruhe HUBBARDs versandten Faxwerbung ("Faxspam") für bundesweite Management-SeminaLehre in re für Führungskräfte. Interessenten, die sich für in Hotels durchgeführte Seminaren für kostenlose Abendseminare anmeldeten, gelangten per Rufumleitung zu Führungskräfte WISE-Mitgliedern beziehungsweise erhielten per E-Mail die Bestätigung von einem Verlag aus dem Raum Stuttgart, hinter dem ein WISE-Trainer steht, der auch Geschäftsführer einer bundesweit tätigen Trainingsfirma mit Adresse im Karlsruher Raum ist. Deren Mitarbeiter führten die Seminare durch. Den Teilnehmern wurde ein allgemeiner Vortrag über Effizienz und Motivation angeboten, bei dem bruchstückartig HUBBARDs Lehre eingestreut wurde, was für Außenstehende jedoch kaum erkennbar war. Dem folgte das Angebot einer zunächst kostenlosen und unverbindlichen Schwachstellenanalyse im Betrieb, wodurch die Trainer Zugang zu den betroffenen Firmen erlangen konnten. 235 5. Repressive Maßnahmen zur Geldbeschaffung SO-Funktionäre führten an der Basis im Raum Stuttgart massive Spendenkampagnen zur Finanzierung der hiesigen "Idealen Org"360 durch. Ziel war die Sammlung mehrerer Millionen Euro zum Erwerb eines repräsentativen Gebäudes in Stuttgart. Die SO verband ihr Vorhaben mit hohen gesellschaftspolitischen Ambitionen. Es sei "die einzig richtige Antwort auf eine Gesellschaft, mit der es immer weiter bergab geht." 361 Da eine Reihe von Scientologen ihre Spendenzusagen nicht einhielten, übten Funktionäre durch "Ethik"-Anordnungen massiven Druck aus: "(...) versprochene Spenden für das ideale Org Gebäude in einer Höhe von weit über 1 Million Euro wurden bis jetzt nicht bezahlt, obwohl sie fällig waren zum 31.12.2005". Anschließend prangerte die Anordnung mehr als 50 "säumige" Scientologen namentlich an und forderte zur Bespitzelung der Bloßgestellten auf: "Von allen Scientologen im Stuttgarter Feld wird erwartet, Wissensberichte (...) einzureichen, betreffend: 1. der oben genannten Personen mit offenen Pledges [versprochene Spenden] 2. aller Clears und OTs (mit Ausnahme der oben genannten beitragenden Clears und OTs)." 362 Auf die Unbotmäßigkeit teils hochtrainierter Mitglieder reagierte die Organisation unnachgiebig. Eine langjährige "Vorzeige"-Scientologin erhielt eine "Ethik-Order" mit der Androhung, zum Feind ("supressive Person" - "SP"), erklärt zu werden: "Es liegen Berichte vor, per denen sie unkooperativ und antagonistisch [widersetzlich] im Ethik-Interview [Befragung] war (...) und auf dem Briefing am Mittwoch nacht die Teilnehmer enturbuliert [Unruhe verbreitet] hat wodurch der Event selbst mit schlechten Indikatoren [Missstimmung] geendet hat (...) Falls ein weiterer Bericht über Enturbulationen, die Ursula 363 verursacht bei Ethik eingeht, wird sie (...) zum SP erklärt." 364 Einem Scientologen, der seine Spendenzusage nicht einhalten konnte, wurde der "Ethik-Zustand" 365 "Belastung" zugewiesen. Eine kurze Fristset360 Die SO verbindet mit dieser Bezeichnung die Vorstellung einer prosperierenden, repräsentativen SONiederlassung mit hoher Anziehungskraft in der Bevölkerung. 361 Flugblatt "Ideale Org - Showdown - Hier und heute!", Stuttgart, 2006. 362 "Scientology Gemeinde Baden-Württemberg e.V.", HCO-Ethics-Order Nr. 1894 vom 3. Februar 2006, Übernahme wie im Original. Zu HCO vgl. Fußnote 368. 363 Name geändert. 364 Hier und im Folgenden: Namen geändert, sonst Übernahme wie im Original. 365 SO-Internes System von Belohnungen und Strafen, die vom Zustand "Macht" ("Power") über "Nichtexistenz" bis hin zu "Belastung", "Verrat" und "Feind" reichen. 236 Scientology-Organisation zung sollte trotz seiner Schulden den Druck erhöhen, Geld zu spenden: "Rudolf 366 hat nach Erhalt dieser Zuweisung 24 Stunden Zeit sich aus diesem Zustand herauszubewegen, um weitere Aktionen (...) zu vermeiden." Aus ähnlichem Grund wurde einem weiteren Mitglied binnen Fristsetzung von 24 Stunden "der Zustand VERRAT öffentlich zugewiesen". Gegen einen Scientologen, Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens, wurde ein internes "Ethik-Gericht" wegen einer Urlaubsreise und angeblicher Nichtbefolgung von Anordnungen einberufen: "Hiermit wird ein Ethik-Gericht über Siegfried Meier 367 einberufen. Siegfried bekam eine Order von HCO 368, sich in der Org bei HCO zu melden. Dies hat er nicht gemacht und abgelehnt. HCO und ein Sec Checker 369 suchten Siegfried zu Hause auf. Er verweigerte ihnen den Zutritt. Beim 2. Besuch bei ihm zu Hause kam in einem Ethik-Interview heraus, dass er vortäuschte geschäftliche Aktivitäten in China abzuwickeln, tatsächlich handelte es sich hierbei um einen ,Urlaub' in Thailand. Per vorliegenden Daten hat sich Siegfried bezüglich dieser ,Geschäftsreise' auch in finanzielle Unregelmäßigkeiten verstrickt. Siegfried hat versprochen, einen größeren Betrag für die Ideale Org zu spenden. Dieses Versprechen hat er nur zum kleinen Teil erfüllt, obwohl er über Möglichkeiten verfügt, sein Versprechen einzuhalten. Siegfried macht sich folgender Vergehen und Verbrechen schuldig: Vergehen: - Pflichtvernachlässigung - Kein Bericht - Falscher Bericht - Verschwendung von Geldmitteln. Verbrechen: -Verräterische Nachlässigkeit." Dagegen wurden die Mitglieder besonders hervorgehoben, die "mit uns sind", weil sie sich zu Spenden von teils mehr als 100.000 Euro hatten bewegen lassen. 366 Name geändert. 367 Name geändert. Auch im Originaltext wird der betroffene Scientologe mit vollem Namen bloßgestellt. 368 Das "Hubbard Communication Office" (HCO) war in den 1960erund 1970er-Jahren die Zentrale, die die Aktivitäten der Unterorganisationen steuerte. Hier ist die in der Stuttgarter "Org" zuständige "Ethik"-Stelle gemeint. 369 Person, die "Sicherheitsüberprüfungen", meist mit Hilfe eines "E-Meters", durchführt. 237 Durch diese Vorgehensweise entstand Unruhe im Stuttgarter ScientologyMilieu, wobei auch die angebliche Kompetenz ("Status Clear und OT") verschiedener hochtrainierter Scientologen in Frage gestellt wurde. Die Funktionäre reagierten auf diese "Herabsetzung" mit einem weiteren Aufruf zur Denunziation, unterschwelligen Drohungen und der Forderung nach strikter Befolgung der HUBBARD-Richtlinien: "Fact: In den letzten Wochen kommunizierten Publics 370 unterhalb von Clear (...) Aktionen (...) von Clears und OTs im Feld, die den wirklichen Status von Clear und OT herabsetzen und herabwürdigen und als nicht wirklich erstrebenswert erscheinen lassen, was ein negatives Bild auf den Zustand Clear und OT wirft. Es werden hier nun Berichte über jede Aktion oder Nicht-Aktion (=Out-Ethik)371 von Clears und OTs im Feld eingefordert, die den eigentlichen Zustand von Clear und OT abwerten. (...) Es ist ein Verbrechen, den Zustand Clear abzuwerten - Wissensberichte (...) werden hier eingefordert (...) Die Wissensberichte müssen spezifisch sein (Ort, Form, Zeit und Geschehen) und bei HCO eingereicht werden (...) Diese Berichte werden unmittelbar benötigt, so dass die daraus folgenden Komitees der Beweisaufnahme 372 gehalten werden können, (...) Eine Person, die von einem Missstand oder Verbrechen Kenntnis hatte und es versäumte, darüber zu berichten und dadurch zu einem Mitschuldigen wurde, erhält die gleiche Strafe wie die Person, die als eigentlicher Täter bestraft wird." 373 Diese Anweisungen wurden unter Scientologen im Raum Stuttgart breit gestreut und verfehlten ihr Ziel nicht. Der SO soll es gelungen sein, rund vier Millionen Euro "Spenden" einzutreiben. Die Leiterin der Stuttgarter "Org" scheute anschließend nicht vor der Behauptung zurück, die "Ideale Org" würde "mit viel Kreation und Spaß" 374 errichtet. Die "Ethik"-Anord370 Scientologen an der Basis, die keine Mitarbeiter einer SO-Niederlassung sind. 373 Out-Ethik: Nichtbefolgung der Scientology-"Ethik". "Ethik" bedeutet in der SO die Optimierung des Überlebens, Durchsetzung von Scientology und die Beseitigung von "Gegenabsichten". 372 Eine Art Tribunal beziehungsweise scientologischer "Untersuchungsausschuss". 373 "Scientology Gemeinde Baden-Württemberg e.V.", HCO-Ethics-Order Nr. 1902 vom 11. Februar 2006, Übernahme wie im Original. 374 Zeitschrift "Dianetik Post", Stuttgart, Nr. 176/2006, S. 2. 238 Scientology-Organisation nungen zeigen auf, dass die SO schon aus geringfügigem Anlass teils menschenverachtend und willkürlich in die private Lebensgestaltung der Mitglieder eingreift. Weder wahrt die Organisation entgegen eigener Behauptungen die Vertraulichkeit sensibler personenbezogener Daten, noch sind für sie im Zweifelsfall die Grundrechte ihrer Mitglieder von Bedeutung. Die in Baden-Württemberg bislang beispiellosen Maßnahmen zur Geldbeschaffung führten trotz der für die Betroffenen demütigenden Begleitumstände nicht zu größeren Verwerfungen im hiesigen Scientology-Milieu, das sich insgesamt gefügig zeigte. Entgegen ursprünglicher Planungen gelang es der SO im Jahr 2006 aber trotzdem nicht, eine "Ideale Org" in Stuttgart zu etablieren. 6. Die "Scientology Kirche" und der SO-Wirtschaftsverband "WISE" Die SO wollte in Baden-Württemberg die Firmen des SO-Wirtschaftsverbands in die Finanzierung der "Idealen Org" einspannen. Als das Vorhaben aus Sicht der Funktionäre unbefriedigend verlief, wurde eine "Untersuchung" angeordnet: "Gegenwärtig läuft eine Untersuchung bezüglich dem WISE Charter-Committee, da die im Feld existierenden Scientology-Firmen bis auf eine Ausnahme nicht wirklich expandieren, und nicht zum Ideale Org Gebäude beitragen." 375 Dies offenbart, dass WISE und der "Kirchenbereich" entgegen mancher Behauptungen der SO nicht getrennt zu sehen sind, sondern ein symbiotisches Gebilde darstellen. Auch die "ScientologyFirmen" dienen der Geldbeschaffung für die Organisation und werden faktisch vom "Kirchenbereich" kontrolliert. Die größten Gefahrenpotenziale der SO liegen derzeit wohl im Bereich der Einfluss auf Unternehmensberatung. Die Dienstleistungssparte Unternehmensund DienstleistungsOrganisationsberatung sowie die Persönlichkeitsund Personalentwicklung sparte werden in der Wirtschaft und staatlichen Institutionen als wichtige Kontrollund Steuerungsinstrumente gesehen. Berufstätige begreifen dieses Angebot neben einer zusätzlichen Qualifikation auch als Möglichkeit zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Dienstleister beziehungsweise Trainer tragen aufgrund der tief greifenden Einwirkungsmöglichkeiten in der Managementberatung eine hohe Verantwortung, weil sie häufig noch vor ihren Auftraggebern in der Lage sind, Kontrolle in Firmen und über Personen auszuüben. Sie können Entwicklung und Kultur der Unternehmen nachhaltig beeinflussen. 375 "Scientology Gemeinde Baden-Württemberg e.V.", HCO-Ethics-Order Nr. 1894 vom 3. Februar 2006. 239 Ziel von WISE ist es, die totalitäre "administrative Technologie" der SO in Wirtschaft und Politik zu implementieren und Kunden der WISE-Berater zur SO zu bringen. Das WISE-Programm offenbart, dass mit der "Admin Tech" de facto eine Ideologisierung des Unternehmens stattfindet. Es enthält insbesondere bei einer WISE-Mitgliedschaft die starre Einführung zahlreicher Führungsanweisungen des Finanzmanagements und der Organisationsstruktur, die ebenso strikt in den "Kirchen" der SO angewendet werVorgehensweise den. Die Umsetzung soll per "Befolgungsbericht" an WISE gemeldet wervon WISE den. Die Ideologisierung zeigt sich auch daran, dass der Posten des Ausbildungsleiters nicht an eine Person vergeben werden soll, deren Eltern Gegner der SO sind. Sehr problematisch ist auch, dass im Unternehmen die "Ethik" der SO zwecks "Belohnungen und Strafen" eingeführt werden soll, die von einem "Ethik-Officer" kontrolliert wird. Es ist vorgesehen, dass WISE eine "vollständige Liste der Angestellten des Unternehmens" erhält, aus der hervorgeht, welche WISE-Kurse sie absolvieren. Die Aufgabenstellung der Angestellten soll dem "lokalen WISE Büro zur Genehmigung" vorgelegt werden. WISE soll zudem Fotografien aller Angestellten, deren jeweiligen wöchentlichen "Ethik"-Zustand376 und "Kopien der Hauptstatistiken" des Unternehmens erhalten.377 Auf diese Weise kann der SO-Wirtschaftsverband nicht nur tiefen Einblick, sondern auch beträchtliche Kontrollund Eingriffsmöglichkeiten bei betroffenen Firmen erhalten. Überdies sollen sich WISE-Mitglieder verpflichten, dass rechtliche Auseinandersetzungen unter Mitgliedern "ausschließlich auf WISE Linien erledigt werden (...). Sie sind endgültig und bindend und können nur durch den Kaplan in WISE International überprüft werden (...) Das ist der einzige Rekurs, der Mitgliedern zur Verfügung steht". "Rechtsgrundlage" sind die HUBBARDRichtlinien "über Ethik und Recht".378 Eine "Nichtbefolgung" gilt als "Schwerverbrechen".379 WISE in BadenIn Baden-Württemberg bieten WISE-Trainer vor allem kleinen und mittelWürttemberg ständischen Unternehmen ihre Dienste online oder über Telefonakquise an, meist ohne ihren scientologischen Hintergrund anfangs zu offenbaren. Dabei zeigt sich bei den bekannt gewordenen Fällen ein gleichartiges Vorgehen. Charakteristisch erscheint, dass WISE stets an die Geschäftsführer herantrat, um zunächst allgemein gehaltene, kostenlose Einführungsseminare über Effizienzund Zeitmanagement oder Erfolgsursachen anzubieten, um dann Trainingskurse und Seminare - etwa "Geschäftlicher Erfolg durch 376 Vgl. hierzu Fußnote 365. 377 "WISE Durchführungsprogramm für Verwaltungs Know How" Nr. 1 - 5. 378 "World Institute of Scientology Enterprises Mitgliedschaftsvereinbarung - Allgemeines Mitglied", 2000. 379 WISE International (Hg.), "Der Service zur standardgemäßen Streitfallösung", Los Angeles, 2000. 240 Scientology-Organisation Kommunikation" 380 - zu verkaufen, die nahezu identisch mit einführenden Scientology-Kursen sind. Mitunter wurde auch frühzeitig die "Dianetik"Lehre von HUBBARD thematisiert und die Erlangung angeblich höherer beruflicher Kompetenz mittels "Auditing" angeraten. Obwohl mit HUBBARDs "Verwaltungstechnologie" das WISE-Angebot bereits von Beginn an unveränderlich feststeht, behaupteten die Trainer, durch Einblick in die Firmenstruktur und Finanzsituation umfassende "maßgeschneiderte" Lösungen erarbeiten zu müssen, worin einige Betroffene die Gefahr einer "gläsernen Firma" sahen. Daneben wurde auch persönliche Lebensberatung empfohlen, die wiederum in "Kirchenniederlassungen" der SO beziehungsweise zu Feldauditoren führte. Eine SO-Mitgliedschaft wurde in der Regel nicht offen, sondern subtil beworben, etwa durch das Herausstreichen angeblicher Vorteile wie die Zugehörigkeit zu einem vermeintlich exklusiven Unternehmerkreis. Stets sollten in betroffenen Firmen scientologische Managementrichtlinien und Organisationsstrukturen ("Org Board") eingeführt werden. Mitarbeiter sollten auch "Wissensberichte" über Kollegen fertigen. Diese Bestrebungen stießen jedoch mehrfach auf interne Widerstände im Betrieb. Fallweise führte auch eine Internetrecherche über die WISETrainer zu der Entscheidung, keine weiteren Angebote anzunehmen. 7. Hilfsund Unterorganisationen Die "Aktion Transparente Verwaltung" (ATV) steht in Zusammenhang mit OSA nimmt dem OSA, einer auch geheimdienstliche Aufgaben wahrnehmenden Teilorauch geheimganisation der SO. Vordergründig behauptet die ATV, durch die Propagiedienstliche rung eines weitgehenden Akteneinsichtsrechts Transparenz in Politik und Aufgaben wahr Exekutive schaffen zu wollen. Dabei wird der scientologische Hintergrund der ATV nicht immer ohne weiteres deutlich. Tatsächlich geht es der SO wohl vor allem darum, den Informationsstand deutscher Behörden über die SO möglichst effektiv ausforschen zu können. In diesem Zusammenhang unterstellte die SO Scientology-kritischen Politikern pauschal totalitäre Absichten: "Wie es auch anderswo der Fall ist, haben Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland, die Scientology angreifen, keine ,sauberen Hände'. Von ihnen kann einheitlich festgestellt werden, dass sie auch sonst jeden unterdrücken." 381 380 Herausgeber der Seminare ist das "Hubbard College of Administration International" (HCAI). 381 Zeitschrift "Impact" Nr. 111/2005, S. 15. 241 ApS-NachhilfeDie SO versuchte 2006 mit "Applied Scholastics" (ApS)-Nachhilfegruppen gruppen stärker als bisher auf dem Bildungsmarkt Fuß zu fassen. Nennenswerter Erfolg blieb ihnen jedoch versagt. Auch Hilfsorganisationen wie ApS treten nach außen scheinbar unabhängig auf und unterbreiten unterschiedliche Hilfsangebote, ohne dass ihr SO-Hintergrund immer gleich offenbar wird. Die SO propagiert gegenüber den Mitgliedern zudem, dass ihre zentralen "Kirchen" die Hilfsorganisationen schneeballartig zur Anwerbung nutzen sollen.382 Zwar enthält die bei den ApS-Gruppen angebotene HUBBARD"Studiertechnologie" zunächst lediglich eher einfache Lerntechniken, jedoch gilt die "Studiertechnologie" für die SO als "unsere grundlegende Brücke zur Gesellschaft" und dient somit einer ersten Kontaktaufnahme. Die weitergehende, in Scientology-"Kirchen" und "Missionen" angebotene "Studiertechnologie" vermittelt eine totalitäre, die Demokratie negierende Programmatik. So propagiert der grundlegende Scientology-"Studierkurs" ein Aktivwerden scientologischer "Justiz" ("Ethik-Gerichte") schon bei bloßer Kritik an der SO oder der Unterlassung, die Organisation zu fördern. Ebenso gilt eine Behinderung der SO als "Schwerverbrechen", was dazu führen kann, dass den Betroffenen der Zustand "Verrat" zugewiesen wird und "sie zur UNTERDRÜCKERISCHEN PERSON erklärt und mit allen Strafen ausgeschlossen werden". Darüber hinaus werden sozialdarwinistische Vorstellungen vermittelt ("Wir haben dich lieber tot als unfähig") und suggeriert, die Demokratie habe versagt und den Menschen nur weiter "in den Schlamm" gestoßen.383 Aufgrund der kritischen Medienresonanz und Stellungnahmen der badenwürttembergischen Landesregierung versuchten Scientologen, mögliche ideologische Beeinflussungen durch ApS in Abrede zu stellen. Allerdings wurde ein auf Jugendliche zugeschnittenes "Handbuch für deutsche Grammatik" bekannt, das Werbung für Scientology-Literatur enthält. Zwar handelt es sich um keine offizielle SO-Publikation, sie zeigt jedoch auf, dass es in der Scientology-Szene Bestrebungen gibt, Nachhilfe mit Anwerbung zu verbinden. Die Betreiber scientologischer "Nachhilfe"-Einrichtungen erhielten zwecks "Handhabung" von externen Fragestellern von der ApSZentrale bereits vorgegebene, taktisch geprägte Sprachregelungen beziehungsweise Scheinantworten, die "gedrillt" werden sollten. So war die Antwort auf die mögliche Frage nach einem Zusammenhang von ApS und der SO dahingehend ausweichend formuliert, dass nicht etwa die Einbindung von ApS in die SO-Struktur thematisiert, sondern behauptet werden sollte, dass es bei ApS nicht um "Religion" gehe. Ein ApS-Betreiber wandte sich 382 Zum Beispiel in: Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 34/2006, S. 26ff. 383 Alle Zitate in: L. Ron HUBBARD, "Der neue Studentenhut Kurs", Kopenhagen, 1996. 242 Scientology-Organisation mit heftiger Polemik an das Innenministerium Baden-Württemberg und scheute dabei nicht vor NS-Vergleichen zurück: "Die Zeiten, in denen sie ungestört Unsinn mit Schlagzeilen über Scientology verbreiten konnten, sind vorbei! (...) Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr diskriminierendes Verhalten gegenüber Scientologen für Ihre weitere politische Karriere von Vorteil ist. (...) Im 3. Reich hieß es kauft nicht bei Juden, heute lautet es kauft nicht bei Scientologen." 384 "Narconon" ist ein weiteres Beispiel für die Fragwürdigkeit scientologischer "Sozialreformen". Die SO stellt "Narconon" seit vielen Jahren als einzigartiges Therapieangebot für Suchtkranke mit einer Erfolgsquote von rund 80 Prozent dar. 2006 war jedoch im gesamten Bundesgebiet keine scientologische "Therapie"-Einrichtung mehr bekannt. Dennoch suggeriert die SO eine Expansion von "Narconon" in Deutschland. Fachkreise kritisieren das HUBBARD-Drogenentzugsprogramm als in verschiedener Hinsicht rückständig, unbewiesen und teils unrichtig. Eine erloschene "Narconon"Niederlassung in Schliersee/Bayern konnte in den 1990er-Jahren in einem Gerichtsverfahren gegen das Land Baden-Württemberg keinen einzigen Fall einer erfolgreichen Drogenrehabilitation nachweisen.385 "Narconon" ist hierzulande hauptsächlich ein Propagandainstrument, um Akzeptanz für die SO zu gewinnen. Über ihre Hilfsorganisation KVPM hat die SO der Psychiatrie und einem bedeutenden Teil aller Psychotherapieangebote den Kampf angesagt. Sie geht davon aus, dass die Psychiatrie maßgeblicher Teil einer politischen Verschwörung gegen die Bevölkerung ist. Die SO verschärfte ihre Agitation gegen Psychiater und formulierte als Ziel die "globale Vernichtung" 386 dieses Teils der Medizin. Dabei handelte es sich nicht etwa nur um eine undifferenzierte Kritik, sondern um pauschale Hetze gegen einen ganzen Berufsstand. Die Mitgliederorganisation IAS propagierte in deutschen SO-Mitgliederzeitschriften Scientology-Hetze aus den USA, die Psychiater mit Mördern und Vergewaltigern gleichsetzte.387 Psychiater wurden als Verantwortliche für den internationalen Terrorismus verunglimpft.388 Die KVPM ver384 Schreiben vom 31. Juli 2006, Übernahme wie im Original. 385 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Mai 1993, Az.: 1 S 3021/92. 386 Flugblatt "Einladung zum IAS-Event", Stuttgart, 2006. 387 Zeitschrift "Impact" Nr. 112/2006, S. 24ff. 387 388 Citizens Commission on Human Rights (Hg.), "Programm des Schreckens", 2005. 243 suchte vor allem mit Flugblattverteilungen und einer Ausstellung in Stuttgart Breitenwirkung zu erzielen. Dies soll Verunsicherung erzeugen, um den Boden für vermeintliche Lösungsansätze der SO in Medizin und Justiz zu bereiten. Darüber hinaus soll die KVPM Feindbilder in der Gesellschaft schaffen und neue SO-Mitglieder rekrutieren. In einem Rundschreiben verlautbarte ein KVPM-Aktivist Folgendes als Ziel ihrer Propaganda: "Außerdem werden betroffene Eltern (...) sehen, wer hier Freund und Feind ist. Sie werden Scientology gut finden und sich uns anschließen." 389 8. Propaganda und Diffamierungskampagnen Um gesellschaftliche Akzeptanz zu gewinnen, betreibt die SO eine zweigeteilte PR-Strategie. Zum einen stellt sich die Organisation als karitative, unpolitische Religion dar und führt aufwändige PR-Aktionen für Menschenrechte durch wie im Jahr 2006 die Aktion "Jugend für Menschenrechte". Zum anderen führt die SO Diffamierungskampagnen gegen Einzelne, Gruppen oder Staaten durch, wenn sie ihre Expansionsbestrebungen gestört wähnt. So betreibt die Organisation seit Jahren eine planmäßige Herabsetzung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Repräsentanten. Die SO hält im Internet unterschwellige Vergleiche zwischen der angeblichen Diskriminierung von Scientologen in Deutschland und der Situation der Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufrecht.390 unglaubwürdige Das angebliche Eintreten für Menschenrechte wirkt aber nicht nur wegen Menschenrechtsder Verhältnisse innerhalb der SO aufgesetzt. Die öffentlichen Menschenkampagne rechtskampagnen sind auch aufgrund der Reaktionen der SO auf Kritik und wegen ihrer pauschalen Hetze gegen in der Psychiatrie tätige Menschen unglaubwürdig. Die SO propagiert das Grundrecht der Meinungsfreiheit, schmäht jedoch gleichzeitig die Wahrnehmung dieser Freiheit durch Kritik an den SO-Methoden als angeblich mangelnde Toleranz oder Diskriminierung und will ihre Kritiker als "antisoziale Persönlichkeiten" und "Kri389 Rundschreiben von New Era Publications International, im Dezember 2006 gestreut. 390 Website des "Freedom Magazine", Internetauswertung vom 8. März 2006. 244 Scientology-Organisation minelle" 391 stigmatisieren. Dieselbe Organisation, die bereits ein öffentliches Lossagen von der SO als "Schwerverbrechen" 392 brandmarkt, behauptet, der Bevölkerung das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit näher bringen zu wollen. Diese Kampagnen offenbaren auch eine anmaßende Haltung der SO, die subtil den Eindruck erweckt, die Menschen in der Europäischen Union und ihre Regierungen seien nicht wirklich informiert. Ihnen müssten die Menschenrechte erst vermittelt werden.393 Das scheinbare Eintreten für Menschenrechte dient der SO offenkundig als Tarnung. Ihre Feldzüge gegen Kritiker sind Ausdruck einer totalitären Haltung. HUBBARDs Lehre gilt ideologisch starr als allein rettendes gesellschaftspolitisches Rezept. Gegner werden als vermeintliche Saboteure betrachtet. 8.1 Reaktion auf den "Karikaturenstreit" Die SO strebt eine Zusammenarbeit mit islamischen Gruppen an, wohl um diese möglichst in ihr PR-Konzept einer angeblichen Diskriminierung "religiöser Minderheiten" in Deutschland einzubinden. Vor diesem Hintergrund dürften Vorwürfe gegen die Medien im so genannten "Karikaturenstreit"394 zu beurteilen sein. Die SO verunglimpfte die Presse als "Chaoshändler", welche durch den Nachdruck der Karikaturen des Propheten Muhammad "Hass" verbreitet hätten. Die "anstößigen Karikaturen" seien für den Islam "höchst diskriminierend" und "rassistisch".395 Allerdings wurden keine Hinweise bekannt, dass die SO breite Unterstützung durch islamische Gruppen gewinnen konnte. 8.2 Mitgliederorientierte Propaganda Die mitgliederorientierte Propaganda unterscheidet sich deutlich von der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. Das Management bedient sich einer teils militanten und aggressiven Sprache, die Konflikte als "Krieg" definiert und von den Mitgliedern fordert, "Unterdrückung" offensiv zu "zerschlagen" 396, worunter die SO bereits Kritik versteht. David MISCAVIGE charakterisierte diese Kontroversen als "Schlachten", "um die Opposition zu bekämpfen".397 Nach außen verschweigt die Organisation ihren politischen 391 "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs", Kopenhagen, 2001, S. 38ff. 391 392 Ebd., S. 134. 393 Zum Beispiel in Zeitschrift "Impact" Nr. 112/2006. 394 Vgl. S. 11f. 395 "Church of Scientology Europe", Rundbrief "Ein Aufruf, zur Tat zu schreiten", Ausgabe 1/2006. 396 Zeitschrift "Dianetik Post", Stuttgart, Nr. 176/2006 oder in Zeitschrift "Impact" Nr. 112/2006. 397 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 34/2006, S. 35. 245 Machtanspruch, den sie nach innen offen formuliert. Ein Funktionär einer SO-Niederlassung beschrieb den Zweck seines Postens in einem aktuellen internen Rundschreiben an die Mitarbeiter: "LRH 398 zu helfen, Leute aus der Öffentlichkeit und öffentliche Einrichtungen zu kontaktieren und zu auditieren, sowie die Regierung einer Zivilisation zu schaffen und zu lenken." Ziele: Bei SO-Veranstaltungen in Stuttgart, an denen bis zu 300 Personen teilnah- - Massenbemen, wurden auch politische Ziele propagiert. Mit Slogans wie "Das Schickwegung sal der Erde ist in unserer Hand" 399 sollten die Mitglieder auf die Linie des - Machterringung Managements eingeschworen werden. Die SO soll zur Massenbewegung werden und Macht erringen. David MISCAVIGE formulierte in einer Rede: "Der letztendliche Sieg ist nicht eine Frage des ,Wie', sondern nur des ,Wann'. Es ist eine Tatsache: Während wir expandieren, schaffen wir Ordnung. Doch wenn Ordnung geschaffen wird, treten die Verwirrung und das Chaos zutage. Wenn wir heute an jedem strategischen Punkt der Gesellschaft mit effektiven Aktionen aufwarten, betrachten das die Sklavenmacher zweifellos als weiteren Dolchstoß in ihre schwarzen Herzen und Seelen. (...) Darüber hinaus können Sie erwarten, dass sie immer lauter brüllen werden, bis zum letzten sterbenden Aufschrei eines Verrückten, der schließlich verhallen wird, um nie wieder gehört zu werden. (...) Der Aufbau unserer Organisationen erweitert dies als kombinierte Macht einer wahren Gruppe auf die dritte Dynamik.400 (...) wenn man diesen Schritt an genügend 398 LRH: Kürzel für L. Ron HUBBARD. 399 Flugblatt "Das Schicksal der Erde ist in unserer Hand", Stuttgart, 2006. 400 Dritte Dynamik: Scientology-Begriff für die Gruppe beziehungsweise die Gesellschaft, die Nation. 246 Scientology-Organisation vielen Orten macht, dehnt sich das auf die vierte Dynamik 401 und die ganze Menschheit aus." 402 Die SO streute an Mitglieder Flugblätter, in denen sie aufrief, gezielt an Aufruf, an Politiker und Meinungsführer heranzutreten, um mit speziell auf sie zugePolitiker schnittenen Themen wie Kultur oder Drogenprävention Interesse an der heranzutreten Organisation zu wecken. Dies dient jedoch nur "als Einführung", "um sie dann auf die Brücke 403 zu bringen". Durch die Vereinnahmung von Entscheidungsträgern will die SO zunehmend politischen Einfluss gewinnen. Daneben propagierte sie, in einflussreiche Gruppen einzudringen, um Scientology-Konzepte zur Anwendung zu bringen. Ideologische Grundlage ist die HUBBARD-Führungsanweisung "Spezialbereichsplan". Sie gibt vor, nicht offen an Meinungsbildungsprozessen teilzunehmen, sondern durch Infiltration für die SO zu agieren. Dazu führte die Organisation Seminare auf dem SO-Schiff "Freewinds" durch.404 8.3 "Europäischer Expansionsgipfel" in Brüssel Am 8. April 2006 veranstaltete die SO in einem Hotel in Brüssel den "1. Europäischen Expansionsgipfel", bei dem sie ihre politisch-extremistischen Ziele bekräftigte. Die Veranstaltung, an der zahlreiche Scientologen aus ganz Europa teilnehmen sollten, wurde im Vorfeld auch in Baden-Württemberg als "Teil der Europäischen Expansions-Strategie" beworben. Hochrangige Funktionäre, darunter der SO-Europachef, sollten die Teilnehmer über "die reale Situation in Europa", die Planungen der Gegner der SO und 401 Vierte Dynamik: Scientology-Begriff für die Spezies beziehungsweise Menschheit. 402 David MISCAVIGE in: "International Scientology News" Nr. 33/2006, S. 48. 403 "Die Brücke": Scientology-Begriff für das Kursund Auditingprogramm der SO. 404 Zeitschrift "Freewinds" Nr. 62/2006, S. 24ff. 247 über die Gegenmaßnahmen der SO informieren.405 Das belgische "Le Soir Magazine" veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 17. Mai 2006 Interna aus dieser Veranstaltung. Demnach verlautbarten SO-Funktionäre, die Organisation befinde sich im "Krieg" und man müsse die Kontrolle übernehmen. Unter dem Beifall mehrerer Hundert Teilnehmer verunglimpften SO-Sprecher die Europäische Union als "Viertes Reich" und deren Vertreter als "Nazis". Den Reden folgten massive Versuche, Mitarbeiter im Auditorium zu rekrutieren, weil die SO mittelfristig ihre Europazentrale in Brüssel errichten und die Stadt mit einem Netz von SO-Niederlassungen überziehen will. Zu diesem Zweck hat die Organisation umfangreichen Immobilienbesitz in der Nähe politischer Institutionen der EU und des belgischen Staats erworben. Offenkundig will die SO in Brüssel einen Schwerpunkt wie im Raum Clearwater/Florida schaffen. In Clearwater, wo zahlreiche Scientologen leben, dominiert die SO ganze Stadtteile und soll durch längerfristige Lobbyarbeit Einfluss erlangt haben. Der "Expansionsgipfel" offenbart erneut, dass die politischen Aussagen HUBBARDs für die SO unverändert gültig sind. HUBBARD verwendete den Begriff "Viertes Reich" 406 bereits 1972 und bezweckte damit, die europäische Einigung verächtlich zu machen. 9. Vertrauliches Telefon/Weitere Informationen Bei seiner Beobachtung der SO ist der Verfassungsschutz auch weiterhin auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie uns an: 0711/956 19 94. Derzeit sind zum Thema SO folgende Broschüren erhältlich: "Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz" (1997), "Die Scientology-Organisation" (2003) und "Der Kampf der 'Scientology-Organisation' um die Anerkennung der Gemeinnützigkeit in den USA und seine Auswirkungen auf Deutschland" (2004). 405 Flugblatt "Aufruf und Einladung an alle Scientologen in Baden Württemberg zum 1. Europäischen Expansions-Gipfeltreffen in Brüssel", Stuttgart, 2006. 406 Richtlinienbrief "Daten-Serie Nr. 23", 2001 in den SO-"Management-Serien" erneut veröffentlicht. 248 TE TOT ar anne weten Lanka erkaudlini aa Bere Aid Femel Bam Er ER Lay nme Hi perhannnechah Terieretrtimnhan | Eisidiack che mr Aa re Hin Frapakakrupy-lörrpernsasdnn" [EI2] umrhuz sifed aama se TEL IHTEN Las: 15H Antranspen, rbaenn nn H In Deutschlard. Sic: wurde 194 durch Lifte Acad HJBBRRE 119991 19ES gcgründeL ner en ann LIATRAIET wre I hen aba a che Fasehlan dba Mlintehreanme Kirk srakgkr" und ds einge Foertung einer angcbäch wm Niedergang een ebd INTER IR Feadrahenn wollen Meridian Tpkasctg Faitiarken" (Tnieieukeniie san arschkecnd a6 nahe ches Bunkdankerände Gicaz" bmw. höher Halnlanc ÜtakaeFTELC}Sinti ch Bearenh pe A Ebel rspukirg-Hnana F vermeintäch neuen, amnlacteren Menschen (hama nor' mündet - " Adramealidunpamugmuch |TavayaerIirm Tankkochen Imaelih _- fortauihrend wochz! ahl hedrrankerkersdemokpen SOHSErOiDgE INA NRZ I-Meibehren ]ukerevedirern. Fern al nnal rc Inh, tibend el Vnlschha wahl eds -- 3) angst a Su ciner Sduhp eine ordkircke und pet Aunklonlerende schenidlogische ae nn mnahhkan I un oban sparsam I vnlsach and! ahrran T'rnmpesarurcak vun. Grein " rlan uuml Ikrednnt Birgermmchte zu gewähren Dieses delondse Zelbezekhnei de 300m CH naheBolksehenkm Verzahkkm AuchUnkemehmeneBeraterundNenagememkrdner.des AkHeiftneirnAmar ACTET wenn | Fern drehweeteebe Weld indie al Saaenkakam Indeapeasa" TEA) baden le EA Frmarnfirmingnn TEcHBeRen und Kunz an, ohne Jedoch zunachst Ihre G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Vom zivilen Nuklearprogramm zur militärischen Nutzung ist es mitunter nur ein kleiner Schritt. Nachdem das kommunistische Nordkorea unter seinem diktatorisch regierenden Führer Kim Jong-il bereits im Februar 2005 offiziell bekannt gegeben hatte, im Besitz von Kernwaffen zu sein, hat der erfolgreiche Atombombentest vom 9. Oktober 2006 die Welt aufgeschreckt. Krisenherd Ein weiterer permanent schwelender Krisenherd ist der Iran. Die VermuIran tung, dass dort unter dem Deckmantel eines zielstrebig verfolgten zivilen Atomprogramms heimlich an der Entwicklung von Nuklearwaffen gearbeitet wird, umfangreiche Raketentests sowie der in den Medien immer wieder erhobene Vorwurf, Kurzund Mittelstreckenraketen an die "Hizb Allah" geliefert zu haben, rückten den Iran in den Mittelpunkt der weltweiten Anti-Proliferationsbemühungen407. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) ist eng in die gesamtstaatlichen Anstrengungen zur Proliferationsbekämpfung eingebunden und trägt durch die Verfolgung solcher Aktivitäten dazu bei, deren Urheber identifizieren und bestrafen zu können. Gleichzeitig leistet das LfV offensive Aufklärungsarbeit, um zu verhindern, dass baden-württembergische Unternehmen oder Geschäftsleute in riskante Geschäfte verwickelt werden. Dabei werden auch Überschneidungen der Themenfelder "Proliferation" und "islamistischer Terrorismus" beobachtet. SpionageaktivitäNach wie vor muss in Deutschland von ernst zu nehmenden Spionageaktiten fremder Nachvitäten fremder Nachrichtendienste ausgegangen werden. Speziell China richtendienste und Russland messen der Auslandsaufklärung einen hohen Stellenwert bei. In Baden-Württemberg, der Region mit der höchsten Innovationskraft innerhalb der Europäischen Union, liegt der Schwerpunkt eindeutig im Bereich der Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage. Trotz leistungsfähiger technischer Spionagemöglichkeiten wird auf die Gewinnung menschlicher Quellen nach wie vor nicht verzichtet, da sie eine kontinuierliche Informationsgewinnung aus dem Zielobjekt und eine unmittelbare fachliche Bewertung der beschafften Informationen gewährleisten. Der Nachholbedarf der Volksrepublik China gegenüber den hoch entwickelten Staaten des Westens wird auf den verschiedensten Ebenen durch 407 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 250 Spionageabwehr eine konsequente und gut durchdachte Strategie zur Beschaffung ausländischen Know-hows unterstützt, wie sie gegenwärtig von anderen Staaten nicht bekannt ist. Die in diesen Prozess eingebundenen chinesischen Nachrichtendienste treten in Deutschland eher zurückhaltend, in China selbst aber durchaus aggressiv auf. Trotz der guten zwischenstaatlichen Beziehungen auf Regierungsebene sind die russischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin sehr aktiv und beschaffen Informationen aus Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Wirtschaft ist ein Hauptfaktor für Stabilität und Leistungskraft unseres "geheimdienstStaates. Als Sicherheitsbehörde hat der Verfassungsschutz die Aufgabe, liche Angriffe auf geheimdienstliche Angriffe fremder Staaten auf die Wirtschaft rechtzeitig zu die Wirtschaft" erkennen und die Abwehr der von ihnen ausgehenden Gefahren zu ermöglichen. Ziel ist, auf einschlägige Risiken aufmerksam zu machen und Sorge dafür zu tragen, dass die in Baden-Württemberg ansässigen Unternehmen bei strategischen oder sicherheitsmäßig relevanten Entscheidungen über alle notwendigen Informationen verfügen. 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Proliferation Die Machthaber von Staaten wie Iran, Syrien, Pakistan oder Nordkorea Massenvernichsehen im Besitz von Massenvernichtungswaffen ein geeignetes Mittel, um tungswaffen sich machtpolitisch zu positionieren, symbolisch ihre Herrschaft zu legitials Mittel der mieren und vermeintliche externe Bedrohungen abzuwehren. Außerdem Machtpolitik dient er als Druckmittel in bilateralen oder internationalen Verhandlungen. Zum Teil sind diese Länder bereits in der Lage, den Bedarf an einschlägigen Waren und Know-how im eigenen Land zu decken oder sie beliefern sich gegenseitig damit (horizontale Proliferation). So werden nicht nur Maschinen und Ausrüstungsgegenstände, sondern bereits vollständige und einsatzfähige Raketensysteme oder das Wissen um deren Herstellung gehandelt. Trotzdem sind diese Staaten auch weiterhin auf hochwertige Güter oder Spezialwissen aus High-Tech-Ländern angewiesen. Wie schon in den vergangenen Jahren gestalteten sich 2006 die Beschaffungsaktivitäten der um Proliferation bemühten Länder äußerst konspirativ. Dadurch sollen Exportgenehmigungsund Kontrollmechanismen, zu deren Einhaltung sich die 251 Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft verpflichtet hat, unterlaufen werden. Nur durch die effektive Zusammenarbeit von Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst, Zollkriminalamt und Verfassungsschutzbehörden kann diesen internationalen Übereinkommen wirksam Geltung verschafft werden. 2.1.1 Iran Der Iran besitzt mittlerweile modernste Kurzund Mittelstreckenraketen sowie Marschflugkörper. Nach erfolgreichem Testflug der Shahab 3 mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern wird momentan mit Hochdruck an der Entwicklung von Flugkörpern jenseits des 2.000-Kilometer-Radius gearbeitet. Zu diesem Zweck bemühte sich das Land auch bei Unternehmen in Baden-Württemberg um die Beschaffung von Spezialwerkzeugen, Windkanalausrüstungen, Antriebsund Steuersystemen, Testanlagen, Messgeräten, Festtreibstoffkomponenten mit Mixern und Informationen zur KreiseltechAktuelle nologie: Fallbeispiele Ein mittelständisches High-Tech-Unternehmen teilte dem LfV mit, dass aus dem Iran regelmäßig Anfragen zu seinen für die Herstellung von Raketentreibstoff notwendigen Produkten eingehen. Obwohl definitiv noch nie geliefert worden sei, habe es zwischenzeitlich auch Anfragen zu Ersatzteillieferungen gegeben. Nach Recherchen des LfV wurden gebrauchte Maschinen des Unternehmens im Internet und auf Gebrauchtgütermessen weltweit angeboten und dürften auf diesem Weg in den Iran gelangt sein. Der Fall belegt exemplarisch, mit welcher Vehemenz sich der Iran um dringend benötigte Embargogüter bemüht, und dass er nicht immer in der Lage ist, erforderliche Ersatzteile selbst herzustellen. Die aktuelle Fallbearbeitung lässt erkennen, dass die in Baden-Württemberg nachgefragten Waren zumeist Dual-Use-Güter408 sind, welche in ihren Parametern häufig nur geringfügig von solchen Produkten abweichen, die der Exportkontrolle unterliegen: Die der Spionageabwehr einschlägig bekannte iranische Firma A aus Dual-Use-Güter Teheran erkundigte sich bei einem baden-württembergischen Unternehmen nach Spezialwerkzeugen, die üblicherweise in der Fahrzeugindustrie Verwendung finden. Als Besteller trat dann 408 Als "Güter mit doppeltem Verwendungszweck" werden Güter einschließlich Datenverarbeitungsprogrammen und Technologien bezeichnet, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können. 252 Spionageabwehr jedoch nicht die Firma A, sondern die ebenfalls im Iran ansässige Firma B in Erscheinung. Erst im Nachhinein wurde offenkundig, dass sich die Firma A lediglich in B umbenannt hatte und nach wie vor unter der alten Adresse residierte. Beide Firmen sind dem iranischen Beschaffungsverbund für Trägertechnologie zuzurechnen, und es ist zu befürchten, dass die an sich harmlose Lieferung nunmehr bei der Herstellung von Raketen-Start-Ausrüstungen Verwendung findet. Dieses Beispiel zeigt auf, wie schwierig es mitunter sein kann, Proliferationshandlungen im Dual-Use-Bereich zu erkennen. Andererseits wäre das Geschäft sehr leicht zu verhindern gewesen, wenn den Begleitumständen des Auftrags mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Eine weitere beliebte Methode, um an sensible Güter zu gelangen, ist die Bildung von schwer durchschaubaren Beschaffungsketten. Durch die Einschaltung mehrerer inund ausländischer Zwischenhändler soll die IdenBildung schwer tität des wahren Auftraggebers verborgen bleiben: durchschaubarer BeschaffungsIranische Einkäufer versuchten, bei einer hiesigen Firma High-Techketten Geräte für die Luftfahrtindustrie zu beschaffen. Nachdem das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle auf den kritischen Empfänger hingewiesen hatte, wurde von dem Geschäft zunächst Abstand genommen. Kurz darauf kaufte jedoch ein in Deutschland lebender iranischer Geschäftsmann die Geräte und deklarierte den Vorgang als Inlandsgeschäft. Die Lieferung erfolgte dann aber unter Einschaltung eines Zwischenhändlers im europäischen Ausland in den Iran. Dort wurden die Geräte nachweislich in militärische Fluggeräte eingebaut. Im Februar 2006 wurden vier in diese Transaktion verwickelte Personen - darunter auch der Geschäftsführer der baden-württembergischen Firma - festgenommen. Nach wie vor ist im Zusammenhang mit iranischen Proliferationsbemühungen auch das Phänomen "illegaler Wissenstransfer" von Bedeutung. Dabei geht es in erster Linie um die Ausund Fortbildung von Postgradu"illegaler ierten, Studenten und Wissenschaftlern aus sicherheitskritischen Ländern, Wissenstransfer" die unter dem Deckmantel des freien Austauschs technologisch-wissenschaftlicher Informationen an sensiblen Forschungsprojekten im westlichen Ausland mitwirken und sich auf diesem Wege das Know-how zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und Raketen verschaffen: Eine wissenschaftliche Einrichtung in Baden-Württemberg, die sich auch mit Oberflächenbeschichtung und Nanotechnologie befasst, 253 wurde von einem iranischen Forschungsinstitut um Unterstützung gebeten. Wissenschaftler und Studenten aus dem Iran sollten umfassende Einblicke in die Technologien erhalten, um mit dem erworbenen Wissen anschließend die Fahrzeugindustrie ihres Heimatlandes voranbringen zu können. Da dieses Know-how jedoch sehr viel mehr für die Reichweitensteigerung von Raketen von Bedeutung ist als für die Kfz-Branche, wurde das Ersuchen abschlägig beschieden. 2.1.2 Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) Zur Stützung seines diktatorischen Regimes unterhält das vom übrigen Weltgeschehen auch heute noch weitgehend abgeschottete kleine Land mit mehr als 1,1 Millionen aktiven Soldaten und rund 4,7 Millionen Reservisten eine der weltweit größten Armeen. Weitere wichtige Garanten des herrschenden Systems sind die sechs Nachrichtenund Sicherheitsdienste, die allesamt dem Staatsund Parteichef Kim Jong-il direkt unterstellt sind. Dabei ist an erster Stelle das für die politische Inlandsund Auslandsaufklärung zuständige "Ministerium für Staatssicherheit" zu nennen. In seiner Machtfülle ist es allenfalls mit dem ehemaligen sowjetischen KGB409 zu vergleichen. Es leben nur wenige nordkoreanische Staatsbürger in Deutschland und das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern belief sich 2005 auf lediglich 75 Millionen Euro. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es nicht einfach, proliferationsrelevante Geschäfte zu kaschieren. Gleichwohl ist Nordkorea sehr stark an westlicher Technologie interessiert, um damit sein gewaltiges Arsenal an Massenvernichtungswaffen weiter aufzurüsten. Beschaffungsaktivitäten - die sich gelegentlich auch auf Baden-Württemberg erstrecken - gehen zumeist von den Legalresidenturen410 der nordkoreanischen Geheimdienste an der Berliner Botschaft aus. Die Abwicklung entsprechender Geschäfte vollzieht sich regelmäßig über Drittländer wie zum Beispiel China oder Singapur. Dort ansässige nordkoreanische Tarnfirmen fungieren als angebliche Endverbraucher. Die Entwicklung in Nordkorea ist darüber hinaus unter dem Aspekt der Nordkoreas Rolle horizontalen Proliferation von höchster Brisanz. Als regelmäßige Abnehmer bei der horizontanordkoreanischer Rüstungstechnologie sind bisher Länder wie Jemen, Iran, len Proliferation Libyen, Pakistan und Syrien aufgefallen. Letztlich erscheint auch die Weiter409 "Komitet Gosudarstwennoj Besopasnosti" ("Komitee für Staatssicherheit"). 410 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet. 254 Spionageabwehr gabe proliferationsrelevanten Materials oder Know-hows an Terrororganisationen nicht völlig ausgeschlossen. 2.2 Wirtschafts-/Wissenschaftsspionage Angesichts eines knallharten globalen Konkurrenzkampfes - manche Experten sprechen sogar von einem "Wirtschaftskrieg" - werden von einigen Staaten Informationen aus Wirtschaft und Wissenschaft auch unter Einsatz ihrer Nachrichtendienste beschafft. Damit sind ganz unterschiedliche "Vorteile" verbunden wie: Stärkung der nationalen Volkswirtschaft und Verbesserung der eigenen Forschungspotenziale durch Zeitund Kostenersparnis sowie "Vorteile" der Vermeidung von Fehlentwicklungen, InformationsgeAnalyse des Standes der Technik (Schlüsseltechnologien, rüstungswinnung durch relevante Bereiche), NachrichtenBenchmarking hinsichtlich Wirtschaftskraft, Zielen und Strategien dienste sowie Beeinflussung von Marktchancen und -risiken. In der Gesamtschau können diese Faktoren eine massive Wettbewerbsverzerrung bewirken. Die Ausspähungsbemühungen fremder Staaten konzentrierten sich in den letzten Jahren auf die Bereiche Informationsund Kommunikationstechnik, Elektronik, Luftund Raumfahrt, Verkehrstechnik, Werkund Verbundstoffe, Produktionstechnik, Biotechnik, Nanotechnologie, Energieund Umwelttechnik sowie auf den Maschinenund Fahrzeugbau. Betroffen sind nicht nur große Firmen, sondern in beträchtlichem Ausmaß besonders innovative kleine und mittlere Unternehmen, die oft nicht über geeignete Sicherheitsvorkehrungen verfügen, um sich gegen den Diebstahl ihres Know-hows erfolgreich zur Wehr setzen zu können. Die Wissenschaftsspionage ist seit jeher eine beliebte Methode, um in einem möglichst frühen Entwicklungsstadium an Informationen und Knowhow zu gelangen. Bei der Ausspähung wird nicht selten die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Wissenschaft bewusst missbraucht. Mehrere aktuelle Vorfälle in wissenschaftlichen Einrichtungen unterstreichen die Aussage. Das LfV weist immer wieder auf diese Gefahren hin, weil darunter langfrisGefahren der tig nicht nur die Kompetenz der betroffenen wissenschaftlichen Einrichtung Wirtschaftsleiden könnte, sondern durch das Ausbleiben von Rückflüssen aus der wirtspionage schaftlichen Umsetzung der häufig von staatlicher Seite finanzierten Forschungsergebnisse auch volkswirtschaftliche Nachteile zu befürchten sind. 255 2.2.1 Volksrepublik China China hat - auf dem Weg vom Schwellenland zur globalen Wirtschaftsmacht - ein immenses Interesse daran, gleichzeitig seinen Technologierückstand zu verringern und sich auf dem Weltmarkt optimal zu positionieren. Weil die Entwicklung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Potenziale aus eigener Kraft viel Geld kostet, gut ausgebildete Fachleute erfordert und zudem relaChinas Strategie tiv lange dauert, hat das Land eine umfassende, durchdachte Strategie zur zur Modernischnelleren und kostengünstigeren Modernisierung seiner Volkswirtschaft sierung seiner entwickelt, die auf den verschiedensten Ebenen konsequent umgesetzt wird Volkswirtschaft und auch den Einsatz von Nachrichtendiensten einschließt. Chinesische Aktivitäten nehmen momentan einen Großteil der Kapazitäten der Spionageabwehr in Anspruch. Trotz fortschreitender Entwicklung der Privatwirtschaft ist prinzipiell dann von staatlich gelenkter Spionage auszugehen, wenn wirtschaftspolitische und militärische Interessen im Vordergrund stehen. Projekte in strategisch bedeutsamen Entwicklungsbranchen unterliegen einem besonders hohen Risiko der nachrichtendienstlichen Unterwanderung. In Deutschland nutzen Mitarbeiter der chinesischen Nachrichtendienste Mitarbeiter der ihre Tarnung als Diplomaten in den amtlichen chinesischen Vertretungen chinesischen oder als Angehörige von Medienagenturen ihres Heimatlandes zur verdeckNachrichtenten Gewinnung von Informationen. Sie knüpfen Kontakte zu wissenschaftdienste tarnen lichen und politischen Einrichtungen, zu Wirtschaftsunternehmen, Stiftunsich z.B. als gen und zu staatlichen Stellen. Die Teilnahme an Messen oder anderen Diplomaten öffentlichen Veranstaltungen dient dem Kennenlernen interessanter Personen. Während früher eher "Amateurspione" die Szene prägten und nach dem "Staubsaugerprinzip" wahllos alle verfügbaren Informationen zusammengetragen haben, wird mittlerweile verstärkt auf gut ausgebildete "Kundschafter" gesetzt. Der zielorientierte Einsatz von bestimmten Studenten (im Wintersemester 2005/2006 waren an deutschen Hochschulen mehr als 27.000 chinesische Studenten immatrikuliert), Praktikanten, Doktoranden, Wissenschaftlern und Forschern an ausländischen Universitäten und Forschungseinrichtungen zum Zwecke der Informationsgewinnung wird schon seit Jahren erfolgreich praktiziert. Dieser Personenkreis reist häufig bereits mit einem fundierten Fachwissen nach Deutschland ein und wird innerhalb seines Fachbereichs bald als Kapazität anerkannt und respektiert. Bereits 256 Spionageabwehr Schüler mit hervorragenden Zeugnissen werden vom Nachrichtendienst auf ihre künftige Einsatzfähigkeit im Ausland überprüft und bei Eignung bis zu ihrer Rückkehr begleitet und gefördert. Deutsche Unternehmen, die in China investieren, setzen oft - wie von der chinesischen Seite gefordert - den neuesten Stand der Technik ein und wecken dadurch Begehrlichkeiten. Es zeigt sich immer wieder, dass geistiges Eigentum westlicher Unternehmen in der Volksrepublik China nur schwer zu verteidigen ist. Geschäftsreisende und Firmenrepräsentanten müssen stets damit rechnen, dass ihre Büros und Hotelzimmer observiert und durchsucht sowie Telefonund Internetverbindungen überwacht werden. Unternehmen machen immer wieder die Erfahrung, dass intern geführte Gespräche mit raffiniert angebrachten hochwertigen Abhöranlagen belauscht werden. Zudem besteht in China die Gefahr, nachrichtendienstlich Gefahr angesprochen zu werden. nachrichtenEinen willkommenen Anlass dienstlicher dazu bieten immer wieder tatAnsprachen sächliche oder provozierte Gesetzesverstöße. Auch Spionage unter Handy-gesteuerte "Abhörwanze" einem "offiziellen" Vorwand kann (aufgefunden im Büro einer nicht ausgeschlossen werden: deutschen Firma in China) Die Niederlassung einer deutschen Firma in Shenzhen wurde von der örtlichen Polizeibehörde aufgefordert, eine Software auf ihrem Rechner zu installieren, die sämtliche Netzwerkaktivitäten (Internet, FTP) registriert und aufzeichnet. Diese Protokollierungen sollen als Beweismittel dienen, falls Angestellte der Firma verdächtigt werden sollten, rechtswidrige Internet-Aktivitäten zu entfalten. Es wurde eine Software empfohlen, die zu diesem Zweck von der chinesischen Sicherheitsbehörde zertifiziert wurde. Nach Aussage des Niederlassungsleiters handelt es sich um eine Art Feldversuch, der im Frühjahr 2006 in Shenzhen gestartet wurde und früher oder später auf ganz China ausgeweitet werden soll. Es wird befürchtet, dass entge257 gen entsprechenden Erklärungen der chinesischen Seite die Software mehr sensible Daten abgreifen könnte als offiziell beschrieben. Anfragen von Wirtschaftsvertretern an die Spionageabwehr mit Bezug zu China nahmen im Jahr 2006 deutlich zu. Bei Beratungsgesprächen wurde regelmäßig der Verlust von Know-how beklagt: Bei einem baden-württembergischen Entwickler für Halbleiterlösungen in der Kfz-Elektronik fiel ein chinesischer Mitarbeiter auf, weil er in einem persönlichen Ordner seines Arbeitsplatz-PCs firmeninterne Daten aus zukunftsträchtigen Bereichen abgelegt hatte, für die er keine Zugriffsberechtigung besaß. Die Überprüfung seiner Bewerbungsunterlagen ergab, dass er die Darstellung seines Werdegangs perfekt an das Anforderungsprofil des Unternehmens angepasst hatte. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass er bei der Bewerbung um seinen vorherigen Arbeitsplatz auf exakt die gleiche Art und Weise vorgegangen war, nur waren seinerzeit ganz andere Eigenschaften gefordert worden. Die Gesamtumstände dieses Falles sowie die weiteren Ermittlungsergebnisse lassen auf eine gezielte Steuerung durch chinesische Nachrichtendienste schließen. Ein chinesischer Wissenschaftler wirkte an einem Forschungsvorhaben im kerntechnischen Bereich mit. Kurz vor Abschluss des Projekts mussten seine Arbeitskollegen feststellen, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse in China bereits veröffentlicht worden waren. Ein wissenschaftliches Institut für Informationstechnik stellte einen chinesischen Studenten als Praktikanten ein. Trotz Verbots der Nutzung eigener IT-Geräte wurde bei einer Kontrolle des institutsinternen Netzes festgestellt, dass er vertrauliche Daten auf seinen privaten Laptop überspielt hatte. Bemerkenswert war die Reaktion der Forschungseinrichtung, die den Täter lediglich zur Einhaltung der internen Vorschriften anhielt und das regelwidrige Verhalten nicht weiter ahndete. Ein chinesischer Wissenschaftler bewarb sich um Mitarbeit im Forschungsbereich einer staatlichen Hochschule. Nach seiner Anstellung stellte sich heraus, dass er den wissenschaftlichen Vorlauf, den er bei seiner Bewerbung vorgegeben hatte, nicht besaß. Außerdem fiel er dadurch auf, dass er im Institut unberechtigt fotografierte und versuchte, an für ihn gesperrte Daten zu gelangen. Der Verdacht eines nachrichtendienstlichen Auftrags liegt nahe, da sein Aufent258 Spionageabwehr halt von chinesischen diplomatischen Einrichtungen im Bundesgebiet finanziert und eng begleitet wurde. Aufgabe der Spionageabwehr ist es, solchen Fällen nachzugehen, um betroffenen beziehungsweise gefährdeten Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen Gefahren und Risiken aufzuzeigen, sie bei internen Entscheidungsprozessen zu beraten und letztlich den Nachweis einer nachrichtendienstlichen Steuerung zu führen. 2.2.2 Russische Föderation Die Russische Föderation und die Bundesrepublik Deutschland unterhalAktivitäten gegen ten seit Jahren stabile wirtschaftliche und politische Beziehungen. UngeDeutschland und achtet dessen entwickeln die Nachrichtendienste Russlands nach wie vor andere Staaten umfangreiche Aktivitäten gegen Deutschland. Der Präsident der Russischen Föderation hat die russischen Sicherheitsdienste erneut gestärkt. Nach Medienberichten sieht ein Konzept zur Haushaltsund Steuerpolitik 2007 vor, die Ausgaben für die nationale Sicherheit um 23,1 Prozent gegenüber 2006 zu steigern. Der Militäretat soll um 24,6 Prozent erhöht werden. Wie schon in den vergangenen Jahren profitieren davon auch die Nachrichtendienste. Der zivile Auslandsnachrichtendienst SWR411 ist für die Auslandsaufklärung in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zuständig und wird von Armeegeneral Sergej LEBEDEW geleitet. Die Aufgaben des von Armeegeneral Walentin KORABELNIKOW geführten militärischen Auslandsnachrichtendienstes GRU412 sind heutzutage weitaus breiter gefächert als zu Zeiten der UdSSR. Neben klassischer Militärspionage erstrecken sich die Aktivitäten des GRU mittlerweile auch auf alle militärrelevanten zivilen Bereiche. Dies gilt vor allem für wissenschaftlich-technologische Informationen, die für militärische Zwecke nutzbar sind. Der zivile Inlandsnachrichtendienst FSB413 unter der Leitung von Armeegeneral Nikolaj PATRUSCHEW ist für die Spionageabwehr, die Beobachtung des politischen Extremismus sowie die Bekämpfung von Organisierter Kri411 "Slushba Wneschnej Raswedkij" ("Dienst für Ermittlungen im Ausland"). 412 "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije" ("Hauptverwaltung für Aufklärung" beim Generalstab der Streitkräfte). 413 "Federalnaja Slushba Besopasnosti" ("Föderaler Dienst für Sicherheit"). 259 minalität und Terrorismus zuständig. Unter dem Vorwand der Spionagebekämpfung versucht der FSB auch, Angehörige deutscher Firmen und Privatpersonen bei Aufenthalten in Russland nachrichtendienstlich anzubahnen und somit in anderen Zielbereichen Auslandsaufklärung zu betreiben. Bei seinen Abwehraktivitäten betreibt er eine intensive Kontrolle des Datenverkehrs, der in Russland über das Internet abgewickelt wird. Daher müssen auch deutsche Staatsangehörige bei Aufenthalten in Russland damit rechnen, bei der Nutzung des Internets oder des Telefons vom FSB überwacht zu werden. Gefahren durch Die größte Gefahr ging 2006 wiederum von den Legalresidenturen414 aus. Legalresidenturen Die verhältnismäßig hohe Präsenz der dort tätigen erkannten Geheimdienstangehörigen unterstreicht den besonderen Stellenwert, der Deutschland als Aufklärungsziel immer noch beigemessen wird. Anlässlich der Novellierung des Gesetzes "Über die Auslandsaufklärung" bestätigte ein Mitglied der Staatsduma und ehemaliger Angehöriger der Auslandsspionage, dass viele russische Nachrichtendienstmitarbeiter unter gesetzlicher Abtarnung als Diplomaten, Journalisten oder Geschäftsleute arbeiten und teilweise sogar formell andere Staatsangehörigkeiten annehmen würden. Geschützt durch die diplomatische Immunität ist es für russische Agenten ein Leichtes, mit interessant erscheinenden Zielpersonen unverfänglich in Kontakt zu treten, um von ihnen wichtige Informationen zu erlangen. Auf diese Weise wurde beispielsweise dem Mitarbeiter einer badenwürttembergischen High-Tech-Firma durch den Angehörigen eines russischen Nachrichtendienstes der Auftrag zur Beschaffung eines der Ausfuhrkontrolle unterliegenden Rüstungsgegenstandes erteilt. In einem weiteren Fall wurde der Mitarbeiter einer im süddeutschen Raum ansässigen Rüstungsfirma nach einem Messebesuch von einem Russen aufgesucht und für die Beschaffung entsprechender Firmeninterna gewonnen. Darunter befanden sich Skizzen und Beschreibungen von lasergesteuerten Waffen. Solche Fälle belegen, dass die Wirtschaftsspionage für die Staatsführung der Russischen Föderation nach wie vor hohe Priorität besitzt. Dabei geht es vorrangig um die Beschaffung von Informationen zu richtungweisenden Neuerungen im wissenschaftlich-technischen Bereich. 414 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet. 260 Spionageabwehr 3. Prävention Unter dem Begriff "Prävention" ist die Gesamtheit aller vorbeugenden MaßSchutz vor Gefährnahmen zu verstehen, die der Verfassungsschutz entweder aufgrund gesetzdungen und lichen Auftrags zu erfüllen hat oder aus Opportunitätsgründen heraus illegalem ergreifen kann, um Behörden, Wirtschaft und Wissenschaft vor GefährdunWissensabfluss gen und illegalem Wissensabfluss zu schützen. Präventionsmaßnahmen werden in zunehmendem Maße von der Wirtschaft eingefordert, und es wird ihnen ein immer größerer Stellenwert beigemessen. 3.1 Geheimund Sabotageschutz Der förmliche Geheimund Sabotageschutz ist ein wesentlicher Bestandteil der Prävention zum Schutz gegen die Ausforschung von Staatsgeheimnissen und zur Sicherheit lebensund verteidigungswichtiger Einrichtungen. Diese den Mitwirkungsaufgaben des Verfassungsschutzes zuzurechnenden Vorbeugungsmaßnahmen umfassen Sicherheitsüberprüfungen von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen tätig sind, technische und organisatorische Maßnahmen sowie die ständige Beratung und Betreuung behördlicher und wirtschaftlicher Einrichtungen. In Baden-Württemberg sind derzeit über 200 Firmen in das amtliche amtliches Geheimschutzverfahren einbezogen und rund 20 als lebensund verteidiGeheimschutzgungswichtig eingestuft. Sie werden vom LfV regelmäßig über Ausspähungsverfahren in versuche fremder Nachrichtendienste und die Bedrohung durch sicherheitsBadengefährdende Bestrebungen unterrichtet und entsprechend beraten. Württemberg 3.2 Beratung und Aufklärung von Wirtschaft und Wissenschaft Einen breiten Raum der präventiven Maßnahmen nimmt die Unterstützung der Forschungseinrichtungen und der nicht in das behördliche Geheimschutzverfahren einbezogenen baden-württembergischen Unternehmen bei der Erhaltung ihres technologischen Vorsprungs ein. Eine umfassende Palette praxisgerechter Maßnahmen - beispielsweise die Herausgabe von Informationsmaterial, Informationsund Beratungsgespräche sowie Unterstützung bei der Erstellung von Schutzkonzeptionen - bietet "Hilfe zur Selbsthilfe". Im Jahr 2006 ist die Nachfrage nach Beratungsleistungen und Vortragsveranstaltungen durch Mitarbeiter des Wirtschaftsschutzes signifikant gestiegen. Ziel des LfV ist es, mit seinen Beratungsund Serviceangeboten speziell die in Baden-Württemberg vorherrschenden kleinen und mittleren Betriebe zu 261 erreichen. Sie sind oftmals Vorreiter bei der Einführung neuer Technologien und verfügen vielfach nicht über ausreichende Sicherheitsstrukturen zum Schutz ihres Know-hows. Zu diesem Zweck wurden Unternehmen direkt kontaktiert oder über Wirtschaftsund Sicherheitsverbände sensibilisiert. In der Folge gingen beim LfV vermehrt Hinweise ein, die eine anhaltende Gefährdung durch Spionage belegen. Auf der Mobility & Business, der Messe für Geschäftsreisen, Fuhrpark und mobile Kommunikation im Mai 2006 in Stuttgart, informierte das LfV schwerpunktmäßig über die Sicherheit bei Geschäftsreisen ins Ausland. Dabei standen sowohl der Schutz der Reisenden selbst vor Ansprachen und Anwerbungsversuchen fremder Nachrichtendienste als auch die sichere Informationsund Datenübertragung im Mittelpunkt. Daneben wurden in einer messebegleitenden Seminarreihe die Themen Spionage und Wirtschaftsschutz eingehend beleuchtet. Die Spionageabwehr beteiligte sich auch an einem gemeinsamen Stand der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bei der Essener Sicherheitsmesse SECURITY 2006 zum Themenkomplex Wirtschaftsspionage. In vielen Gesprächen wurden Fragen zur IT-Sicherheit und zum Informationsschutz erörtert und mehrere Verdachtshinweise entgegengenommen. 3.3 Sicherheitsdefizite bei mobilen Geräten und Anwendungen Ein Schwerpunkt der IT-Sicherheit liegt auf der Sicherung mobiler Geräte415 und Anwendungen, weil sowohl die Zahl mobiler Mitarbeiter in Wirtschaftsunternehmen als auch die Absatzzahlen der Hersteller solcher Gerästarke Zunahme te kontinuierlich steigen. Mitarbeiter sollen weltweit und permanent mobiler Lösungen erreichbar sowie Unternehmensdaten unmittelbar verfügbar sein. Fast alle mobilen Endgeräte zeichnen sich dadurch aus, dass so genannte PIMDaten416 ortsunabhängig nutzbar sind, Anwendungen mit stationären Endgeräten synchronisiert und aktualisiert und fast generell via Funk oder Mobilfunk 417 Telekommunikationsdienstleistungen abgerufen und genutzt 415 Beispielsweise Laptops, Notebooks, Sub-Notebooks, Mobiltelefone, Smartphones, Personal Digital Assistants (PDAs), Palmtops, Handhelds, E-Mail-Messaging-Geräte, USB-Sticks, MP3-Player und Digitalkameras. 416 Personal Information Manager: Software, die persönliche Daten wie Kontakte, Aufgaben, Terminplanung, Notizen, ToDo-Listen und Dokumente (Briefe, Faxe, E-Mails) verwaltet und speichert. 417 Beispielsweise Global System for Mobile Communications (GSM), General Packet Radio Service (GPRS), Universal Mobile Telecommunications System (UMTS), Enhanced Data Rates for GSM Evolution (EDGE), Wireless Local Area Network (WLAN), Wireless Fidelity (WiFi) und Bluetooth. 262 Spionageabwehr werden können oder den direkten Zugriff auf das Unternehmensnetzwerk erlauben. Nach aktuellen Studienergebnissen des Marktforschungsunternehmens Forrester418 geben europäische Firmen 32 Prozent ihres Telekommunikationsund Vernetzungsbudgets für mobile Lösungen aus. Der mittlerweile starken Verbreitung und Nutzung mobiler Systeme steht ein hohes Risiko des Verlusts der Verfügbarkeit und der Vertraulichkeit der ständige Erreichdort gespeicherten Daten gegenüber. Die /Microsoft-Sicherheitsstudie barkeit versus 2006419 kommt hier zusammenfassend zum Ergebnis, dass die Sicherheit Vertraulichkeit mobiler Systeme als gering und deren Gefährdung als sehr hoch einzugespeicherter schätzen sei. Allein 27 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, sicher Daten zu sein, dass Unbefugte durch Verlust oder Diebstahl der Geräte Zugang zu schutzwürdigen Daten erhalten könnten. Fast die Hälfte der Befragten attestierte ihren mobilen Anwendungen allenfalls ein eben noch ausreichendes Sicherheitsniveau. Die in Unternehmensnetzwerken und -systemen heute gebräuchlichsten Sicherheitsmaßnahmen - wie zum Beispiel Virenschutz, Verschlüsselung und Firewalls - werden nur in sehr begrenztem Umfang zum Schutz mobiler Geräte genutzt, obwohl nach Expertenmeinung mehr als die Hälfte der unternehmenskritischen und sensiblen Daten (auch) auf Mobilgeräten gespeichert sind.420 Regelmäßige Sicherungen der mobilen Datenbestände sind dabei eher die Ausnahme. Inzwischen setzen Unternehmen zwar fast standardmäßig Passwort-/ PIN-Verfahren421 zum Schutz der gespeicherten Daten ein, allerdings unterbleiben sowohl die Integration der mobilen Endgeräte in umfassende strategische Konzepte als auch die Absicherung drahtloser Datenübertragungsverfahren.422 Gleichzeitig steigt die Zahl der Schadprogramme, die von Hackern gezielt für Angriffe auf Mobilsysteme genutzt werden können, rapide an.423 Nach den Erfahrungen des LfV steht das Verhalten mobiler Mitarbeiter teilweise in krassem Widerspruch zu ihrem Wissen. Wie eine aktuelle Studie des Netzwerkausrüsters Cisco Systems424 belegt, kennen diese Mitarbeiter 418 Forrester "The State of European Enterprise Mobility in 2006"; 13. Oktober 2006, URL: http://www.forrester.com/Research/Document/Excerpt/0,7211,39877,00.html. 419 Lagebericht zur Informationssicherheit: Teil 1 in 2006#4, S. 24ff.; Teil 2 in 2006#5, S. 40ff.; Teil 3 in 2006#6, S. 48ff. 420 Portal All About Security: "Mobile Endgeräte bedrohen die IT-Sicherheit", 31. Oktober 2006, URL: http://www.all-about-security.de/artikel+M5aed5627f9f.html. 421 Studie Coleman Parkers Research/Avanade: "Mobile technology in the enterprise: the mobile world at work", 30. Mai 2006, URL: Symantec-Studie zur mobilen Sicherheit, April 2006, URL: http://www.avanade.com/uk/_uploaded/pdf/wpaperthemobileworldatworkresearch515273.pdf. 422 Symantec-Studie zur mobilen Sicherheit, April 2006, URL: http://www.symantec.com/content/en/us/ about/media/mobile-security_Full-Report.pdf. 423 Symantec Internet Security Threat Reports, URL: http://www.symantec.com/region/de/PressCenter/ Threat_Reports.html. 424 Cisco Systems-Studie zum Thema "Mobile Mitarbeiter", November 2006, URL: http://www.cisco.com/ global/DE/presse/meld_2006/11_08_2006-it-security-mobile-mitarbeiter.shtml. 263 sehr wohl die Risiken und sind auch über entsprechende Sicherheitsanforderungen informiert, setzen aber dennoch mobiles Firmen-Equipment privat ein, stellen es Dritten (Freunde, Bekannte, Kollegen, Familienangehörige) für den Privatgebrauch zur Verfügung, öffnen E-Mails unbekannter Absender und nutzen ungesicherte, drahtlose Verbindungen von Nachbarn oder installieren selbst ungeprüfte Software. Die wesentlichsten Gefährdungen und Risiken beim Einsatz mobiler Endgeräte sind: "Risikofaktor Mensch": Geräteund/oder Datenverluste durch IrrGefährdungen tum, Fahrlässigkeit, Nachlässigkeit, mangelndes Sicherheitsbewusstund Risiken beim sein und Vorsatz Einsatz mobiler Manipulation des Betriebssystems durch Viren, Würmer und TrojaEndgeräte ner Hardware-/Datenverlust durch Diebstahl oder Nachlässigkeit Mangelhafte Authentisierung der Nutzer der Endgeräte (Verzicht auf Passwort-/PIN-Verfahren, keine Aktivierung vorhandener Sicherheitsfunktionalitäten) Fehlende Rechteverwaltung auf den Endgeräten Keine Verschlüsselung der Daten Abhörrisiko bei Nutzung ungeschützter drahtloser Übertragungsverfahren Hacking-Angriffe über ungeschützte drahtlose Übertragungsverfahren Fehlendes "Patchmanagement"425, um erkannte Software-Schwachstellen zu schließen Datenverluste durch unterbliebene oder mangelhafte Datensicherung Gefährdung des Firmennetzwerks durch Anschluss "verseuchter" Mobilgeräte. Aus Sicht des LfV sind deshalb organisatorische und technische Schutzmaßnahmen beim Einsatz mobiler Systeme unabdingbar. Ein Verzicht auf entsprechende Sicherheitsvorkehrungen führt im Zweifel nicht nur zum Verlust der Geräte und Daten selbst, sondern auch zu einer erheblichen 425 Patchmanagement ist das strukturierte, schnelle und weitestgehend automatische Schließen erkannter Schwachstellen in Betriebssystemen und Anwendungssoftware auf Rechnern (PC, Server etc.) in komplexen und heterogen IT-Systemlandschaften durch Administratoren oder Sicherheitsverantwortliche. 264 Spionageabwehr Gefährdung der Firmennetzwerke und der dort gespeicherten Informationen. Dass dabei in der Folge auch beträchtliche finanzielle Schäden entstehen können, veranschaulicht eine Studie der amerikanischen Beratungsund Forschungseinrichtung Ponemon Institute.426 Danach bergen mobile Geräte das größte Risiko für Datenverluste und damit verbundene finanzielle Einbußen in sich. In 45 Prozent der untersuchten Fälle seien gestohlene oder verlorene Mobilgeräte und mobile Datenträger für den entstandenen Schaden direkt verantwortlich. Um solche Schäden erst gar nicht entGefahr hoher stehen zu lassen, beziehungsweise, um das eventuelle Schadensausmaß finanzieller drastisch zu reduzieren, empfiehlt das LfV die nachfolgenden SchutzvorSchäden kehrungen: Schulung und Sensibilisierung der mobilen Mitarbeiter beziehungsweise der Nutzer mobiler Endgeräte Erarbeitung entsprechender Richtlinien und Anweisungen sowie Integration in bestehende betriebliche Sicherheitskonzepte Verbot der privaten Nutzung der Firmengeräte/Verbot des Einsatzes privater Mobilgeräte zu dienstlichen Zwecken Aktivierung und Nutzung angebotener Sicherheitsfunktionalitäten der Geräte Einsatz von (mobilen) Virenscannern und Personal Firewalls Verschlüsselung der Speicher und/oder der Speicherinhalte Einsatz leistungsfähiger Authentifizierungsmechanismen (Zusatzsoftware) Verwendung "starker" 427 Passwörter/PIN und deren regelmäßige Änderung Absicherung/Verschlüsselung der Übertragungsverfahren Einführung eines regelmäßigen "Patchmanagements" für sicherheitsrelevante Updates Erarbeitung eines Datensicherungskonzepts für mobile Anwendungen Regelmäßige Prüfung der Sicherheitskonfiguration Schutz der Firmennetzwerke vor unautorisiertem Zugriff mobiler Endgeräte zum Beispiel durch Firewalls oder VPNs (Virtual Private Networks). Unabdingbare Voraussetzung für eine risikolose Nutzung mobiler Anwendungen und Geräte ist die Integration in ein ganzheitliches Informations426 Ponemon Institute: "2006 Annual Study: Cost of a Data Breach", Oktober 2006, URL u. a.: http:// www.vontu.com/offers/costofbreach.asp. 427 Starke Passwörter/PIN sind mindestens acht Zeichen lang, in zufälliger Reihenfolge alpha-numerisch aufgebaut, verwenden Großund Kleinbuchstaben sowie Sonderzeichen. 265 schutzkonzept, das die Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit der Daten und Systeme gewährleistet. Ergänzend ist bei der Aussonderung oder dem Verkauf mobiler Geräte darauf zu achten, dass sensible Daten aus dem Speicher entfernt werden, damit sie nicht in die Hände Unbefugter gelangen können. 3.4 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - die Wirtschaft schützt ihr Wissen Das 1999 unter Beteiligung des Landesamts für Verfassungsschutz gegründete Sicherheitsforum Baden-Württemberg hat sich zu einem wichtigen SicherheitsSicherheitsinstrument vor allem für die mittelständische Wirtschaft entwiinstrument für ckelt. Es soll dazu beitragen, dass die Unternehmen neben den Gefahren mittelständische des Terrorismus alltäglichere Geschäftsrisiken wie den Verlust des eigenen Unternehmen Know-hows oder die Computerkriminalität nicht vernachlässigen. Die Mitglieder des Forums legen bei regelmäßigen Sitzungen die zukünftigen Aktivitäten mit der Zielsetzung fest, die Scharnierfunktion zwischen Politik und Wirtschaft weiter auszubauen und vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen mit aktuellen Sicherheitsfragen vertraut zu machen. So wurde im Oktober 2006 in Mannheim eine Vortragsreihe zu Aspekten der Unternehmenssicherheit gestartet, die zukünftig auf alle Regionen Baden-Württembergs ausgedehnt werden soll. Für 2007 ist die Vergabe eines Sicherheitspreises geplant. Die Internetseite des Sicherheitsforums428 informiert über eine breite Palette von Sicherheitsthemen und ermöglicht den Zugriff auf eine Auswahl aktueller Informationen aus unterschiedlichen Quellen ("Quick Infos"). 4. Erreichbarkeit der Spionageabwehr/Weitere Informationen Wenn Sie Hinweise oder Anregungen geben wollen beziehungsweise weitere Informationen wünschen, so können Sie die Spionageabwehr wie folgt erreichen: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg - Abteilung 4 - Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart 428 URL: http://www.sicherheitsforum-bw.de. 266 Spionageabwehr Telefon 0711 - 95 44 301 Telefax 0711 - 95 44 444 Über ein Vertrauliches Telefon können Sie der Spionageabwehr unter 0711 - 954 76 26 (Telefon) und 0711 - 954 76 27 (Telefax) rund um die Uhr Informationen - auch anonym - übermitteln. Selbstverständlich werden Ihre Hinweise auf Wunsch vertraulich behandelt. Aktuelle Informationen zum Thema Spionageabwehr erhalten Sie auch im Internet: Hier finden Sie auch die Ende 2006 gemeinsam mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz erstellte Broschüre "Wirtschaftsspionage in Baden-Württemberg und Bayern - Daten - Fakten - Hintergründe" zum Herunterladen. Sie wurde im Januar 2007 herausgegeben. Darüber hinaus wird noch die Broschüre "Know-how-Schutz - Handlungsempfehlungen für die gewerbliche Wirtschaft" (2004) angeboten. Beide Broschüren können beim LfV auch kostenlos bestellt werden. 267 G ESETZ ÜBER DEN V ERFASSUNGSSCHUTZ IN B ADEN -W ÜRTTEMBERG (L ANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ - LVSG) VOM 5. D EZEMBER 2005 SS 1 nung, den Bestand und die Sicherheit der Zweck des Verfassungsschutzes Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder frühzeitig zu erkennen und den Der Verfassungsschutz dient dem Schutz zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese der freiheitlichen demokratischen GrundGefahren abzuwehren. ordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben samund ihrer Länder. melt das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen, insbesondere sachund SS 2 personenbezogene Auskünfte, NachrichOrganisation, Zuständigkeit ten und Unterlagen von Organisationen und Personen über (1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben 1. Bestrebungen, die gegen die freides Verfassungsschutzes unterhält das heitliche demokratische Grundordnung, Land ein Landesamt für Verfassungsden Bestand oder die Sicherheit des Bunschutz. Das Amt hat seinen Sitz in Stuttdes oder eines Landes gerichtet sind oder gart und untersteht dem Innenministeeine ungesetzliche Beeinträchtigung der rium. Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eine Landes oder ihrer Mit(2) Verfassungsschutzbehörden anderer glieder zum Ziele haben, Länder dürfen im Geltungsbereich dieses 2. sicherheitsgefährdende oder geGesetzes nur im Einvernehmen mit dem heimdienstliche Tätigkeiten im GeltungsLandesamt für Verfassungsschutz tätig bereich des Grundgesetzes für eine fremwerden. de Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich (3) Das Landesamt für Verfassungsdes Grundgesetzes, die durch die Anwenschutz darf einer Polizeidienststelle nicht dung von Gewalt oder darauf gerichtete angegliedert werden. Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland SS 3 gefährden, Aufgaben des Landesamtes für Verfas4. Bestrebungen im Geltungsbereich sungsschutz, Voraussetzungen für die dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken Mitwirkung an Überprüfungsverfahren der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen (1) Das Landesamt für Verfassungsdas friedliche Zusammenleben der Völker schutz hat die Aufgabe, Gefahren für die (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), freiheitliche demokratische Grundordgerichtet sind, 268 Anhang und wertet sie aus. Sammlung und Aus7. bei der Überprüfung der Zuverläswertung von Informationen nach Satz 1 sigkeit von Personen nach dem Waffen-, setzen im Einzelfall voraus, dass für Sprengstoffund Jagdrecht, Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Satz 8. bei der Überprüfung der Zuverläs- 1 tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. sigkeit von Personen nach SS 12 b des Atomgesetzes, (3) Das Landesamt für Verfassungs9. bei der sicherheitsmäßigen Überschutz wirkt mit prüfung von Personen, die zu sicherheits1. bei der Sicherheitsüberprüfung von empfindlichen Bereichen von Flughäfen Personen, denen im öffentlichen Interesse Zutritt haben, nach SS 29 c des Luftvergeheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gekehrsgesetzes, genstände oder Erkenntnisse anvertraut 10. bei sonstigen Überprüfungen, werden, die Zugang dazu erhalten sollen soweit dies im Einzelfall zum Schutz der oder ihn sich verschaffen können, freiheitlichen demokratischen Grundord2. bei der Sicherheitsüberprüfung von nung oder für Zwecke der öffentlichen Personen, die an sicherheitsempfindSicherheit erforderlich ist. Näheres wird lichen Stellen von lebensoder verteididurch Verwaltungsvorschrift des Innenmigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt nisteriums bestimmt. sind oder werden sollen, Die Mitwirkung des Landesamtes für Ver3. bei technischen oder organisatorifassungsschutz nach Satz 1 erfolgt in der schen Sicherheitsmaßnahmen zum SchutWeise, dass es eigenes Wissen oder ze von im öffentlichen Interesse geheimbereits vorhandenes Wissen der für die haltungsbedürftigen Tatsachen, GegenÜberprüfung zuständigen Behörde oder ständen oder Erkenntnissen gegen die sonstiger öffentlicher Stellen auswertet. In Kenntnisnahme durch Unbefugte sowie den Fällen des Satzes 1 Nummern 1 und bei Maßnahmen des vorbeugenden Sabo- 2 führt das Landesamt für Verfassungstageschutzes, schutz weitergehende Ermittlungen 4. auf Anforderungen der Einsteldurch, wenn die für die Überprüfung lungsbehörde bei der Überprüfung von zuständige Behörde dies beantragt. Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, sowie auf (4) Die Mitwirkung des Landesamtes Anforderung der Beschäftigungsbehörde für Verfassungsschutz nach Absatz 3 setzt bei der Überprüfung von Beschäftigten im Einzelfall voraus, dass der Betroffene im öffentlichen Dienst, bei denen der auf und andere in die Überprüfung einbezoTatsachen beruhende Verdacht besteht, gene Personen über Zweck und Verfahren dass sie gegen die Pflicht zur Verfassungsder Überprüfung einschließlich der Verartreue verstoßen, beitung der erhobenen Daten durch die 5. bei der sicherheitsmäßigen Überbeteiligten Dienststellen unterrichtet prüfung von Einbürgerungsbewerbern, werden. Darüber hinaus ist im Falle der 6. bei der sicherheitsmäßigen ÜberEinbeziehung anderer Personen in die prüfung von Ausländern im Rahmen der Überprüfung deren Einwilligung und im Bestimmungen des Ausländerrechts, Falle weitergehender Ermittlungen nach 269 Absatz 3 Satz 3 die Einwilligung des deln, sind Bestrebungen im Sinne dieses Betroffenen erforderlich. Die Sätze 1 und Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von 2 gelten nur, soweit gesetzlich nichts Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer anderes bestimmt ist. Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschäSS 4 digen. Begriffsbestimmungen (2) Zur freiheitlichen demokratischen (1) Im Sinne des Gesetzes sind Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes 1. Bestrebungen gegen den Bestand zählen: des Bundes oder eines Landes solche 1. das Recht des Volkes, die Staatsgepolitisch bestimmten, zielund zweckgewalt in Wahlen und Abstimmungen und richteten Verhaltensweisen in einem oder durch besondere Organe der Gesetzgefür einen Personenzusammenschluss, der bung, der vollziehenden Gewalt und der darauf gerichtet ist, die Freiheit des BunRechtsprechung auszuüben und die des oder eines Landes von fremder HerrVolksvertretung in allgemeiner unmittelschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit barer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes zu wählen, Gebiet abzutrennen; 2. die Bindung der Gesetzgebung an 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit die verfassungsmäßige Ordnung und die des Bundes oder eines Landes solche Bindung der vollziehenden Gewalt und politisch bestimmten, zielund zweckgeder Rechtsprechung an Gesetz und Recht, richteten Verhaltensweisen in einem oder 3. das Recht auf Bildung und Ausfür einen Personenzusammenschluss, der übung einer parlamentarischen Opposidarauf gerichtet ist, den Bund, Ländern tion, oder deren Einrichtungen in ihrer Funk4. die Ablösbarkeit der Regierung und tionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtiihre Verantwortlichkeit gegenüber der gen; Volksvertretung, 3. Bestrebungen gegen die freiheitli5. die Unabhängigkeit der Gerichte, che demokratische Grundordnung solche 6. der Ausschluss jeder Gewaltund politisch bestimmten, zielund zweckgeWillkürherrschaft und richteten Verhaltensweisen in einem oder 7. die im Grundgesetz konkretisierten für einen Personenzusammenschluss, der Menschenrechte. darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beSS 5 seitigen oder außer Geltung zu setzen. Befugnisse des Für einen Personenzusammenschluss Landesamtes für Verfassungsschutz handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen aktiv sowie zielund zweckgerichtet (1) Das Landesamt für Verfassungsunterstützt. Verhaltensweisen von Einzelschutz kann die zur Erfüllung seiner Aufpersonen, die nicht in einem oder für gaben nach SS 3 erforderlichen Informatioeinen Personenzusammenschluss hannen verarbeiten. Soweit dieses Gesetz 270 Anhang keine Regelungen trifft, richtet sich die SS 5a Verarbeitung personenbezogener Daten Einholen von Auskünften nach den Vorschriften des Landesdatenbei nicht-öffentlichen Stellen schutzgesetzes mit Ausnahme der SSSS 8 und 13 Abs. 2 bis 4 sowie SSSS 14 bis 24 des (1) Wenn es zur Erfüllung seiner AufgaLandesdatenschutzgesetzes. ben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 erforderlich ist und tatsächliche Anhalts(2) Werden personenbezogene Daten punkte für schwerwiegende Gefahren für beim Betroffenen mit seiner Kenntnis die dort genannten Schutzgüter vorliegen, erhoben, so ist der Erhebungszweck anzudarf das Landesamt für Verfassungsschutz geben. Der Betroffene ist auf die Freiwilim Einzelfall unentgeltlich Auskünfte zu ligkeit seiner Angaben und bei einer 1. Konten, Konteninhabern und sonsSicherheitsüberprüfung nach SS 3 Abs. 3 tigen Berechtigten sowie weiteren am auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder Zahlungsverkehr Beteiligten und zu sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht Geldbewegungen und Geldanlagen bei hinzuweisen. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, (3) Polizeiliche Befugnisse oder Wei2. Namen, Anschriften und zur Inansungsbefugnisse stehen dem Landesamt spruchnahme von Transportleistungen für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die und sonstigen Umständen des LuftPolizei auch nicht im Wege der Amtshilfe verkehrs bei Luftfahrtunternehmen um Maßnahmen ersuchen, zu denen es einholen. selbst nicht befugt ist. Abweichend hier(2) Das Landesamt für Verfassungsvon ist es jedoch berechtigt, die Polizei in schutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seieilbedürftigen Fällen außerhalb der reguner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 lären Dienstzeiten des Kraftfahrtbundesbis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 amtes um eine Abfrage aus dem FahrAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes vom zeugregister beim Kraftfahrtbundesamt 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, ber. im automatisierten Verfahren zu ersuS. 2298) bei Personen und Unternehmen, chen. die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen, sowie bei denjenigen, die an (4) Von mehreren geeigneten Maßnahder Erbringung dieser Dienstleistungen men hat das Landesamt für Verfassungsmitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu schutz diejenige zu wählen, die den Namen, Anschriften, Postfächern und Betroffenen voraussichtlich am wenigsten sonstigen Umständen des Postverkehrs beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keieinholen. nen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten (3) Das Landesamt für VerfassungsErfolg steht. schutz darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 271 bis 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 scheidung auch bereits vor der UnterrichAbs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei denjetung der Kommission anordnen; in dienigen, die geschäftsmäßig Telekommunisem Fall ist die Kommission unverzüglich kationsdienste und Teledienste erbringen zu unterrichten. Die Kommission prüft oder daran mitwirken, unentgeltlich Ausvon Amts wegen oder aufgrund von künfte über TelekommunikationsverbinBeschwerden die Zulässigkeit und Notdungsdaten und Teledienstenutzungsdawendigkeit der Einholung von Auskünften einholen. Die Auskunft kann auch in ten nach den Absätzen 1 bis 3. SS 15 Abs. 5 Bezug auf zukünftige Telekommunikation des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßund zukünftige Nutzung von Telediengabe entsprechend anzuwenden, dass die sten verlangt werden. TelekommunikaKontrollbefugnis der Kommission sich tionsverbindungsdaten und Telediensteauf die gesamte Erhebung, Verarbeitung nutzungsdaten sind: und Nutzung der nach den Absätzen 1 bis 1. Berechtigungskennungen, Karten- 3 erlangten Informationen und personennummern, Standortkennungen sowie Rufbezogenen Daten erstreckt. Entscheidunnummer oder Kennung des anrufenden gen über Auskünfte, die die Kommission und angerufenen Anschlusses oder der für unzulässig oder nicht notwendig Endeinrichtung, erklärt, hat das Innenministerium unver2. Beginn und Ende der Verbindung züglich aufzuheben. nach Datum und Uhrzeit, 3. Angaben über die Art der vom (6) Für die Verarbeitung der nach den Kunden in Anspruch genommenen TeleAbsätzen 1 bis 3 erhobenen Daten ist SS 4 kommunikationsund Teledienst-Dienstdes Artikel 10-Gesetzes entsprechend leistungen, anzuwenden. 4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr Beginn und ihr Ende nach (7) Das Auskunftsersuchen und die Datum und Uhrzeit. übermittelten Daten dürfen dem Betroffenen oder Dritten vom Auskunftsgeber (4) Auskünfte nach den Absätzen 1 bis nicht mitgeteilt werden. 3 dürfen nur auf Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist durch den Leiter des Lan(8) Für die Mitteilung an den Betroffedesamtes für Verfassungsschutz oder seinen findet SS 12 Abs. 1 und 3 des Artikel nen Vertreter schriftlich zu stellen und zu 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. begründen. Über den Antrag entscheidet das Innenministerium. (9) Das Innenministerium unterrichtet im Abstand von höchstens sechs Monaten 5) Das Innenministerium unterrichtet das Gremium nach SS 2 Abs. 1 des Ausdie Kommission nach SS 2 Abs. 2 des Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz führungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen über die beschiedenen Anträge vor deren nach den Absätzen 1 bis 3. Dabei ist insVollzug. Bei Gefahr in Verzug kann das besondere ein Überblick über Anlass, Innenministerium den Vollzug der EntUmfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeführten Maß272 nahmen zu geben. Anhang (10) Das Innenministerium unterrichtet (3) Das in einer Wohnung nicht öffentdas Parlamentarische Kontrollgremium lich gesprochene Wort darf mit technides Bundes jährlich über die nach den schen Mitteln nur dann heimlich mitgeAbsätzen 1 bis 3 durchgeführten Maßnahhört oder aufgezeichnet werden, wenn es men. Absatz 9 Satz 2 gilt entsprechend. im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenSS 6 wärtigen Lebensgefahr für einzelne PersoErhebung personenbezogener Daten mit nen unerlässlich ist und geeignete polizeinachrichtendienstlichen Mitteln liche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. (1) Das Landesamt für VerfassungsSatz 1 gilt entsprechend für den verdeckschutz kann Methoden, Gegenstände und ten Einsatz technischer Mittel zur AnfertiInstrumente zur heimlichen Informationsgung von Bildaufnahmen und Bildaufbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen ensleuten und Gewährspersonen, Obsernach Satz 1 und 2 bedürfen der Anordvationen, Bildund Tonaufzeichnungen, nung durch das Amtsgericht, in dessen Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenBezirk sie durchgeführt werden sollen. den (nachrichtendienstliche Mittel). SS 31 Abs. 5 Satz 2 bis 4 des PolizeigesetDiese sind in einer Dienstvorschrift zu zes sind entsprechend anzuwenden. Bei benennen, die auch die Zuständigkeit für Gefahr im Verzug können die Maßnahdie Anordnung solcher Informationsbemen nach Satz 1 und 2 vom Leiter des schaffung regelt. Die Dienstvorschrift Landesamtes für Verfassungsschutz angebedarf der Zustimmung des Innenminisordnet werden; diese Anordnung bedarf teriums, das den Ständigen Ausschuss des der Bestätigung durch das Amtsgericht. Landtags unterrichtet. Sie ist unverzüglich herbeizuführen. Einer Anordnung durch das Amtsgericht bedarf (2) Das Landesamt für Verfassungses nicht, wenn technische Mittel ausschutz kann personenbezogene Daten schließlich zum Schutz der bei einem Einund sonstige Informationen mit nachrichsatz in Wohnungen tätigen Personen vortendienstlichen Mitteln erheben, wenn gesehen sind; die Maßnahme ist in diesem tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanFall durch den Leiter des Landesamtes für den sind, dass Verfassungsschutz anzuordnen. Eine 1. auf diese Weise Erkenntnisse über anderweitige Verwertung der hierbei Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 erlangten Erkenntnisse zum Zweck der Abs. 2 oder die zur Erforschung solcher Gefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn Erkenntnisse erforderlichen Quellen gezuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme wonnen werden können oder durch das Amtsgericht festgestellt worden 2. dies zur Abschirmung der Mitarbeiist; bei Gefahr im Verzug ist die richterliter, Einrichtungen, Gegenstände und che Entscheidung unverzüglich nachzuQuellen des Landesamtes für Verfassungsholen. Die Landesregierung unterrichtet schutz gegen sicherheitsgefährdende oder den Landtag jährlich über den nach diegeheimdienstliche Tätigkeiten erfordersem Absatz erfolgten Einsatz technischer lich ist. 273 Mittel. Die parlamentarische Kontrolle nen durch Auskunft nach SS 9 Abs. 3 wird auf der Grundlage dieses Berichtes gewonnen werden können. Die Anwendurch das Gremium nach Artikel 10 des dung des nachrichtendienstlichen Mittels Grundgesetzes ausgeübt. darf nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachver(4) Das Landesamt für Verfassungshalts stehen. Die Maßnahme ist unverzügschutz darf zur Erfüllung seiner Aufgaben lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, sofern die ist oder sich Anhaltspunkte dafür ergedort genannten Bestrebungen durch ben, dass er nicht oder nicht auf diese Anwendung von Gewalt oder darauf ausWeise erreicht werden kann. gerichtete Vorbereitungshandlungen verfolgt werden, sowie zur Erfüllung seiner (6) Bei Erhebungen nach den Absätzen Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 3 und 4 und solchen nach Absatz 2, die in 4 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. ihrer Art und Schwere einer Beschrän- 1 des Artikel 10-Gesetzes auch technische kung des Brief-, Postund FernmeldegeMittel zur Ermittlung des Standortes heimnisses (Artikel 10 des Grundgeseteines aktiv geschalteten Mobilfunkgerätes zes) gleichkommen, ist der Eingriff nach und zur Ermittlung der Geräteund Karseiner Beendigung der betroffenen Person tennummern einsetzen. Die Maßnahme mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des ist nur zulässig, wenn ohne die Ermittlung Zweckes der Maßnahme ausgeschlossen die Erreichung des Zwecks der Überwawerden kann. SS 12 des Artikel 10-Gesetzes chungsmaßnahme aussichtslos oder gilt entsprechend. Die durch solche Maßwesentlich erschwert wäre. Für die Verargabe erhobenen Informationen dürfen beitung der Daten gilt SS 4 des Artikel 10nur nach Maßgabe von SS 4 des Artikel 10Gesetzes entsprechend. PersonenbezogeGesetzes verwendet werden. SS 2 Abs. 1 ne Daten eines Dritten dürfen anlässlich des Ausführungsgesetzes zum Artikel 10solcher Maßnahmen nur erhoben werden, Gesetz findet entsprechende Anwendung. wenn dies aus technischen Gründen zur Erreichung des Zwecks nach Satz 1 unver(7) Die Befugnisse des Landesamtes für meidbar ist. Sie unterliegen einem absoluVerfassungsschutz nach dem Artikel 10 ten Verwertungsverbot und sind nach Gesetz bleiben unberührt. Beendigung der Maßnahme unverzüglich zu löschen. SS 5a Abs. 4 bis 9 gilt entspreSS 7 chend. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten (5) Die Erhebung nach den Vorschriften der Absätze 2 bis 4 ist unzulässig, (1) Das Landesamt für Verfassungswenn die Erforschung des Sachverhalts schutz kann zur Erfüllung seiner Aufgaauf andere, den Betroffenen weniger ben personenbezogene Daten speichern, beeinträchtigende Weise möglich ist; eine verändern und nutzen, wenn geringere Beeinträchtigung ist in der 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Regel anzunehmen, wenn die InformatioBestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 Abs. 2 vorliegen, 274 Anhang 2. dies für die Erforschung und Bewerstehende Maßnahmen gegenüber Betung von Bestrebungen oder Tätigkeiten diensteten genutzt werden. nach SS 3 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt für VerfassungsSS 8 schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener (2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 3 Daten von Minderjährigen Abs. 3 dürfen vorbehaltlich des Satzes 2 in automatisierten Dateien nur Daten über (1) Das Landesamt für Verfassungsdie Personen gespeichert werden, die der schutz darf unter den Voraussetzungen Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder des SS 7 personenbezogene Daten über in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen Minderjährige, die das 14. Lebensjahr werden. Zur Erledigung von Aufgaben noch nicht vollendet haben, in zu ihrer nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 dürfen in Person geführten Akten nur speichern, automatisierten Dateien nur Daten solverändern und nutzen, wenn tatsächliche cher Personen erfasst werden, über die Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der bereits Erkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 vorMinderjährige eine der in SS 3 Abs. 1 des liegen. Bei der Speicherung in Dateien Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten muss erkennbar sein, welcher der in SS 3 plant, begeht oder begangen hat. In Abs. 2 und 3 genannten Personengruppen Dateien ist eine Speicherung von Daten der Betroffene zuzuordnen ist. Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht zuläs(3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und sig. Absatz 2 gespeicherten personenbezogenen Daten dürfen nur für die dort (2) Sind Daten über Minderjährige in genannten Zwecke sowie für Zwecke verDateien oder in Akten, die zu ihrer Perwendet werden, die für die Wahrnehson geführt werden, gespeichert, ist nach mung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 erforzwei Jahren die Erforderlichkeit der Speiderlich sind. cherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren die Löschung vorzuneh(4) Das Landesamt für Verfassungsmen, es sei denn, dass nach Eintritt der schutz hat die Speicherungsdauer auf das Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach für seine Aufgabenerfüllung erforderliche SS 3 Abs. 2 angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, Maß zu beschränken. wenn das Landesamt für Verfassungsschutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. (5) Personenbezogene Daten, die ausschließlich zu Zwecken der DatenschutzSS 9 kontrolle, der Datensicherung oder zur Übermittlung personenbezogener Daten Sicherstellung eines ordnungsgemäßen an das Landesamt für Verfassungsschutz Betriebs einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese (1) Die Behörden des Landes und die lanZwecke und hiermit in Zusammenhang desunmittelbaren juristischen Personen 275 des öffentlichen Rechts sowie die Gerichbegründen, soweit dies dem Schutz des te des Landes, die Staatsanwaltschaften Betroffenen dient oder eine Begründung und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftden Zweck der Maßnahme gefährden lichen Sachleitungsbefugnis, die Polizeiwürde. Die Ersuchen sind aktenkundig zu dienststellen übermitteln von sich aus machen. dem Landesamt für Verfassungsschutz die ihnen bekannt gewordenen personenbe(4) Das Landesamt für Verfassungsschutz zogenen Daten und sonstigen Informatiodarf Akten anderer öffentlicher Stellen nen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte und amtliche Register unter den Vorausdafür bestehen, dass diese Informationen setzungen des Absatzes 3 und vorbehaltzur Wahrnehmung von Aufgaben nach SS 3 lich der in SS 11 getroffenen Regelung einAbs. 2 erforderlich sind. sehen, soweit dies 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 3 (2) Soweit nicht schon bundesrechtlich Abs. 2 oder 3 oder geregelt, können die zuständigen Stellen 2. zum Schutz der Mitarbeiter und in den Fällen des SS 3 Abs. 3 das LandesQuellen des Landesamtes für Verfassungsamt für Verfassungsschutz um Auskunft schutz gegen Gefahren für Leib und ersuchen, ob Erkenntnisse über den Leben Betroffenen oder über eine Person, die in erforderlich ist und die sonstige Überdie Überprüfung mit einbezogen werden mittlung von Informationen aus den darf, vorliegen. Dabei dürfen die erforderAkten oder den Registern den Zweck der lichen personenbezogenen Daten und Maßnahmen gefährden oder das Persönsonstigen Informationen an das Landeslichkeitsrecht des Betroffenen unverhältamt für Verfassungsschutz übermittelt nismäßig beeinträchtigen würde. Dazu werden. Im Falle einer Überprüfung nach gehören auch personenbezogene Daten SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 ist das Ersuchen und sonstige Informationen aus Strafverüber das Innenministerium zu leiten. fahren wegen einer Steuerstraftat. Das Landesamt für Verfassungsschutz braucht (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Ersuchen nicht zu begründen, soweit dies kann vorbehaltlich der in SS 11 getroffenen dem Schutz des Betroffenen dient oder Regelung von jeder öffentlichen Stelle eine Begründung den Zweck der Maßnach Absatz 1 verlangen, dass sie ihm die nahme gefährden würde. Über die Einzur Erfüllung seiner Aufgaben erfordersichtnahme nach Satz 1 hat das Landeslichen personenbezogenen Daten und amt für Verfassungsschutz einen Nachsonstigen Informationen übermittelt, weis zu führen, aus dem der Zweck und wenn die Daten und Informationen nicht die Veranlassung, die ersuchte Behörde aus allgemein zugänglichen Quellen oder und die Aktenfundstelle hervorgehen. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand Die Nachweise sind gesondert aufzubeoder nur durch eine den Betroffenen stärwahren, gegen unberechtigten Zugriff zu ker belastende Maßnahme erhoben wersichern und am Ende des Kalenderjahres, den können. Das Landesamt für Verfasdas dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu versungsschutz braucht Ersuchen nicht zu nichten. 276 Anhang (5) Die Übermittlung personenbezogener ist oder der Empfänger die Daten zum Daten und sonstiger Informationen, die Schutz der freiheitlichen demokratischen aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a Grundordnung oder sonst für Zwecke der Strafprozessordnung bekanntgeworder öffentlichen Sicherheit einschließlich den sind, ist nach den Vorschriften der der Strafverfolgung benötigt. Der EmpAbsätze 1 und 3 nur zulässig, wenn tatfänger darf die übermittelten Daten, sächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, soweit gesetzlich nichts anderes dass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 des bestimmt ist, nur zu dem Zweck verwenArtikel 10-Gesetzes genannten Straftaten den, zu dem sie ihm übermittelt wurden. plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt für Verfassungsschutz (2) Das Landesamt für Verfassungsschutz nach Satz 1 übermittelten Unterlagen übermittelt den Staatsanwaltschaften findet SS 4 des Artikel 10 Gesetzes entund, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftsprechende Anwendung. lichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeidienststellen des Landes von sich aus die (6) Das Landesamt für Verfassungsschutz ihm bekannt gewordenen personenbezoprüft unverzüglich, ob die ihm übergenen Daten, wenn tatsächliche Anhaltsmittelten personenbezogenen Daten für punkte dafür bestehen, dass die Überdie Erfüllung seiner Aufgaben erfordermittlung zur Verhinderung oder Verfollich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie gung von Straftaten erforderlich ist, die nicht erforderlich sind, hat es die Unterin SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder lagen zu vernichten oder, sofern diese in den SSSS 74a oder 120 des Gerichtsverelektronisch gespeichert sind, zu löschen. fassungsgesetzes genannt sind oder bei Die Vernichtung oder Löschung kann denen aufgrund ihrer Zielsetzung, des unterbleiben, wenn die Trennung von Motivs des Täters oder dessen Verbinanderen Informationen, die zur Erfüllung dung zu einer Organisation tatsächliche der Aufgaben erforderlich sind, nicht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie oder nur mit unvertretbarem Aufwand gegen die in Artikel 73 Nr. 10 Buchst. b möglich ist; in diesem Fall sind die Daten oder c des Grundgesetzes genannten zu sperren. Schutzgüter gerichtet sind. SS 10 (3) Das Landesamt für Verfassungsschutz Übermittlung personenbezogener kann personenbezogene Daten an Daten durch das Dienststellen der StationierungsstreitLandesamt für Verfassungsschutz kräfte im Rahmen von Artikel 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz zwischen den Parteien des Nordatlantikkann personenbezogene Daten an Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Behörden und juristische Personen des Truppen hinsichtlich der in der Bundesöffentlichen Rechts sowie an die Gerichrepublik Deutschland stationierten auste des Landes übermitteln, wenn dies zur ländischen Streitkräfte vom 3. August Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) übermitteln. 277 Die Übermittlung ist aktenkundig zu Landesamt für Verfassungsschutz hat die machen. Der Empfänger ist darauf hinzuÜbermittlung aktenkundig zu machen. weisen, dass die übermittelten Daten nur Für Übermittlungen nach Satz 2 gilt SS 9 zu dem Zweck verwendet werden dürfen, Abs. 4 Sätze 4 und 5 entsprechend. Der zu dem sie ihm übermittelt wurden und Empfänger darf die übermittelten Daten das Landesamt für Verfassungsschutz sich nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie vorbehält, um Auskunft über die vorgeihm übermittelt wurden. Der Empfänger nommene Verwendung der Daten zu bitist auf die Verwendungsbeschränkung ten. und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt für Verfassungsschutz sich vorbehält, (4) Die Übermittlung personenbezogener um Auskunft über die vorgenommene Daten an andere als öffentliche Stellen ist Verwendung der Daten zu bitten. Die nur zulässig, soweit dies zum Zwecke Übermittlung der personenbezogenen einer erforderlichen und zulässigen Daten ist dem Betroffenen durch das Datenerhebung durch das Landesamt für Landesamt für Verfassungsschutz mitzuVerfassungsschutz unabdingbar ist und teilen, sobald eine Gefährdung seiner dadurch keine überwiegenden schutzwürAufgabenerfüllung durch die Mitteilung digen Interessen der Person, deren Daten nicht mehr zu besorgen ist. Einer Mitteiübermittelt werden, beeinträchtigt werlung bedarf es nicht, wenn das Innenmiden. Personenbezogene Daten dürfen nisterium feststellt, dass diese Voraussetdarüber hinaus an andere als öffentliche zung auch fünf Jahre nach der erfolgten Stellen nur übermittelt werden, wenn Übermittlung noch nicht eingetreten ist dies zur Abwehr von Gefahren für die in und mit an Sicherheit grenzender WahrSS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 genannten scheinlichkeit auch in absehbarer Zukunft Schutzgüter oder zur Gewährleistung der nicht eintreten wird. Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen oder besonders gefahrenträchti(5) Das Landesamt für Verfassungsschutz gen Einrichtungen im Sinne des SS 1 Abs. kann personenbezogene Daten an öffent- 3 des Landessicherheitsüberprüfungsgeliche Stellen außerhalb des Geltungsbesetzes erforderlich ist. Die Übermittlung reichs des Grundgesetzes sowie an überpersonenbezogener Daten an eine sonstiund zwischenstaatliche Stellen übermitge Einrichtung oder Unternehmung, insteln, wenn die Übermittlung zur Erfülbesondere der Wissenschaft und Forlung seiner Aufgaben oder zur Wahrung schung, des Sicherheitsgewerbes oder der erheblicher Sicherheitsinteressen des Kreditund Finanzwirtschaft, ist nur Empfängers erforderlich ist. Die Überzulässig, wenn dies zur Abwehr schwermittlung unterbleibt, wenn auswärtige wiegender Gefahren für die Einrichtung Belange der Bundesrepublik Deutschoder Unternehmung erforderlich ist. Die land, Belange der Länder oder überwieÜbermittlung nach den Sätzen 2 und 3 gende schutzwürdige Interessen des bedarf der vorherigen Zustimmung durch Betroffenen entgegenstehen. Die Überden Innenminister oder im Verhindemittlung ist aktenkundig zu machen. Der rungsfall durch seinen Vertreter. Das Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass 278 Anhang die übermittelten Daten nur zu dem (2) Informationen über Minderjährige Zweck verwendet werden dürfen, zu vor Vollendung des 14. Lebensjahres dürdem sie ihm übermittelt wurden und das fen nach den Vorschriften dieses GesetLandesamt für Verfassungsschutz sich zes nicht an ausländische oder überoder vorbehält, um Auskunft über die vorgezwischenstaatliche Stellen übermittelt nommene Verwendung der Daten zu bitwerden. ten. SS 12 (6) Erweisen sich personenbezogene Unterrichtung der Öffentlichkeit Daten, nachdem sie durch das Landesamt für Verfassungsschutz übermittelt Das Innenministerium und das Landesworden sind, als unvollständig oder amt für Verfassungsschutz unterrichten unrichtig, sind sie unverzüglich gegendie Öffentlichkeit periodisch oder aus über dem Empfänger zu berichtigen oder gegebenem Anlass im Einzelfall über zu ergänzen, es sei denn, dass dies für die Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 3 Beurteilung eines Sachverhaltes ohne Abs. 2. Dabei dürfen auch personenbeBedeutung ist. zogene Daten bekanntgegeben werden, wenn die Bekanntgabe für das VerständSS 11 nis des Zusammenhangs oder der DarÜbermittlungsverbote stellung von Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen erforderlich (1) Die Übermittlung von Informationen ist und die Informationsinteressen der nach den SSSS 5, 9 und 10 unterbleibt, Allgemeinheit das schutzwürdige Interwenn esse des Betroffenen überwiegen. 1. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass unter BerücksichtiSS 13 gung der Art der Informationen und Auskunft an den Betroffenen ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen das Allge(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz meininteresse an der Übermittlung übererteilt dem Betroffenen über zu seiner wiegen, Person gespeicherte Daten auf Antrag 2. überwiegende Sicherheitsinteresunentgeltlich Auskunft, soweit er hierzu sen oder überwiegende Belange der auf einen konkreten Sachverhalt hinweist Strafverfolgung dies erfordern oder und ein besonderes Interesse an einer 3. besondere gesetzliche ÜbermittAuskunft darlegt. Es ist nicht verpflichlungsregelungen entgegenstehen; die tet, über die Herkunft der Daten, die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Empfänger von Übermittlungen und den Geheimhaltungspflichten oder von Zweck der Speicherung Auskunft zu Berufsoder besonderen Amtsgeheimerteilen. nissen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. 279 (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, cherten personenbezogenen Daten zu soweit berichtigen, wenn sie unrichtig sind; in 1. eine Gefährdung der AufgabenerfülAkten ist dies zu vermerken. Wird die lung durch die Auskunftserteilung zu Richtigkeit der Daten von dem Betroffebesorgen ist, nen bestritten, so ist dies in der Akte zu 2. durch die Auskunftserteilung Quelvermerken oder auf sonstige Weise festzulen gefährdet sein können oder die Aushalten. forschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfas(2) Das Landesamt für Verfassungsschutz sungsschutz zu befürchten ist, hat die in Dateien gespeicherten perso3. die Auskunft die öffentliche Sichernenbezogenen Daten zu löschen, wenn heit gefährden oder sonst dem Wohl des ihre Speicherung unzulässig war oder ihre Bundes oder eines Landes Nachteile Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht bereiten würde oder mehr erforderlich ist. Die Löschung 4. die Daten oder die Tatsache der unterbleibt, wenn Grund zu der AnnahSpeicherung nach einer Rechtsvorschrift me besteht, dass durch sie schutzwürdige oder ihrem Wesen nach, insbesondere Belange des Betroffenen beeinträchtigt wegen der überwiegenden berechtigten würden. In diesem Fall sind die Daten zu Interessen eines Dritten, geheimgehalten sperren. Sie dürfen nur noch mit Einwilliwerden müssen. gung des Betroffenen übermittelt werden. Die Entscheidung trifft der Behördenleiter oder ein von ihm besonders beauftrag(3) Das Landesamt für Verfassungsschutz ter Mitarbeiter. prüft bei der Einzelfallbearbeitung und nach festgesetzten Fristen, spätestens (3) Die Ablehnung der Auskunftserteinach fünf Jahren, ob in Dateien gespeilung bedarf keiner Begründung, soweit cherte personenbezogene Daten zu dadurch der Zweck der Auskunftsverweiberichtigen oder zu löschen sind. Gespeigerung gefährdet würde. Die Gründe der cherte personenbezogene Daten über Auskunftsverweigerung sind aktenkundig Bestrebungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. zu machen. Wird die Auskunftserteilung 1, die ihre Ziele durch Gewalt oder darauf abgelehnt, ist der Betroffene auf die gerichtete Vorbereitungshandlungen verRechtsgrundlage für das Fehlen der folgen, sowie über Bestrebungen nach SS 3 Begründung und darauf hinzuweisen, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 oder 4 sind spätestens dass er sich an den Landesbeauftragten für nach fünfzehn Jahren, im Übrigen spätesden Datenschutz wenden kann. tens nach zehn Jahren zu löschen, es sei denn, der Behördenleiter oder sein VerSS 14 treter stellt im Einzelfall fest, dass die weiBerichtigung, Löschung und Sperrung tere Speicherung zur Aufgabenerfüllung personenbezogener Daten oder aus den in Absatz 2 Satz 2 genannten Gründen erforderlich ist. SS 8 Abs. 2 bleibt (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz unberührt. Der Lauf der Frist nach Satz 1 hat die in Akten oder Dateien gespei280 Anhang oder 2 beginnt mit der letzten gespeicher(3) Die Mitglieder des Ständigen Austen relevanten Information. schusses sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen (4) Das Landesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der Berichterstathat die in Akten gespeicherten personentung über die Tätigkeit des Verfassungsbezogenen Daten zu sperren, wenn es im schutzes im Ständigen Ausschuss beEinzelfall feststellt, dass die Speicherung kanntgeworden sind. Dies gilt auch für unzulässig war. Dasselbe gilt, wenn es im die Zeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Einzelfall feststellt, dass ohne die SperStändigen Ausschuss oder aus dem Landrung schutzwürdige Interessen des Betroftag. fenen beeinträchtigt würden und die Daten für seine künftige Aufgabenerfüllung (4) Die Unterrichtung umfasst nicht voraussichtlich nicht mehr erforderlich Angelegenheiten, über die das Innenmisind. Gesperrte Daten sind mit einem nisterium das Gremium nach dem Artikel entsprechenden Vermerk zu versehen; sie 10-Gesetz zu unterrichten hat. dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. Die Sperrung kann wieSS 16 der aufgehoben werden, wenn ihre VorEinschränkung von Grundrechten aussetzungen nachträglich entfallen sind. Akten, in denen personenbezogene Aufgrund dieses Gesetzes können das Daten gespeichert sind, sind zu vernichGrundrecht des Brief-, Postund Fernten, wenn die gesamte Akte zur Aufmeldegeheimnisses (Artikel 10 des gabenerfüllung nicht mehr benötigt wird. Grundgesetzes) und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel SS 15 13 des Grundgesetzes) eingeschränkt werParlamentarische Kontrolle den. (1) Das Innenministerium unterrichtet SS 17 den Ständigen Ausschuss des Landtags Erlass von Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes halbjährlich sowie auf Verlangen des Das Innenministerium kann zur AusfühAusschusses und aus besonderem Anlass. rung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. (2) Art und Umfang der Unterrichtung des Ständigen Ausschusses werden unter SS 18 Beachtung des notwendigen Schutzes des Inkrafttreten Nachrichtenzuganges durch die politische Verantwortung der Landesregierung Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner bestimmt. Verkündung in Kraft. 281 Gruppen-, Organisationsund Sachregister Bezeichnung Seite/n Act of Violence 132, 133 Adil Düzen 71ff. Akabe Bildungsund Kulturstiftung (AKEV) 52 AK Antifa Mannheim 229 Aktion Transparente Verwaltung (ATV) 241 Aktionsbüro Rhein-Neckar 153, 155 Al-Aqsa e.V 47 Al-Djaisch al-islami fi al-Iraq 27 Al-Djamaa al-Islamiya (Islamische Gruppe) 35f. Al-Djihad al-Islami (Islamischer Djihad) 23, 35f. Al-Fajir 33 Al-Furqan 33 Al-Ghurabaa 19 Al-Islam 48f. Al-Manar 53, 64f. Al Muhajiroun 59 Al-Muqawama al-Islamiya (Islamischer Widerstand) 61 Al-Qaida 25, 29f., 33ff., 39 Al-Qaida im Zweistromland 20, 25 Al-Qassam-Brigaden 54 Al-Quds-Tag 62 Al-Tawhid wal-Djihad 25 Albanische Nationalarmee ( AKSH) 116 All India Sikh Student Federation (AISSF) 117 Anadolu Genclik Dernegi (AGD) 73 Anatolische Föderation e.V. 108f. An-Nahda (Bewegung der Erneuerung) 45, 54f. Ansar al-Islam 27f. Ansar as-Sunna 27f. Antiamerikanismus 191 antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur 210 Antifa Nachrichten 210f., 213 Antifaschismus 217, 218ff. Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) 202, 228 Antifaschistische Linke Berlin 222 Antifaschistisches Projekt Pforzheim (APP) 219 Antiglobalisierung 221ff. Antisemitismus 130, 191 282 Anhang Applied Scholastics (ApS) 233f., 242f. Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Armee Islamique de Salut (AIS) 38 As-Sahab-Media 29ff., 34 Autonome 202f., 211, 218, 221 Autonome Gruppe gegen Repression 220 Autonome Nationalisten 156 Autonome Zentren 227ff. Babbar Khalsa International (BK) 117ff. Barika-i Hakikat (Das Aufleuchten der Wahrheit) 90 Baschda 210 Bedingt Autonomes Zentrum (BAZ) 228 Befreiungsarmee Kosovos (USK) 114 Befreiungsarmee von Kosovo (UCK) 115 Befreiungseinheiten Kurdistans (HRK) 94 Beklenen Asr-i Saadet 90 Bewegung des Islamischen Widerstands siehe HAMAS Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien (LRSSHJ) 115 Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht 116 Bildungswerk für Heimat und nationale Identität 181f. Blood & Honour-Bewegung 137 Blue Max 133 break-out 202, 228 Bündnis für den Erhalt und Ausbau selbstverwalteter Jugendund Kulturzentren in Baden-Württemberg 228 Bürgerinitiative für besseres Deutschland 154, 157, 161 Bürgerinitiative für soziale Gerechtigkeit 154f. Carpe Diem 133, 143, 160 Class V Org 230, 232 Church of Scientology International (CSI) 233 Criminon 233 Dawa 39ff., 83, 86 Das Freie Forum 175 Demokratische Gesellschaft Kurdistans (CDK) 95 Denk mal islamisch 43 Der Islam als Alternative 90 Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 24, 88ff. Deutsche Akademie (DA) 181 283 Deutsche Geschichte - Europa und die Welt (DG) 178f. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 198, 200, 207ff., 226f. Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 161 Deutsche Partei - Die Freiheitlichen (DP) 127, 161 Deutscher Buchkreis 173 Deutsche Stimme (DS) 158, 160, 166f., 169, 175, 181 Deutsche Volksunion (DVU) 127, 128, 144f., 159f., 170ff. Deutsches Kolleg (DK) 180 Deutschland in Geschichte und Gegenwart 174 Deutschland-Pakt 128, 162 Devrimci Sol (Dev Sol-Revolutionäre Linke) 106 DEVRIMCI SOL 107 Dianetik 231 Dianetik-Post 230 DIE LINKE 205 Die Linke.PDS-Pressedienst 204 Die Republikaner (REP) 172f. Die Rote Hilfe 216f. Disput 204 Dissent+X 221 Djaisch Ansar al-Sunna 27 Djihad 19, 27, 30, 45f., 59, 77, 85 Djihadismus 27 Djihadisten 28, 31 Dresdner Schule 181 Ekmek ve Adalet 109 Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten 175 Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V. (EMUG) 66 European Council for Fatwa and Research (ECFR) 49, 55, 84 Ex-Steffi 227f. Faktor Widerstand 143 Fazilet Partisi (FP) 67 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Förderaler Sicherheitsdienst) 259f. Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) 48f., 53, 67 Feldauditorengruppen 233 Firqat un-Naajiyah 59 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) 112 Föderation der Arbeiter und Immigranten aus der Türkei in Deutschland e.V. (AGIF) 112 284 Anhang Föderation der Demokratischen Türkischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) 104ff. Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e.V. (ADHF) 112 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) 101 Förderativer Islamischer Staat Anatolien 89 Forum of European Muslim Youth and Student Organisations (FEMYSO) 67 Free Mind 230 Freiheit 230 Freiheitliche Initiative Heilbronn 161 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) 102 Front für die Albanische Nationale Vereinigung (FBKSH) 116 Front Islamique du Salut (FIS) 37ff. Geheimschutz 13, 261 G8-Gipfel 199f Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) 141, 156 Ghurabaa 59 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) 259 Global Islamic Media Front (GIMF) 39f. GRABERT-Verlag 141, 154ff. Graue Wölfe 104 Groupe Islamique Arme (GIA) 37ff. Groupe salafiste pour la Predication et le Combat (GSPC) 37ff. Hakk-TV 90f. Halk Icin Devrimci Demokrasi 112 Hammerskins 137 Harakat Al-Muqawama Al-Islamiya siehe HAMAS HAMAS (Bewegung des islamischen Widerstands) 18, 23, 46, 52ff. Hasad al-Mudjahedin 27 Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg 227 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 150 Hizb Allah (Partei Gottes) 25, 27, 61ff., 75 Hizb-ul-Mudschahedin 23 Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung) 20, 55ff. Hohenrain-Verlag 173ff. IGMG Perspektive 66, 87f. 285 Impact 230 Infoladen Ludwigsburg 203 Initiative für einen Revolutionären 1. Mai in Stuttgart 225 Institut Europeen des Sciences Humaines (I.E.S.H.) 52 Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte 174 International Association of Scientologists (IAS) 234 International Scientology News 230 International Sikh Youth Federation (ISYF) 117ff. Internationale Kamagatamaru Partei 118 Interventionistische Linke (IL) 221, 224 Islamische Bewaffnete Gruppe siehe Groupe Islamique Arme (GIA) Islamische Demokraten 88 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 48ff. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) 24, 52, 66ff. Islamische Heilsfront siehe Front Islamique du Salut (FIS) Islamische Partei Pakistans 73 Islamischer Bund Palästina 54 Islamisches Informationszentrum (IIZ) 42f. Islamisches Zentrum Stuttgart (IZS) 48f. Islamisches Zentrum München (IZM) 49f. Islamismus 21ff. Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 67 Jugend für Menschenrechte 235, 244f. Junge Nationaldemokraten (JN) 144, 148f., 151ff., 164ff., 168f. junge Welt 212 Kalifatsstaat siehe Der Kalifatsstaat Kamagata Maru Dal International (KMDI) 118ff. Kameradschaften 146 Kameradschaft Karlsruhe 146, 157f. Kameradschaft Rastatt 146, 158 Kameradschaft Stuttgart 218 Karikaturenstreit 18f., 28, 57 Khalistan 118 Koma Komalen Kurdistan (KKK) 97 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) 232, 243f. Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 111f. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 208 Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Lenninisten (KPD/ML) 204 Kommunistische Partei der Sowjetunion 213 286 Anhang Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW) 204 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa e.V. (ATIK) 112 Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa (AvEG-Kon) 112 Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) 112 Konvertiten 30f. Koordinationsrat der FIA im Ausland (CCFIS) 38 Kulturvereinigung der Tamilen e.V. 121 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) 13ff. Laschkar-e Taiba 23 Lernen und Kämpfen (LuK) 213 Leuchter-Report 81 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 120ff. Libertad 222 Linkspartei.PDS 198, 204ff., 222f., 226 Linksruck 211, 218, 222, 226f. Linksruck.Zeitung für Internationalen Sozialismus 227 Maoisten 226 Maoistische Kommunistische Partei (MKP) 104f., 112 Marxisten-Leninisten 226 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 101, 111f., 114, 198, 200 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 204, 224, 226 Milli Gazete 66ff. Milli Genclik Vakfi 73 Milli Görüs 67ff., 89 Milli Nizam Partisi (MPP) 67 Modjahedin-e Khalq Organisation 122 (People's Mojahidin of Iran, PMOI) siehe Volksmodjahedin Mouvement de la Tendance Islamique (Bewegung der islamischen Ausrichtung) 54f. Mudjamma al-Islami 52 Multi-Kulturhaus Ulm e.V. (MKH) 42 Muslimbruderschaft (MB) 22, 24, 35, 44ff., 49, 63, 85 Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) 51f. Muslimische Studentenunion an der Universität Stuttgart (MSU) 51 Nachrichten der HNG 147, 150 Narconon 243 National Council of Resistance of Iraq (NCRI) 122 National Liberation Army of Iran (NLA) 122 Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue (B.K.D.SH.) 114f. 287 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 126, 127, 128, 131, 140, 142ff., 150ff., 158ff., 175 Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 94 Nationale Info-Telefone 146 Nationaler Widerstand Rastatt siehe Kameradschaft Rastatt Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) 122 Nationales Bündnis Heilbronn 157, 161 NATION & EUROPA 182 National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 170f., 193f. Neonazis 127ff., 131, 145ff., 150ff., 159ff., 191 Neun-Lichter-Dokain 105 Noie Werte 133, 143 OBW 9 228 ODEM 143 Office of Special Affairs (OSA) 233, 241 Özgür Gelecek Yolunda Isci Köylü 112 Organisation der Volksmodjahedin Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin OSA International 232, 241 Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) siehe Maoistische Kommunistische Partei (MKP) Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) siehe Linkspartei.PDS PDS Landesinfo Baden-Württemberg 204 People's Mojahidin of Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin Politikada Alilim 112 Professionelles Lerncenter 231 Projekt Schulhof 140ff. Proliferation 251ff. Propaganda 132, 133 Prosperity 230 Race War 133, 138 REBELL 213f. Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) 67 Religious Technology Center (RTC) 230 Republikaner siehe Die Republikaner Revisionismus 130, 176ff. Revolutionäre Aktion Stuttgart (RAS) 222 Revolutionäre Gruppe Boomerang (R.G.B.) 220 Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) 110f. Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 106ff. 288 Anhang Ring Nationaler Frauen (RNF) 169 Rosa-Luxemburg-Stiftung 222 Rote Armee Fraktion (RAF) 217 Rote Fahne (RF) 213ff. Rote Hilfe e.V. (RH) 201, 216f. Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 147ff. Saadet-Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 67ff. Sabotageschutz 13, 261 Salafismus 40ff. Salafitische Gruppe für Predigt und Kampf siehe GSPC Salafiya Djihadiya 20 Schurarat der Mudjahedin 25f., 28f. Schutt und Asche 132f. Schutzbund Deutschland 183 Schutzbund für das Deutsche Volk e.V. (SDV) 153 Scientology Kirche Deutschland (SKD) 234, 239 Scientology-Organisation (SO) 230ff. Sea Organization (Sea Org) 232 Serit 100 Serxwebun 94 Sicherheitsforum Baden-Württemberg 266 Skinheads 127ff., 131ff., 152, 160 Slushba Wneschnej Raswedkij (SWR) 259 ['solid] 222 Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien in der Türkei (TAYAD) 110 Sozialistische Alternative Voran (SAV) 218 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 209f. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 204 Sozialistisches Zentrum in Stuttgart 228 Stallhaus Germania 137 Stuttgart links 209 Tabligh-i Jama'at (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) 55, 59ff. Tamil Coordinating Committee (TCC) 121 Tamil Eelam 120 Tamil New Tigers (TNT) 120 Tamilische Bildungsvereinigung e.V. (TBV) 122 TAYAD-Komitee e.V. 110 Temel Bilgiler 77 Trotzkisten 218, 224, 226 289 Türk Federasyon Bülteni 104 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) 111 Türkische Föderation Deutschland (ATF) 104ff. Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 111ff. Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke (THKP/-C) 106ff. TV 5 78ff. Ümmet-i Muhammed 90 Unsere Zeit (UZ) 207, 209, 226 Vaterlandsgesellschft für nationale Identität und Vereinigung 117 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) siehe Der Kalifatsstaat Verein für Dialog und Völkerverständigung e.V. 48 Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (AMGT) 66 Vereinigung der demokratischen Jugendlichen Kurdistans (Komalen Ciwan) 95 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) 201, 209, 210ff., 218, 227f. Verlagsund Medienhaus Hohenberg OHG 157 Versandbuchhandlung GRABERT 173 Volk in Bewegung 188ff., 195 Volk in Bewegung - Verlag und Medien oHG 157 Volksbefreiungsarmee (HKO) 112 Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) 94 Volksbewegung von Kosovo (LPK) 115f. Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 93, 94ff. Volksmodjahedin 122ff. Volksverteidigungskräfte (HPG) 95, 102 Wahhabismus 40ff. Wirtschafts-, Wissenschaftsspionage 255ff. WISE Charter Committee (WCC) 233, 235, 239ff. World Assembly of Muslim Youth (WAMY) 50f., 55, 67 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 233, 235, 239ff. Yürüyüs 109 Zeit für Protest 172 Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg 48 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 48 290 Anhang Personenverzeichnis Name Seite/n Abd al-Wahhab, Muhammad von 40 Akif, Mahdi Muhammad 46 Al-Auda, Salman 42 Al-Banna, Hassan 44f., 49, 55, 85 Al-Ghannouchi, Rached 47, 55 Al-Hakaymamah, Muhammad Khalil 36 Al-Hawala, Safer 63 Al-Iraki, Abu Maisara 39 Al-Maududi, Abu al A'la 45 Al-Muhajir, Abu Hamza 25 Al-Muhajiroun, Omar Bakri 59 Al-Munadjid, Scheich 42 Al-Qaradawi, Yusuf, Dr. 49f. Al-Utheimin, Muhammad Bin Salih 41 Al-Zahhar, Mahmoud 53 Alpay Gün, Mine 79, 84 Atik, Ali 80 Atsiz, Nihal 105 Aydar, Zübeyir 94, 98 Az-Zawahiri, Ayman, Dr. 25, 30, 34ff., 39 Az-Zarqawi, Abu Musab 20, 25 Bahceli, Devlet 105 Benhadj, Ali 37f. Bin Djarbin, Abdallah 63 Bin Ladin, Usama 25, 34, 36 Bozkurt, Ali 69 Dehoust, Peter 182 Deinzer, Heinrich 170 Denffer, Ahmad 49 Dhina, Mourad, Dr. 38 Dizman, Zehra 82 El-Zayat, Ibrahim 50 291 Engel, Stefan 214f. Enneifar, Ahmida 55 Erbakan, Necmettin, Prof. Dr. 67ff., 83, 85, 89 Ersoy, Arif, Prof. Dr. 84 Frey, Gerhard, Dr. 170f., 193 Gansel, Jürgen W. 167, 185ff., 190, 196 Garaudy, Roger 49, 81 Gold, Lars 165f. Grabert, Herbert, Dr. 173f. Grabert, Wigbert 174 Haniya, Isma'il 54 Hatipoglu, Yasin 76 Heise, Thorsten 160 Hubbard, Lafayette Ronald 230ff., 246f. Ilyas, Maulana Muhammad 60 Irving, David 171, 177f. Islamoglu, Mustafa 51 Karahan, Yavuz Celik 81 Käppler, Lars 151f., 154, 157, 160, 169 Kaplan, Cemaleddin 88f. Kaplan, Metin 89f. Karatas, Dursun 107 Kaya, Adem 68, 79, 83 Kebir, Rabah 38 Kizilkaya, Ali 67, 82 Kiziltas, Ekrem 80 Kovabelnikow, Walentin 259 Kutan, Recei 67, 69, 71, 75 Kutsal, Necdet 78 Lebedew, Sergej 259 Leuchter, Fred 81 Madani, Abassi 37 Mashur, Mustafa 46 Mawlawi, Faisal 84 Miscavige, David 230, 233, 245f. 292 Anhang Molau, Andreas 161 Nasrallah, Hassan 62, 65 Neidlein, Alexander 166, 169 Öcalan, Abdullah 94ff. Özkan, Abdullah, Dr. 78 Oktar, Adnan (alias Yahya, Harun) 49 Patruschew, Nikolaj 259 Prabhakaran, Vellupillai 120 Quassim, Naim 65 Qutb, Sayyid 19f., 45, 85 Rajavi, Maryam 123f. Rassoul, Muhammad 20, 58 Rennicke, Frank 139, 142f. Rieger, Jürgen 148, 159 Rose, Olaf, Dr. 175 Rudolf, Germar 177 Schützinger, Jürgen 160f., 163, 175 Sofu, Halil Ibrahim, Dr. 89 Tanweer, Shehazad 29 Tarim, Sakir 79 Türkes, Alparslan 105 Ücüncü, Oguz 82f. Verbeke, Siegfried 177 Voigt, Udo 158, 184 Wadud, Mussab Abdel 39 Worch, Christian 152 Yagan, Bedri 107 Yassin, Ahmad 52 Yumakogullari, Osman 75 Zündel, Ernst 176 Zukorlic, Muamer 74 293 Notizen VERTEILERHINWEIS Diese Informationsschrift wird von d Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen lichkeit herausgegeben. Sie darf weder Helfern während eines Wahlkampfs zu den. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Informationsständen der Parteien sow parteipolitischer Informationen oder W Untersagt ist auch die Weitergabe an D Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer W verwendet werden, dass dies als Partein politischer Gruppen verstanden werden hängig vom Vertriebsweg, also unabhän Anzahl diese Informationsschrift dem E Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Inf glieder zu verwenden. der Landesregierung Baden-Württemberg im Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentvon Parteien noch von deren Kandidaten oder um Zwecke der Wahlwerbung verwendet werVerteilung auf Wahlveranstaltungen und an ie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben Werbemittel. Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so nahme der Herausgeberin zugunsten einzelner n könnte. Diese Beschränkungen gelten unabngig davon, auf welchem Wege und in welcher Empfänger zugegangen ist. formationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mit-