VERFASSUNGSSC BADEN-WÜRTT CHUTZBERICHT TEMBERG 2004 Herausgeber: Innenministerium Baden-Württemberg Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart Gestaltung und Satz: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85A, 70372 Stuttgart Umschlag: Orel & Unger GmbH, Stuttgart Druck: KONKORDIA GmbH Eisenbahnstraße 31, 77815 Bühl Auflage: 13.500 Zitate: Alle Zitate sind in Kursivschrift gesetzt. Zitate aus Texten in alter Rechtschreibung wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Redaktionsschluss: Mai 2005 Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers - ISSN 0720-3381 VORWORT Vor 60 Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende, der Deutschland, Europa und die Welt verändert hat. Mit Entsetzen und Scham blicken wir auf mehr als 55 Millionen Tote, davon schätzungsweise 20 Millionen Zivilisten, und mehr als sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Millionen von Menschen kamen zwar mit dem Leben davon, hatten aber ihren Besitz und ihre Heimat verloren. Leid und Elend waren unbeschreiblich. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Verabschiedung des Grundgesetzes hat unser Land eine Staatsund Werteordnung bekommen, die grundlegende Rechte garantiert, die während des Nationalsozialismus mit Füßen getreten wurden. Wir nehmen diese Rechte und Freiheiten heute oft als selbstverständlich hin. Durch die Rückschau auf unsere Vergangenheit sollte uns nicht nur der Wert der Demokratie, in der wir leben, bewusst werden, sondern auch, dass unsere freiheitliche demokratische Grundordnung vorbildlich und schützenswert ist. Unserer Demokratie drohen Gefahren, aber nicht nur von den "ewig Gestrigen". Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung gehen auch von Linksextremisten, extremistischen Ausländern oder der Scientology-Organisation aus. Gruppierungen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Werte unserer Demokratie abzuschaffen, dürfen wir nicht gewähren lassen. Diese Lehre müssen wir aus unserer Geschichte ziehen. Und deshalb können wir es auch nicht hinnehmen, dass in unserem Land Parallelgesellschaften mit eigenen Normen entstehen, die mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Der Schutz des demokratischen Rechtsstaats ist dabei nicht allein Aufgabe staatlicher Behörden. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, das unter anderem die Aufgabe hat, verfassungsfeindliche Bestre- bungen jeglicher Art frühzeitig zu erkennen, zu beobachten und zu entlarven, leistet dazu einen ganz wichtigen Beitrag. Ohne die geistig-politische Auseinandersetzung mit den Gegnern unserer Demokratie auf allen gesellschaftlichen Ebenen würden die Gefahren für unsere Werteordnung auf Dauer jedoch nicht abzuwenden sein. Wir alle stehen in der Pflicht, für unser freiheitliches Gemeinwesen einzutreten und es zu schützen. Nur so kann das Prinzip der "wehrhaften Demokratie" mit Leben erfüllt werden. Dies setzt aber voraus, dass auch der Einzelne in der Lage ist, die wahren Absichten extremistischer Gruppierungen zu erkennen und zu bewerten. Ohne ein ausreichendes Wissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen jeglicher Art ist eine Auseinandersetzung mit den Gegnern unserer Demokratie nicht möglich. Mit dem vorliegenden Verfassungsschutzbericht 2004 gibt das Landesamt für Verfassungsschutz einen umfassenden Überblick über die politischen Ziele und Aktivitäten extremistischer Gruppierungen sowie über die Gefahren, die durch Spionage ausländischer Nachrichtendienste oder die Scientology-Organisation drohen. Dieser Bericht, der einen wichtigen Beitrag zur Sicherung unserer Demokratie leistet, ist nicht nur für staatliche Stellen, sondern auch für die Politik und jeden einzelnen Bürger eine wichtige Hilfestellung und wertvolle Informationsquelle. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz leisten mit ihrer Tätigkeit einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung unserer Demokratie. Ihre engagierte und fundierte Arbeit verdient unsere Anerkennung. Für ihren Einsatz bedanke ich mich ausdrücklich. Heribert Rech MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg INHALTSVERZEICHNIS A. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN .......12 1. Allgemeiner Überblick ...............................................................................12 2. Islamismus.......................................................................................................14 2.1 Hintergründe..................................................................................................14 2.2 Islamistische Tendenzen in Deutschland .............................................15 2.3 Transnationaler islamistischer Terrorismus ..........................................19 2.3.1 Entwicklungen im Jahr 2004 ....................................................................19 2.3.2 Das internationale Netzwerk der Mudjahidin ...................................20 2.3.3 Terrorgruppe "Ansar al-Islam"..................................................................20 2.3.4 Jüngere Ideologen des Djihad .................................................................21 2.3.5 Rekrutierung ..................................................................................................22 2.3.6 "Al-Qaida" und ihre Djihad-Propaganda..............................................24 2.3.7 Weltweite Spuren der Gewalt..................................................................28 2.4 Islamistische Organisationen aus dem arabischen Raum ...............31 2.4.1 Islamistische Organisationen aus dem sunnitischen Bereich........31 2.4.1.1 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger....31 2.4.1.1.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD)..................34 2.4.1.1.2 "Harakat al-Muqawama al-islamiya" (HAMAS) .................................39 2.4.1.1.3 "Al-Aqsa e.V." .................................................................................................40 2.4.1.1.4 "Front Islamique du Salut" (FIS).............................................................41 2.4.1.1.5 "Groupe Islamique Arme" (GIA) ...........................................................42 2.4.1.1.6 "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC)......42 2.4.1.1.7 "An-Nahda" ....................................................................................................42 2.4.1.1.8 "Al-Djihad al-Islamiy" und "al-Djamaa al-islamiya"..........................43 2.4.1.1.9 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung").............................................43 2.4.1.2 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission")................................47 2.4.1.3 Gruppierungen säkularer Palästinenser ................................................49 2.5 Organisationen aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" und Amal ..............................................................................50 2.6 Türkische islamistische Vereinigungen .................................................54 2.6.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG)......................54 2.6.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) .................73 2.6.3 "Front der Islamischen Kämpfer des Großen Ostens" (IBDA-C)...77 2.7 Iranische islamistische Gruppen..............................................................78 2.7.1 "Volksmodjahedin" .......................................................................................78 3. Türkische Vereinigungen (ohne kurdische) .......................................81 3.1 Extrem nationalistische Organisationen ...............................................81 3.1.1 "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF)/ "Türkische Föderation Deutschland" (ATF) .......................................81 3.2 Linksextremisten...........................................................................................83 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol) ................................83 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte................................................................................83 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C)..............84 3.2.2 "Türkische Kommunistische Partei/ Marxisten-Leninisten" (TKP/ML)...........................................................89 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP)......92 4. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), jetzt: "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL)......................94 5. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner.............................................................................104 6. Sikh-Organisationen ..................................................................................108 7. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE).....................................110 B. RECHTSEXTREMISMUS .......................................................................114 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................114 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale...............116 1.2 Strafund Gewalttaten..............................................................................117 1.3 Ideologie.........................................................................................................117 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus.....................................................119 2.1 Häufigkeit und Zielrichtung rechtsextremistisch motivierter Gewalt ..............................................119 2.2 Rechtsextremistische Skinheads............................................................120 3. Rechtsextremistische Musikszene ........................................................124 3.1 Skinkonzerte.................................................................................................124 3.2 Skinhead-Musikgruppen ..........................................................................126 3.3 Sonstige rechtsextremistische Musik ...................................................129 4. Neonazismus................................................................................................130 4.1 Allgemeines ..................................................................................................130 4.2 Bundesweite Aktivitäten..........................................................................131 4.2.1 "Rudolf Heß-Gedenkmarsch".................................................................131 4.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ...................................................133 4.3 Neonazistische Personenzusammenschlüsse in Baden-Württemberg.............................................................................134 5. Rechtsextremistische Parteien...............................................................138 5.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD).................138 5.2 "Die Republikaner" (REP) ......................................................................146 5.3 "Deutsche Volksunion" (DVU) .............................................................151 5.4 "Deutsche Partei - Die Freiheitlichen" (DP)....................................153 6. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten ........................................156 6.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag"...156 6.2 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) .................................157 6.3 "Freundeskreise 'Ein Herz für Deutschland'"...................................158 7. Internationale Verflechtungen des Rechtsextremismus ..............158 7.1 Allgemeines ..................................................................................................158 7.2 Geschichtsrevisionismus...........................................................................159 8. Theorie - und Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus .......................................................160 9. Aktionsfelder ...............................................................................................163 9.1 Rechtsextremistische Positionen zu den aktuellen Krisenund Reformdebatten .................................................................163 9.2 Das "Projekt Schulhof": Entwurf einer rechtsextremistischen Propagandaoffensive..........176 C. LINKSEXTREMISMUS ..........................................................................182 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................182 2. Übersicht in Zahlen ..................................................................................185 2.1 Personenpotenzial ......................................................................................185 2.2 Strafund Gewalttaten .............................................................................186 3. Gewaltbereiter Linksextremismus........................................................187 4. Parteien und andere Organisationen ..................................................190 4.1 "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS)............................190 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) .....................................194 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) .....................197 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD)...........201 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH)..............................................................................203 4.6 Sonstige Vereinigungen............................................................................205 5. Aktionsfelder ...............................................................................................206 5.1 "Sozialabbau" ...............................................................................................206 5.2 EU-Verfassung...............................................................................................210 5.3 "Friedens-" beziehungsweise "Antikriegsbewegung" .....................212 5.4 Autonome Zentren ....................................................................................214 5.5 "Antifaschismus" .........................................................................................216 D. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO)...........................................220 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................220 2. Politische Bestimmtheit und strategische Vorgehensweise........221 3. Das "Office of Special Affairs" (OSA) ................................................223 4. Expansionsbestrebungen in Baden-Württemberg..........................225 4.1 Bestehende Organisationsstruktur.......................................................225 4.2 "Central Orgs" und neue Niederlassungen.......................................226 4.3 Milieu und Mitgliedergewinnung.........................................................227 4.4 Werbung und Propaganda.......................................................................229 4.4.1 Interne Propaganda ...................................................................................229 4.4.2 Öffentliche Werbekampagnen und Täuschungsmanöver ............229 4.5 Verdeckte Werbung...................................................................................233 5. Diffamierungskampagnen........................................................................234 6. Vertrauliches Telefon ...............................................................................235 E. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ ............236 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen .........................................236 2. Daten, Fakten, Hintergründe.................................................................238 2.1 Krisenländer.................................................................................................238 2.2 Volksrepublik China..................................................................................241 2.3 Russische Föderation und andere Länder der GUS ......................242 3. Prävention.....................................................................................................245 3.1 Geheimschutz in der Wirtschaft...........................................................245 3.2 Beratungspraxis des Landesamts für Verfassungsschutz...............246 3.3 Presseund Öffentlichkeitsarbeit der Spionageabwehr................247 3.4 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen.......................................................249 4. Erreichbarkeit der Spionageabwehr.....................................................251 F. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG ...................252 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes ......................................................252 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei ................................253 3. Methoden des Verfassungsschutzes ....................................................253 4. Kontrolle.......................................................................................................254 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ................................255 ANHANG ..........................................................................................................258 Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - LVSG) vom 22. Oktober 1991 ........................................................................258 Gruppen-, Organisationsund Sachregister .................................270 Personenverzeichnis ............................................................................280 A. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Organisationen von Ausländern werden als extremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Vor allem islamistische Gruppierungen sind verstärkt in das Blickfeld geraten, einerseits durch die aus dem politischen Islamismus hervorgehenden terroristischen Bewegungen, andererseits durch das Bemühen von Organisationen, rechtliche Sonderpositionen einzunehmen, bei denen die freiheitliche demokratische Grundordnung zumindest in Teilen außer Kraft gesetzt würde. Der gesetzlich vorgesehenen Beobachtung unterliegen außerdem Bestrebungen, die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im jeweiligen Heimatland angestrebt wird. In Baden-Württemberg waren von den rund 1,2 Millionen1 registrierten Ausländern 8.510 (2003: 8.575) Personen in Vereinigungen mit extremistiAnhänger extremistischer bzw. extremistisch beeinflusster Ausländerorganisationen in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2002 - 2004 2002 2003 2004 Land Bund Land Bund Land Bund Kurden (linksextremistisch) 910 11.850 860 11.850 810 11.950 Türken 6.900 38.950 6.870 38.670 6.860 37.900 ddavon: linksextremistisch 900 3.650 870 3.370 860 3.150 rechtsextremistisch 2.100 8.000 2.100 8.000 2.100 7.500 religiös-nationalistisch 3.900 27.300 3.900 27.300 3.900 27.250 Araber 505 3.300 485 3.450 510 3.400 ddavon: linksextremistisch 25 150 30 150 40 150 religiös-nationalistisch 480 3.150 455 3.300 470 3.250 Iraner 100 1.350 100 1.250 80 1.200 ddavon: linksextremistisch 100 1.300 100 1.200 80 1.150 religiös-nationalistisch - 50 - 50 - 50 Sonstige 270 1.900 260 2.080 250 3.070 Gesamt 8.685 57.350 8.575 57.300 8.510 57.520 Grafik: LfV BW Stand: 31.12.2004 1 Exakt: 1.187.379 Personen ausländischer Herkunft; Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Stand: 31. Dezember 2004). Wegen einer Bereinigung des Ausländerzentralregisters im Jahr 2004 ist 12 diese Zahl mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt vergleichbar. Islamismus/Ausländerextremismus scher oder terroristischer Zielsetzung aktiv. Dies entspricht einem konstanten Anteil von knapp 0,7 Prozent. Personen ausländischer Herkunft, die zwischenzeitlich die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt haben, sind hier nicht berücksichtigt. Nennenswerte Änderungen zwischen den einzelnen politischen Lagern ergaben sich im Lauf des Jahres 2004 nicht. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Ausländer sowie ausländerextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2004 Die Gesamtzahl der politisch motivierten Straftaten im Phänomenbereich Ausländer reduzierte sich 2004 in Baden-Württemberg um zwei Drittel von 404 auf 135. Hiervon entfielen 104 (2003: 366) auf Straftaten mit extremistischem Hintergrund, wobei 34 (2003: 321) dem Bereich Islamismus zuzurechnen sind. Die Anzahl der Gewaltdelikte blieb mit insgesamt 17 (2003: 18) nahezu konstant.2 Grund für die überdurchschnittlich hohen Zahlen im Jahr 2003 war eine bundesweite Aktion der Polizei wegen des Verdachts der Fortführung der verbotenen Vereinigung "Kalifatsstaat", die zu zahlreichen Einzelverfahren geführt hatte. 2 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führt keine eigene Strafund Gewalttatenstatistik. Alle in diesem Jahresbericht aufgeführten statistischen Angaben zu politisch motivierten Straftaten beruhen auf Zahlenangaben des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. 13 2. Islamismus 2.1 Hintergründe Islamismus hat sich zu einem Phänomen entwickelt, das ganz unterschiedliche Facetten aufweist. Die meisten islamistischen Bewegungen sind in Regionen und Staaten der islamischen Welt entstanden, in denen die Regierungen und die Gesellschaften gemessen an der Entwicklung in anderen Teilen der Welt in weiten Bereichen versagt haben. Basierend auf den Grundlagen der Religion haben sich immer mehr Muslime zunehmend auf die eigenen, islamisch geprägten Wurzeln besonnen. Sie versuchen, durch die Rückbesinnung auf eigene Werte, durch die Auslegung des Korans und in der Nachahmung der Sunna3 Lösungsmöglichkeiten für die gegenwärtiNährboden des gen gesellschaftlichen Probleme zu finden. Die zum Teil sehr große UnzuIslamismus friedenheit der Bevölkerung bildet einen breiten Nährboden, auf dem immer mehr Anhänger islamistischer Ideen gewonnen werden können. Fand dieser Prozess in der Vergangenheit überwiegend in islamisch geprägten Ländern statt, so muss man feststellen, dass inzwischen vor allem jugendliche Muslime auch in westlichen Ländern durch islamistische Propaganda angesprochen werden. Besonders junge muslimische Männer in europäischen Ländern finden in islamistischen Kreisen jene Bestätigung, die ihnen im gesellschaftlichen Alltag häufig versagt bleibt. Sie können sich, angespornt durch islamistische Vordenker, deren Sichtweise zu eigen machen. Hierbei handelt es sich um eine Sichtweise, die ausschließlich auf die islamische Welt mit ihren zahlreichen Konflikten, Ungerechtigkeiten und den muslimischen Opfern gerichtet ist und die die Jugendlichen sich selbst als unterdrückte Opfer wahrnehmen lässt bei einer gleichzeitig vorhandenen Hybris, als Muslime über den anderen Menschen zu stehen und etwas Besseres verdient zu haben. Hinzu kommt: in vielen Ländern des islamischen Kulturraums ist rund die Hälfte der Bevölkerung jünger als 18 Jahre. In einigen Staaten wie in Algerien, Afghanistan, aber auch in den palästinensischen Gebieten ist mehr als eine Generation ausschließlich mit Krisenund Kriegserfahrungen aufgewachsen. Solange der jungen Generation dieser und anderer Länder keine annehmbare Lebensperspektive geboten wird, ist davon auszugehen, dass aus ihr weiterhin auch Islamisten und gewaltbereite Terroristen hervorgehen. 3 Gewohnheiten und Aussprüche des Propheten Muhammad. 14 Islamismus/Ausländerextremismus 2.2 Islamistische Tendenzen in Deutschland Im Jahr 2004 bestimmte das Thema Islamismus insbesondere wegen des am 11. März in Madrid verübten schweren Terroranschlags und des grausamen Mordes an dem Filmemacher Theo van Gogh am 2. November in Amsterdam erneut eine Vielzahl von Schlagzeilen. Auch wenn es in Deutschland selbst bislang zu keinen Terrorakten gekommen ist beziehungsweise solche noch rechtzeitig verhindert werden konnten4, stiegen die Befürchtungen in der Bevölkerung vor islamistisch motivierten Gewalttaten. Muslimische Mitbürger sahen sich oftmals einem Pauschalverdacht unterworfen. Allerdings stellte selbst der Direktor des arabischsprachigen Satellitensenders al-Arabiya in einem im Magazin Stern5 abgedruckten Interview hierzu fest: "(...) Nicht alle Muslime sind Terroristen. Fest steht aber auch: Fast alle Terroristen sind Muslime. Das einzugestehen ist sehr betrüblich. (...)" Durch diese Entwicklungen wurde die Diskussion um das alltägliche Zusammenleben in Deutschland immer schärfer geführt. Muslime wurden in Presseberichten aufgefordert, sich von Terrorismus zu distanzieren und sich zu integrieren. Islamistische Zirkel gelangten zu zwei verschiedenen Antwortmustern: Einige forderten den Abstand zur "ungläubigen" Mehrheitsgesellschaft und ihren schlechten Einflüssen. Die Argumentation gipfelte zum Beispiel in einer die Fremdenfeindlichkeit schürenden Freitagspredigt in Berlin, wo ein Imam erklärte: "Es gibt Deutsche, die auch gut sind. Aber sie sind und bleiben doch Atheisten. Wozu nutzen sie also? Haben wir jemals einen Nutzen von ihnen gehabt? Auf der ganzen Welt noch nicht. (...) Diese DeutAgitation gegen schen, diese Atheisten, rasieren sich nicht unter den Deutsche Armen. Ihr Schweiß verbreitet einen üblen Geruch und sie stinken. Sie benutzen daher Parfüm und haben deshalb eine ganze Parfümindustrie aufgebaut."6 4 Siehe zum Beispiel unter Ziffer 2.3.3, S. 21. 5 Internetausgabe vom 15. September 2004. 6 ZDF-Sendung Frontal21 vom 9. November 2004. 15 In anderem Zusammenhang sah man sich als Muslim in Deutschland bereits als Opfer einer Verfolgungskampagne und verglich sich mit der jüdischen Bevölkerung im Deutschland der 1930er Jahre. Dieser Vergleich war schon deshalb besonders infam, weil er doch das damalige Verbrechen relativierte. Ein ungenannter Autor schrieb in der vom "Islamischen Informationszentrum Ulm e.V." zweiwöchentlich herausgegebenen Schrift: "Es stellt sich ernsthaft die Frage, wann sich Muslime öffentlich durch Merkmale wie ein gelbes Zeichen auf einer Armbinde kennzeichnen müssen und nur noch als eine Nummer angesehen werden."7 Weiter sah der Autor sich und die Muslime einer besonderen Verfolgung ausgesetzt: "Die Rassenverfolgung spielt sich gut versteckt hinter einer hervorragenden Deckung ab - dem angeblichen Kampf gegen den Terror." Er schlussfolgerte daher einen besonderen Kriegszustand in Deutschland: "Deutschland ist ein Teil im 'Kampf gegen den Islam'. Sie sind einer unter vielen Dienern in diesem Krieg. Nur weil Deutschland keine Truppen in den Irak gesandt hat, heißt das nicht, dass sie nicht in diesen Kampf eingetreten sind (...) sei nicht traurig Bruder und Schwester, was erwartest du denn von einem Volk, das dem Islam öffentlich und versteckt den Krieg erklärt? (...) Erwarte nichts von ihnen. Habe keine Hoffnung außer auf Allah."8 Seinem Artikel fügte er einen Koranvers bei, der auch als leise Drohung verstanden werden kann, denn dort hieß es: "Und sie schmiedeten Ränke und (auch) Allah schmiedet Ränke und Allah ist der beste Ränkeschmied". [Koran 3:54] 7 Hier und im Folgenden: "Denk mal islamisch", Ausgabe 22 vom 6. August 2004. 8 Übernahme wie im deutschen Original. 16 Islamismus/Ausländerextremismus Gemeint sind in diesem Vers mit "sie" die "Kinder Israels", die Juden, doch ihre Ränke würden erfolglos bleiben, sei doch Allah "der beste Ränkeschmied", das heißt Allah könnte sich durchaus rächen oder diejenigen unterstützen, die sich gegen die Ränke wehrten. Das andere Antwortschema auf die Probleme der Muslime als Minderheit in einer nichtislamischen Umgebung fordert eine Einmischung in das gesellschaftliche Leben. So wünschte sich etwa Murad HOFMANN, ehemaliger deutscher Botschafter in Algerien und Marokko, der 1980 zum Islam konvertierte und Ehrenmitglied im MC-Hülle mit "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) ist, in antisemitischer Darstellung einem mit ihm im August 2004 geführten Interview: "Wir müssen durch Parteieintritt - in alle wirklich demokratisch gesinnten Parteien - dazu beitragen, demokratische dass die Parteiprogramme islamkonformer werden, Mitwirkung als so wie dies auch Katholiken, Protestanten und "kleineres Übel" Juden tun. Insgesamt handelt es sich dabei um die Verwirklichung des Fiqh-Grundsatzes, dass man - vor zwei Übeln stehend - das geringere Übel wählen muss." 9 Demokratische Beteiligung an Entscheidungsprozessen gilt ihm als ein kleineres Übel als die politische Isolation und der Rückzug aus der Gesellschaft. Islamistische Kreise legen Wert auf eine entsprechende Ausrichtung des alltäglichen Lebens nach den Regeln eines Islam, wie sie ihn interpretieren. Das Leben eines Muslims ist ihrer Meinung nach in einem unislamischen Umfeld vielen Anfechtungen ausgesetzt. Umso wichtiger werde es daher, sich an die von entsprechenden Autoritäten festgelegten Regeln zu halten. Damit diese auch von Muslimen ohne Arabischkenntnisse verstanden werden, lagen im Jahr 2004 häufiger deutschsprachige Merkblätter in Moscheen in Baden-Württemberg aus. Diese, aus dem Arabischen übersetzten Texte lassen sich der "Salafiya" zuordnen, einer islamischen Bewegung, die die Quellen sehr eng und buchstabentreu auslegt. Sie stammen von einer Internetseite, die diese Texte im pdf-Format zum Ausdruck zur Verfügung stellt. Die Botschaft dieser Informationsblätter wurde den Besuchern der 9 Homepage des "Zentralrats der Muslime in Deutschland" (ZMD) vom 30. August 2004. 17 Moscheen ans Herz gelegt. Eines trägt die Überschrift "Die großen Sünden". In ihm werden detailliert 70 Sünden definiert, die ein Muslim bis hin zu Verboten, die die Kleidung betreffen, begehen kann. Eine weitere Schrift, die ebenfalls in baden-württembergischen Moscheen verteilt wurde, erklärt die Bedeutung von Taghut. Dabei handelt es sich um Götzen, die anstelle Allahs angebetet werden. Diesen Götzendienst gelte es abzulehnen. So ist in diesem Text zu lesen: "Dies bringt auch mit sich, dass du die Leute des Ikhlas (der Aufrichtigkeit; i.S. von ... Leute des Aufruf zum Hass Islam) liebst und ihnen gegenüber Freundschaft gegenüber zeigst, während du die Leute des Götzendienstes "Ungläubigen" hasst und ihnen gegenüber deine Feindschaft zeigst." In der Schrift werden fünf Arten von Tawaghit (Mehrzahl von Taghut) erläutert. Der erste ist der Teufel. Der zweite ist der tyrannische Herrscher, der die Gesetze Allahs verändert. Der dritte spricht Recht, ohne Allahs Worte zu berücksichtigen. Der vierte behauptet, mehr zu wissen als Allah, und der fünfte wird anstelle Allahs angebetet. Zu der zweiten Erscheinungsform eines Götzen ist zu lesen: "Der unterdrückende Herrscher, der die Gesetze Allahs ändert und austauscht, wie es von den Juden getan wurde." Diese Ansicht spiegelt sich dann auch in der einschlägigen Propaganda von Djihad-Gruppierungen, die den Kampf gegen die nach ihrer Meinung vorhandenen Taghut-Regime wie Israel, Saudi-Arabien und die USA aufgenommen haben. Solche kurzen religiösen Schriften bilden die Glaubensfundamente für eifrige Muslime, die sich dann in islamistischen Zirkeln engagieren. Im Extremfall entsprechen diese Glaubensvorstellungen und Gebote denjenigen, wie sie etwa die islamistischen Terroristen auf der arabischen Halbinsel mit ihrem Kampf durchsetzten möchten. Dies wurde zuletzt am 6. Dezember 2004 beim Überfall auf das amerikanische Konsulat im saudi-arabischen Djidda offensichtlich. Der "al-Qaida" nahe stehende Terroristen, von denen mutmaßlich einige als Religionswächter gearbeitet hatten, erschossen kaltblütig einen Angestellten, der nicht die erste Sure des Korans aufsagen konnte. Das Bekennerschreiben zitierte einen Koranvers, der die oben erwähnten Taghut-Erläuterungen bestätigt. 18 Islamismus/Ausländerextremismus "Diejenigen, die ungläubig sind, geben ihr Vermögen aus, um (die Muslime) vom Weg Gottes abzuhalten. Sie werden es nun (für diesen Zweck) ausgeben. Hierauf wird es ein (schmerzliches) Bedauern für sie sein (so gehandelt zu haben). Hierauf werden sie besiegt werden. Und diejenigen, die ungläubig sind, werden (dereinst) zur Hölle versammelt werden." [Koran 8:36] 2.3 Transnationaler islamistischer Terrorismus 2.3.1 Entwicklungen im Jahr 2004 Neben den zahlreichen Anschlägen auf die Streitkräfte der Koalition im Irak, die von vielen Irakern und in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit nicht als Befreiungsarmee angesehen wird, sondern als Besatzungsmacht, gab es seit April 2004 eine wachsende Zahl von Entführungen ausländischer Zivilisten im Irak. Vor allem die Gruppe um Abu Musab az-ZARQAWI Abu Musab az-ZARQAWI inszenierte jede Entführung medienwirksam, Entführungen indem dieser die jeweilige Geisel zuerst auf einer für die Weltöffentlichkeit bestimmten Videoaufnahme um ihr Leben flehen ließ, eine - aus Sicht der Koalition - unerfüllbare Bedingung für die Verschonung der Geisel stellte und nach Ablauf des Ultimatums der Geisel vor laufender Kamera den Kopf abschnitt. Islamistisch motivierte Terroranschläge forderten in weiteren islamisch geprägten Ländern zahlreiche Opfer. Schwerpunkte waren erneut SaudiArabien, Tschetschenien, Pakistan, Afghanistan und Indonesien. Das internationale Netzwerk des islamistischen Terrorismus finanziert sich dabei im wachsenden Ausmaß durch organisierte Kriminalität wie Geiselnahmen und Drogenhandel. Die Infrastruktur des islamistischen Terrorismus wird durch eine große Anzahl von Kriminellen unterstützt, die zwar keine Islamisten sind, aber nicht zögern, die Djihadisten mit der notwendigen Logistik wie Waffen und Sprengstoff zu versorgen, wie es bei der Vorbereitung des Attentats in Madrid am 11. März 2004 der Fall war. Durch diese Entwicklung ist nicht auszuschließen, dass auch in den hiesigen Justizvollzugsanstalten straffällig 19 gewordene Islamisten ihre Beziehungsgeflechte auszubauen versuchen, um Nachwuchs rekrutieren zu können. Auch die zahlreichen Geiselnahmen im Irak werden vorrangig von Banden ausgeführt, denen es in erster Linie um Lösegeldzahlungen geht, um ihren "Widerstand" zu finanzieren. 2.3.2. Das internationale Netzwerk der Mudjahidin Mit den im Jahr 2004 durchgeführten Anschlägen wurde erneut deutlich, wie wichtig die Beziehungsgeflechte, die sich über viele europäische Länder erstrecken, zwischen ehemaligen Afghanistan-, Tschetschenienoder Bosnienkämpfern sind. Mehrere 10.000 arabische Männer vor allem aus Jordanien, Marokko, Algerien, Saudi-Arabien und Ägypten haben nicht nur in diesen drei Konflikten an Kampfhandlungen teilgenommen, sondern als "Kämpfer" und "Verteidiger" des Glaubens versucht, die ihrer Meinung nach in Not geratenen Glaubensbrüder gegen den Feind mit logistischen und finanziellen Mitteln zu unterstützen. 2.3.3 Terrorgruppe "Ansar al-Islam" Die "Ansar al-Islam" (Unterstützer des Islam) sind eine Abspaltung der "Islamischen Bewegung im Irakischen Kurdistan" (IMIK). Obwohl sie die drittgrößte politische Kraft in der kurdischen Enklave im Irak darstellten, konnten sie bei den Wahlen 1992 nicht die nötigen 7 Prozent erreichen, um einen Sitz im regionalen Parlament zu erhalten. Die "Ansar al-Islam" wurden im September 2001 gegründet und haben sich im Nordirak festgesetzt, wo sie die kurdische Bevölkerung terrorisierten. Sie lehnen sich an die Islaminterpretation der Taliban an. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Kurdenstaats nach dem Vorbild des gestürzten Taliban-Regimes in Afghanistan. 2003 wurden die Kämpfer der "Ansar al-Islam" durch die fortgesetzten Bombardements der US-Streitkräfte im Nord-Irak wesentlich geschwächt. Der Gruppe wird vorgeworfen, in einem ihrer Lager ein Giftgaslabor betrieben und Islamisten aus aller Welt Trainingskurse in den Bergen angeboten zu haben. Anfang 2004 benannte sich eine Abspaltung der "Ansar al-Islam" in "Ansar as-Sunna" um. Die Umbenennung spiegelt vermutlich den neuen Anspruch der "Ansar as-Sunna" wider, eine größere Zielgruppe als bisher anzusprechen und nicht nur im Kurdengebiet Mitglieder zu rekrutieren. Die Gruppe besteht vorsichtigen Schätzungen zufolge aus 1.000 Kurden aus dem Nordirak. Der Anführer der "Ansar al-Islam" ist Nadjm ad-Din Faradj 20 Islamismus/Ausländerextremismus Ahmad, der Mullah KREKAR genannt wird und in Oslo lebt, wo er Asyl genießt. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es etwa 100 Anhänger und Sympathisanten der "Ansar al-Islam". Im Zuge der Aufdeckung der Anschlagsplanung auf den irakischen Ministerpräsidenten Ijad Allawi während seines Deutschlandbesuchs vom 2. bis 3. Dezember 2004 wurden drei Verdächtige in Stuttgart, Augsburg und Berlin inhaftiert. Diese Anschlagsplanung stellt insofern ein Mullah KREKAR Novum dar, als dies der erste Anschlag der "Ansar al-Islam" außerhalb des Festnahme Iraks gewesen wäre. Der in Stuttgart Festgenommene soll ein Funktionsträin Stuttgart ger der "Ansar al-Islam" gewesen und mit der Sammlung von Geld und dessen Weiterleitung in den Irak betraut worden sein. 2.3.4 Jüngere Ideologen des Djihad Die militärische Ausbildung, die in Trainingslagern vor allem in Afghanistan stattfand, hat einzelne Kämpfer zusammengeführt, die bis heute in Gruppen miteinander in Kontakt stehen. Die gemeinsame Kampferfahrung an den verschiedenen Kriegsschauplätzen und Fronten in der islamischen Welt macht diese Männer zu gefährlichen Veteranen, die in entsprechenden Zirkeln über großes Ansehen und hohe Autorität verfügen. Zu dieser Gruppe zählt der in Großbritannien inhaftierte Abu QUTADA. Der gebürtige Jordanier gilt als ein spiritueller Führer von "al-Qaida" in Europa. Offenbar hat er mit seinen Predigten Selbstmordattentäter rekrutiert. So sollen die Hamburger Attentäter des 11. September 2001 Videos mit Predigten QUTADAs angeschaut haben. Abu QUTADA An der Seite von Abu Musab az-ZARQAWI kämpfte als geistiger Führer ein jordanischer Religionsgelehrter namens Abu Anas ASCH-SCHAMI. Er studierte in Saudi-Arabien und war in den 1990er Jahren als Missionar in Bosnien-Herzegowina tätig. Nach seiner Rückkehr gründete er in Jordanien die fundamentalistische Gruppierung "Die Gesellschaft der Sunna und des Buches". 2003 verließ er Jordanien und wollte erneut seine Studien in Saudi-Arabien fortsetzen. Er tauchte aber nach kurzer Zeit im Irak an der Seite von az-ZARQAWI auf. Im Frühjahr 2004 wurde sein Tagebuch über die Kämpfe in Falludja ins Internet eingestellt. Im Juli 2004 veröffentlichte 21 die Organisation "At-Tauhid wa'l-Djihad" eine Audiobotschaft dieses Predigers, in der er das Töten von Türken und Schiiten zur Pflicht aller Muslime erklärte, wenn diese den "Ungläubigen" helfen sollten. Ihm wurde auch vorgeworfen, das brutale Töten der Geiseln theologisch gerechtfertigt zu haben. Im September 2004 fiel ASCH-SCHAMI einem gezielten amerikanischen Raketenangriff zum Opfer. Da er nun als "Märtyrer" in gewissen Kreisen eine noch höhere Legitimität und Autorität besitzt, werden seine Schriften bei der Rekrutierung und Ideologisierung des irakischen Widerstands weiterhin eine bedeutende Rolle spielen. 2.3.5 Rekrutierung Abdul Aziz al-MUQRIN war bis zu seinem Tod bei einem Schusswechsel mit den saudischen Sicherheitsbehörden im Juni 2004 der Anführer der "al-Qaida" in Saudi-Arabien und tat sich durch seinen professionellen Umgang mit dem Medium Internet hervor. Er kämpfte sowohl in Algerien als auch in Afghanistan, Bosnien und Ostafrika. Er veröffentlichte am 27. April 2004 im Internet ein Audiotape, in dem er die Muslime zum Djihad aufrief: "Wir geben der Djihad-Jugend Anweisung, ihre Bemühungen gegen die Kreuzritter und die Aggressoren zu richten, (...) Wenn Gott deren Herren besiegt, werden sie zur Hölle fahren. Hier sind die Feinde Gottes. Hier sind ihre Interessen. Sie töten eure muslimischen Brüder Töten von überall, in Palästina, in Tschetschenien, in Afghani"Ungläubigen" stan und im Irak. Tötet sie, wo immer ihr sie findet als Pflicht aller und blockiert ihre Wege, um eure Seelen zu reiniMuslime gen und um sie zum Scheitern zu bringen und um Gott dem Allmächtigen zu gefallen, dessen Macht die meisten Menschen nicht kennen."10 Die Rekrutierung von Kämpfern geschieht vermehrt durch die immer professioneller werdende Propaganda im Internet, so dass die Netzwerke nicht unbedingt auf "Rekrutierungsbüros" und "Werber" angewiesen sind, die ständig Gefahr laufen, von den Sicherheitsbehörden identifiziert und 10 Internetauswertung einer Gewaltpropagandawebsite vom 7. Dezember 2004. 22 Islamismus/Ausländerextremismus gestellt zu werden. Im Fall Saudi-Arabien zeichnet sich deutlich ab, dass die Schlagkraft der Djihadisten und die Rekrutierung neuer Mitglieder allenfalls kurzzeitig darunter leiden, dass Funktionsträger und Strategen wie al-MUQRIN von den lokalen Sicherheitskräften verhaftet oder getötet werden. Die Strukturen dieser Netzwerke und Zellen sind flexibel. Kommunikation und Propaganda finden über das Internet statt. Al-MUQRIN selbst war Mitte der 90er Jahre Ausbilder in einem bosnischen Trainingslager der Mudjahidin und kam 2004 zu der Überzeugung, dass in dieser Phase des Djihads Trainingslager nur noch bedingt nötig seien, da den Anhängern via Internet die nötigen Instruktionen wie Details einer Anschlagsplanung, Entführung, Bombenbau, konspiratives Vorgehen oder Verhalten bei Verhören zur Verfügung stünden. Wie az-ZARQAWI erkannte auch al-MUQRIN die wachsende globale Bedeutung des Internets. Beide sind ein Beispiel dafür, wie sich die international agierenden Mudjahidin das Internet zu Nutze machen, nachdem die Amerikaner durch ihren Kampf gegen den Terror die Aufrechterhaltung der Djihad-Ausbildung in Trainingslagern beträchtlich erschwert hatten. Al-MUQRIN war der Herausgeber der 14-tägig erscheinenden Internetpublikation "Muaskar al-Battar" (Militärlager al-Battar11), die sich vorwiegend an die Djihadisten auf der Arabischen Halbinsel wendet, die Djihad-Training jedoch auch für die Terrornetzwerke außerhalb Saudi-Arabiens wertvolle im Internet Informationen zu Waffenkunde und Anleitungen für Anschlagsplanungen beinhaltet. Nach dem Tod al-MUQRINs erschien "Muaskar al-Battar" ohne Unterbrechung in gewohntem Format weiter. Die Rekrutierung in Europa von Kämpfern für den Widerstand im Irak hat bereits erste Opfer gefordert. So sind vier französische Staatsbürger nordafrikanischer Abstammung bei Selbstmordanschlägen und in Kämpfen bei Falludja im Jahr 2004 gefallen. Nach Schätzungen sollen mehrere Dutzend Kämpfer aus europäischen Ländern im Irak aktiv sein. Es handelt sich dabei nunmehr um die dritte Generation von Mudjahidin, die weder in Tschetschenien, Bosnien noch Afghanistan gekämpft haben. 11 Al-Battar ist der Name eines berühmten Schwerts, das der Prophet geführt haben soll. 23 2.3.6 "Al-Qaida" und ihre Djihad-Propaganda Im Jahr 2004 hat die Propagandatätigkeit von Verfechtern eines gewaltsamen Kampfes, des Djihad, gegen den Westen noch einmal zugenommen. Vor allem das Internet spielte hier eine dominierende Rolle. Aber auch die beinahe schon üblich gewordenen Videound Tonbotschaften der Führungsspitze von "al-Qaida" wurden 2004 bevorzugt über den arabischsprachigen Satellitensender al-Jazeera veröffentlicht. Am 4. Januar tauchte ein Tonband mit der Stimme BIN LADINs auf, in dem er die Muslime zum Djihad gegen die amerikanischen Truppen im Mittleren Osten aufrief. In einem weiteren Tonband, das am 15. April gesendet wurde, bot BIN LADIN den europäischen Ländern, die keine Muslime angreifen würden, einen Waffenstillstand an. Gleichzeitig forderte er Rache für die Ermordung des HAMASScheichs Ahmad YASSIN. Am 6. Mai tauchte in Dr. Ayman al-ZAWAHIRI einem Internetforum ein weiteres Band auf, in dem TerrorBIN LADIN Gold als Belohnung für die Ermordung von US-Soldaten und botschaften UN-Mitarbeitern auslobte. Sein Stellvertreter Dr. Ayman al-ZAWAHIRI meldete sich am 9. September und drohte in einem Video, dass die Amerikaner in Afghanistan und im Irak eine Niederlage erleiden würden. In einer weiteren Tonbotschaft vom 1. Oktober rief al-ZAWAHIRI die muslimische Jugend zum Kampf auf. Selbst wenn die Führer von "al-Qaida" den "Märtyrer"-Tod gestorben seien, sollten sie den Kampf fortsetzen und die Amerikaner und ihre Alliierten angreifen. Am 29. Oktober sendete al-Jazeera kurz vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Video, das BIN LADIN zeigte. In dieser Botschaft sprach er darüber, dass die Amerikaner einen zweiten "11. September" nur dann verhindern könnten, wenn sie die Sicherheit der Muslime gewährleisteten. Auffallend an dieser Botschaft war, dass BIN LADIN sie wie ein Politiker vom Blatt ablas, ohne die übliche Kalaschnikow zur Seite zu haben. Als al-ZAWAHIRI sich am 29. November erneut in einem Video zeigte, machte er mit eben dieser Kalaschnikow klar, dass der Kampf gegen die Vereinigten Staaten weitergehe, wenn sich die Politik Washingtons nicht ändere. Die Propagandaseiten im Internet und die dort verbreiteten Inhalte beziehen sich in erster Linie auf die bekannten Konfliktherde: Irak, Tschetschenien, Saudi-Arabien und Palästina. Vor allem die Ereignisse im Irak machen es Djihad-Propagandisten leicht, Muslime als Opfer darzustellen, die man nur durch Gewalt verteidigen und rächen könne. Nicht zuletzt die Angrif24 Islamismus/Ausländerextremismus fe auf Falludja und die Folterungen in amerikanischen Gefängnissen versorgten die Aktivisten mit Propagandamaterial, das sie auf zum Teil äußerst professionell betriebenen Seiten im Internet verbreiten konnten. Die einschlägigen Terrorseiten, von denen es inzwischen mehrere tausend im Internet geben soll, verfolgen mehrere Ziele und bedienen verschiedene Zielgruppen. Zunächst wenden sie sich an einen Sympathisantenkreis und andere Terroristen. Informationen werden ausgetauscht, mögliche Mitkämpfer sollen rekrutiert werden. Da mit der Zerstörung der Ausbildungslager in Afghanistan eine wichtige Basis für die Rekrutierung von Kämpfern weggefallen ist, werden die Ausbildungsinhalte Internetseite von "The Army of Ansar Alsunnah" über das Internet einem breiten Publikum bekannt gemacht. Handbücher und Texte erläutern, wie verschiedene Waffensysteme funktionieren, was beim Bau von Bomben zu beachten ist, wie man mit Behörden umgeht und wie man konspirativ kommunizieren soll. Dieses praktische Wissen wird mit ideologischen Inhalten unterfüttert. Internetbanner mit dem Konterfei von Abdullah AZZAM So finden sich auf den Seiten noch immer Reden und Videomitschnitte von Abdullah AZZAM, einem Afghanistanveteran, der als Vordenker des Djihadismus gilt. Jüngere Schriften stammen von Djihad-Ideologen der arabiDjihadschen Halbinsel aus Saudi-Arabien. Vor allem die theoretischen Schriften Ideologen Yusuf AYIRIs finden eine große Verbreitung. Bis zu seinem Tod in einem Feuergefecht mit saudischen Sicherheitskräften im Juni 2003 soll er als Internetexperte von "al-Qaida" auf der arabischen Halbinsel tätig gewesen sein. Er genießt in der Szene hohes Ansehen, da er bereits in Afghanistan gegen die Sowjettruppen gekämpft haben soll. Angeblich ist er auch ein persönlicher Leibwächter BIN LADINs gewesen. Sein Buch "Die Wahrheit über den Neuen Kreuzfahrerkrieg" liefert eine theologische Rechtfertigung der Anschläge vom 11. September 2001. In einer weiteren Schrift "Die Zukunft des Irak und der Arabischen Halbinsel nach dem Fall Bagdads" hegt AYIRI die Hoffnung, dass nun der Djihad die ganze Region erfassen werde. 25 Ein weiteres Ziel der Djihad-Propaganda ist die psychologische Kriegsführung, in deren Rahmen der Feind eingeschüchtert werden soll. Durch das Zeigen grausamster Bilder von Hinrichtungen wie das Köpfen von Geiseln oder aber von Anschlägen und deren blutige Folgen soll insbesondere der Betrachter im "Westen" in Angst und Schrecken versetzt werden. Auf diesen Seiten wird dem Feind gedroht und gezeigt, dass die eigenen Kämpfer keine Angst vor dem Tod haben. Die toten Kämpfer werden dort beinahe wie Heilige als "Märtyrer" verehrt und als nachahmenswerte Vorbilder vorgestellt. irakische Die über einen längeren Zeitraum erreichbare Webseite der az-ZARQAWITerrorwebsite Gruppe "Tauhid wa'l-Djihad" zeigte den Trend zu brutalen Bildern, mit denen man die erklärten Feinde einschüchtern möchte, besonders deutlich. Lud man diese Seite auf einem Computer, so erklang ein Bittgebet, dem zufolge der gesamte Westen mit göttlichem Zorn ausgelöscht werden soll. Dieses freigesprochene Bittgebet ("Dua") nimmt inzwischen weltweit in islamistischen Zirkeln eine herausgehobene Stellung ein. Es stammt von einem renommierten Scheich in Saudi Arabien, der dieses Gebet im Ramadan des Jahres 2001 in Mekka formuliert hatte und daraufhin von den saudischen Behörden verhaftet wurde. Eine im Internet besonders aktive englische Gruppierung "al-Muhajiroun" nahm diese Tonspur und unterlegte sie mit entsprechend propagandistischen Bildern. Die Botschaft dieses Films traf auch in deutschen islamistischen Kreisen auf Zustimmung. In einigen Chaträumen wurde die Adresse verbreitet, unter der man diesen knapp neunminütigen Film betrachten und herunterladen konnte. Viele, die ihn sahen, schrieben, dass sie zu Tränen gerührt und tief bewegt waren. Das lag vor allem an den grausamen Bildern von muslimischen Kindern, die als Kriegsopfer gezeigt werden. Ein anderes Dokument djihadistischer Propaganda ist der Brief einer vermeintlichen Frau eines "Märtyrers" in Saudi-Arabien an die Frau des als Geisel in Saudi-Arabien geköpften Amerikaners Paul Johnson. Das Schriftstück wurde 2004 online in dem Djihad-Magazin "Saut al-Djihad" (Stimme des Djihad) veröffentlicht. Dort schrieb die angebliche Märtyrerwitwe: "Ich habe gehört, dass du im Fernsehen gezeigt wurdest und dich wunderst, welches Verbrechen dein 26 Islamismus/Ausländerextremismus Mann begangen haben soll. Wahrscheinlich weißt du, dass er einer der größten Kriminellen war, obwohl er aus Sicht der Ungläubigen unschuldig war. Denn sie nennen die Unschuldigen, die ihre Rechte verteidigen, kriminell, und die Schuldigen unschuldig (...) Was war wohl der Grund dafür, dass dein Mann an den Apache Helikoptern gearbeitet hat. Glaubtest du, dass diese Helikopter über Afghanistan, Palästina und dem Irak Blumen und Süßigkeiten über die Köpfe der Kinder aus schütten? (...) Du sollst wissen, dass unsere Brüder, die ihr in euren Gefängnissen haltet und die Brüder, die dein Mann mit dem Hubschrauber verbrannte, nicht allein sind. Denn es gibt Herzen, die für sie schlagen, so wie dein Herz für deinen Ehemann schlug. Nein, wir lieben sie mehr, als du dir vorstellen kannst, denn das Blut eines Muslims ist für uns wertvoller als die Kaaba12, aber das Blut deines Mannes ist das Blut eines Hundes, weil er ein Götzen anbetender Ungläubiger ist. Weißt du, dass wir noch nichts für das vergossene Drohbrief einer Blut der Muslime und das Blut meines Mannes Märtyrerwitwe unternommen haben? Wir haben gerade begonnen, und der Leiche deines Mannes mögen noch Berge von Leichen seiner Landsleute folgen, wenn sie nicht das Land des Propheten verlassen".13 Dieser Brief rechtfertigte die Tötung von Ausländern in Saudi-Arabien und enthielt die Drohung, diese weiterhin zu entführen oder zu töten. Im Jahr 2004 kam es immer wieder zu gezielten Anschlägen auf Ausländer. Diese Anschläge wurden auf den Internetseiten gefeiert. Sie würden - so die Drohung - so lange fortgeführt, bis alle Ausländer Saudi-Arabien verlassen hätten. Auf den teilweise schwer zu findenden Netzseiten findet sich neben einem umfangreichen Schrifttum, das im engeren Zirkel islamistischer Kreise wahrgenommen wird und propagandistisch hoch wirksam ist, auch umfangreiches Tonmaterial von Reden, Vorträgen und Predigten. In den letzten Monaten des Jahres 2004 wurden Bilddokumente, Videos und digitale Ein12 Islamisches Heiligtum in Mekka; Ziel der dem Muslim vorgeschriebenen Pilgerreise. 13 Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg aus dem Arabischen. 27 zelbilder ein immer wichtigeres Medium für die Übermittlung der blutigen Botschaften. Daneben konnte sich der Personenkreis, der sich für den Djihad begeisterte, auch Lieder und Gedichte auf diesen Propagandaseiten anhören und lesen. Die Wirkung dieser Propaganda auf Muslime im Ausland ist nicht zu unterschätzen. Die Inhalte dieser Seiten kommen in Europa und hier in Deutschland in bestimmten Kreisen an. Besonders deutlich wurde dies am Mord an 2. November 2004, als der niederländische Filmemacher Theo van Gogh Theo van Gogh von einem jungen Attentäter getötet wurde. Er war von dieser Art Propaganda derart beeinflusst, dass er seinem Opfer die Kehle zu durchschneiden versuchte und einen Text auf dem Opfer zurückließ, der dieselbe hasserfüllte Sprache wie die Djihad-Propaganda zeigte. 2.3.7 Weltweite Spuren der Gewalt Wie im Vorjahr kam es erneut weltweit zu schweren terroristischen Anschlägen mit islamistischem Hintergrund. Viele dieser Terrorakte lassen sich aufgrund von polizeilichen Ermittlungen, entsprechenden Bekennerschreiben oder -videos unmittelbar einer bestimmten Gruppe oder ideologischen Richtung zuordnen. Auf beinahe jeden Anschlag folgte eine Reaktion auf den einschlägigen Websites. Europaweit wurden unterschiedliche Aktivitäten von islamistischen Terrorzellen festgestellt, die zu Verhaftungen in Spanien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien führten. Die blutige Spur der Anschläge und Terrorakte durchzieht große Teile der islamischen Welt. Schwerpunkte waren auch im Jahr 2004 der Irak, SaudiArabien, Israel, Tschetschenien, Indonesien und Pakistan. Aber auch in Westeuropa schlugen die Terroristen blutig zu. Spanien und die Niederlande wurden von islamistisch motivierten Gewalttaten erschüttert. An dieser Stelle sei nur an die schlimmsten Ereignisse dieser Art erinnert: Am Vormittag des 11. März ereigneten sich in Madrid/Spanien mehrere Explosionen in vier Vorortzügen, als diese in verschiedene Bahnhöfe einfuhren. 191 Menschen starben und über 1.500 Menschen wurden verletzt. Die Täter waren überwiegend aus Marokko stammende Einwanderer mit Beziehungen zum "al-Qaida"-Netzwerk. Als die Wohnung, in der sich mehrere Ver28 Islamismus/Ausländerextremismus dächtige aufhielten, am 4. April von Spezialkräften der spanischen Polizei gestürmt wurde, sprengten sich diese Mudjahidin in die Luft. Dabei starben fünf Verdächtige, einer hatte noch eine Sprengladung um seinen Körper gebunden. Ein Polizist wurde von der Wucht der Explosion getötet und 15 weitere zum Teil schwer verletzt. Am 2. November ermordete ein junger Mann marokkanischer Abstammung in Amsterdam/Niederlande auf offener Straße den Filmemacher Theo van Gogh. Das am Tatort zurückgelassene Schreiben gab Auskunft über die islamistische Motivlage des Attentäters. Der brutale Mord wies Elemente auf, die darauf hindeuteten, dass der Attentäter von grausamster Internetpropaganda beeinflusst war. Im Irak verging beinahe kein Tag, an dem nicht mehrere Anschläge durchgeführt wurden. Bei diesen Bluttaten starben Hunderte von Menschen. Ziele der Anschläge waren nicht nur die Besatzungstruppen, sondern auch irakische Infrastruktureinrichtungen wie Pipelines oder Kraftwerke. Kirchen wurden zum Ziel von Anschlagsserien. Furchtbare Folgen hatten die Anschläge auf Rekrutierungsbüros des irakischen Militärs oder irakische Polizeistationen. Am 1. Februar wurden in Erbil 117 Menschen bei einem Doppelanschlag auf die Büros zweier Kurdenparteien14 getötet. Am 10. Februar starben in Iskanderiya mehr als 50 Menschen, nachdem sich ein Selbstmordattentäter vor einem Rekrutierungsbüro in die Luft gesprengt hatte. Die schiitischen Pilgerzüge in Bagdad und Kerbala wurden am 2. März, dem Aschuraund damit dem höchsten schiitischen Fest Ziel von Bombenanschlägen. 271 Tote und Hunderte Verletzte waren zu beklagen. Seit Beginn des Jahres 2004 kam es im Irak immer häufiger zu Geiselnahmen. Gruppen mit sehr unterschiedlichen ideologischen oder kriminellen Hintergründen haben Hunderte irakischer Ärzte, Geschäftsleute und deren Verwandte als Geiseln genommen. Für Schlagzeilen sorgten die Entführungen von mehr als hundert Ausländern, die entweder als Lastwagenfahrer, als Journalisten oder Mitarbeiter von Hilfswerken im Land waren. Über 30 sind gesteigerte von ihren Entführern ermordet worden. Brutalität 14 Betroffen waren Büros der "Demokratischen Partei Kurdistans" (KDP) und der "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK). 29 Am 11. Mai 2004 wurde der Amerikaner Nick Berg von seinen Geiselnehmern enthauptet. Mit dieser Tat begann eine Serie grausamer Hinrichtungen. Die Entführer veröffentlichten jedes Mal die Bilder ihrer blutigen Tat im Internet. Die Brutalität der Geiselnehmer kannte dabei keine Grenzen. Einige islamische Gelehrte gossen immer wieder zusätzlich Öl in das Feuer, indem sie zum Widerstand gegen die Truppen der Amerikaner und deren Verbündete aufforderten. Im November 2004 wandten sich 26 einflussreiche saudische Gelehrte mit einem offenen Brief an die islamische Welt, in dem sie den "Kampf gegen die Besatzer" zur Pflicht eines jeden Muslim erklärten.15 Einzelne Gelehrte gingen so weit, dass sie Geiselnahme, Bombenanschläge und andere Terrorakte im Irak als Formen legitimen Widerstands oder des Djihads zur Verteidigung der Muslime erklärten. Am 18. Juni 2004 wurde der entführte Amerikaner Paul Johnson von seinen Entführern in Saudi Arabien enthauptet. Damit wurde die in einer Videobotschaft ausgesprochene Drohung, wonach man die Köpfe der "Ungläubigen" abschneiden wollte, erneut in die Tat umgesetzt. In Khobar kam es am 29. Mai 2004 in einem Wohnkomplex ausländischer Ölarbeiter zu einer Geiselnahme. Bei der Erstürmung durch saudische Spezialeinheiten starben 22 Menschen. Die Geiselnehmer erklärten in einer Internetbotschaft, dass sie einen schwedischen "Ungläubigen" geköpft und dessen Kopf am Eingang des Gebäudekomplexes abgelegt hätten. In Ägypten wurden am 7. Oktober 2004 israelische Urlauber auf der Sinaihalbinsel das Ziel von zwei Anschlägen. Dabei starben 29 Menschen und 122 wurden verletzt. In Taba wurde das Hilton-Hotel teilweise zerstört, als ein Geländewagen mit Sprengstoff auf dem Hotelparkplatz explodierte. Auf einem Campingplatz zündeten Terroristen zwei kleinere Sprengsätze. Dabei kamen vier Menschen ums Leben. In Russland stürzten am 24. August 2004 beinahe zeitgleich zwei Flugzeuge auf Inlandsflügen ab. Die Untersuchungen an den Wracks ergaben, dass zwei Selbstmordattentäterinnen tschetschenischer Herkunft Sprengsätze in ihrem Gepäck gezündet hatten. Weltweit für Entsetzen sorgte die Geiselnahme am 1. September 2004 in einer Schule in der Kleinstadt Beslan in Nordossetien. Den Terro15 Homepage von al-Jazeera vom 6. November 2004. 30 Islamismus/Ausländerextremismus risten gelang es, über 1.000 Menschen, die den Schuljahresbeginn feierten, in ihre Gewalt zu bringen. Als nach drei Tagen die Schulgebäude gestürmt wurden, starben nach offiziellen Angaben 344 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Die überwiegende Zahl der Anschläge seit dem 11. September 2001 galt so genannten weichen Zielen (soft targets), die aufgrund ihrer Vielzahl kaum geschützt werden können. Das Jahr 2004 ließ auch aufgrund der Entwicklungen im Irak die internationale Gefahr durch islamistische Terroristen nicht zurückgehen. Die Gefahr, die von diesen Gruppierungen ausgeht, blieb und bleibt hoch. 2.4 Islamistische Organisationen aus dem arabischen Raum 2.4.1 Islamistische Organisationen aus dem sunnitischen Bereich 2.4.1.1 Die "Muslimbruderschaft" (MB) und ihre nationalen Ableger Die "Muslimbruderschaft" (MB) wurde 1928 in Ägypten von dem Grundschullehrer Hassan al-BANNA16 gegründet, der damit den Grundstein für den Islamismus legte. Das Ziel der MB war eine Reformierung und "Erziehung" der Gesellschaft, damit sie wieder zum "wahren Islam" zurückfinde. Die Ideologie der MB umfasst sowohl die Vorstellung davon, wie der ideale islamische Staat auszusehen hat, als auch das Konzept einer idealen islamischen Gesellschaft. Die MB lehnt den NationalHassan al-BANNA staatsgedanken ab und strebt die InternationalisieInternationarung ihrer Ideologie an. Ihr Ziel ist die "Islamische Nation". Die politischen lisierung ihrer und wirtschaftlichen Eliten in der islamischen Welt werden als korrupt, Ideen als Ziel dekadent und pro-westlich abgelehnt, während den Geistlichen im Staatsdienst unterstellt wird, von den jeweiligen Regimen instrumentalisiert zu werden. 16 Der Ägypter Hassan al-BANNA (1906-1949) nahm bereits 1919 an antibritischen Revolten in Ägypten teil. Systematische Werke von al-BANNA existieren nicht: In offenen Briefen ("Sendschreiben") unterwies er seine Anhänger. Die zentrale Idee seiner Lehre begreift den Islam als ein auf sich selbst beruhendes totales System, das auf dem Koran und der Sunna basiert und zu jeder Zeit an jedem Ort anwendbar ist. "Die Ordnung des Islam" ist auf keine bestimmte Regierungsform wie Demokratie oder Monarchie festgelegt. 31 Nach dem Tod von Ma'mun al-HUDAIBI, dem sechsten "Obersten Führer" (Al-murshid al-amm) der "Muslimbruderschaft", wurde Mahdi AKIF17 im Alter Wechsel von 76 Jahren am 9. Januar 2004 zu seinem Nachfolger an der Fühgewählt. AKIF hatte Anfang der 80er Jahre sechs Jahre rungsspitze in Deutschland gelebt, war Leiter des "Islamischen Zentrums in München" (IZM) und für die europäischen Zweigstellen der "Muslimbruderschaft" verantwortlich. Er rühmt sich, dass die Führungsleute der meisten "islamischen Bewegungen" einschließlich des derzeitigen türkischen Premierministers seine Schüler Mahdi AKIF gewesen seien. 1996 wurde AKIF in Kairo aufgrund seiner aktiven MB-Mitgliedschaft von einem Militärgericht zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Anlässlich der Trauerfeier des bei einem israelischen Luftangriff getöteten Führers der zur MB gehörenden HAMAS, Scheich Ahmad YASSIN, rief AKIF im März 2004 vor 7.000 Demonstranten zum "Heiligen Krieg gegen die Zionisten und die, die hinter ihnen stehen"18, auf, womit er in erster Linie die USA meinte. Nach der gezielten Tötung des neuen HAMAS-Führers Abd al-Asis al-RANTISSI im April 2004 durch die Israelis sagte AKIF: "Worte sind nicht genug, Taten sind notwendig, die Ermordung von al-Rantissi wurde mit dem grünen Licht des Weißen Hauses vollzogen. Wir müssen Amerika und die Zionisten boykottieren und jede Art von Beziehung mit ihnen einstellen. Wir wollen keine Feindschaft zu unseren Herrschern zeigen; wir wollen, dass sie mit uns kooperieren und ihren Nationen die Freiheit geben, die Zionisten und Amerikaner zu boykottieren. Alle - Herrscher und Beherrschte - müssen sich zusammenschließen, um der feigen Herabsetzung der Werte und der arabi17 AKIF soll Mitglied des paramilitärischen Flügels der "Muslimbruderschaft" gewesen sein und gegen die britischen Besatzer in Ägypten gekämpft haben. Er war unter dem Oberst und späteren ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abd el-Nasser wegen Umsturzplänen zum Tode verurteilt worden und verbrachte nach Aufhebung des Todesurteils 20 Jahre im Gefängnis (1954-1974). 18 Artikel "Nahostkonflikt" auf T-Online-Nachrichtenwebsite vom 25. März 2004. 32 Islamismus/Ausländerextremismus schen und muslimischen Länder Einhalt zu gebieten." 19 Sein Ton verschärfte sich im Lauf des Jahres noch. Im August 2004 veröffentlichte er einen Appell, in dem er seine Unterstützung des irakischen Widerstands zum Ausdruck brachte: "Es gibt keine Alternative, als dass die [muslimiAufruf zum schen] Völker ihre politische und nationale UnterWiderstand stützung des Widerstands fortsetzen, materiell und moralisch, in Palästina, Irak und Afghanistan (...)"20 Die jahrzehntelange Verfolgung der MB in Ägypten und der ideologische Anspruch der Internationalisierung der MB-Ideologie hatte allmählich die Ausbreitung dieser Organisation in der gesamten arabischen Welt zur Folge. Dies führte im Laufe der Zeit zur Gründung zahlreicher nationaler "Zweigregionale stellen". Diese Ableger vertraten neben dem originären Gedankengut der Ableger MB die nationalen Interessen des jeweiligen Ablegers. Das manifestierte sich teilweise in erbitterter Gegnerschaft gegen die lokalen Regime, was in einigen Fällen die Anwendung von Gewalt mit einschloss. Nach wie vor werden von den militärischen Flügeln der jeweiligen nationalen Ableger trotz der Distanzierung der MB von Gewalt blutige Übergriffe verübt. Die algerische "Islamische Heilsfront" (FIS) verfügte beispielsweise über einen militärischen Flügel, die "Islamische Armee der Errettung" (AIS), aus der wiederum die Splittergruppen "Islamische Bewaffnete Gruppe" (GIA) und "Gruppe für Predigt und Kampf" (GSPC) hervorgingen. Beide zeigten eine noch größere Gewaltbereitschaft und sind für Gräueltaten in großem Ausmaß verantwortlich. Auch der palästinensische MB-Ableger "Bewegung des islamischen Widerstands", besser bekannt als HAMAS21, verfügt über einen kämpfenden Flügel, die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden", die ebenfalls massive Gewalt in Form von Selbstmordattentaten gegen Zivilisten anwenden. Sowohl die Ursprungsorganisation als auch deren nationale Ableger können auf Anhänger und Sympathisanten in Deutschland und Baden-Württemberg zurückgreifen, die wiederum versuchen, über Organisationen beziehungsweise informelle Strukturen zu agieren. 19 Arabisches Nachrichtenportal vom 12. November 2004; Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 20 URL: http://www.freemuslims.org/news vom 12. November 2004. 21 "Harakat al-Muqawama al-Islamiya". 33 2.4.1.1.1 "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) ist eine einflussreiche sunnitische Organisation arabischer Islamisten in Deutschland, die seit 1960 besteht und ihren Hauptsitz in München hat. Sie unterhält eine Zweigstelle in Stuttgart. Es gibt in Baden-Württemberg noch weitere "Islamische Zentren", die mit der IGD nach eigenen Angaben in Koordination stehen (Karlsruhe, Sinsheim und Tübingen). 2004 fand eine juristische und organisatorische Umstrukturierung der "Islamischen Zentren" statt. In Baden-Württemberg, wo der IGD circa 190 Mitglieder beziehungsweise Sympathisanten zugerechnet werden, ist sie im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg" vertreten. Der sich als "unabhängig" bezeichnende Dachverband "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) vertritt auch die Interessen der IGD, die Mitglied im ZMD ist. Auf europäischer Ebene ist die IGD als Mitglied der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE)22 vertreten. Die Außendarstellung der IGD ist aus taktischen Gründen allerdings bewusst moderat gehalten. Im Gegensatz zum IGD-Jahrestreffen 2003 fand das Jahrestreffen 2004 in den Medien kaum Beachtung. Es wurde in Essen am 18. September und einen Tag später in Berlin unter dem Motto "Muslime in Deutschland, Bereicherung statt großer Bedrohung!" durchgeführt. Eigenen Angaben Zulauf bei zufolge nahmen in Essen rund 10.000 und in Veranstaltung Berlin etwa 3.000 Personen an den Veranstaltungen teil. Zu den Rednern gehörten sowohl Personen aus Deutschland als auch Vortragende, die aus dem Ausland angereist waren. Es sprachen unter anderem Ahmad von DENFFER vom "Islamischen Zentrum in München" (IZM), Dr. Murad HOFMANN, Professor Issam al ATTAR, Amr KHALED und Dr. Omar ABD al-KAFI. Als Funktionsträger waren auch der Generalsekretär der türkisch-islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG), Oguz ÜCÜNCÜ, und der Vorsitzende des ZMD, Nadim ELYAS, eingeladen. 22 Die FIOE pflegt als internationaler Dachverband die Auslandsbeziehungen und vertritt offiziell die Position, die zentrale Anlaufstelle im sunnitisch-islamischen Bereich zu sein. Ihre politische Linie ist darauf ausgerichtet, sich eine zunehmend stärkere Position zu sichern, um andere islamische Organisationen und Vereine kontrollieren zu können. Ideologisch sieht sich die FIOE dem Erbe des Gründers der "Muslimbruderschaft", Hassan al-BANNA, verpflichtet. 34 Islamismus/Ausländerextremismus Mit dem Ägypter KHALED konnte die IGD einen in der gesamten arabiprominente schen Welt ausgesprochen populären Referenten gewinnen. Er wird auch "Muslimbrüder" als "Jugendimam" bezeichnet, weil er vor allem die arabischsprachige Jugend und die Frauen der muslimischen Gemeinden weltweit anspricht. Durch den islamischen Satellitensender Iqra hat KHALED die Möglichkeit, wöchentlich seine Ansichten zu verbreiten. Vermutlich wurde ihm seitens der ägyptischen Behörden nahe gelegt, nicht mehr in Ägypten zu predigen, worauf er seinen Wohnsitz zu Studienzwecken nach London verlegte. KHALED ist in vielfältiger Weise mit wichtigen Personen aus dem Umfeld der "Muslimbruderschaft" verbunden. Er selbst gilt aber in der öffentlichen Wahrnehmung als ein "unpolitischer" Vertreter des Islam, der sich vor allem der alltäglichen Probleme von heranwachsenden Muslimen annimmt. Bei seinen Ansichten handelt es sich freilich um einen streng dogmatischen Islam in scheinbar modernem Gewand. Amr KHALED Al-KAFI findet besonders bei der wohlhabenden Schicht und bei Prominenten Gehör. Er hat einige prominente Araberinnen überzeugen können, den Schleier zu tragen, unter ihnen auch eine bei al-Jazeera beschäftigte algerische Nachrichtensprecherin. Sie ist die einzige der zahlreichen Moderatorinnen und Nachrichtensprecherinnen des populären Satellitensenders, die den Schleier trägt. Die Wirkung auf junge Musliminnen, die in der islamischen Welt nur wenige weibliche Vorbilder in gehobenen Positionen finden, ist nicht zu unterschätzen. Der frühere Führer der MB in Syrien, Professor Issam al-ATTAR, der nach seiner Flucht aus Syrien in Deutschland lebt, hat im August 2004 ebenfalls den Appell23 der MB unterschrieben, der zur Unterstützung derjenigen Kräfte aufforderte, welche die Koalition im Irak bekämpfen. Dieser Aufruf, der von der in London erscheinenden arabischen Zeitung al-Quds al-Arabi am 23. August 2004 veröffentlicht wurde, wurde von 93 Islamgelehrten und Führungspersönlichkeiten islamistischer Organisationen aus aller Welt unterschrieben, darunter von islamistischen Meinungsführern wie dem HAMAS-Führer Khaled MASHAL, dem Generalsekretär des "Palästinensischen Islamischen Djihad", Dr. Ramadan Abdallah SHALAH, und dem Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan NASRALLAH. 23 Vgl. oben S. 33. 35 Damit hatte die IGD für ihr Jahrestreffen 2004 Personen eingeladen, die keineswegs für eine moderate Auslegung islamischer Prinzipien stehen und die - wie im Fall von al-ATTAR - prinzipiell für eine Fortsetzung der "Widerstands"-Handlungen im Irak eintreten. Andererseits präsentierte die IGD mit KHALED jemanden, der ihr ein "modernes Gesicht" gibt und ein breites Spektrum der in Deutschland lebenden Muslime anspricht. Die IGD erklärt "die Entwicklung eines europäischen Fiqhs"24 zu ihrem Ziel, "der den Erfordernissen der Lebensweise in Europa gerecht wird".25 Dies soll offenbar auch dadurch erreicht werden, dass man bei Veranstaltungen wie dieser insbesondere den muslimischen Frauen und der jungen Generation einen Islam präsentiert, der eine "positive Integration" in der deutschen Gesellschaft ermöglichen soll. Dieser Begriff wurde von im Westen lebenden Muslimen als Abgrenzung zum Begriff "Assimilation" geprägt, was nach Ansicht vieler Muslime in Europa die negative Variante der Integration darstellen würde. Schon im Jahr 2003 hatte eine Rednerin bei der IGD-Jahresversammlung dargelegt, wie in ihren Kreisen "Integration" verstanden werden könnte: Von der lateinischen Grundbedeutung ausgehend, sehe man "Integration" als ein islamisches Angebot für eine Gesellschaft, die offensichtlich heilen"Islam als der Eingriffe bedürfe. Somit wird eine islamische Lösung nach ihrer InterMedizin" pretation gleichsam als ein Medikament für eine (kranke) säkulare Gesellschaft wie die deutsche gereicht.26 Deutlich wird diese Position auch durch Darstellungen Murad HOFMANNs auf der Homepage der IGD. Dort wird zum Beispiel gefordert, den säkularen Staat und damit die jetzigen Grundlagen unserer Verfassung zu hinterfragen: "Im moralischen Bereich erlebt der säkulare Staat eben seine Grenzen. Das Abschieben der Religion ins Private - chacun a son gout - erwies sich als erster Schritt ihrer Abschaffung als gesellschaftlich wirksame Kraft. Krass gesagt: Ohne verfasste Religion geht jeder Staat früher oder später, aber ganz sicher, moralisch bankrott."27 24 Islamisches Recht, wie es von den islamischen Rechtsgelehrten ausgearbeitet wurde. 25 IGD-Satzung vom Januar 2002. 26 IGD-Homepage vom 17. Dezember 2003. 27 Hier und im Folgenden: Murad HOFMANN in seinem Beitrag "Religion als Privatsache? - Zur Rolle der Religion im öffentlichen Raum -", eingestellt auf der IGD-Homepage vom 18. Januar 2005. 36 Islamismus/Ausländerextremismus Nachdem HOFMANN den Säkularismus als potenziellen Nährboden für faschistische, kommunistische und nazistische Ideologien darstellt, räumt er in demselben Beitrag ein: "Im Westen vergötterten säkularistische Ideologen zwar nicht Staat und Nation, wohl aber das Individuum; die Folgen waren und sind ebenfalls fatal. Schließlich wären der krasse westliche Materialismus und Konsumerismus ohne die Verbannung der Religion ins Private undenkbar." Dies verdeutlicht seine ablehnende Haltung gegenüber der Rolle des Individuums im Westen, welche er als "Vergötterung" des Einzelnen empfindet und deren positive Aspekte wie persönliche Freiheit und Persönlichkeitsrechte er völlig ausblendet. HOFMANN reduziert damit die Folgen der Selbstbestimmung des Bürgers auf Auswüchse, die er abfällig als "moralische Libertinage" bezeichnet. Für gesellschaftliche Probleme wie "Alkoholismus, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Kinderpornographie, Abtreibung, Gewalt in der Schule, aggressive Homosexualität und InternetAutismus" macht er somit ebenfalls den Säkularismus verantwortlich. Ein funktionierendes Wertesystem kann - so sein Fazit - nur auf der Verbindung von Staat und Religion funktionieren: "Wir müssen uns daher bewusst werden, dass Religion nirgendwo nur Privatsache ist, und gute Miene zu der Rolle zu machen, die Religionen nun einmal "Islam als unvermeidlich im öffentlichen Raum spielen. Darstaatstragende unter in Deutschland als eine staatstragende ReliReligion" gion der Islam." Das verstärkte Bemühen der IGD um die Jugend und die Frauen ist ein Schwerpunkt bei der von der "Muslimbruderschaft" als notwendig erachteten "Erziehung der Gesellschaft". Dabei handelt es sich um einen pragmatischen Ansatz, um die arabischstämmigen Einwanderer der zweiten und dritten Generation "halten zu können". Gerade die Jugend und die Frauen sind es meist, die sich angesichts der sozioökonomischen Rahmenbedingungen der europäischen Gesellschaften im Islamverständnis ihrer Eltern und Großeltern nicht mehr wieder finden. Sie fühlen sich eher von der Lebensweise und den Werten der deutschen Gesellschaft angezogen. Die IGD versucht, mit der Einbindung der Frauen und der jungen Generation ihrem Ziel, "eine Heimstätte für den deutschsprachigen Islam"28 zu werden, und 28 Hier und im Folgenden: IGD-Satzung vom Januar 2002. 37 der "Schaffung einheitlicher, repräsentativer muslimischer Strukturen" näher zu kommen. Dass die Außendarstellung der IGD oder ihr nahe stehender Vereine nicht mit der inneren Haltung übereinstimmt, erkennt man zum Beispiel, wenn deutschsprachiges Werbematerial mit der arabischsprachigen Version verglichen wird. Aufschlussreich sind auch die Links der IGD-Website: Es gibt einen direkten Verweis zu al-QARADAWIs Homepage und zu der Website "IslamOnline", als deren Schirmherr man al-QARADAWI bezeichnen kann. Al-QARADAWI ist Vorsitzender des "Fatwa-Gremiums" von "IslamOnline". Er hat daher auch die Fatwa mitzuverantworten, welche die Bestrafrauenfeindliche Yusuf al-QARADAWI fung von Vergewaltigungsopfern befürwortet, wenn die Argumentation Frau "unzüchtig" gekleidet gewesen sein soll. Das "Fatwa Online"-Angebot wird von arabischsprachigen Muslimen weltweit gerne angenommen. Im Impressum distanziert sich die IGD zwar juristisch von den Inhalten der verlinkten Websites, die Links geben aber gleichwohl Aufschluss über organisatorische und personelle Verbindungen der IGD. Von der IGD-Homepage führt ein weiterer Link zur Seite von "MuslimCity", deren Inhalte teilweise als bedenklich zu bewerten sind. Dort fiel eine Darstellung besonders auf: Eine Bildmontage zeigte einen Schimpansen mit dem Gesicht des israelischen Premierministers Scharon, der einen kleinen Affen mit dem Gesicht des amerikanischen Präsidenten Bush im Arm hielt. Zwischen den Beinen schaute der Kopf des englischen Premiers Blair hervor. Hinter dieser Darstellung verbergen sich mehrere antiantijüdische jüdische und antisemitische Stereotypen. Mit der überDarstellung großen Darstellung des "Affen" Sharon, in dessen Armen die Politiker Bush und Blair nur klein geratene "Zöglinge" sein können, wird das Bild des übermächtigen "Juden" beschworen, der hinter allen politischen Aktionen in der Welt zu vermuten sei. Die Verwandlung von Bush und Blair in "Affen" gibt das Stereotyp des übermächtigen jüdischen Einflusses wieder, das antisemitischen europäischen Strömungen auch nicht fremd ist. Die Darstellung der Politiker als Affen hat aber eine weitere Bedeutung, die vor allem islamische und islamistische Kreise in besonderem Maße anspricht. In berüchtigten Freitagspredigten, Büchern, Pamphleten und Bil38 Islamismus/Ausländerextremismus dern werden Juden als Abkömmlinge beziehungsweise Brüder von Affen und Schweinen bezeichnet. Die Begründung hierfür finden islamistische Prediger in mehreren Koranversen: "Seid abscheuliche Affen!" [Koran 2, 65 und 7, 166] "Die Gott verflucht hat und denen er zürnt, von denen er einige zu Affen und Schweinen gemacht hat." [Koran 5, 60] In diesen Koranversen ist zwar von einer bestimmten Gruppe von Juden die Rede, die aufgrund ihrer Sündhaftigkeit zu Affen und Schweinen werden, die Verfasser solcher antijüdischer Hetzschriften deuten diese Koranverse jedoch in ihrem Sinne um, so dass nach ihrer Darstellung alle Juden Nachfahren dieser zu Affen und Schweinen mutierten Sünder seien. Sowohl das Schwein als auch der Affe gelten in islamisch geprägten Gesellschaften als besonders unrein, durchtrieben und hinterhältig. 2.4.1.1.2 "Harakat al-Muqawama al-islamiya" (HAMAS) 1978 gründete der Muslimbruder Scheich Ahmad YASSIN die gemeinnützige "al-Mudjamma al-islami" ("Islamischer Zusammenschluss"). Durch ihre Sozialarbeit, welche die Führung propagandistisch zu nutzen verstand, erfreute sich diese Organisation bei der Bevölkerung des Gaza-Streifen rasch großer Popularität. Mit Beginn des ersten Palästinenseraufstands ("Intifada" von 1987 bis 1993) nahm die "al-Mudjamma al-islami" den bewaffneten Kampf gegen Israel auf und benannte sich in "Harakat alMuqawama al-islamiya" ("Bewegung des islamischen Widerstands"), abgekürzt durch HAMAS29, um. Im Jahr 2004 stand für die HAMAS die gezielte Tötung von drei ihrer FühTötung von rer durch Israel im Vordergrund. Das meiste Aufsehen erregte die Tötung HAMAS-Führern von Scheich Ahmad YASSIN am 22. März, der als Symbolfigur des islamiszentrales Thema tisch-palästinensischen Widerstands galt. Khaled MASHAL, Chef des Politbüros der HAMAS in Damaskus, reagierte darauf wie folgt: "Da der Feind auf unsere Führung zielt, hat der Widerstand das Recht, einen Gegenschlag gegen die großen zionistischen Chefs zu führen, Sharon eingeschlossen."30 29 HAMAS ist ein Akronym. Die Anfangsbuchstaben der Wörter formen einen neuen Begriff: "Eifer". 30 Artikel "Rantisi neuer Hamas-Chef in Gaza", in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ)-Online vom 25. März 2004. 39 Die "al-QASSAM-Brigaden" erklärten, Sharon habe mit seiner "Mordaktion die Höllentore für Israel"31 aufgestoßen. Mit seinem Befehl zum Angriff gegen Schaikh YASSIN habe Scharon auch den Tod von Hunderten Israelis besiegelt. Abd al-Aziz RANTISSI, der nach dem Tod YASSINs vom Stellvertreter zum Hauptverantwortlichen aufrückte, sagte bei der TrauerHomepage der "al-QASSAM-Brigaden" feier, dass HAMAS den israelischen Besetzern keine Sicherheit zugestehen würde, solange den Palästinensern auch keine gewährt werde. Die Bewegung würde bis zur Befreiung ganz Palästinas kämpfen. RANTISSI wurde nur drei Wochen später, am 17. April 2004, ebenfalls von den Israelis getötet. Beide Aktionen wurden in der islamischen Welt auf das Schärfste verurteilt. Ein weiterer HAMAS-Funktionär kam am 26. September in Damaskus durch eine Autobombe ums Leben. Die von HAMAS angedrohten größeren Vergeltungsmaßnahmen für diese Aktionen Israels blieben zumindest im Jahr 2004 aus. Am 14. Januar 2004 sprengte sich erstmals eine Frau, die der HAMAS angehörte, bei einem Selbstmordattentat in die Luft. Sie riss vier Israelis mit in den Tod. Die aus dem Gazastreifen stammende Attentäterin war 22 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Kindern. 2.4.1.1.3 "Al-Aqsa e.V." Der Verein "Al-Aqsa e.V." mit Sitz in Aachen war am 5. August 2002 vom Bundesminister des Innern verboten worden. Er steht der HAMAS nahe. Dem Verein wurde vorgeworfen, gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen zu haben, da er Spendengelder unter dem Deckmantel angeblicher humanitärer Ziele zum Zweck der Gewaltanwendung eingesetzt habe. Es liegt nahe, dass durch die finanzielle Unterstützung so genannter Märtyrerfamilien die Bereitschaft zu Selbstmordattentaten gefördert wurde, da potenzielle Attentäter so sicher sein konnten, dass ihre Hinterbliebenen versorgt würden. Der Verein soll seit seiner Gründung 1991 jährlich circa 700.000 Euro an Spenden für Hilfsbedürftige in Palästina gesammelt haben. 31 Artikel "Israel eliminiert den Hamas-Führer Yassin", in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ)-Online vom 23. März 2004. 40 Islamismus/Ausländerextremismus Aufgrund des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 16. Juli 2003, nach dem sich die Aktivitäten des "al-Aqsa" Vereins nicht negativ auf die Sicherheitslage auswirken würden, durfte der Verein vorerst weiter bestehen, allerdings nur unter der Auflage, regelmäßig einen Nachweis über den Verwendungszweck der Mittel zu erbringen.32 Im Jahr 2004 wurde weiterhin versucht, ein Verbot des "al-Aqsa e.V." zu erwirken, das am 3. Dezember schließlich durch das Urteil des BVerwG rechtskräftig wurde.33 Verbot Das Urteil wurde damit begründet, dass sich der Verein zu dem für die rechtskräftig gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verbotsverfügung gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet habe. Dadurch habe der Verein gegen die friedliche Verständigung des israelischen und des palästinensischen Volkes verstoßen. Außerdem habe er über einen langen Zeitraum und in erheblichem Umfang in Palästina ansässige Sozialvereine, die der palästinensischen Widerstandsbewegung HAMAS zuzuordnen seien, finanziell unterstützt. Darin sah das Gericht zugleich eine Unterstützung der von der HAMAS ausgeübten Gewalttaten. Der Nachweis dafür, dass die von "al-Aqsa e.V." eingenommenen Spendengelder unmittelbar für die Finanzierung der militärischen Aktivitäten von HAMAS verwendet wurden, konnte zwar nicht erbracht werden. Da HAMAS jedoch als einheitliches Gebilde zu betrachten sei, könne zwischen den sozialen und militärischen Aktivitäten von HAMAS nicht unterschieden werden. Die Identifikation des "al-Aqsa"-Vereins mit den Zielen von HAMAS stehe fest. 2.4.1.1.4 "Front Islamique du Salut" (FIS) Der algerische "Front Islamique du Salut" (FIS) beziehungsweise die "Islamische Heilsfront" fußt wie viele andere nationale Bewegungen auf der Ideologie der "Muslimbruderschaft". Nach dem Waffenstillstandsabkommen der FIS mit der algerischen Regierung im Jahr 2000 sind FIS-Anhänger zu Gruppen übergelaufen, die sich bereits in den 1990er Jahren von der FIS abgespalten hatten, der "Groupe Islamique Arme" (GIA) und der "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC). Aus diesem Grund ist der ideologische Hintergrund dieser Gruppen ähnlich, wenn sich auch das taktische Vorgehen ihrer jeweiligen Führung unterscheidet. Internetbanner der FIS 32 Beschluss des BVerwG 6 VR 10.02 vom 16. Juli 2003. 33 BVerwG 6 A 10.02 vom 3. Dezember 2004. 41 Viele Anhänger der FIS befinden sich im Ausland, wo auch in 2004 zwei Flügel miteinander konkurrierten. Der Streitpunkt ist die Politik von Rabah KEBIR, dem Führer der Exekutivinstanz der FIS im Ausland, der einen eher gemäßigten und kompromissbereiten Kurs verfolgt. Die Mehrzahl der Sympathisanten scheint jedoch den Versöhnungskurs der FIS gegenüber der algerischen Regierung als gescheitert zu betrachten. Im Ausland ist daher keine einheitliche Strömung zu verzeichnen. Bei den Präsidentschaftswahlen am 8. April 2004 errang Abdel Aziz Bouteflika erneut einen Wahlsieg. Die FIS ist in Algerien weiterhin als politische Partei verboten. 2.4.1.1.5 "Groupe Islamique Arme" (GIA) Aus der FIS ging 1992 die "Groupe Islamique Arme" (GIA) beziehungsweise "Islamische bewaffnete Gruppe" hervor. Die militante GIA sagte sich 1994 von ihrer Ursprungsorganisation los. Sie kann als ein Beispiel dafür betrachtet werden, wie zunehmend kriminelle Tendenzen in einer Organisation zum Tragen kommen. 2.4.1.1.6 "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) Die GIA selbst blieb nicht von Spaltungstendenzen verschont. Aus ihr ging 1997 die "Groupe salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) beziehungsweise "Salafitische Gruppe für Predigt und Kampf" hervor. Algerische Sicherheitsfachleute befürchten, dass GSPC-Kämpfer, die Medienberichten zufolge in den Irak gereist sein sollen und mit den "Ansar al-Islam" kooperiert hätten, nach ihrer Rückkehr auch Selbstmordattentate wie im Irak verüben könnten. 2.4.1.1.7 "An-Nahda" Der tunesische Ableger der "Muslimbruderschaft" ist die "an-Nahda" ("Bewegung der Erneuerung"). Ihr Führer Rashid GHANNOUSHI lebt seit 1992 in London im Exil. In seinen Schriften wird deutlich, dass er von al-BANNA und al-MAUDUDI34 beeinflusst ist. Gleichwohl wird er als Vertreter einer demokratischen Tendenz innerhalb des Islamismus beschrieben. Er lehnt Säkularismus und Parteienpluralismus nach westlichem Verständnis ab. In Baden-Württemberg ist die "an-Nahda" durch Einzelpersonen vertreten. 34 Abu'l Ala al-MAUDUDI (1903-1979) entwickelte wie Sayyid QUTB (1906-1966) das Prinzip der "Gottesherrschaft", wonach der Mensch sich der "Souveränität Gottes" unterzuordnen habe. Zur Durchsetzung dieser Herrschaft lehnten sie auch Gewalt nicht ab. 42 Islamismus/Ausländerextremismus 2.4.1.1.8 "Al-Djihad al-Islamiy" und "al-Djamaa al-islamiya" Sowohl der "al-Djihad al-Islamiy" ("Islamischer Djihad") als auch die "alDjamaa al-islamiya" ("Islamische Gruppe") sind gewaltbereite Abspaltungen der "Muslimbruderschaft" in Ägypten, die blutige Anschläge zu verantworten haben. Az-ZAWAHIRI, der frühere Führer des "al-Djihad al-Islamiy", ist heute der Stellvertreter Usama BIN LADINs in der "al-Qaida". Aufgrund ihres jahrelangen Kampfes gegen den ägyptischen Staat ist die "al-Djamaa al-islamiya" sehr geschwächt und hat nach ihren letzten Anschlägen im Jahr 1997 in Luxor aus pragmatischen Gründen einen allgemeinen Gewaltverzicht erklärt. In Baden-Württemberg ist lediglich die "al-Djamaa al-islamiya" durch Einzelpersonen vertreten. Internetbanner der "al-Djihad al-Islamiy" 2.4.1.1.9 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") Die "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") geht ebenfalls auf die MB zurück. 1953 wurde sie von Taqi ad-Din an-NABHANI in Jerusalem gegründet und strebt seitdem die internationale Vereinigung aller Muslime unter der Herrschaft eines Kalifen an. Das Kalifat gilt in der Propaganda der Partei als Schicksalsfrage und als die Lösung aller Probleme der Muslime. Am 3. März 1924 hatte die türkische Regierung endgültig das osmanische Kalifat beendet. Die Jahreszahl 1924 taucht daher in zahlreichen Publikationen der Partei auf, denn das Fehlen eines Kalifen gilt als wichtigster Grund für die zahlreichen Schwierigkeiten der islamischen Umma (Gemeinde). Die "Hizb ut-Tahrir" verfolgt eine Politik, die als wichtigstes Ziel die Wiedererrichtung des Kalifats, das mit der Scharia als Rechtsgrundlage die Abschaffung aller staatlicher Grenzen zwischen islamischen Staaten durchsetzen soll. Dieses Ziel verfolgt die Partei nach eigenen Angaben mit den Mitteln der Agitation und Propaganda gewaltfrei. In den einschlägigen Propagandatexten finden sich aber immer wieder Passagen, die als Aufruf zur Gewalt verstanden werden können. Als Reaktion auf den Irakkrieg und seine Folgen verbreitete die "Hizb ut-Tahrir" über das Internet verschiedene Flugblätter. Zuletzt wurde ein Flugblatt veröffent43 licht, das vom 8. November 2004 datiert mit dem Titel "Al-Fallujah ... AlFallujah". Dort wird eingangs folgendes Koranzitat gestellt: "Wir werden denen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen [im englischen Original "terror"] (zur Strafe) dafür, dass sie Gott (andere Götter) beigestellt haben... Das Höllenfeuer wird sie (dereinst) aufnehmen - ein schlimmes Quartier für die Frevler!" [Koran 3:151] Die Leiden der Muslime im Irak spielen in der Propaganda der Organisation eine sehr wichtige Rolle. 2004 wurde im Internet ein Film mit dem Titel "Das Leid der Muslime im Irak" veröffentlicht. Darin zitierte man aus dem Brief einer angeblich in einem "amerikanisch-zionistischen" Gefängnis befindlichen Gefangenen: "Nehmt alle Waffen, die ihr kriegen könnt; tötet sie [die Amerikaner] und tötet uns!" Der Bundesminister des Innern hatte mit Verfügung vom 10. Januar 2003 die Betätigung der "Hizb ut-Tahrir" in Deutschland verboten. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig erklärte am 21. Januar 2004 die Klage der "Hizb ut-Tahrir" gegen das Betätigungsverbot für zulässig. Ein abschließendes Urteil steht noch aus. Das Betätigungsverbot zeigte 2004 insodeutschsprachige Internetseite fern Wirkung, als die Partei keine öffentder "Hizb ut-Tahrir" lichen Veranstaltungen mehr organisiert trotz Verbots oder durchgeführt hat. Im Internet sind die einschlägigen Propagandatexte anhaltende und Seiten jedoch nach wie vor zugänglich. Sie wenden sich auch mit Propaganda deutschsprachigen Texten an potenzielle Unterstützer und werben für die Errichtung des Kalifats. In Deutschland ist die "Hizb ut-Tahrir" vor allem in Hochschulkreisen aktiv. Ihre Propagandaschriften zeichnen sich durch ein einheitliches Muster aus. Relativ kurze Koranzitate oder Aussprüche des Propheten werden in Verbindung zu aktuellen Ereignissen gesetzt und im Anschluss daran Appelle an die islamische Nation formuliert. Auch nach dem Verbot gelang es der Partei, ihr Propagandamaterial vor allem über verschiedene Server in Groß44 Islamismus/Ausländerextremismus britannien im Internet zu verbreiten. Neben der deutschsprachigen Publikation "Explizit", der arabischsprachigen "al-Wai" (Das Bewusstsein) und der türkischsprachigen "Hilafet" (Kalifat) kursieren im Internet auch Propagandaschriften auf Russisch, Englisch, Malaiisch, Dänisch und Niederländisch. Im Multimediabereich veröffentlichen Aktivisten der Partei aufwändig gestaltete Videofilme, die man als FlashDateien von der Website der "Hizb ut-Tahrir" herunterladen kann. Themen wie der Irakkrieg oder die Lage in Palästina wurden auf diese Weise behandelt. Aktuelle Debatten fanden ihren Widerhall in Artikeln, die ohne Angabe eines Autors auf der Internetseite der "Hizb ut-Tahrir" veröffentlicht wurden. Ein Autor beschäftigte sich im April 2004 mit der Integration in Europa. Es lag für ihn auf der Hand, dass eine Integration, verstanden als "Annahme kulturspezifischer Wertvorstellungen und sozialer Normen" 35, nicht in Frage kommen kann. Dies wäre die Aufgabe islamischer Wertvorstellungen. Der Autor stellte folgende Scheinfrage: "Wie können wir beispielsweise kulturelle europäiVerdammung sche Errungenschaften wie freie Sexualität, uneingewestlicher schränkte persönliche Freiheit, die Isolierung der LebensvorReligion aus allen Belangen des gesellschaftlichstellungen öffentlichen Lebens mit den göttlichen Geboten aus Quran und Sunna vereinbaren?" Und gab dann die Antwort gleichsam als Befehl Allahs in Form eines Koranzitats: "Und nähert euch nicht der Unzucht, sie ist wahrhaft etwas abscheuliches - eine üble Handlungsweise!" [Koran 17:32] Der Autor sieht die Muslime daher verpflichtet, an ihrer "islamischen" Lebensweise festzuhalten und die Lösung ihrer Probleme stets aus der Scharia und damit dem islamischen Recht zu suchen. Er betont, dass sich die Muslime in Europa nicht als "europäische Muslime" verstehen dürfen, son35 Hier und im Folgenden: "Hizb ut-Tahrir"-Homepage vom 3. November 2004; Übernahme wie im Original. 45 dern als Teil der islamischen Umma, der in Europa lebe. Damit erklärt er auch, dass die Ereignisse in anderen Regionen der islamischen Welt den Muslimen nicht gleichgültig sein dürften. In einem weiteren Artikel, der sich mit der Angst Europas vor dem Islam befasst, hieß es zum EU-Beitritt der Türkei: "Muslime müssen sich nicht nur in der Türkei, sondern weltweit gegen Integration unserer Länder in wirtschaftliche und politische Gemeinschaften von kapitalistischen Nationen einsetzen." In einem weiteren Text über das Leben in westlichen Ländern wurde formuliert: "Die Muslime können hier in den westlichen Ländern keine Stätte des Islam gründen, was von ihnen auch nicht verlangt wird. Denn die existierende Mauer an Kufr36-Gedanken und -Überzeugungen macht es ungemein schwierig, wenn nicht unmöglich die westlichen Gesellschaften - ohne äußeren Einfluss - in islamische umzuwandeln." In einer über 40 Seiten umfassenden Schrift mit dem Titel "The American Campaign to Suppress Islam", die ebenfalls auf der "Hizb ut-Tahrir"-Homepage abzulesen ist, wird noch deutlicher gemacht, wie allumfassend der Islam als Glaube und Ideologie verstanden wird: "Einem Muslim ist es nicht erlaubt, irgendeinen Verurteilung von anderen Glauben anzunehmen und sei es eine Religionsfreiheit offenbarte Religion wie die christliche oder die jüdische oder sei es eine ideologische Überzeugung, wie Kapitalismus oder Sozialismus oder irgendeine andere Glaubensform als die des Islam. Daraus wird offensichtlich, dass es einem Muslim verboten ist die Religionsfreiheit, wie sie im Kapitalismus gefordert wird, zu akzeptieren. Vielmehr muss er sie ablehnen und jeden der sie fordert zur Rede stellen." 36 Unglauben. 46 Islamismus/Ausländerextremismus Die "Hizb ut-Tahrir" ist in vielen Staaten der Welt verboten und wird vor allem in islamischen Ländern als gefährlich angesehen, da sie zuerst dort die bestehenden politischen Systeme umstürzen will, um ihr Kalifat zu errichten. Die Organisation ist es daher gewohnt, einerseits eine offensive Öffentlichkeitsarbeit im Internet und über Flugblätter zu betreiben und gleichzeitig sich in sehr konspirativen Strukturen zu organisieren. Die "Hizb ut-Tahrir" versteht sich als globale Partei, die sich weltweit in mehrere Bezirke aufteilt. Europa ist zu einem einzigen Bezirk zusammengefasst. Ausbreitungsgebiet ist hauptsächlich Zentralasien (Kirgisien, Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan), aber auch der arabische Raum (insbesondere Syrien und Ägypten). Es gibt eine strenge Ordnung, der zufolge die Parteimitglieder in 5er-Gruppen aufgeteilt sind, die jeweils einen Anführer (mushrif) haben. Ungeachtet der regionalen Unterschiede und der spezifischen Probleme, die jeder Bezirk hat, existiert ein einheitliches ideologisches Fundament. 2.4.1.2 "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission") Die "Tabligh-i Jama'at" ("Gemeinschaft für Verkündung und Mission") stellt die heute weltweit größte islamische Bewegung dar. Der Ursprung dieser missionarischen Erneuerungsbewegung liegt in Indien, in der Region um Delhi. Ende der 1920er Jahre gewann der Gelehrte Maulana Muhammad ILYAS (1885-1944) zahlreiche Schüler und Anhänger für seine pietistische Wiedererweckungsund Missionsbewegung. Ähnlich wie die Bewegung der "Muslimbrüder" versuchten die Anhänger dieser Bewegung ihre muslimische Identität gegenüber der englischen Kolonialmacht und der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit zu betonen. Durch entsprechende Kleidung und Lebensweise wollte man sich von der Mehrheit der Bevölkerung absetzen. Nach der Teilung Indiens 1948 und der Gründung Pakistans hatte die Bewegung dort in den Städten Lahore und vor allem im benachbarten Raiwind ihr geistiges Zentrum gefunden. Inzwischen kommen Muslime aus der ganzen Welt nach Pakistan, um dort islamische bei jährlichen Treffen, an denen bis zu zwei Millionen Menschen und mehr Massenbewegung teilnehmen, die Predigten und Vorträge von Gelehrten dieser Bewegung zu hören. Die Auslegung des Korans und der Sunna ist sehr buchstabengetreu und weist seit mehreren Jahren stark wahhabitische37 Züge auf. Das bedeu37 Nach der Lehre Ibn Abd al-Wahhabs (1703-1792), dem Begründer der Wahhabiya-Bewegung auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabien. 47 tet, dass die Anhänger einen kompromisslosen, Neuerungen ablehnenden und sehr puristischen, das heißt an den Werten und Lebensweisen des Propheten orientierten Islam vertreten. Zunächst überwogen indische Islamvorstellungen, die sich stärker an einem mystischen Islam orientierten. Doch bereits ILYAS als der Gründer dieser Bewegung war von der saudischen Reformbewegung, der Wahhabiya, beeindruckt. Besonders die Idee, zu den Idealen der Frühzeit zurückzukehren und in ihnen das Vorbild und die Lösungsmöglichkeit für zeitgenössische Probleme zu sehen, hatte ihn geprägt. Zentren der Lehre waren zunächst Schulen und Moscheen, die in sehr enger Verbindung mit der Deobandibewegung standen. An der Hochschule (Dar al-Ulum) von Deoband, einer kleineren Stadt im nordindischen Staat Uttar Pradesh, lehrten Religionsgelehrte, die eine besonders puristische Auslegung der islamischen Quellen propagierten. Die Taliban Afghanistans waren in den meisten Fällen Studenten an religiösen Schulen, die dem Ideal der Deobandis (Anhängern und Absolventen dieser Schule) verpflichtet waren. Tablighis, die Anhänger der Lehren von ILYAS, machen sich als reisende Missionare weltweit auf den Weg und versuchen, in islamischen Gemeinden die aus ihrer Sicht etwas im Glauben nachlässig gewordenen Muslime wieder zum wahren Glauben zurückzuführen. Aus der Sicht von ILYAS haben die Muslime im 20. Jahrhundert sich viel zu weit von den eigentlichen Lehren des Islam entfernt. Da sich die Tablighis aus diesem Grund primär mit islamischen Glaubensinhalten beschäftigen, hat dies dazu geführt, dass man in dieser Bewegung eine unpolitische Strömung erkannte. Ins Blickfeld der Sicherheitsbehörden gerieten aber in den letzten Jahren immer wieder einzelne Anhänger und Prediger der Tabligh-Bewegung, die bei der Planung und Durchführung gewalttätiger Aktionen beteiligt gewesen sein sollen. Der Übergang vom spirituell suchenden Schüler zum gewaltbereiten und kämpfenden Glaubenskrieger scheint häufiger im Umfeld der Missionare oder Prediger der "Tabligh-i Jama'at" stattzufinden. Man kann in den kleinen Gruppen von fünf bis zwanzig Reisenden, die sich um einen Emir scharen, eine Art Katalysator sehen. Vor allem junge muslimische Männer der zweiten oder dritten Einwanderergeneration oder auch neu zum Islam konvertierte können im Bann dieser Erweckungsbewegung zu der Überzeugung gelangen, sich mit gewaltsamen Mitteln für die Sache des Islam einzusetzen. 48 Islamismus/Ausländerextremismus In Dewsbury/Großbritannien befindet sich das für ganz Europa bedeutende Zentrum der Bewegung. Diesem ist auch eine Schule zugeordnet, an der Prediger ausgebildet und Missionare auf ihre Reisen vorbereitet werden. In Frankreich ist die Bewegung etwa seit 1968 aktiv. Sehr bedeutend ist sie bei Nährboden für der "Reislamisierung" der muslimischen Gemeinden und den Immigranten Terrorismus der ersten Generation. Zacarias MOUSSAOUI, der vermeintlich 20. Attentäter, der an den Terroranschlägen des 11. September 2001 beteiligt werden sollte, Djamel BEGHAL, der maßgeblich an der Anschlagsplanung auf die Botschaft der Vereinigten Staaten in Paris beteiligt war und im Juli 2001 auf dem Flug von Pakistan nach Europa in Dubai verhaftet und an französische Stellen ausgeliefert wurde, und Richard REID, der "Schuhbomber", der auf dem Flug von Paris nach Miami einen Sprengsatz zünden wollte, stehen im Verdacht, der Bewegung anzugehören. Die Radikalisierung dieser drei Männer scheint im Umfeld von Tabligh-Predigern in Frankreich stattgefunden zu haben. Im Jahr 2004 sind mehrere islamistische Terroristen in die Schlagzeilen geraten, die ihre extremistischen Ansichten und ihre Gewaltbereitschaft in den Zirkeln der Tablighis ausgebildet und vertieft haben. In Deutschland liegen bislang nur vereinzelte Berichte über Missionierungen bei Muslimen vor. Hier scheinen vor allem jüngere Muslime als Zielgruppe in Frage zu kommen. Die Tablighis in Baden-Württemberg verteilen sich auf mehrere größere Städte, wo sie kleinere Gemeinschaften unterhalten. Reisende Missionare besuchen auch Moscheen in verschiedenen baden-württembergischen Städten und versuchen dabei, Anhänger und Unterstützer für ihre Bewegung zu gewinnen. Mindestens 30 Aktivisten engagieren sich in Baden-Württemberg in verschiedenen Moscheen und bemühen sich um die Verbreitung der Lehren von ILYAS. 2.4.1.3 Gruppierungen säkularer Palästinenser38 Die Mitglieder der in Deutschland vertretenen revolutionär-marxistischen palästinensischen Widerstandsorganisationen wie der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) und der "Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) haben sich in Deutschland auch während des Kriegs gegen den Irak und der danach noch andauernden Kampfhandlungen ruhig verhalten. Es gab weder Gewaltanwendung noch wurde zu Demonstrationen aufgerufen. Gewaltanwendung wird allerdings innerhalb der Krisenregion Israel/Palästina befürwortet. Im Unterschied zur DFLP geht die PFLP dabei auch gegen Zivilisten vor, während sich die DFLP auf 38 Die [selbst nicht islamistischen] Gruppierungen der säkularen Palästinenser werden unter der Rubrik Ziffer 2.4.1 als Organisationen aus dem arabischen sunnitischen Bereich aufgenommen, die von islamistischen Gruppen zunehmend an den Rand gedrängt werden. 49 militärische Ziele im weiteren Sinne beschränkt. Dabei sind auch Selbstmordattentate beziehungsweise so genannte Märtyreraktionen nicht mehr allein den islamistischen Organisationen vorbehalten. So übernahm die PFLP die Verantwortung für ein Selbstmordattentat, das ein 16-jähriger am 1. November 2004 auf einem Marktplatz in Tel Aviv verübte und bei dem drei Personen getötet und 32 verletzt wurden. Das beherrschende innenpolitische Thema für die beiden palästinensischen Organisationen war der Tod Arafats am 11. November 2004 sowie die damit verbundene neue Machtverteilung und deren Folgen. 2.5 Organisationen aus dem schiitischen Bereich: "Hizb Allah" und Amal Die islamistisch-schiitischen Organisationen sind in Deutschland durch die "Hizb Allah" ("Partei Gottes") und die "Afwadj al-Muqawama al-Lubnaniya" (Amal39, "Gruppen des libanesischen Widerstands") repräsentiert. Vor allem die "Hizb Allah" spielt im Libanon eine herausragende politische Rolle. Sie ist seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten, derzeit mit 12 Sitzen40. Amal-Logo Die Amal ist mit 8 Parlamentariern vertreten. Die Miliz der "Hizb Allah", die "al-Muqawama al-Islamiya" ("Islamischer Widerstand") hat sich im Südlibanon als militärische Macht etabliert. Die "Hizb Allah" verherrlicht den so genannten Märtyrer-Tod und damit nicht nur das Selbstopfer im Kampf, sondern unter Umständen auch Selbstmordattentate. Offiziellen Verlautbarungen zufolge soll sich der Kampf der "Hizb Allah" auf dem "Kampfgebiet" und damit in Israel abspielen. Entgegen dieser offiziellen Haltung wird die "Hizb Allah" für die Anschläge auf die israelische Botschaft in Argentinien im Jahr 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum in Buenos Aires 1994 verantwortlich gemacht. Die "Hizb Allah" verfügt über ein weit verzweigtes Netz an karitativen Projekten wie Waisenhäuser, Krankenhäuser und Schulen. Dieses soziale Engagement bringt ihr vor allem die Sympathie der ärmeren libanesischen Bevölkerungsschichten. Sie spielt daher im Libanon eine nicht unwesentliche Rolle in Politik und Gesellschaft. Mit dem Fernsehsender "al-Manar" besitzt die "Hizb Allah" darüber hinaus ein Medium, um die eigenen Positionen in der Öffentlichkeit wirksam dar39 Amal ist ein Akronym. Die Anfangsbuchstaben der Wörter formen einen neuen Begriff: "Hoffnung". 40 Von insgesamt 128 Parlamentssitzen. 50 Islamismus/Ausländerextremismus zustellen und damit beispielsweise auch das "Märtyrertum" professionell und effektvoll zu glorifizieren. Da "al-Manar" ein Satellitensender ist, der weltweit zu empfangen ist, erreicht die "Hizb Allah"-Propaganda auch in Deutschland lebende Araber. "Al-Manar" stand in letzter Zeit in Frankreich im Kreuzfeuer der Kritik aufPropagandagrund des Vorwurfs, antisemitische Propaganda zu verbreiten. So wurden sender im dort im Jahr 2004 Überlegungen angestellt, die Ausstrahlung der SendunKreuzfeuer gen von "al-Manar" zu blockieren. Der französische Premierminister erklärder Kritik te, dass es "al-Manar" verboten werden solle, in Frankreich auszustrahlen, da die Inhalte des Satellitensenders mit den Werten des Landes unvereinbar seien. Eine vollständige Blockierung ist jedoch aus technischen und organisatorischen Gründen nicht möglich, da "al-Manar" über unterschiedliche Satelliten zu empfangen ist, auf deren Betreiber die französische Rechtsprechung keinen Einfluss hat. Der Satellitenbetreiber Eutelsat stellte die Ausstrahlung der Programme von "al-Manar" am 14. Dezember 2004 ein. Gewalthandlungen gegen Israel pflegt die "Hizb Allah" mit dem legitimen Anspruch auf Widerstand gegen illegale Besatzer zu rechtfertigen. Entführungen von israelischen Soldaten, Selbstmordattentate und Geiselnahmen gehören zum selbstverständlichen Repertoire ihres "Widerstands". Sobald die Gegenseite militärische Maßnahmen ergreift, spricht die Organisation von Terror gegen unschuldige Zivilisten. Im Mai rief der Führer der "Hizb Allah"-Miliz, Scheich Hassan NASRALLAH, zu einer Großdemonstration gegen die Zerstörung schiitischer Heiligtümer auf. Allein in Beirut folgten rund 400.000 Teilnehmer diesem Aufruf. Die Demonstration war als Protestmarsch gegen die Irak-Politik der USA und das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza gedacht. Die "Hizb Allah" machte diese Großveranstaltung in Beirut mit Hilfe ihres Senders "al-Manar" zu einem Medienereignis. Die ansonsten national orientierte "Hizb Allah" zeigte dadurch sowohl eine pan-schiitische Tendenz als auch Hassan NASRALLAH die Unterstützung der "palästinensischen Sache". NASRALLAH forderte die USA auf, die heiligen Städte Karbala und Nadschaf sofort zu verlassen. "Normalerweise entscheiden die Iraker ganz alleine, wann, wie und wo sie für die Befreiung ihres Landes kämpfen wollen" 41, verkündete er bei der 41 Hier und im Folgenden: Beitrag "Hisbolla will die internationale politische Bühne betreten" von Alfred Hackensberger; URL: http://www.heise.de vom 26. November 2004. 51 Aufruf zum Großdemonstration, "aber, wenn es um Karbala und Nadschaf (...) geht, Widerstand gegen sind wir unmittelbar betroffen. Die Besatzungsmacht wird für jede Aggresdie USA im Irak sion gegen die heiligen schiitischen Stätten bezahlen." Ein Großteil der Demonstranten in Beirut war in weiße Büßeroder Märtyrerhemden gekleidet, was die Bereitschaft symbolisieren sollte, den Märtyrertod zu sterben. "Heute marschieren wir noch symbolisch in Märtyrergewändern" erklärte Nasrallah, "aber das nächste Mal, wenn uns unsere unterdrückten Brüder um Hilfe bitten, dann kommen wir in Märtyrergewändern und mit Waffen." Die "Hizb Allah" ist in ideologischer und religiöser Hinsicht stark an den Iran gebunden. Sie vertritt auch das Konzept des "Wilayat-e Faqih"42. Eine besondere Nähe zum Revolutionsführer des Iran, Ali Khamenei, ist unübersehbar. Dessen Ablehnung "westlicher" Menschenrechtsvorstellungen und der Vereinten Nationen ist bekannt. Gleichwohl verhielt sich die "Hizb Allah" in Deutschland während des Irakkriegs 2003 ruhig und enthielt sich auch 2004 trotz des sich zuspitzenden Irakkonflikts und der Lage ihrer schiitischen Glaubensbrüder im Irak jeglicher gewaltsamer Aktivitäten. Es kam in Deutschland weder zu offenen Gewaltaufrufen noch zu Aufrufen zur Einmischung in den Irakkonflikt. Vermutlich befürchten die "Hizb Allah"-Anhänger in Europa, dass sie bei Verstößen gegen die hiesigen Gesetze keine Spenden mehr sammeln können. An der anlässlich des "al-Quds-Tags" (Jerusalem-Tag)43 seit zehn Jahren in Berlin durchgeführten Demonstration nahmen am 13. November 2004 circa 800 Demonstranten teil, die aus ganz Deutschland angereist waren. Wie jedes Jahr fand auch eine Gegendemonstration mit rund 80 Teilnehmern statt, an der auch Autonome teilnahmen. Gegner des "al-QudsTags" sehen in seiner Institution einen "antisemitischen Kampftag", an dem weltweit die Lehren Ayatollah Khomeinis propagiert und das islamistische Regime im Iran bejubelt werden. Sie verweisen auf die Menschenrechtsverletzungen im Iran. Sicherheitskräfte sorgten mit Auflagen für einen friedlichen Verlauf beider Demonstrationen in Berlin. Das Skandieren von Parolen war verboten. Männer und Frauen demonstrierten in separaten Marsch42 Konstitutioneller Gottesstaat mit herrschendem schiitischem Klerus nach iranischem Vorbild. 43 Ayatollah Khomeini hatte nach der Revolution 1979 den letzten Feiertag des Fastenmonats Ramadan zum internationalen "al-Quds-Tag" ausgerufen. Die anlässlich des Jerusalem-Tags durchgeführten Demonstrationen dienen der Solidarität mit den Muslimen in Palästina, wo sich nach Meinung eines iranischen Regierungsmitglieds alle "Symbole der Unterdrückung, der Hässlichkeit und des Lasters" fänden. 52 Islamismus/Ausländerextremismus blöcken. Die Demonstrationsteilnehmer ließen ein Kind die Parole "Israel ist die größte Bedrohung des Weltfriedens" hochhalten. Ein Transparent mit dieser Äußerung hatte bereits im Jahr 2003 polarisierende Wirkung gezeigt. Am 29. November 2004 wurde die "Hizb Allah" von der niederländischen Deklaration zur Regierung zur Terrororganisation erklärt. Der niederländische AußenminisTerrororganisation ter begründete diesen Entschluss damit, dass zwischen der politischen Parin den Niedertei und dem militanten Flügel der "Hizb Allah" eine eindeutige Verbindung landen bestehe und dieser militante Flügel für zahlreiche Anschläge verantwortlich sei. Zusätzlich sprach er sich dafür aus, die "Hizb Allah" auf die "EU-Terrorliste" zu setzen. Am 29. Januar 2004 fand ein Gefangenenaustausch zwischen der "Hizb Allah" und Israel statt, den die deutsche Bundesregierung vermittelt hatte. Es wurden rund 400 arabische Häftlinge freigelassen, darunter auch Steven SMYREK, ein deutscher Konvertit, der von einem israelischen Gericht 1997 zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. SMYREK war vorgeworfen worden, ein Selbstmordattentat für die "Hizb Allah" in Israel geplant zu haben und dafür im Libanon ausgebildet worden zu sein. Er stand bei dem Gefangenenaustausch auf der Wunschliste der "Hizb Allah". Während seiner Haft in Israel erklärte SMYREK: Steven SMYREK "Für uns ist das eine Ehre, in den Tod zu gehen, für den Islam, für Allah". (...) "Ein Schahid44 bekommt seine Befehle, und diese Befehle müssen ausgeführt werden."45 Zur "Siegesfeier" anlässlich des Jahrestags des Rückzugs der israelischen Armee aus dem Südlibanon im Jahr 2000 kam ein Abgeordneter der "Hizb Allah" im libanesischen Parlament nach Baden-Württemberg, um die hiesigen "Hizb Allah-Gemeinden" zu besuchen. 44 Muslim, der sein Leben auf dem Weg Allahs opfert, Märtyrer. 45 ARD-Reportage "Für Allah in den Tod!" vom 14. Januar 2004. 53 2.6 Türkische islamistische Vereinigungen 2.6.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Kerpen Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2003: ca. 3.600) ca. 26.500 Bund (2003: ca. 26.500) Publikation: "Milli Görüs & Perspektive" (in türkischer Sprache, Teil "Perspektive" auf Deutsch), als Sprachrohr dient auch die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) ist die größte und bedeutendste Vertreterin des politischen Islam in Deutschland auf BundesStruktur in wie auf Länderebene. In Baden-Württemberg sind rund 3.600 Mitglieder in Badencirca 60 Ortsvereinen organisiert, wobei das Bundesland in die RegionalWürttemberg verbände Stuttgart, Freiburg, Schwaben (hierzu gehören auch einige bayerische Ortsvereine) und Rhein-Saar (umfasst auch Teile von Rheinland-Pfalz) aufgeteilt ist. Zur Mitgliederzahl ist ein Mehrfaches an Anhängern hinzuzurechnen. Die IGMG ist die dominierende Kraft im "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", der seinen Sitz in Bonn hat. Die hierarchisch strukturierte Zentrale in Kerpen verfügt unter anderem über eigene "Abteilungen für religiöse Weisung und Öffentlichkeitsarbeit", Bildung, Pressewesen, Sozialwesen und Menschenrechte und unterhält einen Bestattungsfonds. Im Landesverband Baden-Württemberg fand im Sommer 2004 ein Führungswechsel statt: Der frühere Vorsitzende der IGMG-Jugendverbände, Erol ÖZTÜRK, löste Sami GANIOGLU als Vorsitzenden ab. Die IGMG beschreibt sich selbst als Verband von "Einwanderern in einer fremden Kultur"46 mit Nationalgefühl, deren Bemühen es sei, den eigenen Glauben zu leben, wobei die Bewahrung der ideellen Grundsätze oberstes 46 Führender Funktionär in einer Anfang 2004 in Stuttgart gehaltenen Rede. 54 Islamismus/Ausländerextremismus Ziel sei. Diese ideellen Werte teilt die IGMG als Teil der von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN begründeten "Milli Görüs"-Bewegung mit sämtlichen sonstigen Organisationen dieser Bewegung, mit welchen sie in ständigem wechselseitigem Austausch steht. Das Selbstverständnis sowohl als islamischer als auch als Institution der "nationalen", sprich türkischen "Sicht" kommt in der Prof. Dr. türkeibezogene Necmettin ERBAKAN Namensgebung "Islamische Gemeinschaft Milli Ausrichtung Görüs" zum Ausdruck. Die Bezeichnung veranschaulicht gleichzeitig die nach grundlegend islamischem Verständnis untrennbare Einheit von Religion und Staat. Mit dem in der Selbstdarstellung der IGMG47 unternommenen Rückbezug des Begriffs "Milli Görüs" auf die Sichtweise des "Millet-i Ibrahim" ("Volk Abrahams"), womit auf die gemeinsame abrahamitische Abstammung der monotheistischen Religionen abgestellt werden soll, geht die IGMG allerdings nur dort so weit, "Milli Görüs" bewusst in "monotheistische Ökumene" umzudeuten, was freilich weder semantisch noch inhaltlich haltbar ist. Die politische Vision ERBAKANs, die dieser in seinen Werken "Milli Görüs" ("Nationale Sicht"48) und "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung"49) formulierte, bildet das Fundament der "Milli Görüs"-Bewegung. In einer bereits 1990 gehaltenen Grundsatzrede zur "Gerechten Ordnung" ließ ERBAKAN keinen Zweifel daran, dass diese, von ihm angestrebte Ordnung über die Türkei hinaus gehend auch auf internationaler Ebene durchgesetzt werden müsse, und zwar auf dem Weg des Djihad, der "Anstrengung" oder "Bemühung" auf dem "Weg Gottes". ERBAKAN setzte den "Milli Görüs" als Islam mit Medizin gleich, die dem zu Dankbarkeit verpflichteten "Patienten Medikament Menschheit", das heißt Nicht-Muslimen beziehungsweise dem "unwissenden Volk" von "Ärzten" und damit von Muslimen beziehungsweise denjenigen, die über den "richtigen Gottesbezug" verfügten, verabreicht werden müsse.50 Gleichzeitig sei zum Zweck der Verbreitung des Islam ein Dialog zu führen, der in erster Linie von der Wissenschaft ausgehen müsse, da ERBAKAN eine Gleichsetzung von "Wissenschaft" mit "Wahrheit" und von "Wahrheit" mit "Islam" postuliert. Bezogen auf das angestrebte Ziel der "Gerechten Ordnung" auch in Deutschland formulierte ERBAKAN in seiner Grundsatzrede: 47 IGMG-Homepage vom 3. November 2004. 48 Necmettin ERBAKAN, Milli Görüs, Istanbul 1975. 49 Necmettin ERBAKAN, Adil Düzen, Ankara 1991. 50 ERBAKAN im Interview mit Flash-TV laut "Milli Gazete" vom 25. März 2004: "Milli Görüs ist das einzige Medikament, die einzige Rettung für das Land." 55 "Alles hängt letztendlich davon ab, ob aus der hiesigen Staatsordnung eine 'Gerechte Ordnung' wird. "Adil Düzen" Und wie wird aus ihr eine 'Gerechte Ordnung'? Wir werden den hiesigen Gelehrten die Tatsachen vermitteln. Diese werden dann zu ihren Politikern gehen und ihnen folgendes klar machen: 'Ihr macht einen Fehler! Lasst es sein! Ihr seid im Irrtum! Kommt und lasst uns die Sache in Ordnung bringen! Das ist der Weg, auf dem die Menschheit ihr Glück finden wird.'" Im Westen herrsche, so führte ERBAKAN in seiner Rede weiter aus, ein "falsches Verständnis von Recht und Gerechtigkeit". Dieses wurzele in der Zeit der Pharaonen, einer "tyrannischen Sklavenhaltergesellschaft", und sei über Griechen und Römer bis in die Gegenwart tradiert worden. Dieses Verständnis basiere auf den Faktoren Macht, Mehrheitsprinzip, Privilegierung bestimmter Gruppen und materiellem Nutzen. Dem stellte ERBAKAN das "Gerechtigkeitsverständnis der Propheten" gegenüber, dem Menschenrechte, Recht auf Arbeit sowie Verträge als Quellen von Recht und Gerechtigkeit zugrunde lägen. Ein gerechtes Gesamtsystem müsse nach dualistisches ERBAKAN folgende Unterscheidungen beinhalten: ein Glaubenssystem Weltbild ("gut - böse")51, ein Wirtschaftssystem ("nützlich - schädlich"), ein politisches System ("gerecht - ungerecht") und ein Wissenschaftssystem ("richtig - falsch")52. Die Hauptaufgabe des Staats müsse es sein, innerhalb dieser Teilbereiche für Harmonie zu sorgen. Die letzte Kontrolle komme dabei dem Glaubenssystem zu, welches das Fundament der gerechten Ordnung darstelle, denn erst die Religion mache den Menschen zum "wahren Menschen". Als größtes Defizit Europas sei die Tatsache zu sehen, dass die Kontrollfunktion von der Exekutive und nicht von einer religiösen Instanz ausgeübt werde. Gerade diese Betonung eines Vorrangs der religiösen Sphäre erleichtert es "Milli Görüs" in Deutschland, sich ausschließlich als "religiöse Gemeinschaft" darzustellen, und zwar ohne Darlegung der weit reichenden politischen Schwerpunkte. Die tragende Bedeutung der religiösen Komponente in der Programmatik der IGMG erschließt sich aus dem Tätigkeitsprogramm 2003/2004 des Landesverbands Baden-Württemberg, welches im Vorwort 51 So auch die Predigt der IGMG in der "Milli Gazete" vom 6. August 2004: "Seit der Erschaffung der Welt gab es zwei Arten der Aufforderung: zum einen diejenige zum 'Wahren' (hakk), zum anderen diejenige zum 'Nichtigen' (batil)." 52 Diese Schwarz-Weiß-Sicht zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte "Milli Görüs"-Argumentation. 56 Islamismus/Ausländerextremismus Einblick in die Arbeitsgrundlagen und die Ziele der Organisation gibt. Unter Hinweis auf die Bedeutung der Zusammenarbeit der einzelnen Mitgliedsvereine wird hier ausgeführt: "Diese Arbeit wird ein Licht darauf werfen, welche Position die Muslime in Zukunft einnehmen werden. Das Ausleben des im Koran befohlenen Geistes von Einheit und Zusammengehörigkeit wird unsere Beziehungen zu den Mitmenschen (...) in unmittelbarer Weise beeinflussen. (...) All dies ist jedoch nur durch Führung und Koordination einer zentralen Organisation zu verwirklichen. Um dies sicher zu stellen, müssen zunächst unsere Führungspersonen die wahrhafte Moral des Koran und die von der Sunna53 unseres Propheten geforderte moralische Struktur in sich selbst verinnerlichen; kurz gesagt, all dies ist [nur] durch ein islamisches kulturelles Erwachen möglich. (...) In der vor uns liegenden Arbeitsperiode wird die IGMG mit ihren Dienstleistungen, kulturellen Erfolgen und den von ihr bereit gestellten Möglichkeiten in den Vordergrund treten. Hierfür ist selbstverständlich auch bei uns ein großes Erwachen notwendig. Deshalb müssen wir in unseren Aktivitäten, genau wie in den ersten Generationen des Islam, eine auf den Koran Koran Grundlage gegründete vernünftige, entschlossene, umfassende allen Handelns Moral und Vision installieren. Denn es ist die Pflicht des Muslims, die ganze Welt mit ihrem wahren Gesicht zu begreifen und auf diesem Weg der gesamten Menschheit ein Licht zu weisen (...)"54 Diese Positionsbestimmung mit der Forderung nach Einheit und zentraler Führung, verbunden mit der Rückbesinnung auf die islamische Frühzeit als Richtschnur sozialen Handelns55 und dem Anspruch der wegweisenden Funktion für die Menschheit belegt den Charakter der Organisation als Teil der islamistischen Bewegung deutlich. Untermauert wird diese Einordnung 53 Das maßgebliche Vorbild des Propheten im Tun, Sprechen und Gutheißen, das als normatives Maß moralischen Handelns gilt. 54 Vorwort zum Tätigkeitsprogramm 2003-2004 der IGMG Baden-Württemberg von Sami GANIOGLU; Übersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg aus dem Türkischen. 55 In diesem Zusammenhang sind identitätsfördernde Veranstaltungen der IGMG unter dem Motto "Ein Hauch aus dem Zeitalter der Glückseligkeit" (Asr-i Saadet'ten Esintiler) zu erwähnen, die die islamische Frühzeit idealisieren und diese als Gesellschaftsmodell für die Moderne darstellen. 57 durch die Bezugnahme auf Koran und Sunna als Maßstab allen menschlichen Handelns. Stärkung der religiösen Identität ist eines der Hauptanliegen der IGMG, das sie über ein umfangreiches, vor allem für Jugendliche bestimmtes Erziehungsund Bildungsangebot verwirklicht und durch das eine enge Bindung der jungen Generation an die Organisation erreicht werden soll. Die Frauenverbände bieten zahlreiche pädagogische Veranstaltungen, die sich an eigenes Mütter als die Erzieherinnen künftiger Generationen richten. Die AngeboErziehungsprote für Jugendliche werden in Form von laufenden Kursen, Wochenendsegramm minaren oder Ferieninternaten abgehalten, die jeweils den gesamten Ferienzeitraum umfassen. Die Lehrpläne sehen eine für sechsbis 18-jährige Schüler und Schülerinnen von Klasse 1 bis 8 (Grundschule, Basisbildung, Mittelstufe und Spezialisierung) auf jeweils 250 Unterrichtsstunden angelegte umfassende Unterweisung in sämtlichen Aspekten islamischer religiöser Praxis und islamischer Theologie vor, einschließlich eines kleinen Angebots an sozialen Aktivitäten. Am Ende jedes Kurses steht der Erwerb eines allerdings nur organisationsintern nutzbaren Diploms. Zumal bei den Ferienkursen sind die Jugendlichen über Wochen vollkommen aus dem deutschen Umfeld herausgelöst; eine Vertrauensbildung und Sozialisierung erfolgt ausschließlich innerhalb des muslimisch-türkischen Umfelds. Begegnungen und Kontakte mit deutschen Jugendlichen waren und sind nicht vorgesehen, zielt das Angebot doch gerade darauf ab, die Jugendlichen von den "verderblichen Einflüssen" der westlichen säkularen Gesellschaft fernzuhalten. Aufgrund des geschlossenen Gesellschaftsund Wertesystems wird ein Bedarf an geistigem Austausch, der über die eigene Gemeinschaft hinausgeht, gar nicht wahrgenommen. Die IGMG verfolgt in dieser Hinsicht ein wesentliches, allen islamistischen Kräften gemeinsames Ziel: die Stärkung des Gefühls, Teil der einzigartigen Gemeinschaft aller Muslime (Umma) zu sein und sich damit gleichzeitig von allem "Nicht-Islamischen" deutlich abzugrenzen. So verwundert es nicht, dass trotz des Agierens der IGMG innerhalb eines nicht-muslimischen Umfelds die Erwähnung anderer Religionen in den Lehrplänen nicht vorgesehen ist, doch heißt es in einer Anweisung an die Lehrkräfte: "Falls das Thema es erfordert, die islamische Religion mit anderen Religionen zu vergleichen, so sollen andere Religionen nicht disqualifiziert werden; 58 Islamismus/Ausländerextremismus es muss jedoch betont werden, dass die anderen "Überlegenheit" Religionen im Nachhinein von den Menschen verder islamischen fälscht worden sind und der Islam die einzige ReliReligion gion ist, die ihre Ursprünglichkeit bis zum Jüngsten Tag bewahren wird." 56 Dem von der IGMG im Zusammenhang mit den Kursangeboten verfolgten Erziehungsziel der Stärkung der religiös-kulturellen wie auch der nationalen Identität stehen auf deutscher Seite Integrationsbestrebungen gegenüber, die auf eine möglichst weitgehende Sozialisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft setzen. Der hier zutage tretende Konflikt offenbart sich in der von türkischer Seite befürchteten "Assimilation" durch Preisgabe der "ureigenen Werte". Kritik an der als langfristiges Ziel vom deutschen Bundesinnenminister befürworteten Integration, die von ihm als Assimilierung verstanden wird, übte anlässlich einer Versammlung des IGMG-Bezirks Stuttgart im Herbst 2004 der bei dieser Veranstaltung anwesende stellvertretende Vorsitzende und Generalsekretär der islamistischen "Saadet Partisi" (SP, enge Kontakte Partei der Glückseligkeit), Ahmet SÜNNETCIOGLU57. Um den drohenden zur SP "Identitätsverlust" abzuwehren, setzt die IGMG an dieser Stelle mit Unterstützung juristischer Art an, so bei schulischen Konflikten wegen des koedukativen Sportbeziehungsweise Schwimmunterrichts oder der Teilnahme am Sexualkundeunterricht als Teilgebiet des Pflichtfachs Biologie. Auch außerhalb des schulischen Bereichs offeriert die IGMG ihren Mitgliedern Rechtsberatung selbst in Einbürgerungsverfahren. Seit Mitte 2004 bietet die IGMG ihren jugendlichen Mitgliedern Reisen in muslimische Länder (Türkei, Ägypten)58 oder ehemals unter muslimischer Herrschaft stehende Gebiete (Andalusien)59 an. Auch wird ein reger Austausch mit dem unter Einfluss der "Muslimbruderschaft" stehenden französischen "Institut des Sciences Humaines"60 in Chateau-Chinon gepflegt: eine Jugendgruppe der IGMG Hanau besuchte Andalusien zusammen mit Schülern aus Chateau-Chinon; im Anschluss an den "Familientag" der IGMG in Kerpen Ende Mai 2004 statteten Schüler aus diesem Institut der Redaktion der "Milli Gazete" einen Besuch ab.61 56 Lehrplan der Bildungskommission der IGMG für die laufenden Kurse des Basisunterrichts, ohne Jahresangabe, S. 19; Übersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg aus dem Türkischen. 57 "Milli Gazete" vom 24. November 2004. 58 Anzeige der IGMG in der "Milli Gazete" vom 14. Juni 2004. 59 Anzeige der IGMG Hanau in der "Milli Gazete" vom 6. Mai 2004. 60 Gegründet im Januar 1992. 61 "Milli Gazete" vom 2. Juni 2004. 59 Die Einflussnahme auf die Jugend, deren Lenkung und ihre Abschottung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft lassen erahnen, welcher Wandel der Gesellschaft nach Vorstellung der IGMG wünschenswert wäre. Nicht die rechtsstaatliche Einheit mit Bürgern unterschiedlicher sozialer und konfesPropagierung sioneller Identität kann das Ziel sein, ideal scheint vielmehr ein Nebeneineigener Rechtsander mit eigenen Rechtsnormen, und zwar unter Schaffung beziehungsvorstellungen weise Nutzung maximaler Scharia-konformer Freiräume für die eigene, gleichsam "national" aufgefasste Gemeinschaft. In Anlehnung an die Ideen Ali BULACs, eines Ideologen aus dem Umfeld ERBAKANs, dessen Entwurf einer künftigen Zivilgesellschaft von der Transformation und Überwindung der Werte der europäischen Moderne wie Individuum, Säkularismus und Nationalstaat ausgeht, wird auf die Koexistenz unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften hingearbeitet, die sich zugleich als eigenständige Rechtsgemeinschaften verstehen. Das osmanische Modell des "Millet"62-Systems scheint hier durch. Die Ideen BULACs beeinflussten ERBAKAN und das seinerzeitige Programm der "Refah Partisi" (RP, Wohlfahrtspartei) erheblich. Der Staat nimmt bei BULAC nur noch die Funktion des "Dachverbands" der einzelnen Gemeinschaften ein. Die Ordnung von Individuum, privatem und öffentlichem Bereich sieht BULAC als überholt an, denn die neue Selbstdefinition des Individuums gehe mit einer Rückbesinnung auf die Religion einher, welche nicht wie bisher auf die Privatsphäre beschränkt bleiben würde. Zur Zukunft der türkischen Jugend in Deutschland, insbesondere zu deren künftiger Rolle in der Gesellschaft, äußerte sich in der islamistischen Zeitung "Anadolu'da Vakit" die in den USA lebende einstige RP-Abgeordnete, Merve KAVAKCI, die 1999 aufgrund ihres Kopftuchs im türkischen Parlament als Abgeordnete nicht vereidigt wurde. Sie beschrieb ihre bei einem Jugendund Kulturfestival des Jugendverbands der IGMG RuhrNord am 1. Mai 2004 gewonnenen Eindrücke: "Diese netten jungen Leute, diese Erben der Zukunft, diese türkisch-deutschen Jugendlichen werden mit ihrem festen Nationalgefühl und ihrer religiösen Lebensführung für ihre Nachkommen ein gutes Beispiel abgeben. Wichtig ist, dass viele von ihnen, sowohl Schülerinnen als auch Schüler, an Universitäten stu62 Innerhalb dieser Ordnung war das Rechtssystem des muslimischen osmanischen Staatsvolks den Rechtssystemen der "Millets" der Minderheiten überlegen und nicht gleichgestellt. 60 Islamismus/Ausländerextremismus dieren oder das Gymnasium oder die Realschule "Jugend mit besuchen. Das sind Jugendliche, die sich von der festem - in den diskriminierenden Tendenzen des deutNationalgefühl" schen Schulsystems - ritualisierten Sozialstruktur nicht vereinnahmen lassen. Das ist eine Jugend, die unter dem Schutz von dreißig-, vierzigjährigen älteren Brüdern und Schwestern steht und die das, was sie durch die Erfahrung jener Leute lernt, mit ihrer eigenen unerschöpflichen Energie verbindet (...) Anders als bei früheren, von mir besuchten Veranstaltungen in Europa ging es diesmal fast ausschließlich um den Stellenwert des Islam in der westlichen Welt und um den Überlebenskampf der Muslime in Europa (...)." 63 Neben der religiösen Unterweisung bildet die Bewahrung und Stärkung des "festen Nationalgefühls" einen bedeutenden Bestandteil der Erziehung in "Milli Görüs"-Kreisen; der Weitergabe der dieses Gefühl tragenden und bestimmenden Symbolik kommt gar konstituierende Bedeutung für die Gemeinschaft zu. Dieses national-ethische Element betont die Aufgabe der Türken als den Erben des Osmanischen Reichs, sich ihrer Rolle als Bewahrer der Herrschaft des Islam stets bewusst zu sein. Wie im Artikel "Die Welt Idealisierung des braucht einen neuen Osmanen" vom 18. Februar 2004 deutlich wurde, sieht Osmanentums die "Milli Gazete" bereits eine "Neo-Osmanische Union"64 unter Führung der Türkei entstehen. Prägend für den türkischen Islamismus sind Schlüsselbegriffe wie "Moral" (ahlak) und "Tugend" (fazilet), Bestandteile eines Vokabulars, das eine Atmosphäre des Wohlgefühls erzeugen und den Anhängern das Bewusstsein, einer bevorzugten Gemeinschaft anzugehören, suggerieren soll, wie in folgendem Leitartikel zum 3. Gründungsjahrestag der "Saadet Partisi" deutlich wird: "'Milli Görüs' steht für 'spirituelle Werte', die anderen [sc. Bewegungen, Organisationen, Parteien] sind im Allgemeinen 'materialistisch'. (...) Ruhe, Frieden, 63 "Anadolu' d a Vakit" vom 15. Mai 2004. 64 Den von der Regierung der "AK-Partisi" (AKP, Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei) angestrebten EU-Beitritt lehnt ERBAKAN ab, wie aus seiner folgenden Äußerung zu ersehen ist: "Die AKP wählen heißt, die Spaltung der Türkei zu befürworten", Interview mit ERBAKAN in Flash-TV laut "Milli Gazete" vom 25. März 2004. "Milli Gazete" titelte am 8. Oktober 2004 in ihrer Schlagzeile: "Diese EU verdirbt uns!" 61 Brüderlichkeit (...) können nur mit der von der Saadet Partisi verkörperten 'Milli Görüs' verwirklicht werden. 'Milli Görüs' basiert auf 'Zuneigung, Liebe und Toleranz', die anderen im Allgemeinen auf Absolutheitsan'Feindseligkeit'. Das Ziel von 'Milli Görüs' ist die spruch von 'Glückseligkeit der gesamten Menschheit' (...) 'Milli "Milli Görüs" Görüs' betätigt sich zugunsten der Vorherrschaft 'der Wahrheit, des Guten, des Schönen, Nützlichen und der Gerechtigkeit', die anderen setzen sich im Allgemeinen für 'das Falsche, Schädliche' ein." 65 Nach eigener Einschätzung ist "Milli Görüs" eine Institution, die sich als "Heilsbringerin" sieht, als "Rettungsanker" in einer von bösen Mächten und dunklen Intrigen beherrschten Welt, deren Anhänger sich glücklich schätzen dürfen, durch die Ideale der Bewegung Teilhaber eines Gesundungsprozesses zu sein, der sodann der gesamten Menschheit zukommen soll. Entsprechend findet sich in der "Milli Gazete" ein fester Platz, in welchem der in Europa lebenden Leserschaft ein Forum für lobende Äußerungen, Gedichte oder Hymnen auf "Milli Görüs", die erhoffte "Heilung" und den Führer ERBAKAN geboten wird. In der Ausgabe der "Milli Gazete" vom 16. April 2004 wird "Milli Görüs" folgendermaßen beschrieben: "Unveränderliche, gerechte Mission, Gott hat ihre Grenze gesetzt. Möge die Wahrheit kommen, das Nichtige vergehen66, 'Milli Görüs', nationale Mission (...). Gesegnet ist die heilige Mission, mit Eifer machten wir uns auf den Weg. Auf diesem Weg sind wir bereit, uns zu opfern, 'Milli Görüs', nationale Mission (...)." "Milli Görüs" als Das Beispiel veranschaulicht, wie sehr innerhalb der "Milli Görüs" deren "heilige Mission" spezifische Terminologie Identität und Gemeinschaftsgefühl zu stiften und stärken vermag. Ein offensiver, gar militärischer Geist ist nicht zu übersehen: Die Anhänger von "Milli Görüs" empfinden sich als "Soldaten" ("'Milli 65 "Milli Gazete" vom 21. Juli 2004. 66 Mit diesem Motto ist auch die Titelzeile der "Milli Gazete" überschrieben. 62 Islamismus/Ausländerextremismus Görüs' erleri"), sozusagen als eine einsatzbereite Armee, in der jeder Einzelne seinen Platz und seine Aufgabe genau kennt, wo Opferbereitschaft zu den höchsten Tugenden gehört und wo es als Ehre angesehen wird, für die Mission kämpfen zu dürfen. Aus dem Begriff der "Mission" lässt sich ein ins Transzendente reichender, langfristiger, ja zeitlich unbegrenzter Anspruch ableiten67; so wie die "Mission" zum bedingungslosen Einsatz ihrer Anhänger verpflichtet, verlangt sie gleichfalls von diesen, das Nicht-Konforme, das als "schlecht", "böse" oder "falsch" Deklarierte unbedingt zu überwinden. Ungeachtet der Zusagen von IGMG-Funktionären, ihre Verbandsstrukturen offen zu legen, sind diese bisher wenig transparent. Zahlreichen Vereinen, die der IGMG angehören, ist nicht daran gelegen, diese Zugehörigkeit nach außen hin zu offenbaren. Nach Aussagen des IGMG-Generalsekretärs ist es zwar Ziel der Organisation, die Mitgliedschaft der Vereine in der IGMG in ihren Satzungen verankern zu lassen; andererseits bestehe jedoch ein "Verleugnungsdruck" unter anderem deshalb, weil viele Bundesländer IGMGMitgliedern die deutsche Staatsangehörigkeit verweigerten.68 Was demokratische Strukturen innerhalb der IGMG betrifft, so wirft die weitere Äußeautoritärer rung des Generalsekretärs, in jede Gemeinde "hinein regieren" zu können, Führungsstil Licht auf die herrschende Situation.69 Auch übt die IGMG über eine "Aufsichtskommission" Kontrolle über ihre Mitgliedsvereine aus. Zum Selbstverständnis der IGMG äußerte Generalsekretär ÜCÜNCÜ in einem Zeitungsinterview70 im Mai 2004: "Wir haben uns als Teil einer Bewegung verstanden, Festhalten an und Necmettin Erbakan ist eine Integrationsfigur. ERBAKAN Natürlich hat er in unseren Veranstaltungen Begeisterungsstürme ausgelöst. Das zu bestreiten, ist müßig." 67 In diesem Sinne betonte Prof. Dr. Arif ERSOY, Weggefährte Erbakans und Gastredner anlässlich der Eröffnungssitzung der IGMG Baden-Württemberg zur Arbeitsperiode 2004/2005, die Unveränderbarkeit der "Milli Görüs"-Bewegung und der mit deren Mission verbundenen Ziele ("Milli Gazete" vom 2./3. Oktober 2004). 68 Artikel in "Die Welt"; Online-Ausgabe vom 11. August 2004: "Der Ingenieur regiert hinein - 'Milli Görüs' und Oguz Ücüncü: Eine umstrittene Organisation und ihr Generalsekretär". Internetauswertung vom 18. Oktober 2004. 69 Ebd. 70 Ausgabe der taz vom 7. Mai 2004: "Es geht darum, uns wehzutun." Interview mit Oguz ÜCÜNCÜ und dem IGMG-Rechtsbeauftragten Mustafa YENEROGLU. 63 Unbestritten ist jedoch auch, dass die ERBAKANsche Gesellschaftskritik stark antisemitische Züge trägt: Der Mythos von der "jüdischen Weltverschwörung" beziehungsweise dem "zionistischen Komplott" stellt hier ein antisemitische zentrales Element dar. Antisemitische Inhalte in "Milli Gazete" betreffend Inhalte in heißt es aus dem Kreis der IGMG-Führung71, Antisemitismus sei als Tabu "Milli Gazete" verinnerlicht. Von entsprechenden Äußerungen in der "Milli Gazete" distanziere man sich, denn Kolumnen aus Istanbul würden in Deutschland "einfach nachgedruckt". Bezüglich dieser Argumentation drängt sich freilich der Eindruck auf, dass die Inhalte der fraglichen Kolumnen in der Türkei selbst beziehungsweise bezogen auf die Türkei keineswegs als problematisch empfunden werden, was die IGMG-Führung in diesem Interview auch bestätigte. Regelmäßige Kolumnen in "Milli Gazete", insbesondere diejenigen Mehmet Sevket EYGIs72, befördern die Festigung eines antisemitischen Weltbilds nachhaltig: Hier werden die "Kryptojuden" oder "dönme" - Juden, die angeblich nur pro forma zum Islam konvertierten, in Wahrheit aber nach wie vor dem Judentum anhingen - als existenzielle Bedrohung für den türkischen Staat dargestellt. Eine inhaltliche Debatte zum Antisemitismus ist innerhalb der IGMG bis heute nicht festzustellen. Der Frage des Umgangs mit jungen "Milli Görüs"-Anhängern, welche "die gleichen antisemitischen Stereotype im Kopf haben wie Erbakan", begegnet die IGMGFührung mit dem Argument, keine "Brüche" provozieren zu wollen: "Er [Erbakan] begründet religiös, dass er kein Antisemit sein kann, aber ein Antizionist ist."73 Dies heißt nichts anderes, als dass man um den Preis der Einheit der Bewegung seitens der IGMG bereit ist, Antisemitismus mitzutragen, und der Versuch, diesem Vorwurf entgegenzutreten, erscheint als rein taktische Maßnahme.74 Von den Positionen der "Integrationsfigur" ERBAKAN hat sich die IGMG demnach bis heute in keiner Weise distanziert, geschweige denn gelöst. Den Vorwurf antisemitischer Inhalte in der "Milli Gazete" sucht die IGMG mit dem Hinweis zu entkräften, diese Publikation sei kein Organ der IGMG und die Zurechnung ihrer Inhalte deshalb unzulässig. Dies ist jedoch nur formal zutreffend, denn es bestanden und bestehen umfangreiche personelle Verflechtungen zwischen den Mitgliedern der Redaktion, den Autoren der Zeitung und den Führungspersonen der "Milli Görüs"-Bewegung. Zudem stellt sich in diesem Zusammenhang unmittelbar die Frage, warum 71 Ebd. 72 Unter dem Motto "Kalenderblätter" ist EYGI täglich mit einer Kolumne in der "Milli Gazete" präsent. 73 Ausgabe der taz vom 7. Mai 2004: "Es geht darum, uns wehzutun." Interview mit Oguz ÜCÜNCÜ und dem IGMG-Rechtsbeauftragten Mustafa YENEROGLU. 74 So wurden bei der Durchsuchung eines bayerischen IGMG-Vereins Ende September 2004 antisemitische Schriften in größerer Zahl aufgefunden. 64 Islamismus/Ausländerextremismus ein IGMG-Mitglied an keiner anderen Stelle als in der "Milli Gazete" (in geringem Umfang auch in der "Anadolu'da Vakit") etwas über den eigenen Verein und das "Innenleben" seiner Organisation erfahren kann. Die IGMG ist hier zum Beispiel mit Anzeigen (Veranstaltungshinweise, Kleinanzeigen, Kursangebote), Abschlussberichten über durchgeführte Seminare, Berichten zu regionalen und überregionalen Versammlungen, aber auch der Veröffentlichung ihrer FreitagspredigNutzung von ten ständig präsent. Die Verneinung einer engen Bindung zwischen Orga"Milli Gazete" nisation und Presseorgan erscheint aus diesem Grund unglaubwürdig. als Sprachrohr Kolumnisten der Zeitung, die auch bei Veranstaltungen der IGMG auftreten, weisen im Gegenteil stets auf die Bedeutung der Lektüre von "Milli Gazete" sowie der Unterstützung für diese hin, so auch der Theologe und Pädagoge Dr. Yusuf ISIK75 in einem Artikel vom 22. April 2004, in welchem er einem Rat suchenden Leser auf dessen Frage, wie seine Familie zu einem islamkonformen Leben zu bewegen sei, empfahl: "'MILLI GAZETE' 76, die die religiösen und nationalen Werte hoch hält, das Schlechte und Sündige außen vor lässt und [unseren Menschen] die nationale und religiöse Kultur einimpft, sollte unbedingt in Ihr Haus kommen! Stellen Sie sicher, dass diese Zeitung täglich geradezu [zum Zweck der] Gehirnwäsche gelesen wird! (...)" Ebenso wie sich die IGMG-Führung in Interviews häufig relativierend oder ausweichend positioniert, sind unterschiedliche Strategien der Selbstdarstellung zu beobachten, je nachdem, ob es sich um interne Belange des Verbands oder um die Darstellung nach außen handelt. Diese zwiespältige Haltung wurde auch von aufmerksamen Anhängern bemängelt, wie eine Äußerung im Internetforum der IGMG vom 2. Januar 2004 veranschaulicht: "Ich habe die ängstliche und zaghafte Haltung der IGMG nicht verstanden. Wem will sie mit dieser Haltung imponieren und wen will sie damit täu75 Von 1999-2001 Generalsekretär der IGMG sowie früherer Geschäftsführer der "Milli Gazete", trat auch 2004 in baden-württembergischen IGMG-Vereinen als Referent auf, so im Juli bei der Buchmesse der IGMG-Lauchringen ("Milli Gazete" vom 13. Juli 2004). 76 Großdruck wie im Original. 65 interne Kritik schen? (...) Dieses Verhalten der IGMG-Führung an Führung kritisiere ich aufs Schärfste, und als 'Milli Görüs'Anhänger warne ich: (...) Ich höre mir in letzter Zeit die Reden der Herren in Führungspositionen auf Zentralund Bezirksebene an und stelle dabei fest, dass dabei einige 'islamische', sozial-politische oder mit 'Milli Görüs' zu identifizierende Begriffe absichtlich vermieden werden. Zum Beispiel auch der Begriff 'Djihad', 'Kampf zwischen Recht und Nichtigem' 77, 'Loyalität mit dem Hodja' 78, 'Club der Freimaurer', 'fanatischer Zionismus', 'Gerechte Ordnung' (...) Warum hat man Angst? Wen wollt ihr [sc. die IGMG-Verantwortlichen] mit eurer ängstlichen und zaghaften Haltung täuschen? Die anderen oder euch selbst? Sah so die Methode unseres Propheten aus (das heißt zeigte er etwa Feigheit bei der Verkündung der Wahrheit)?" 79 Die IGMG-Führung in Gestalt von Mustafa YENEROGLU, dem Leiter der "Abteilung Rechtswesen" der IGMG, bezeichnete es in ihrer Antwort als "unvereinbar mit der Ethik von 'Milli Görüs', diese Organisation derart zu beschuldigen." Kritik wurde danach nicht nur nicht geduldet, sondern als "Angriff auf die Ehre" gebrandmarkt. Aus der Zuschrift des genannten Anhängers ging auch zweifelsfrei hervor, dass ERBAKAN von der Basis nach wie vor als die unangefochtene Führungspersönlichkeit angesehen wird. Auf dessen Kritik, warum die IGMG die Verurteilung ERBAKANs und das lebenslang gegen ihn verhängte Politikverbot80 nicht offiziell kommentiere, entgegnete die Verbandsführung, dies sei bei internen Veranstaltungen geschehen; eine öffentliche Äußerung wurde offensichtlich bewusst vermieden. Zum Vorwurf der bewussten Vermeidung "Milli Görüs"-spezifischer Terminologie argumentierte YENEROGLU, "Adil Düzen" (die keine "Gerechte Ordnung") sei die "Herrschaft der Gerechtigkeit und des Rechts Abkehr von auf der Welt, und Beziehungen zwischen Staaten und Menschen sollten auf "Adil Düzen" Gerechtigkeit basieren." Deutlich wird hier sichtbar, dass die "Milli Görüs"Bewegung einschließlich der IGMG nach wie vor das Konzept der "Gerechten Ordnung" propagiert. Dass der IGMG-Generalsekretär ÜCÜNCÜ im 77 Benannt mit den Schlüsselbegriffen "hak" und "batil". 78 Das heißt mit "Hodja ERBAKAN". 79 Hier und im Folgenden: IGMG-Internetforum vom 27. Oktober 2004. 80 Ende 2003 wurde Necmettin ERBAKAN wegen Verstoßes gegen das Parteiengesetz mit lebenslangem Politikverbot belegt. . 66 Islamismus/Ausländerextremismus deutschsprachigen Teil von "Milli Görüs & Perspektive"81 betonte, die IGMG habe sich die programmatische Schrift "Gerechte Ordnung" weder zu eigen gemacht noch diese vertreten, zeigt einmal mehr die doppelgesichtige Haltung der IGMG in elementaren Fragen ihres Selbstverständnisses. In das Bild der mangelnden Fähigkeit zur Selbstkritik fügt sich auch das Verhalten des Imams einer Berliner Moschee mit IGMG-Bezug, der sich aufgrund einer dokumentieren Hetzpredigt gegen Deutsche erst auf öffentlichen Druck hin zu einer Entschuldigung veranlasst sah.82 In Bezug auf Frauen, insbesondere was ihre Bekleidung nach islamischen Vorschriften und ihre Rolle im öffentlichen Leben betrifft, hat die IGMG auch im Jahr 2004 weiterhin islamistische Positionen vertreten. Die "Milli Gazete" veröffentlichte Kolumnen, die diese Haltung unmissverständlich dokumentieren, so die von Mevlüt ÖZCAN vom 17. Juni 2004 unter der rhetorischen Fragestellung "Ist die räumliche Trennung von Frauen und Männern eine osmanische Tradition?". ÖZCAN, der auf verschiedenen Veranstaltungen der IGMG als Referent auftrat83, erwies sich darin als vehementer Befürworter dieser Geschlechtertrennung, indem er partriarchalisches diese Praxis eindeutig koranischen Aussagen sowie der Sunna zuordnete. Gesellschaftsbild Die Trennung sei zwingend, um "die Augen vor Verbotenem zu schützen und den sicheren Fortbestand der Familie zu gewährleisten." Abgesehen von der Ehefrau ist einem Muslim nach dieser Lesart ausschließlich der gemeinsame Aufenthalt mit Frauen erlaubt, "mit denen ihm die Heirat auf ewig verboten ist", das heißt mit Mutter, Schwester und wenigen weiteren weiblichen Personen, die im Koran genannt sind. Die strikte Trennung, die trotz der Verhüllung der Frau nach islamischer Tradition notwendig sei, bezeichnet ÖZCAN als "Erfordernis der muslimischen Identität" 84. Verschiedentlich wurden bei türkischund den entsprechenden deutschsprachigen Verlautbarungen Abweichungen festgestellt. Bei der IGMGGemeinde Pleidelsheim/Krs. Ludwigsburg, die auf ihrer türkischsprachigen Internetseite einen Link zu Harun YAHYA gesetzt hat, fiel auf, dass dieser auf der deutschsprachigen Seite fehlt. Hier ist davon auszugehen, dass man 81 "Milli Görüs & Perspektive" vom April 2004, S. 24 82 Frontal21-Sendung vom 23. November 2004. 83 So vom 1. bis 4. Mai 2003 in Heilbronn, am 1. und 2. Mai 2004 in Essen und Hamm. 84 Eine weitere Kolumne zum selben Thema erschien am 28. August 2004 ebenfalls in der "Milli Gazete": "Die Wichtigkeit der Tatsache, die Augen vor Verbotenem zu schützen." 67 sich darauf eingestellt hat, YAHYA als den Revisionisten, Anti-Darwinisten und vehementen Kämpfer gegen Aufklärung und Säkularismus aus taktischen Erwägungen aus dem deutschsprachigen Angebot zu entfernen. Dieser Autor strebt durch die von ihm gegründete "Stiftung Wissenschaft und Forschung" ("Bilim Arastirma Vakfi", BAV), die in zahlreichen Ländern Konferenzen und Vorträge organisiert, eine weltweite Rezeption seines Gedankenguts an; die Übersetzung seiner Schriften in möglichst viele Sprachen sieht er als "globale kulturelle Aufgabe." 85 Sein angebliches Bestreben, die Religionen gegen die "Gottlosigkeit" einen zu wollen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm um die Verteidigung einer buchstabengläubigen Religiosität geht immer noch - mit unabsehbaren Folgen vor allem für die Naturwissenschaften in SchuWerbung für le und Forschung und für die Freiheit der Lehre. Denn letzten Endes zielt YAHYA YAHYA auf nichts anderes ab als die Bekämpfung des "Bösen" beziehungsweise "Falschen" unter dem Deckmantel eines elitären Sendungsbewusstseins86, das sich stets auf Seiten des "Guten" und "Richtigen" weiß. Der Sendungsglaube beziehungsweise das Bewusstsein, stets auf der "richtigen" Seite zu stehen, kommt auch in Kolumnen der "Milli Gazete" zum Tragen. So zum Beispiel auf der "Familienseite", wo in der Ausgabe vom 27. Mai 2004 (Rubrik "Erlernen wir unsere Religion: Der Charakter der Menschen in manchen Gesellschaften") folgende Feststellung getroffen wird: "Der im Koran dargestellte Charakter des Gläubigen ist höher stehend als Tausende von Charakteren, die eine Gesellschaft hervorbringt. Das Leben, das der Gläubige lebt, ist ganz im Gegensatz zu demjenigen in den Systemen, die der Moral des Koran fern stehen, absolut vollkommen." Deutlich ist auch hier der Gegensatz zwischen dem "wahren Gläubigen" und dem Typus Mensch, der der hehren Moral des Koran fern stehen und 85 YAHYA-Homepage vom 3. November 2004. 86 Dieses Sendungsbewusstsein definiert die IGMG in ihrer Selbstdarstellung als Bestandteil der Religion: Im Abschnitt "Parallelgesellschaft" heißt es: "Die IGMG nimmt am gesellschaftlichen Diskurs aktiv teil und regt ihre Mitglieder an, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Alles andere würde unserer Religion mit Sendungsbewusstsein und Verkündungsauftrag widersprechen." IGMG-Homepage vom 3. November 2004. 68 Islamismus/Ausländerextremismus somit von minderem Wert sein soll, herausgearbeitet. Dem Begriff der "Systeme" anderer Prägung kommt zudem eine abwertende Bedeutung zu. Auch wenn die Wertschätzung für YAHYA offiziell von der IGMG abgestritten wird87, kursieren seine Schriften und sonstigen Medien in IGMG-Kreisen weiterhin, wie das Beispiel Buchmesse der IGMG in Esslingen im Juni 2004 zeigt. Dort wurden seine Publikationen unter der Verkaufstheke vorrätig gehalten. Bei einer Durchsuchung einer bayerischen IGMG-Moschee im September 2004 wurden ebenfalls YAHYA-Publikationen in größerer Zahl aufgefunden. Auch durch diverse Veranstaltungen des Theologen Hasan KOC, der mit Seminaren zu "Koran und Ökonomie", "Koran und Genetik" oder "Koran und Astronomie" im Frühjahr 2004 an der Universität Duisburg, aber auch pseudowissenbei Familienbildungsseminaren in IGMG-Vereinen in Hessen und Bayern schaftliche präsent war, gelangte das Gedankengut an das Publikum. Auf der HomeVorträge an page dieses Autors, der von 1996 bis 1998 Vorsitzender der niederländiUniversitäten schen "Milli Görüs"-Föderation war, fanden sich die bekannten antisemitischen Verschwörungstheorien: "Die nach Italien vertriebenen Juden nisteten sich heimlich im Zentrum der katholischen Welt, dem Vatikan ein, und brachten es gar bis zur Papstwürde. (...) Die Gründung der EU, der NATO, der UN sind alle Teile dieses Plans der 'Neuen Weltordnung' (...), dessen letzte Szenen derzeit aufgeführt werden. Der 11. September ist der Beginn des letzten Aufzugs dieses Theaterstücks." 88 Der Internetauftritt KOCs beinhaltet eine Empfehlung für "Milli Görüs" als Lösung jeglicher politischer Probleme sowie eine glühende Rede auf den Führer ERBAKAN ("Er ist eine ganze Armee in einer Person"), die mit dem Ruf endet: "Im Namen Gottes - für unsere Mission, für die Herrschaft Gottes, für die Gerechtigkeit, für das 87 So von YENEROGLU im taz-Interview vom 7. Mai 2004: "Wir haben Harun Yahyas Bücher in den Moscheen verboten, bevor der Verfassungsschutz wusste, wer Yahya ist." 88 Homepage von Hasan KOC vom 15. Juli 2004. 69 Trocknen der Waisentränen, für das Märtyrertum in dieser höchsten Mission." 89 Es bestehen Links zu Harun YAHYA sowie zur "Milli Gazete" und zur "Anadolu'da Vakit". Der "Familientag" (Aileler Günü) der IGMG, der am 29. und 30. Mai 2004 in der IGMG-Zentrale in Kerpen unter dem Motto "Wir sind eine Familie" stattfand, war im Jahr 2004 die besucherstärkste Veranstaltung des Verbands in Deutschland. In dem in der "Anadolu'da Vakit" erschienenen Artikel vom 1. Juni 2004 mit der Überschrift "Ein anspruchsvolles, bedarfsorientiertes Programm der "Familientag" IGMG" wurde die Veranstaltung lobend in dem Sinne kommentiert, man zur Festigung der habe von Geburt an "hierzulande ein eigenes soziales Netz gewebt". In der eigenen Türkei werde das soziale Leben von der Herrschaft der kulturellen Werte Gemeinschaft einer muslimischen Gesellschaft bestimmt, in Europa dagegen bestehe eine "völlig fremde sozio-kulturelle Struktur", die gar auf "völlig gegensätzlichen Werten" beruhe. Sämtliche, von Muslimen in Europa gegründete Organisationen stünden daher in der Pflicht, sich für die Wahrung ihrer Werte stark zu machen, wobei sich die IGMG aufgrund ihres Einflusses, ihrer Verbreitung und ihrer Mitgliederstärke als deren Spitze betrachte. Auf die Präsenz von "Milli Gazete"-Autoren im Programm besonderen Wert zu legen, belegt abermals die mangelnde Glaubhaftigkeit der Distanzierung der IGMG von dieser Zeitung. Ein zielgerichtetes Literaturangebot wurde auch in baden-württembergischen IGMG-Vereinen im Rahmen mehrerer Buchmessen offeriert, so im Juni 2004 in Esslingen.90 Anwesend waren auch der Chefredakteur der "Milli Gazete", Ekrem KIZILTAS, sowie zahlreiche aus Veranstaltungen der IGMG bekannte Vortragende, darunter Münib Engin NOYAN, ehemals Musiker und Idol der linken säkularen Jugend, in 2004 für "Milli Görüs" in diversen IGMG-Vereinen Baden-Württembergs wie Karlsruhe, Mühlacker, Heilbronn, Pforzheim präsent.91 In seinem Buch "Mein Qur'an Tagebuch"92, mit dem er freitags im Radioprogramm der IGMG mit Lesungen präsent ist und in welchem er aus der Lektüre des Korans 89 Internetauswertung vom 15. Juli 2004. 90 Im Vorfeld dieser Buchmesse hatten der damalige Vorsitzende des Landesverbands der IGMG BadenWürttemberg, Sami GANIOGLU, und sein Nachfolger Erol ÖZTÜRK der "Milli Gazete"-Redaktion einen Besuch abgestattet ("Milli Gazete" vom 4. Juni 2004). 91 Laut Veranstaltungshinweisen in der "Milli Gazete" vom 6. Januar 2004. 92 Noyan, Münib Engin: Mein Qur'an Tagebuch. Istanbul 2003. 70 Islamismus/Ausländerextremismus Verknüpfungen zur eigenen Lebenspraxis herzustellen sucht, benennt er in einem Gedankenspiel zum "11. September" die Amerikaner, welche die Welt "nur aus dem Fenster ihres absoluten und uneingeschränkten Eigennutzes" sähen und dementsprechend alles nur zu diesem Zweck ausbeuteten, als die eigentlichen Verursacher der Katastrophe. Sie seien Vertreter einer Gesinnung, die behaupte, sich für alle - einschließlich derer, die dies gar nicht einforderten - für Recht, Justiz und Demokratie einzusetzen, die sich zum Gendarm der Welt aufspiele und sich allmächtig und stets im Umdeutung des Recht glaube. Der "11. September" wiederum war nach NOYAN ein Mene"11. September" tekel, eine Strafe Gottes und als Aufforderung zur Reue unumgänglich; diejenigen, die die Anschläge ausgeführt hätten, hätten als Werkzeuge eines strafenden, doch barmherzigen Gottes gehandelt, was NOYAN zu der Feststellung veranlasst: "Aber durch die Güte und Barmherzigkeit Allah Tealas93 wird uns immer wieder eine Chance gegeben, wenn auch manchmal in Form eines Terroranschlags, uns zu besinnen und somit der endgültigen und größten Bestrafung aller Bestrafungen zu entgehen!" 94 Die Anwendung von Gewalt wird hier im Namen einer höheren Instanz gerechtfertigt; die Drohung mit göttlicher Vernichtung - ein wichtiges Instrument islamistischer Didaktik - stellt durch die Heranziehung einer höher stehenden (göttlichen) Rechtsordnung gewachsene Rechtsnormen westlicher Gesellschaften nicht nur in Frage, sondern setzt diese gleichsam Bezug auf islamisaußer Kraft. Wiederholt bezieht sich NOYAN auf bedeutende Vordenker tische Vordenker des Islamismus wie Sayyid QUTB95 oder Abu'l Ala al-MAUDUDI. Besonders der Einfluss QUTBs, dessen Werke auch im Buchclub der IGMG angeboten werden, auf Ideologen innerhalb der IGMG ist nicht zu unterschätzen. Sein Grundgedanke besteht in der Auffassung, im Islam seien alle Dualismen der westlichen Welt überwunden, und der "wahre Islam" müsse nun von neuem etabliert werden, um die von der Moderne zerrissene Welt zu heilen. Das Billigen von Gewalt als Mittel, um Unrecht zu sühnen, und die Stilisierung von Opfern zu Tätern finden sich auch in der "Milli Gazete": In der 93 Gott der Erhabene. 94 Mit der "endgültigen und größten Bestrafung aller Bestrafungen" ist das Los der Hölle gemeint, das all jenen bestimmt sein soll, die sich nicht zum Islam bekennen, obwohl sie die Möglichkeit dazu haben. 95 Mitglied der ägyptischen "Muslimbrüder"; 1966 wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" hingerichtet. 71 Ausgabe vom 19. Juli 200496 erörterte der Kolumnist Mehmet Sevket EYGI auch die so genannten Ehrenmorde an Frauen und Mädchen. Seiner Argumentation zufolge würde niemand die wahren Gründe für diese Taten bedenken, doch wo die Möglichkeiten der Justiz den Schutz der Bürger nicht mehr gewährleisteten, würde das Volk selbst für die Wiedergutmachung erlittenen Unrechts sorgen. Mit dieser Argumentation sind die letzten Schranken gefallen, der Lynchmord wird als legales Mittel der Verteidigung propagiert. Die öffentlichen Äußerungen der IGMG zu diesen Themen haben nicht zur Klarheit hinsichtlich der von ihr vertretenen Positionen beigetragen. Der Verweis auf den Islam als göttlichem System und als Bezugsgröße allen menschlichen Handelns im Privaten wie im Öffentlichen lässt zumindest zweifelhafter Zweifel an der möglichen Entwicklung tragfähiger gemeinsamer Werte mit Integrationswille der Mehrheitsgesellschaft als weltlichem System aufkommen. Einer Argumentation, nach der es im Wesen eines auf eine göttliche Ordnung bezogenen Systems liegt, in gewissen Punkten in einem Spannungsverhältnis zur Verfassung zu stehen, muss entschieden entgegengetreten werden. Es handelt sich nämlich hier gerade nicht um eine göttliche Ordnung unter mehreren gleichwertigen, sondern um eine solche, die für sich in Anspruch nimmt, sowohl ewig und universell gültig zu sein als auch über allen anderen - religiösen wie weltlichen - Ordnungen zu stehen. Ungeklärt bleibt bislang auch, wie sich die IGMG angesichts der von ihr verfolgten, teilweise bereits geschaffenen "Insellösungen" für die eigene Gemeinschaft eine gelingende Integration vorstellt. Offensichtlich besteht hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs "Integration" noch Klärungsbedarf, bezeichnet die IGMG doch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft, die sie ihren Mitgliedern ausdrücklich empfiehlt, als Bestandteil einer erfolgreichen Integration.97 Damit wird jedoch Integration auf das reduziert, was sie gerade nicht ist, nämlich ein bloßer formaler Akt. Eine Integrationsleistung ist mit der Einbürgerung noch keineswegs verbunden. Der Integrationswille muss sich vielmehr daran messen lassen, in welchem Maß die IGMG zur Bestimmung tragfähiger gemeinsamer Grundwerte mit der Gesellschaft, innerhalb derer sie agiert, bereit ist, vor allem aber, inwieweit sie diese auch in die Praxis umzusetzen vermag. 96 Titel der Kolumne: "Die bauchfrei Bekleideten". 97 Selbstdarstellung der IGMG auf ihrer Homepage im dortigen Abschnitt "Staatsbürgerschaft". 72 Islamismus/Ausländerextremismus 2.6.2 Der "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti"), früher "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V." (ICCB) Gründung: 1984 als Abspaltung aus der "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) Sitz: Köln Oberhaupt: "Kalif" Metin KAPLAN, wurde am 12. Oktober 2004 in die Türkei abgeschoben. Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2003: ca. 300) ca. 750 Bund (2003: ca. 800) Publikation: "Barika-i HAKIKAT" (Das Aufleuchten der Wahrheit) Verbot: Die Zentrale in Köln und 19 örtliche Vereine als Teilorganisationen wurden am 12. Dezember 2001 durch den Bundesminister des Innern verboten98; am 19. September 2002 Ausdehnung des Verbots auf 16 weitere Teilorganisationen99; Bestätigung des Verbots durch das Bundesverwaltungsgericht am 27. November 2002.100 Erklärtes Ziel des "Kalifatsstaats" war und ist die Schaffung eines auf den Prinzipien der Scharia basierenden Staatswesens durch die neuerliche Institution des Kalifats als Staatsform, wie sie in der Türkei bis 1924 bestand. Als erstes Etappenziel dabei war zunächst die Beseitigung des als illegitim angesehenen laizistischen türkischen Staatsgefüges vorgesehen, sodann die InstiCemaleddin KAPLAN tution des Kalifats auf anatolischem Boden und später weltumspannend. Wiedererrichtung Bis zur vorgesehenen "Befreiung Istanbuls" wurde Köln, wo der "Kalifatsdes Kalifats als staat" 1994 durch das 1995 verstorbene Oberhaupt Cemaleddin KAPLAN politisches Ziel proklamiert worden war, faktisch als vorläufige "Hauptstadt" der Organisation betrachtet. Betrieb der "Kalifatsstaat" in der Vergangenheit, zum Teil auch noch nach seinem Verbot, offensiv Propaganda gegen Demokratie, Parteiensystem und Pluralismus im Allgemeinen sowie die laizistische Republik Türkei im Besonderen, so übte die Organisation im Jahr 2004 in dieser Hinsicht größte Zurückhaltung. Der "Kalifatsstaat" reagierte damit vor allem auf die bundesweiten Polizeimaßnahmen gegen Bezieher der Verbandszeitung "Beklenen ASR-I SAADET" vom Dezember 2003, die unge98 Hiervon waren in Baden-Württemberg Vereinigungen in Blumberg und Winnenden betroffen. 99 In Baden-Württemberg waren von der Ausdehnung des Verbots fünf Vereine (in Bruchsal, Esslingen, Heidenheim, Schorndorf und Tübingen) tangiert. 100 Die seitens des "Kalifatsstaats" gegen das Verbot eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen; Beschluss des BVerfG 1 BvR 536/03 vom 2. Oktober 2003. 73 achtet der Einbeziehung in die Verbotsverfügung nach dem Verbot weiter vertrieben worden war. Die Maßnahme gegen "Beklenen ASR-I SAADET" hatte zur Folge, dass die Herausgabe der in den Niederlanden hergestellten und von dort aus vertriebenen Zeitung eingestellt wurde. Allerdings legte die Organisation innerhalb kürzester Zeit mit der neuen Schrift "Barika-i HAKIKAT" nach, die sich jedoch, was die Inhalte betrifft, im Vergleich zu den vorigen Publikationen deutlich gemäßigt gab. Die Nahostpolitik des Westens wurde in der "Barika-i HAKIKAT" kritisch kommentiert, ohne jedoch im selben Ausmaß wie zuvor gegen Israel oder den Westen zu trotz Verbots hetzen. Die Mehrzahl der Beiträge befasste sich mit verschiedenen Aspekneue Publikation ten des Islam und dessen herausragender Stellung. Auch propagierte man wieder die Überzeugung vom Sieg des Islam über die "übrigen Systeme": "Die christliche Welt ist angeschlagen. Denn sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus sind ihre Werke. Diese beiden Ideologien haben der Menschheit großen Schaden zugefügt. Es führt kein Weg daran vorbei: der Rettungsweg ist im Islam zu suchen. (...) Seid hoffnungsvoll! Die stärkste Stimme war und wird diejenige des Islam sein!"101 In den ersten Ausgaben von "Barika-i HAKIKAT" fehlten fast ausnahmslos Reden oder andere Veröffentlichungen Cemaleddin KAPLANs oder seines Nachfolgers Metin KAPLAN. Anhand älterer Reden und Schriften von Cemaleddin KAPLAN, die in der Folge wieder in der Zeitung abgedruckt wurden, ist zu ersehen, dass sich an der Zielsetzung der Organisation trotz des nach außen zurückhaltenden Auftretens nichts geändert hat. So wurde in der Ausgabe der "Barika-i HAKIKAT" vom 12. Oktober 2004 eine Schrift Cemaleddin KAPLANs mit dem Titel "Das Osmanische102 und seine Bedeutung" abgedruckt, in der die Metin arabischen Buchstaben des Korans als das Bindeglied zwischen KAPLAN den Individuen der islamischen Welt dargestellt werden. Die von 101 "Barika-i HAKIKAT" vom 15. April 2004, S. 15. 102 Vorläuferin der heutigen türkischen Schriftsprache, die mit arabischen Buchstaben geschrieben wurde und stark mit arabischer und persischer Grammatik und aus diesen Sprachen entlehnten Vokabeln durchsetzt war. 74 Islamismus/Ausländerextremismus Mustafa Kemal (Atatürk) durchgeführte Schriftreform103 sei "Verrat an dieser Nation"; die Jugend müsse endlich zu ihren Wurzeln zurückkehren. Schlussendlich seien alle Reformen Mustafa Kemals auf den Kopf zu stellen und auf den "Müllhaufen der Geschichte" zu werfen, und man müsse zum Lesen und Schreiben in den "ureigenen Buchstaben" zurückkehren. Die "Barika-i HAKIKAT"-Ausgabe vom 18. März 2004 wurde vom Leitthema "Hidjra"104 bestimmt. Im Artikel "Was bedeutet Hidjra?" erläuterte man dazu folgendes: Selbst wenn die "Hidjra" - wie heute bei vielen Muslimen der Fall - um den Preis des Verlassens des eigenen Vaterlands geschehe, sei dabei zu beachten, dass man Grausamkeiten nicht tatenlos zusehen dürfe. "Hidjra" sei außerÜberzeugung, dem ein Synonym für das beharrliche Festhalten an der "Mission". Nicht eine "Mission" "Flucht" sei darunter zu verstehen, sondern eine Angriffsstrategie. Die zu erfüllen "Hidjra" habe von jeher den Boden für den Erfolg der unterdrückten "Auswanderer" (muhadjirun)105 und den Schaden der Tyrannen bereitet. Länder, die zum rechten Glauben aufgefordert worden seien, wären bei Nichtbefolgung später untergegangen oder aber erobert worden. Diese Aussage darf als programmatisch verstanden werden: Die "Hidjra", der Exodus, die Trennung von der Heimat, vollziehe sich für den Muslim von heute in gewissem Sinn von Neuem, indem er nach der Auswanderung, dem Bestehen der damit verbundenen "Prüfungen" und der Bewährung auf dem Wege Gottes am Ende erfolgreich heimzukehren hoffe, nicht ohne der Pflicht der "da'wa"106 nachgekommen zu sein. Dabei obliege denjenigen, die sich für die "Mission" einsetzten, gewissermaßen nach göttlicher Gesetzmäßigkeit unbedingt der Erfolg, wohingegen die "Unbelehrbaren" der Verdammnis anheim fielen. Auf einer transzendenten Ebene sei "Hidjra", wie in dem Artikel ebenfalls ausgeführt ist, durch "Abstandnehmen von Schlechtem" und "Befolgen der Verbote Gottes" gleichfalls als "innere Emigration" aufzufassen. Die grundsätzliche "Verderbtheit" des Westens und seine "Sinnentleertheit", die diesen zu einem fruchtbaren Feld für die "da'wa"-Arbeit machten, sind weitere Themen. Dass auch im Westen Menschen zur "rechten Lei103 Das heißt die Abschaffung des bis dahin gebräuchlichen arabischen und die Einführung des lateinischen Alphabets. 104 Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina im Jahr 622 nach Christus, da er in Mekka zunächst nicht die notwendige Unterstützung fand; 630 folgte die Rückkehr dorthin. 105 Im historischen Kontext diejenigen, die zusammen mit dem Propheten Muhammad von Mekka nach Medina ausgewandert waren. 106 Die "Mission" des Islam, die durch Verkündigung geschieht und zur "rechten Leitung" aufruft. 75 Konvertiten als tung" fänden, wird am Beispiel des Anfang der 1980er Jahre zum Islam konAushängeschild vertierten ehemaligen Idols der französischen Kommunisten, Roger GARAUDY, dokumentiert, der seine Konversion damit begründe, im Islam die "zeitgemäße Lebensform" gefunden zu haben.107 Insgesamt ist bei "Barika-i HAKIKAT" inhaltlich in weiten Teilen eine Annäherung an den gängigen islamistischen Diskurs festzustellen. Auch "Barika-i HAKIKAT" wurde 2004 auf dem Postweg und mutmaßlich an Bezieher der Vorgängerpublikationen versandt. Einige der Adressaten legten die Zeitung mit dem Hinweis, diese nicht bestellt zu haben, der Polizei vor, so in Baden-Württemberg insbesondere in Albstadt, Calw, Tübingen und Villingen-Schwenningen. Polizeiliche Maßnahmen aufgrund des Verdachts der Weiterführung des verbotenen "Kalifatsstaats" erfolgten unter anderem im Juni 2004 in Winnenden, außerdem wurden einen Monat später Durchsuchungen von Wohnobjekten vor allem in Esslingen, Stuttgart und Waiblingen durchgeführt. Bei diesen Maßnahmen wurden auch organisationsbezogene Medien sowie Kontounterlagen sichergestellt. Innerhalb der Organisation besteht nach wie vor ein Führungsproblem. Das Oberhaupt des "Kalifatsstaats", Metin KAPLAN, war nach Verbüßung einer vierjährigen Freiheitsstrafe wegen Aufrufs zum Mord am "Gegenkalifen" Dr. Ibrahim SOFU im Mai 2003 aus der Haft entlassen worden. Bezüglich seines ausländerbeziehungsweise aufenthaltsrechtlichen Status verfolgte KAPLAN danach weiter den Rechtsweg. Am Abschiebung 12. Oktober 2004 wurde der "Kalif" in die Türkei abgeschoben. Das VerKAPLANs waltungsgericht Köln hatte am selben Tag die Zulässigkeit der Abschiebung trotz laufenden Revisionsverfahrens bekannt gegeben.108 In seiner Begründung erläuterte das Gericht, dass der Aufenthalt KAPLANs als "Identifikationsfigur des islamischen Extremismus" in Deutschland beendet werden müsse und dabei dessen persönliches Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet hinter dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Abschiebung zurückzustehen habe. Unmittelbar nach der Einreise in die Türkei wurde nach Anhörung Haftbefehl gegen KAPLAN erlassen. Schwerpunktmäßiger Tatvorwurf des anstehenden Verfahrens in der Türkei ist die Anstiftung zu dem letztlich vereitelten Anschlag auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara im Jahr 1998. 107 "Barika-i HAKIKAT" vom 18. März 2004, S. 15. 108 Beschluss vom 5. Oktober 2004, Az.: 12 L 1418/04. 76 Islamismus/Ausländerextremismus Reaktionen auf die Abschiebung KAPLANs in Form öffentlicher Aktionen oder Bekundungen seiner Anhänger waren nicht festzustellen. 2.6.3 "Front der Islamischen Kämpfer des Großen Ostens" (IBDA-C) Die "Front der Islamischen Kämpfer des Großen Ostens" ("Islami Büyük Dogu Akincilar - Cephesi", IBDA-C) entstand Mitte der 1980er Jahre mit dem Ziel, die laizistische Staatsordnung der Türkei zu zerstören und an Zielsetzung ihrer Stelle einen "vereinigten Islamstaat" auf Grundlage von Koran und Scharia zu errichten. Geistiger Führer der Organisation ist Salih Izzet ERDIS alias Salih MIRZABEYOGLU. Dieser wurde am 28. Dezember 1998 in der Türkei verhaftet und dort nach dem türkischen Strafgesetzbuch wegen "versuchter Änderung der Verfassungsordnung mit Waffengewalt" zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde inzwischen in lebenslange Haftstrafe umgewandelt. MIRZABEYOGLU hatte sich als Jurastudent in Istanbul zunächst der 1975 gegründeten Studentenorganisation "Akinci" ("Stürmer") angeschlossen, die der "Milli Selamet Partisi" (MSP, "Nationale Heilspartei") von Prof. Dr. Necmettin ERBAKAN angehörte. Schon bald gründete er in deren Reihen einen eigenen Kreis, in dem er islamistisches Gedankengut mit rechtsextremistischen Ansätzen verband. 1979 verließ er die MSP und widmete sich der Ausarbeitung der Ideologie des "Islamischen Großen Ostens", deren Leitfigur der 1983 verstorbene und in konservativ-islamischen Kreisen nach wie vor hochgeschätzte Schriftsteller und Publizist Necip Fazil KISAYÜREK ist. MIRZABEYOGLU charakterisiert seine Organisation in erster Linie als intellektuelle Bewegung. Seine zahlreichen Schriften, in denen er religiös-mystische und philosophische Denkansätze verarbeitet, sind höchst abstrakt und theoretisch gehalten. Er selbst hat seine Anhänger niemals explizit zu gewaltsamen Aktionen aufgerufen. In der Türkei verübten Mitglieder der IBDA-C Mitte der 90er Jahre mehrere Anschläge mit Brandsätzen, selbst gefertigten Sprengbomben und auch Anschläge auf Handgranaten auf "unislamische" Ziele wie Nachtclubs, Restaurants oder "unislamische" Einkaufszentren, aber auch auf das Büro der marxistischen Arbeiterpartei in Ziele Istanbul, auf den Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen in Istanbul sowie auf ein Gebäude des dem "Präsidium für religiöse Angelegenheiten" angegliederten Verlags. Durch intensive Maßnahmen der türkischen Strafverfolgungsbehörden ab 1997 wurde die Organisation so nachhaltig geschwächt, dass sie nach 1999 kaum mehr in Erscheinung trat. In Deutschland hatte sich die IBDA-C zu einem im Jahr 1996 durchgeführten Brandanschlag auf ein türkisches Kulturzentrum in Hannover bekannt, wobei der Brandsatz jedoch erlosch, ohne großen Schaden anzurichten. Die 77 Hintergründe eines am 17. April 2001 durchgeführten Brandanschlags auf das türkische Generalkonsulat in Düsseldorf, zu dem sich angeblich die IBDA-C bekannt hatte, konnten nicht abschließend aufgeklärt werden. Die IBDA-C war zuletzt im November 2003 durch Selbstmordattentate auf zwei Synagogen und zwei britische Einrichtungen in Istanbul in die Schlagzeilen geraten, weil sie sich zu diesen Terroranschlägen bekannt hatte. Ein Anrufer im Namen der Gruppe hatte erklärt, dass man mit den Anschlägen der "Unterdrückung der Moslems" ein Ende haben setzen wollen. Außerdem hatte er die Fortsetzung der Aktionen angekündigt. Die Bombenattentate in Istanbul hatten mindestens 61 Menschen in den Tod gerissen. Die türkischen Sicherheitsbehörden haben bisher jedoch nicht bestätigt, dass die Anschläge tatsächlich von der IBDA-C durchgeführt wurden. Vielmehr hat sich der Verdacht erhärtet, dass die Anschläge von dem Terrornetzwerk um "al-Qaida" geplant wurden. In Baden-Württemberg liegen Hinweise auf mutmaßliche Einzelmitglieder vor. Ihre Anwesenheit war bislang jedoch nicht auf Aktionen mit Außenwirkung ausgerichtet. 2.7 Iranische islamistische Gruppen 2.7.1 "Volksmodjahedin" Die "Volksmodjahedin" unter den Bezeichnungen "Modjahedin-e Khalq Organisation" (MEK oder MKO) und "People's Mojahidin of Iran" (PMOI) gelten auf Beschluss des Rats der Europäischen Union (EU) vom 2. Mai 2002 nach wie vor als terroristische Organisationen. Die "National Liberation Army of Iran" (NLA) als der militante Flügel der PMOI, der "National Council of Resistence" (NCR) sowie die "Muslim Iranian Student's Society" wurden ebenfalls in diese Liste der terroristischen Organisationen aufgenommen. Das gilt hingegen weiterhin nicht für den "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI) beziehungsweise "National Council of Resistance" (NCRI). Dieser wird explizit nicht als Terrororganisation bezeichnet. Er wurde als scheinbar parteiübergreifende demokratische Sammlungsbewegung 1981 in Paris gegründet und ist international tätig. Im Januar des Jahres 2004 richtete sich das Hauptaugenmerk des NWRI auf ihren bewaffneten Arm NLA im Irak. Nach der offiziellen Beendigung der dortigen Kampfhandlungen im Jahr 2003 sollten eigentlich die Lager der NLA geräumt werden. Den NLA-Angehörigen drohte daher seinerzeit die 78 Islamismus/Ausländerextremismus Ausweisung aus dem Irak, möglicherweise auch die Auslieferung an den Iran, nachdem die irakische Übergangsregierung die Angehörigen der "Volksmodjahedin" ultimativ aufgefordert hatte, den Irak bis Ende 2003 zu verlassen. Der Verbleib von Masud RADJAVI, dem Befehlshaber der NLA, blieb seit Ende des Krieges ungeklärt. Verschiedentlich wurde Jordanien als möglicher Aufenthaltsort genannt. Gegen dieses Ultimatum und die drohende Auslieferung protestierte die Organisation weltweit. In Deutschland traten Vertreter des NWRI zusammen mit Rechtsanwälten vor die Presse, um gegen diese Maßnahme zu protestieren. Im Verlauf des Jahres 2004 kam es aber offenbar nicht zu größeren Absatzbewegungen oder zu Auslieferungen von NLA-Angehörigen. Nach wie vor befand sich der Großteil der kämpfenden "Volksmodjahedin" (etwa 4.000 Menschen) in einem Lager nördlich von Bagdad. In Europa richteten sich die meisten öffentlichen Aktivitäten des NWRI Agitation gegen gegen die Aufnahme von Teilen der Volksmodjahedin in die "EU-Terrorlis"EU-Terrorliste" te". So kam es am Jahrestag der Verhaftung der Vorsitzenden der Organisation, Maryam RADJAVI, am 17. Juni 2004 in Paris zu größeren friedlichen Protesten, an denen auch Anhänger aus Baden-Württemberg teilnahmen. Zu vergleichsweise spektakulären Reaktionen von Anhängern auf die Inhaftierung der Vorsitzenden wie im Juni 2003 kam es dabei nicht. Bei Selbstverbrennungsversuchen mehrerer Anhängerinnen und Anhänger in Paris, Rom, London und Bern waren im Juni 2003 zwei Exiliranerinnen verstorben. Mit Demonstrationen, Mahnwachen, Informationsständen und Büchertischen versuchte der NWRI auch 2004, auf die Missstände in Iran aufmerksam zu machen. Die größte Demonstration fand am 13. September 2004 in Brüssel statt. Dort versammelten sich etwa 5.000 Anhänger, um gegen die Bezeichnung "Terrororganisation" zu demonstrieren. Da sich die Organisation als wichtigste Oppositionsgruppe gegen das iranische Regime versteht, prangerten die Anhänger bei dieser Demonstration auch die Menschenrechtsverletzungen in Iran an sowie das Bestreben Irans, Atomwaffen herzustellen. In den Vereinigten Staaten gelten die "Volksmodjahedin" zwar ebenfalls als terroristische Organisation, dennoch konnte der NWRI als politisches Sprachrohr der PMOI zwei große Veranstaltungen in Washington durchführen. Am 24. Januar 2004 wurde eine Solidaritätsveranstaltung mit einem Benefizkonzert zugunsten der Erdbebenopfer der iranischen Stadt Bam ver79 anstaltet. Am 19. November 2004 stand die Veranstaltung in Washington unter dem Motto "No to the Iranian Mullahs' Terror, WMD109" (Nein zum Terror der iranischen Mullahs und deren Massenvernichtungswaffen). In der Vergangenheit führte die PMOI auch gewalttätige Aktionen gegen iranische Einrichtungen in Deutschland durch. Grund für die Durchsuchungen der Pariser Zentrale 2003 war der Verdacht, dass die Organisation Anschläge auf iranische Botschaften in Europa vorbereitet habe. Da sie aber als terroristische Vereinigung bezeichnet wird und dieses Etikett abstreifen möchte, sind in den vergangenen Jahren kaum noch Gewalttaten in europäischen Ländern verübt worden. totalitäre Die Strukturen der PMOI unter der derzeitigen Leitung von Masud Strukturen RADJAWI gelten als totalitär und undemokratisch. Von den Anhängern wird unbedingter Gehorsam und weltweite Verfügbarkeit erwartet und eingefordert. In der Organisation dominieren Frauen in Kaderpositionen. Die hervorgehobene Position der Frauen wird nach außen als Gegenmodell zum männerdominierten Mullahregime in Iran propagiert. Intern gleicht die PMOI einer Politsekte, die durch einen autoritären Führungsstil und stalinistisch anmutenden Führerkult die eigenen Anhänger mit enormem Gruppenzwang in eine starke Abhängigkeit drängt. Ehemalige Anhänger der "Volksmodjahedin", die sich in Großbritannien zusammengeschlossen haben, berichteten von einem internen Geheimdienst und erhoben schwere Foltervorwürfe gegen diesen. In Deutschland sind die "Volksmodjahedin" mit dem NWRI seit 1994 vertreten. In Baden-Württemberg engagierten sich 2004 etwa 70 Aktivisten, die bei Veranstaltungen durch zahlreiche Sympathisanten unterstützt wurden. Zu den wichtigsten Aktivitäten des NWRI in der Bundesrepublik Deutschland zählten auch in 2004 die Geldbeschaffung und die politische Agitation. Mittels Scheinorganisationen und -vereinen führte man Spendensammlungen durch. Dabei wurden die Spender, nachdem Sammlungen in der Öffentlichkeit zuletzt kaum noch eine Genehmigung fanden, häufig zu Hause besucht. Es ist zu vermuten, dass die angeblich für humanitäre Zwecke wie Flüchtlinge oder iranische Waisenkinder gesammelten Gelder in die politische Arbeit und in die Unterstützung der NLA fließen. Immer wieder gelingt es dem NWRI, eine größere Zahl an Sympathisanten für Großdemonstrationen zu mobilisieren. Mit Unterschriftenaktionen 109 Weapons of Mass Destruction. 80 Islamismus/Ausländerextremismus gegen den Besuch deutscher Politiker in Iran versuchte man, Sympathisanhohes Mobilisieten für ihre Sache zu gewinnen. Verstärkt bemühte sich der NWRI aber rungspotenzial auch um Solidaritätsbekundungen europäischer Politiker und Parlamentarier, um die Streichung der auf die "EU-Terrorliste" gesetzten "Volksmudjahedin"-Organisation zu erreichen. Im Rahmen dieser Kundgebungen wurden auch Bilder von Hinrichtungen in Iran gezeigt, um auf die dortige Situation der Menschenrechte aufmerksam zu machen. Auf diese Weise will sich der NWRI schon seit Jahren als Alleinvertreter der Opposition etablieren. Ein weiteres wichtiges Ziel des NWRI ist die Aufdeckung von Aktivitäten des iranischen Nachrichtendienstes. Man sieht sich als Opfer einer Desinformationskampagne, die sich an die im Exil lebenden Iraner richtet. Im Internet berichtet eine entsprechende Seite von ehemaligen Anhängern der "Volksmodjahedin" und den Missständen in den Militärlagern im Irak. Auf dieser Seite kommen angebliche Folteropfer zu Wort und es wird über Familienzusammenführungen in Teheran berichtet. Wenige Angehörige der NLA, denen die Flucht 2004 aus dem irakischen Lager gelungen sein soll, konnten nach Jahren wieder mit ihrer Familie zusammengeführt werden. Im Zusammenhang mit den iranischen Parlamentswahlen vom 20. Februar 2004 sah die PMOI wiederum eine Chance zum Eingreifen in das Geschehen in Iran. In ihren Publikationen und im Internetauftritt der PMOI wurde das "Mullahregime" als kurz vor dem Zusammenbruch stehend geschildert und zum Wahlboykott aufgerufen. 3. Türkische Vereinigungen (ohne kurdische) 3.1 Extrem nationalistische Organisationen 3.1.1 "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) / "Türkische Föderation Deutschland" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 Baden-Württemberg (2003: ca. 2.100) ca. 8.000 Bund (2003: ca. 8.000) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" (türkisch, erscheint unregelmäßig) Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." ("Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu", ADÜTDF), die in Deutschland die Interessen ihrer in der Türkei behei81 mateten Mutterorganisation "Partei der Nationalistischen Bewegung" ("Milliyetci Hareket Partisi", MHP) vertritt, stellt die bekannteste extremnationalistische türkische Bewegung dar. Der breiten Öffentlichkeit ist die ADÜTDF vor allem unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" bekannt. Die Vereine in Badenwichtigsten Vereine mit bis zu 100 Mitgliedern befinden sich in Stuttgart, Württemberg Ulm und Mannheim. Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland sind die Funktionäre bemüht, sich vom Image der einst berüchtigten, Gewalt ausübenden "Grauen Wölfe" zu lösen. Dieses defensive Verhalten dürfte jedoch vorrangig taktischen Erwägungen entsprechen. Das Symbol des "Grauen Wolfes", eher ein Zeichen latenter nationalistischer Bereitschaft zur Militanz denn ein Wappentier, ist auf T-Shirts von Schülern oder Wimpeln mit der früheren osmanischen Kriegsflagge bei Jugendlichen und Heranwachsenden nach wie vor zu beobachten. Dies wurde in einem organisationsinternen Flugblatt wie folgt unterstrichen: "Wir sind Idealisten. Wir sind Sklaven des Glaubens und die Burg des türkischen Islam. Einforderung Wir sind Wächter des Vaterlands; unbedingter dafür haben wir 4.000 Märtyrer geopfert; Pflichterfüllung Allah ist der einzige Herrscher, der Koran ist das einzige Gesetz. Wenn wir auch am Strang enden, wenn man uns auch unsere Haut abzieht, Basbug110 ist unser Führer. Wir sind Idealisten!"111 Die in jüngster Zeit festgestellten Verlautbarungen zeigen deutlich, dass die Taktik von MHP und ADÜTDF, sich Deutschland und der Türkei demonstrativ als Partei der Mitte zu präsentieren, nicht eingehalten wird. Das Festhalten an pantürkischen und rechtsextremistischen Ideen ist innerhalb der Bewegung nach wie vor unverkennbar, genauso wie die kompromisslose Gegnerschaft zu Andersdenkenden oder zu religiösen Minderheiten. Diese Feindschaft zeigte sich auch bei den Demonstrationen von MHP-Anhängern im September 2004 anlässlich der Verhandlungen der Türkei für einen EU-Beitritt vor dem Amtssitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen in Istanbul. Etwa 500 "Idealisten" protestierten dort gegen die Wiedereröffnung des Patriarchats und wollten den Amtssitz dieses Patriarchen stürmen. Die 110 Wörtlich: Führer, hier Huldigung an Alparslan TÜRKES (1917-1997), den Führer der MHP. 111 Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg aus dem Türkischen. 82 Islamismus/Ausländerextremismus Polizei musste Tränengas und Schlagstöcke gegen die aufgebrachte Menschenmenge einsetzen. Die ADÜTDF war auch in 2004 nicht bereit, die Integration der in Deutschland lebenden türkischen Bevölkerung zu unterstützen. Sie formulierte vielmehr als Forderung: "Wir müssen unsere Jugendlichen in Deutschland Absage an als nicht-assimilierte junge Leute erziehen, die ihrer Integration Heimat, ihrer Nation und ihrer Religion verbunden sind. Dafür müssen wir auf jede Art und Weise kämpfen."112 3.2 Linksextremisten 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C-Devrimci Sol) 3.2.1.1 Entstehungsgeschichte Der Ursprung der heutigen "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und der "Türkischen Volksbefreiungspartei-Front - Revolutionäre Linke" (THKP-C) liegt im weltweiten revolutionären Aufbruch von 1968. Das im Lauf der Jahre aus verschiedenen linksextremistischen türkischen Organisationen hervorgegangene revolutionäre Potenzial gründete 1978 mit der "Devrimci Sol" eine neue politisch-militärische Organisation. Diese verfolgte insbesondere das Ziel, in der Türkei einen Umsturz der dortigen politischen Verhältnisse herbeizuführen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Die "Devrimci Sol" war seit ihrer Gründung im Jahr 1978 in der Türkei terroristisch aktiv. Insbesondere Anfang der 80er Jahre verübte sie zahlreiche Bombenanschläge gegen militärische und staatliche Einrichtungen, organisierte illegale Massendemonstrationen und Straßenkämpfe und beging Terroranschläge gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Seit ihrer Gründung 1978 wird die "Devrimci Sol" für weit über 200 Tötungsdelikte verantwortlich gemacht, zu denen sie sich in der Regel auch bekannte. Als terroristisch-linksextremistische Organisation wurde die 112 Homepage des Augsburger ADÜTDF-Vereins vom 2. August 2004. 83 "Devrimci Sol" bereits 1980 in der Türkei und am 27. Januar 1983 (bestandskräftig seit 1989) durch den Bundesminister des Innern in der Bundesrepublik Deutschland verboten, nachdem von ihr massive und äußerst gewalttätige Ausschreitungen ausgegangen waren. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und persönliche Zwistigkeiten führender Funktionäre spalteten die höchst konspirativ agierende "Devrimci Sol" Ende 1992 in zwei konkurrierende, alsbald verfeindete Flügel, obwohl beide bis heute die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele haben. Zunächst bezeichneten sich die beiden rivalisierenden Fraktionen nach ihren Führungsfunktionären Dursun KARATAS und dem im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften erschossenen Bedri YAGAN als "KARATAS"beziehungsweise "YAGAN"-Flügel. Mit dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" hat der "KARATAS"-Flügel, der sich seitdem DHKP-C nennt, organisatorisch endgültig die Trennung vollzogen. Der "YAGAN"-Flügel verwendet seit Mitte 1994 die Bezeichnung THKP-C. Die DHKP-C und die THKP-C sehen sich in der politischen Erbfolge nach wie vor jeweils als die wahre Nachfolgerin der "Devrimci Sol" und halten an deren ideologischen Leitgedanken fest. Insbesondere von März 1993 bis Anfang des Jahres 1999 kam es zu massiven Flügelkämpfen, die mit hoher krimineller Energie bis hin zum Mord ausgetragen wurden. Am 13. August 1998 erließ daher der Bundesminister des Innern gegen die THKP-C ein Betätigungsverbot. Die DHKP-C bewertete er zeitgleich als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" und bezog sie in das frühere Verbot mit ein. Die Anfechtungsklage der DHKP-C wies das Bundesverwaltungsgericht am 1. Februar 2000 letztinstanzlich ab. Die in Baden-Württemberg inaktive THKP-C entwickelte seitdem kaum noch öffentliche Aktivitäten und verlor weiter an Bedeutung. Terrorakte dieser Organisation wurden auch in der Türkei nicht mehr bekannt. Daher wird im Folgenden ausschließlich auf die DHKP-C eingegangen. 3.2.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Gründung: 30. März 1994 in Damaskus/Syrien Leitung: Generalsekretär Dursun KARATAS Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2003: ca. 100) ca. 650 Bund (2003: ca. 700) Publikationen: "DEVRIMCI SOL" (Revolutionäre Linke) "Ekmek ve Adalet" (Brot und Gerechtigkeit) 84 Islamismus/Ausländerextremismus Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) gliedert sich in einen politischen Flügel, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP), und in einen militärischen, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). In den Satzungen von DHKP und DHKC wird jeweils in Absatz 1 bestimmt, dass sich die DHKP-C als unmittelbare Fortführung der "Devrimci Sol" versteht und deshalb deren Kennzeichen und damit Fahne und Embleme übernimmt. Wie bei allen marxistisch-leninistischen Kaderorganisationen steht an der Parteispitze der Generalsekretär, der mit umfassenden Vollmachten ausgestattet ist. Seit ihrer Gründung steht Dursun KARATAS als Generalsekretär der DHKP-C vor. Die DHKP-C bedient sich des bewaffneten Kampfs, um die jetzige Staatsbewaffneter form der Türkei zu beseitigen. Dazu heißt es in der deutschsprachigen FasKampf sung ihres Parteiprogramms: "Unsere Partei hat sich die marxistischleninistische Weltanschauung zu Eigen gemacht und kämpft dafür. Das Endziel der DHKP ist, eine Gesellschaft und eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Klassen zu schaffen. Aber unser heutiges Ziel ist die Errichtung der Revolutionären Volksmacht - der Macht aller Volkskräfte, die gegen Oligarchie und Imperialismus sind."113 Nicht nur die "faschistische" Türkei zählt laut diesem Programm zu den "Feinden des Volkes", sondern es gelten auch solche Staaten, die mit der Türkei wirtschaftlich oder militärisch eng kooperieren, als vorrangiges Anschlagsziel der Organisation. In vornehmlich auf eigenen Websites veröffentlichten Erklärungen macht die DHKP-C immer wieder deutlich, dass in erster Linie die USA aufgrund ihrer "imperialistischen Ideologie" für den "Terror in der Welt" verantwortlich seien und daher als Hauptfeind angesehen würden. Zur Durchsetzung ihrer Ziele übernahm die DHKP-C von der "Devrimci Sol" das Konzept des bewaffneten Kampfes und verübte zahlreiche 113 Übernahme wie im Original. 85 Tötungsdelikte sowie Brandund Sprengstoffanschläge. Seit einigen Jahren setzt sie bei ihren Terroraktionen zunehmend Selbstmordattentäter ein. Zuletzt übernahm sie die Verantwortung für einen offensichtlich missglückten Sprengstoffanschlag, der am 24. Juni 2004 im Istanbuler Stadtteil Fatih in einem Stadtbus durchgeführt wurde. Vier Menschen wurden getötet und weitere 23 Personen teilweise schwer verletzt. Die Attentäterin, die dabei ebenfalls ums Leben kam, konnte als DHKP-C-Aktivistin identifiziert werden. Die DHKP-C wird von der türkischen Polizei auch für weitere Anschläge im August 2003 verantwortlich gemacht. Pressemeldungen brachten das missglückte Attentat mit dem in Istanbul am 28. und 29. Juni 2004 durchgeführten NATO-Gipfel in Zusammenhang. Unter der Überschrift "Entschuldigung und Erklärung" bekannte sich die DHKC in ihrem Internetportal zu diesem Anschlag. So hieß es in dieser Erklärung: "Es sind Menschen vom Volk umgekommen. Wir tragen die Verantwortung. Wir akzeptieren unsere Schuld und bitten unser Volk um Entschuldigung (...) Wir wiederholen noch einmal unsere Verantwortung für eine Bombe, die für die Volksfeinde gedacht war und durch ein Unglück explodierte."114 In Deutschland nahm die DHKP-C im Jahr 2004 vornehmlich tagespolitische Ereignisse wie den Staatsbesuch des türkischen Premierministers am 28. April 2004 in Köln, den NATO-Gipfel vom 28. und 29. Juni 2004 in Istanbul oder den Tod des palästinensischen Präsidenten am 11. November 2004 zum Anlass, um Demonstrationen und Kundgebungen durchzuführen oder in Publikationsbeiträgen oder Interneterklärungen ihren Protest zum Ausdruck zu bringen und auf sich aufmerksam zu machen. Wie bereits in den Vorjahren wich die DHKP-C bei überregionalen Veranstaltungen zunehmend in das benachbarte Ausland und dort insbesondere nach Brüssel/Belgien aus. Die vereinzelt in Deutschland durchgeführten Großveranstaltungen wurden als Musikund Kulturveranstaltungen getarnt, wobei mit der Organisation sympathisierende türkische Musikgruppen als Anziehungsmagneten dienten. 114 DHKC-Erklärung Nr. 335 vom 25. Juni 2004. 86 Islamismus/Ausländerextremismus Auch im Jahr 2004 führten inhaftierte DHKP-C-Anhänger den im Oktober 2000 in türkischen Haftanstalten begonnenen unbefristeten Hungerstreik, der sich gegen die neuen Gefängnistypen richtete, ununterbrochen fort. "Todesfasten" Nach nur wenigen Wochen wurde er bereits damals zum "Todesfasten" ausgeweitet, an dem sich fast ausschließlich nur noch DHKP-C-Anhänger beteiligten. Dieser Hungerstreik war weiterhin das beherrschende Agitationsthema der Organisation. Die stetig wachsende Zahl der im Rahmen des "Todesfastenswiderstand" umgekommenen Anhänger aus den eigenen Reihen bewegte die DHKP-C ganzjährig dazu, auf die Situation in den türkischen Haftanstalten aufmerksam zu machen. In Interneterklärungen nahm die DHKP-C zu dieser Thematik regelmäßig Stellung, so beispielsweise am 16. Oktober 2004: "117 Menschen sind gestorben, 600 wurden verkrüppelt. Dennoch gelang es dem Imperialismus und der Oligarchie nicht, die Revolutionäre zu bezwingen. (...) Wir fahren damit fort, Widerstand zu leisten. Und je mehr Widerstand wir leisten, desto stärker werden wir." In Deutschland trat bei Demonstrationen, Infoständen und Flugblattaktionen, die das "Todesfasten" zum Thema hatten, meist der DHKP-C-nahe "Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien in der Türkei" (TAYAD) in Form des "TAYAD-Komitees e.V." Hamburg als Veranstalter auf. Dieser setzte sich im Einklang mit der DHKP-C intensiv mit dem "Todesfastenswiderstand" auseinander. So organisierte das "TAYADKomitee e.V." Hamburg vom 10. bis 17. Juli 2004 in mehreren deutschen Großstädten Hungerstreikaktionen zur Unterstützung der "Todesfastenden" in der Türkei. Maßnahmen der Sicherheitsbehörden Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Türkei und in Europa gegen die DHKP-C und deren Anhänger sowie intensiv durchgeführte Strafverfolgungsmaßnahmen führten zu einer weiteren Schwächung der Organisationsstrukturen. 87 Bei einer am 1. April 2004 gegen mutmaßliche DHKP-C-Anhänger und Führungsfunktionäre durchgeführten konzertierten Aktion kam es in mehreren europäischen Ländern zu Wohnungsdurchsuchungen und Verhaftungen. Im Zuge dieser europaweiten Razzien, die sich auf die Türkei, Italien, Deutschland, Belgien und die Niederlande erstreckten, wurden mehr als 50 Personen festgenommen. Sie standen im Verdacht, Anhänger der verbotenen DHKP-C zu sein. In Deutschland beschränkte sich die Maßnahme auf die Durchsuchung von Wohnungen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Anlass für diese länderübergreifenden Maßnahmen waren Hinweise aus Ermittlungen der italienischen Sicherheitsbehörden gegen den DHKP-C-Hauptverantwortlichen in Italien, welcher bei der Aktion ebenfalls verhaftet wurde. In den Morgenstunden des 5. August 2004 durchsuchte ein Großaufgebot der Polizei aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Karlsruhe ein Zeltlager mutmaßlicher DHKP-C-Anhänger auf einem Campingplatz in Eberbach/Rhein-Neckar-Kreis. Veranstalter des Sommerlagers war die DHKP-C-nahe "Anatolische Föderation e.V." Köln. Von den insgesamt 56 angetroffenen Campteilnehmern wurden mehrere Personen in Identitätsgewahrsam genommen. Eine Person war zur Festnahme ausgeschrieben. Bei der Durchsuchung des Zeltlagers und der mitgeführten Kraftfahrzeuge wurde umfangreiches DHKP-C-Propagandamaterial aufgefunden. Dazu zählten einige hundert Exemplare der DHKP-C-Publikation "Ekmek ve Adalet", mehrere Ausgaben des DHKP-C-Zentralorgans "DEVRIMCI SOL" sowie einschlägige Videokassetten, CDs, Disketten, Mobiltelefone, FlugDurchsuchungen blätter und zahlreiche handschriftliche Aufzeichnungen. Zeitgleich durchsuchte die Polizei in Köln die Räumlichkeiten der "Anatolischen Föderation e.V." sowie die Privatwohnung der 1. Vorsitzenden dieses Vereins in Hagen. Auch dort stellte die Polizei umfangreiches DHKP-C-Material sowie mehrere PCs, CDs und Disketten sicher. Nachdem das Verwaltungsgericht Karlsruhe einen Eilantrag der "Anatolischen Föderation e.V." gegen den von der Polizei verfügten Platzverweis 88 Islamismus/Ausländerextremismus abgelehnt hatte und die Teilnehmer sich trotz mehrmaliger Aufforderungen weiter vehement weigerten, den Platz zu verlassen, entfernte die Polizei am Mittag des 6. August die dort verbliebenen Personen unter Anwendung unmittelbaren Zwangs. Sowohl die "Anatolische Föderation e.V." als auch das "TAYAD-Komitee e.V." kritisierten den Polizeieinsatz scharf und erhoben in mehreren Erklärungen, die sie im Internet und in verschiedenen Publikationen veröffentlichten, massive Vorwürfe gegen das Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden: "Die Razzia ist ein einziges Fiasko. Es konnte keinerlei Beweismaterial sichergestellt werden. Die in der Presse verlautbarten Erfolgsszenarien im Rahmen der Terrorbekämpfung sind reine Demagogie. (...) Der deutsche Staat ist ein Feind des Kampfes für Rechte und Freiheit."115 Durch den anhaltenden Ermittlungsdruck der Sicherheitsbehörden ist die weitere Organisation in Deutschland weiter geschwächt worden. In Baden-WürtSchwächung temberg gehören ihr noch etwa 80 Personen an, die hauptsächlich im Großraum Stuttgart aktiv sind. Die im Jahr 2004 durchgeführten Veranstaltungen fanden mangels eigener Möglichkeiten meist in Räumlichkeiten anderer, sich mit den Zielen der DHKP-C solidarisierender, linksextremistischer türkischer Organisationen statt. Kleinere Zusammenkünfte oder Treffen wurden nicht selten konspirativ in privaten Wohnungen abgehalten. 3.2.2 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 320 Baden-Württemberg (2003: ca. 320) TÜRKISCHE KOMMUNISTISCHE PARTEI/ MARXISTEN-LENINISTEN (TKP/M-L) ca. 1.400 Bund (2003: ca. 1.400) Die Organisation ist in die folgenden Flügel gespalten: "Partizan" (im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP/ML" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 120 Baden-Württemberg 115 Erklärung der "Anatolischen Föderation e.V.", Internetauswertung vom 6. August 2004; Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 89 Militärische Teilorgani"Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO); sation: verübt in der Türkei Guerillaaktionen Publikation: "Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü" (Arbeiter und Bauern auf dem Weg der neuen Demokratie) und "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP) (bis Ende 2002 "Ostanatolisches Gebietskomitee"DABK -; im schriftlichen Sprachgebrauch "TKP(ML)" abgekürzt) Leitung: Funktionärsgruppe Anhänger: ca. 200 Baden-Württemberg Militärische Teilorgani"Volksbefreiungsarmee" (HKO); sation: - verübt in der Türkei Guerillaktionen Publikation: "Halk Icin Devrimci Demokrasi" (Revolutionäre Demokratie für das Volk) Die von Ibrahim KAYPAKKAYA im Jahr 1972 in der Türkei gegründete TKP/ML ist seit 1994 in zwei miteinander konkurrierende Fraktionen gespalten, in den "Partizan"-Flügel und in die "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP). In der Schreibweise unterschieden sich beide zunächst nur geringfügig: TKP/ML für den Partizanund TKP(ML) für den MKP-Flügel. Beide Gruppierungen berufen sich nach wie vor auf die von KAYPAKKAYA propagierte marxistisch-leninistisch-maoistische Ideologie. Um ihr erklärtes Ziel zu verwirklichen, nämlich die gegenwärtige Staatsstruktur in der Türkei zu beseitigen und statt dieser eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten, unterhalten beide Gruppierungen jeweils eigeweiterhin Anne Guerillaeinheiten, die in der Türkei Anschläge verüben. Die alljährlich schläge in der unter den Anhängern der beiden Flügel getrennt durchgeführten SpendenTürkei kampagnen sowie weitere Einnahmen aus Kulturveranstaltungen und dem Verkauf von Publikationen dienen vorwiegend der Finanzierung der Organisationsstrukturen. Zusätzlich werden mit diesen Geldern offenbar weiterhin die bewaffnete Guerilla und die eigenen, in der Türkei inhaftierten Gesinnungsgenossen unterstützt. Auch im Jahr 2004 wurden die Anhänger beider Gruppierungen bei der Durchführung von Veranstaltungen, Demonstrationen und sonstigen Aktionen von ihren Basisorganisationen propagandistisch unterstützt. Bei der 90 Islamismus/Ausländerextremismus TKP/ML-Partizan handelt es sich dabei um die "Föderation der Arbeiter aus Basisorganisation der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF) in Deutschland und deren Dachorganisation auf Europaebene "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK); bei der MKP um die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF) und die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK). Neben politischen Tagesthemen haben die von den Anhängern beider Flügel durchgeführten Gedenkveranstaltungen zu Ehren KAYPAKKAYAs sowie der gefallenen "Märtyrer" einen hohen Stellenwert. Vor allem die kleineren dezentralen Veranstaltungen dienen der Bindung der Anhänger und Sympathisanten an die Organisationen. So führte die MKP anlässlich des Gedenkens an den Gründer der TKP/ML am 16. Mai 2004 in Stuttgart eine Kulturveranstaltung mit etwa 1.200 Personen durch. An entsprechenden Veranstaltungen nahmen laut Meldungen der Zeitung "Özgür Politika"116 in Köln 700 und in Hamburg 800 Besucher teil. Nachdem am 2. und 9. November 2004 in der Region Dersim/Türkei drei Guerillakämpfer ums Leben gekommen waren, schalteten in Ulm wohnhafte Anhänger der TKP/ML-Partizan zu deren Gedenken am 25. November 2004 in der "Özgür Politika" folgende Anzeige: "Der Schrei nach Freiheit der am 2. und 9. November in Dersim für eine Welt ohne Grenzen und Ausbeutung gefallenen drei roten Partizan Nelken117 ist unsere Parole."118 Weitere Aktionsschwerpunkte beider Organisationen bildeten in der ersten Jahreshälfte der am 28. und 29. Juni 2004 in Istanbul durchgeführte NATOGipfel und nach anfänglich zögerlichem Engagement in der zweiten Jahreshälfte die Agenda 2010 sowie das damit im Zusammenhang stehende Reformprogramm Hartz IV. 116 Tageszeitung, die dem KONGRA-GEL nahe steht. 117 Die "drei roten Partizan Nelken" stehen sinnbildlich für die drei gefallenen Guerillakämpfer. 118 Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 91 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Anhänger: ca. 245 Baden-Württemberg (2003: ca. 245) ca. 600 Bund (2003: ca. 600) Publikation: "Yeniden Atilim" (Erneuter Angriff) Verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit trat die 1994 durch einen Zusammenschluss der "Türkischen Kommunistischen Partei/MarxistenLeninisten" (TKP/ML-Hareketi) und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) entstandene "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) durch ihre im Jahr 2004 durchgeführten Aktionen. Wie bereits in den Vorjahren zählte die MLKP in Deutschland weiterhin zu den mitgliederstärkeren türkischen linksextremistischen Organisationen. Dem auf ihrer Homepage auch in Deutsch veröffentlichten Programm war unter anderem zu entnehmen: "Die faschistische Diktatur der kollaborierenden "gewaltsame Monopolbourgeoisie und der Großgrundbesitzer Revolution" wird durch eine gewaltsame Revolution gestürzt als Ziel und an ihrer Stelle wird die Union der Sowjetrepubliken der Arbeiter und Werktätigen gegründet, das Recht auf Trennung [sc. der Sowjetrepubliken] bleibt aber bestehen. (...)"119 Aktivitäten in In Deutschland wird die der MLKP nahe stehende "Föderation der ArbeiDeutschland terimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V." (AGIF) im Sinne der MLKP propagandistisch tätig. Diese unterstützt ihre Anhänger insbesondere durch Plakate und Flugschriften, die sich mit aktuellen politischen Ereignissen sowohl in Deutschland als auch im Ausland und dort vornehmlich in der Türkei beschäftigen. Auffällig an den Flugblättern war, dass der Stuttgarter Mitgliedsverein der AGIF im presserechtlichen Sinn verantwortlich zeichnete. Die für die Organisation und den Guerillakampf in der Türkei benötigten Finanzmittel schöpft die Organisation zum größten Teil aus der alljährlich im Herbst stattfindenden Spendenkampagne. Weitere Einnahmen werden durch den Verkauf von Publikationen und die Durchführung von Kulturveranstaltungen erzielt. 119 Internetauswertung vom 13. Dezember 2004. 92 Islamismus/Ausländerextremismus Während die Aktionen der Anhänger und Sympathisanten in Deutschland bis auf wenige Entgleisungen emotionalisierter Einzelpersonen friedlich verliefen, operierten die "Bewaffneten Einheiten der Armen und Unterdrückten" (FESK), die von den türkischen Sicherheitsbehörden als militanter Arm der MLKP angesehen werden, in der Türkei terroristisch. Nachdem es im Vorfeld des NATO-Gipfels, der am 28. und 29. Juni in Istanbul/Türkei stattfand, mehrere Demonstrationen gegen die Irak-Politik der USA gegeben hatte, detonierte vier Tage vor dem Gipfel in Ankara vor einem Hotel, in dem der US-Präsident übernachtete, eine Bombe. Hierbei wurden mehrere Personen verletzt. Wie die Medien berichteten, bekannte sich die MLKP-FESK sowohl zu diesem Anschlag als auch zu weiteren Sprengstoffanschlägen im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel. Unter dem Motto "Singen wir das Lied der Hoffnung zum 10. Jahrestag!" "10 Jahre MLKP" feierte die MLKP am 18. September 2004 in Gelsenkirchen den 10. Jahrestag ihrer Gründung. An dem Open-Air-Festival nahmen circa 4.000 Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet sowie dem benachbarten europäischen Ausland teil. Im Mittelpunkt der Aktionen in Baden-Württemberg standen folgende Veranstaltungen: Am 18. Juni 2004 wurde in Mannheim ein Informationsstand zum Thema NATO-Gipfel in Istanbul betrieben. Als Veranstalter trat die AGIF auf. Verteilt wurde ein Faltblatt, in dem es unter anderem hieß: "DIE NATO IST EINE INTERNATIONALE TERVeranstaltung RORISTISCHE VEREINIGUNG, DEREN ZIEL ES in BadenIST, DEN KAMPF DER VÖLKER ZU UNTERWürttemberg DRÜCKEN (...)".120 Unter der Überschrift "Gemeinsamer Abend von ATIF und AGIF" berichtete die der MLKP nahe stehende Zeitung "Atilim Avrupa" über eine am 5. Juni 2004 vom Stuttgarter "TOHUM KULTUR VEREIN" und dem Stuttgarter "Immigranten-Arbeiter-Kulturverein" in Stuttgart durchgeführte Gedenkveranstaltung "zu Ehren 120 Übernahme wie im Original. 93 revolutionärer Künstler."121 Offenbar beschloss man, die Zusammenarbeit zwischen den Vereinen weiter zu vertiefen. Weitere Gesprächsthemen des Abends seien die "Besetzung des Iraks", die "die sozialen Rechte angreifende Agenda 2010", die "in der Türkei in Kerkern sitzenden Gefangenen" und der "Nato-Gipfel" gewesen. An der Veranstaltung sollen circa 100 Personen teilgenommen haben. In dem Artikel mit der Überschrift "Gemeinsamer Kampf gegen den Sozialabbau" informierte dieselbe "Atilim Avrupa"-Ausgabe über ein Komitee, das mit Beteiligung der AGIF in Ulm und NeuUlm gegen den "Sozialabbau" gegründet wurde. An einer Veranstaltung dieses Ulmer "Resistanbul Komitees" sollen sich unter anderem auch die AGIF, die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF) sowie die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF)122 mit etwa 100 Personen beteiligt haben. 4. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beziehungsweise "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), jetzt: "Volkskongress Kurdistans" (KONGRAGEL) Gründung: 1978 (in der Türkei) Betätigungsverbot in Deutschland seit 26. November 1993 (rechtskräftig seit 26. März 1994), benannte sich im April 2002 in KADEK und im November 2003 in KONGRA-GEL um. Sitz: Grenzgebiet Türkei / Nord-Irak Vorsitzender: Zübeyir AYDAR; Abdullah ÖCALAN lenkt jedoch als "kurdischer Volksführer" faktisch die Organisation. Anhänger: ca. 750 Baden-Württemberg (2003: ca. 800) ca.11.500 Bund (2003: ca. 11.500) Publikationen: u.a. "Serxwebun" (Unabhängigkeit); Sprachrohr: Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) mitgliederstärkste extremistische Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" Kurden(PKK), die sich zwischenzeitlich zweimal umbenannt hat, ist die mitglieorganisation derstärkste extremistische Kurdenorganisation und sieht sich als einzig legi121 Hier und im Folgenden: "Atilim Avrupa" vom 19. Juni 2004; Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 122 Vgl. S. 91. 94 Islamismus/Ausländerextremismus time Vertretung der vor allem aus der Türkei stammenden Kurden. Ihr ursprüngliches Ziel war die Errichtung eines unabhängigen Staats "Kurdistan". Deshalb begann die straff hierarchisch organisierte Kaderpartei 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Befreiungseinheiten Kurdistans" (HRK), der im Oktober 1986 in die "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) umgewandelt wurde, einen Guerillakrieg gegen den türkischen ARGK-Logo Staat. In Deutschland versuchte die Organisation durch politische und gewalttätige Aktionen den Kampf im Heimatland zu unterstützen. Deswegen wurde der PKK und ihrer im März 1985 gegründeten Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet durch den Bundesminister des Innern untersagt. Dieses Verbot umfasst ERNK-Logo auch den "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und den "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL). Unter jeder dieser drei Bezeichnungen ist die Organisation auf Beschluss des Rats der "Europäischen Union" (EU) vom 2. April 2004123 auch in der "EU-Terrorliste" genannt. Gegen die dort aufgeführten Organisationen können restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gerichtet werden. Außerdem entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am 21. Oktober 2004, dass die PKK/KADEKFührungsebene der PKK in Deutschland nach wie vor eine kriminelle VerLogo einigung im Sinne des SS 129 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) ist.124 Nach der Verhaftung ÖCALANs am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und den anschließenden Gewaltphasen verkündete die PKK im September 1999 ihre so genannte Friedensstrategie, deren konkrete Ausgestaltung auf dem 7. Parteikongress im Januar 2000 beschlossen wurde. Vorgeblich auf politischem Weg und ohne Anwendung von Gewalt fordert sie seitdem die Anerkennung der kurdischen Identität sowie mehr kulturelle Autonomie vor allem innerhalb der Grenzen einer demokratischen Türkei. Um die politische Neuausrichtung nach außen zu dokumentieren und um sich von dem über viele Jahre hinweg geprägten Makel einer Terrororganisation zu befreien, führte die Organisation verschiedene Veränderungen durch. Insbesondere wurden sowohl die PKK selbst als auch mehrere Teilorganisationen umbenannt beziehungsweise formal aufgelöst und unter neuen Namen wieder gegründet. Der militärische Arm ARGK erhielt zum Beispiel die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Die ehemalige Umbenennungen Propagandaorganisation ERNK wurde zuerst als "Kurdische Demokratische Volksunion" (YDK) fortgeführt, im Juni 2004 jedoch aufgelöst und als 123 Amtsblatt der Europäischen Union L 99 vom 3. April 2004, S. 28f. 124 Urteil des BGH vom 21. Oktober 2004, 3 StR 94/04. 95 "Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa" (CDK) "reorganisiert". Trotz der propagierten "Friedenslinie" und der Beteuerungen, man sei eine immer noch demokratische Bewegung, stellt der KONGRA-GEL nach wie vor eine Gefahr für die Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands dar. An dem strikt hierarchiInnere Sicherheit schen Aufbau und an der autoritären Führung der Organisation haben sich bis jetzt weder substanziell noch personell nennenswerte Veränderungen ergeben. Innerhalb der Organisation herrscht statt freier Meinungsbildung immer noch das Prinzip von Befehl und Gehorsam. Gewalt ist weiterhin ein Mittel zur Durchsetzung der Ziele. Eine Mobilisierung der Mitglieder und Anhänger für gewalttätige Aktionen ist auch in Baden-Württemberg nach wie vor möglich. Innerorganisatorische Spannungen führen zu Zerreißprobe Im Jahr 2004 befasste sich die Organisation vor allem mit sich selbst. Der Bruder Abdullah ÖCALANs, Osman, der zuletzt einer der stellvertretenden KONGRA-GEL-Vorsitzenden war, trennte sich mit einer Gruppe weiterer Führungsfunktionäre und Guerilla-Kämpfer und gründete im Oktober 2004 Dissidentenunter der Bezeichnung "Patriotisch-Demokratische Partei" (PWD125) eine organisation eigene Organisation. Diese Vorgänge sorgten innerhalb des KONGRA-GEL für starke Spannungen. Ursächlich für diesen Schritt sollen persönliche Rivalitäten und unterschiedliche Auffassungen über den weiteren Kurs der Organisation, insbesondere über die Zukunft der Guerilla und über das Verhältnis zu den USA gewesen sein. Die Differenzen waren angeblich bereits im Zusammenhang mit der Gründung des KONGRA-GEL im Herbst 2003 entstanden. Die PWD sieht im Gegensatz zum KONGRA-GEL vor allem in der Politik der USA im Krisengebiet einen Ansatz für eine Lösung des Kurdenproblems. Die eigenen Angaben zufolge friedlich und demokratisch ausgerichtete Arbeit der Organisation soll sich hauptsächlich auf die Türkei konzentrieren. In einer Erklärung vom 9. August 2004, die von 40 Personen - darunter neben Osman ÖCALAN noch einigen weiteren (ehemaligen) hochrangigen Funktionären des KONGRA-GEL - unterzeichnet wurde, Osman ÖCALAN 125 Kurdische Abkürzung für "Partiya Welatpareze Demokratik". 96 Islamismus/Ausländerextremismus hieß es weiter, eine "Zerschlagung"126 des KONGRA-GEL werde nicht angestrebt. Man wolle in friedlichem und freundschaftlichem Verhältnis zu ihm stehen. Dennoch wurden darin vor allem jene Mitglieder des KONGRAGEL, die sich von dessen Politik distanziert hatten, aufgerufen, sich der neuen Organisation anzuschließen. Bezüglich Abdullah ÖCALAN wurde ausgeführt, dass man sich weiterhin für seine Freilassung einsetzen und seine ideologischen Ansichten achten, ihm aber keinen Einfluss auf die eigene Arbeit gewähren werde. Die Guerillaorganisation des KONGRAGEL wurde zu einer neutralen Haltung aufgefordert. Abdullah ÖCALAN reagierte anfangs eher verhalten, verurteilte dann aber den offensichtlich endgültigen Weggang seines Bruders und dessen Weggefährten mit scharfen Worten. Er bezeichnete Osman als Verräter und vertrat die Ansicht, dass die USA ihn als Werkzeug benutzten, um die Kurden - damit dürfte vor allem der KONGRA-GEL gemeint sein - zu spalten und gleichzeitig ihn selbst zu vernichten. Am 25. August 2004 soll Abdullah ÖCALAN gegenüber seinen Anwälten auf Überlegungen, gegen so genannte Abweichler in Syrien und im Irak eine "ideologische und politische Kampagne" durchzuführen, laut Protokoll127 äußerst wütend reagiert haben. Er forderte stattdessen ein entschiedenes Vorgehen: "(...) Auf was wartet ihr noch? Ihr hättet ihnen an die Kehle gehen sollen. (...) Schon vor fünf Jahren, als sie ihren ersten Schritt taten, hättet ihr sie im scharfe Reaktion Keim ersticken und ihnen keine Luft zum Atmen Abdullah lassen sollen. (...) Nicht nur mein Bruder, wer auch ÖCALANs immer es ist. (...) Alle Einheiten müssen die Realität schnellstens erkennen: Tretet in Aktion, tut das Notwendige! Andernfalls droht Gefahr, drohen Intrigen." Diese Äußerungen könnten von Hardlinern auch als Aufforderung zu neuen Gewalttaten verstanden werden. Neugründung/Wiederaufbau der PKK Als im Frühjahr 2004 die internen Differenzen über den weiteren Kurs einen vorläufigen Höhepunkt erreichten, kündigte Abdullah ÖCALAN am 126 Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. 127 Protokoll der ÖCALAN-Anwälte, veröffentlicht am 28. August 2004 in der "Özgür Politika"; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 97 10. März 2004 gegenüber seinen Anwälten die Gründung einer neuen Organisation an: "Ich entwickle eine neue Parteiart. (...) Der KONGRA-GEL ist eine Organisation des Volks. Daneben brauchen wir eine Partei. (...) Wir bauen die PKK erneut auf (...) Eine Gruppe junger, korrekter und gefestigter Kameraden soll sich um die Erneuerung kümmern. (...) 500 bis 600 Kader sollen dazugehören. Das Vorbereitungsgremium soll seine Arbeit aufnehmen." 128 Diese Äußerungen dürften vor allem darauf gerichtet gewesen sein, auf die unterschiedlichen Meinungen innerhalb des KONGRA-GEL über dessen Rolle einzugehen und die internen Spannungen dadurch zu lösen, dass die verschiedenen Gruppen in die Organisation einbezogen werden. Infolgedessen erklärte der Vorsitzende des KONGRA-GEL-Verteidigungsangeblich komitees am 26. März 2004129 unter anderem, dass sich ein Komitee mit "neue PKK" dem Ziel des Aufbaues einer "neuen PKK" auf der Grundlage und den Perspektiven Abdullah ÖCALANs nunmehr gebildet und seine Arbeit aufgenommen habe. Weiter führte er aus, dass man sich mit dem Aufbau Zeit lassen und die "neue PKK" Schritt für Schritt entwickeln werde. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass noch keine genaueren Informationen bekannt geworden sind. Um sich offenbar von der "neuen PKK" als "Partei" abzugrenzen, verkündete der KONGRA-GEL-Vorsitzende Zübeyir AYDAR am 1. Juni 2004130 auf einer Pressekonferenz zum 2. KONGRA-GEL-Kongress, der vom 16. bis 26. Mai 2004131 durchgeführt wurde, dass man künftig "den Volkscharakter der Organisation mehr in den Vordergrund stellen" wolle. Nach einer offenbar wiederholten intensiven Aus128 Protokoll der ÖCALAN-Anwälte, veröffentlicht am 13. März 2004 in der "Özgür Politika"; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 129 Homepage des KONGRA-GEL vom 29. März 2004. Die oben genannte Erklärung wurde dort auch in deutscher Sprache veröffentlicht; Übernahme wie im Original. 130 "Özgür Politika" vom 2. Juni 2004; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 131 Genaue Örtlichkeit nicht bekannt. 98 Islamismus/Ausländerextremismus einandersetzung mit organisationsinternen Problemen habe man sich schließlich gemeinsam auf die Linie Abdullah ÖCALANs verständigt. Außerdem seien auch personelle Veränderungen auf der Führungsebene vorgenommen worden. Als erster Schritt für eine Umstrukturierung des KONGRA-GEL in Europa ist der vom 12. bis 21. Juni 2004 in Frankreich durchgeführte 5. Kongress der YDK mit 310 Delegierten zu werten. In der Schlusserklärung132 wurde bekannt gegeben, dass man die YDK "aufgelöst" und unter der Bezeichnung CDK "reorganisiert" habe. Außerdem sei entschieden worden, "unter Beteiligung aller Volksschichten eine demokratische Organisationsform" zu schaffen und von der Basis ausgehend "Volksräte" einzurichten. Mit der aktiven Beteiligung des Volkes am Demokratisierungsprozess solle das von ÖCALAN gesetzte Ziel, eine "Volksdemokratie aufzubauen", erreicht werden. Im Anschluss an diesen Kongress fanden in Baden-Württemberg etliche Veranstaltungen statt, bei denen die Basis allgemein über das Konzept und die neue Organisationsform informiert wurde. Bislang konnte eine Umsetzung allerdings noch nicht beobachtet werden. Aufhebung des Waffenstillstands zum 1. Juni 2004 Parallel zur Verschärfung der innerorganisatorischen Situation nahmen seit dem Frühjahr 2004 die militärischen Operationen der türkischen Sicherheitsbehörden zu. Nach mehreren Warnungen verkündete der Kommandorat der HPG schließlich in einer Erklärung vom 28. Mai 2004 das Ende des bisherigen Waffenstillstands zum 1. Juni 2004. Dieser habe "durch die Vernichtungsoperationen des türkischen Staates in den letzten drei Monaten seinen militärischen und politischen Sinn verloren". In der Erklärung wurden die eigenen Bemühungen der letzten Jahre für eine "demokratischpolitische Lösung für die kurdische Frage" dargelegt und es wurde betont, dass allein die türkische Regierung, "ermutigt durch die EU, die den KONGRA-GEL auf die Terrorliste gesetzt" habe, für die derzeitige Situation verantwortlich sei. Die HPG würden "in diesem Krieg, der (...) die Vernichtung der Guerilla" 132 "Özgür Politika" vom 26. Juni 2004; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 99 zum Ziel habe, ihr "Recht auf Gegenwehr im Rahmen der legitimen Verteidigung umfassender wahrnehmen." Die Türkei sei durch die "Konfliktsituation" zu einer "Risikozone für wirtschaftliche Investitionen und den Tourismus" geworden. In der Folgezeit nahmen die militärischen Aktionen wieder Opfer auf sowohl der türkischen Sicherheitsbehörden als auch der KONGRA-GELbeiden Seiten Guerillaorganisation zu; Tote und Verletzte wurden auf beiden Seiten gemeldet. Der KONGRA-GEL-Vorsitzende AYDAR stellte ausdrücklich klar, dass seine Organisation die Aufhebung des Waffenstillstands unterstütze. Dennoch betonte die KONGRA-GEL-Führung bei jeder Gelegenheit, dass sie nach wie vor an einer friedlichen Lösung des Kurdenproblems festhalte und die Kampfhandlungen einstellen wolle, sobald die Türkei verschiedene Bedingungen erfüllt habe. Andernfalls würden die HPG ihre Angriffe ausweiten. Finanzierung Der KONGRA-GEL benötigt für seine Propagandatätigkeit, den Parteiapparat sowie für die Versorgung seiner Guerillakämpfer und deren Ausstattung mit Waffen und Munition hohe Geldbeträge. Die Finanzierung erfolgt über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und über Gewinne aus Großveranstaltungen. Zusätzlich sollen die angesprochenen Landsleute bei der alljährlichen Spendenkampagne einen Betrag in Höhe eines "Spendenquittung" Monatseinkommens abliefern. Diese Einnahmen rückläufige sind seit Verkündung des "Friedenskurses" stark rückläufig. Viele Kurden Einnahmen konnten sich wegen der propagierten "Demokratisierung" nicht mehr mit der Organisation identifizieren und zogen sich zurück. Aus diesem Grund weigerten sie sich auch, den geforderten Beitrag ganz oder teilweise zu zahlen. Als "Abschreckung" wurden deshalb einzelne Bestrafungsaktionen Bestrafungsdurchgeführt, nachdem auch das Argument nicht überzeugend war, dass für aktionen die Kämpfer in der Heimat wegen der intensivierten Aktivitäten der Guerilla mehr Gelder für eine optimale Ausrüstung notwendig seien. Veranstaltungen Im Jahr 2004 waren wegen der starken Beanspruchung durch die üblichen sowie anlassbezogenen bundesund europaweiten Großveranstaltungen 100 Islamismus/Ausländerextremismus kaum Kapazitäten für die Durchführung nennenswerter örtlicher Aktionen in Baden-Württemberg vorhanden. An den wenigen dennoch durchgeführten öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen war die Beteiligung im Vergleich zu den Vorjahren geringer. Dafür gab es mehrere Gründe. Zahlreiche Anhänger und örtliche Funktionsträger konnten sich nicht mit dem im Herbst 1999 verkündeten "Friedenskurs" identifizieren. Sie begriffen den Sinn und Zweck der damit verbundenen ständigen Umstrukturierungen und Umbenennungen nicht. Hinzu kamen im Jahr 2004 noch der interne Streit auf der Führungsebene des KONGRA-GEL und der damit verbundene Weggang einer Gruppe um Osman ÖCALAN sowie die Ankündigung weiterer Veränderungen einschließlich der Neugründung der PKK. All dies führte dazu, dass sich eine gewisse Anzahl Kurden, darunter auch langjährig engagierte Anhänger, von der Organisation zurückzogen. Aktionsschwerpunkte in Baden-Württemberg waren Stuttgart, Mannheim, AktionsschwerFreiburg im Breisgau und Ulm. Im Jahr 2004 konnten noch etwa 750 Perpunkte in Badensonen in Baden-Württemberg zu dem Kreis gerechnet werden, der sich Württemberg aktiv für den KONGRA-GEL beziehungsweise für die ihm nahe stehenden Organisationen engagiert. Für besondere Anlässe - der Tod Abdullah ÖCALANs wäre ein solches Beispiel - lassen sich in Baden-Württemberg jedoch nach wie vor mehrere tausend Kurden mobilisieren, die vorwiegend über die dem KONGRA-GEL nahe stehenden Vereine erreicht werden. An folgenden Veranstaltungen beteiligten sich die KONGRA-GEL-Anhänger in Baden-Württemberg unter anderem: Im Zusammenhang mit dem Internationalen Tag der Frau fand am 6. März 2004 für den gesamten süddeutschen Raum eine Veranstaltung in Mannheim statt, die von dem örtlichen KONGRA-GELnahen Verein angemeldet wurde. An dem Aufzug beteiligten sich etwa 800 Personen; bei der anschließenden, weitgehend kulturell geprägten Abschlusskundgebung erhöhte sich die Teilnehmerzahl auf 1.000. Während der Kundgebung wurden Flugblätter der KONGRA-GEL-Frauenorganisation "Partei freier Frauen" (PJA) verteilt, in denen alle Frauen aufgerufen wurden, sich zusammenzuschließen und gemeinsam mit der PJA für mehr Rechte zu kämpfen. 101 Anlässlich des am 21. März gefeierten kurdischen Neujahrsfestes (Newroz) fand am 20. März 2004 in Hannover eine Demonstration statt, die von der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)133 organisiert wurde und an der sich rund 25.000 Kurden aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland friedlich beteiligten. In seiner Grußbotschaft, die von einem seiner Anwälte verlesen wurde, betonte Abdullah ÖCALAN, dass "Newroz ein Symbol für den Widerstand gegen innere und äußere Kräfte, die die Existenz des kurdischen Volkes" bedrohten, "und ein heiliges Fest der Freiheitsbewegung" 134 sei. Als Reaktion auf die am 2. April 2004 erfolgte Aufnahme des KADEK und Proteste gegen des KONGRA-GEL in die so genannte EU-Terrorliste wurden auch in Erwähnung in Baden-Württemberg verschiedene Protestaktionen durchgeführt. So fanden "EU-Terrorliste" am 10. April 2004 in Mannheim und Heilbronn, am 17. April 2004 in Stuttgart, am 23. April 2004 in Offenburg sowie ein weiteres Mal am 24. April 2004 in Mannheim Aufzüge mit Kundgebungen statt. An den Veranstaltungen nahmen jeweils bis zu 200 Personen friedlich teil. Teilweise führten die Demonstrationsteilnehmer themenbezogene Transparente mit und skandierten die bekannten Parolen wie zum Beispiel "Biji KONGRA-GEL"135 und "Biji Apo"136. Einige Personen riefen auch "Biji PKK"137. Die Veranstaltungen wurden wie üblich über die KONGRA-GEL-nahen Vereine organisiert und angemeldet. Zu einer so genannten Volksversammlung trafen sich am 18. Juli 2004 mehrere hundert Anhänger des KONGRA-GEL-Gebiets Stuttgart in StuttgartWangen. AYDAR referierte als Hauptredner über die Lage und die politischen Zusammenhänge im Nahen und Mittleren Osten. Außerdem ging er auf innerorganisatorische Angelegenheiten wie zum Beispiel den Weggang Osman ÖCALANs ein. 133 Dachverband, in dem überwiegend die örtlichen KONGRA-GEL-nahen Kurdenvereine in Deutschland zusammengeschlossen sind. 134 "Özgür Politika" vom 21. März 2004; Arbeitsübersetzung des Landesamts für Verfassungsschutz BadenWürttemberg. 135 Deutsch: "Hoch lebe der KONGRA-GEL". 136 Deutsch: "Hoch lebe Apo"; mit "Apo" (Onkel) ist hier Abdullah ÖCALAN gemeint. 137 Deutsch: "Hoch lebe die PKK". 102 Islamismus/Ausländerextremismus Rund 50 überwiegend jugendliche Kurden beteiligten sich am 4. September 2004 an einem Marsch von Mannheim nach Heidelberg, wo eine Abschlusskundgebung mit etwa 100 Personen stattfand. Diese, vom örtlichen KONGRA-GEL-nahen Verein in Mannheim angemeldete Aktion war Teil einer vom 31. Juli bis 25. September 2004 durchgeführten Kampagne, die in Europa maßgeblich von der KONGRA-GEL-Jugendorganisation "Bewegung der freien Jugend Kurdistans" (TECAK) getragen wurde. Das wie in den Vorjahren von der YEK-KOM durchgeführte "Internationale Kurdische Festival" fand am 25. September 2004 in Gelsenkirchen unter dem Motto "Kurdische Perspektiven - Wegweiser für Partnerschaft in Europa und im Nahen Osten" statt. Etwa 40.000 Kurden reisten aus ganz Europa an. Während des kulturell geprägten Programms wurden zahlreiche Grußbotschaften, unter anderem von Abdullah ÖCALAN, verlesen. AYDAR hielt eine Ansprache, in der er die Überzeugung vertrat, dass jeder Verrat, alle Komplotte und Angriffe eine gebührende Antwort erhielten, solange die Begeisterung, die Opferbereitschaft und die Einheit der Kurden bestehe. Ausblick Das Handeln des KONGRA-GEL in Deutschland ist weiterhin vor allem vom Verhalten der Türkei sowie von der Lage im Nordirak und in der Osttürkei abhängig. Sollte sich die Guerillaorganisation des KONGRA-GEL durch die militärische Intervention der türkischen Armee in ihrer Existenz bedroht sehen, wären massive Reaktionen der Anhänger in Baden-Württemberg nicht auszuschließen. Bislang wurde über die Aufhebung des Waffenstillstands lediglich kontrovers diskutiert. Derzeit kann nicht sicher prognostiziert werden, wie sich der Weggang Osman ÖCALANs und die Gründung der PWD langfristig auf den KONGRA-GEL auswirken werden. Die scharfe Kritik und die Wortwahl Abdullah ÖCALANs, der sich Funktionäre auf allen Ebenen anschlossen, zeigten aber deutlich, wie sehr sich der KONGRA-GEL durch die Abspaltung bedroht fühlt. Er unternimmt vor diesem Hintergrund alles - bislang offenbar erfolgreich -, um zu verhindern, dass die Konkurrenzorganisation in Deutschland Fuß fasst. 103 "demokratische Eine ernsthafte und erfolgreiche Umsetzung der angekündigten Schaffung Organisaeiner "demokratischen Organisationsform" unter Beteiligung der Basis tionsform" in erscheint äußerst fraglich. Die Organisation hatte dies im Lauf des "Frieweiter Ferne denskurses" seit Herbst 1999 schon häufig angekündigt, ohne dass sich tatsächlich etwas geändert hätte, wohl weil im Denken vieler Anhänger und Funktionäre demokratische Grundsätze - sofern überhaupt - nur ansatzweise vorhanden sind. 5. Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ethnische Albaner Die in Baden-Württemberg138 lebenden Angehörigen der verschiedenen Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien, speziell die in den vergangenen Jahren in Kriegswirren und Unruhen einbezogenen Serben, KosovoAlbaner und Mazedonier, haben sich im Jahr 2004 überwiegend unauffällig verhalten. Politisch bedeutsame, einzelne Volksgruppen im Heimatland tangierende Ereignisse, wie beispielsweise die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Albanern und Serben am 17. und 18. März 2004 im Kosovo, bei denen es mehrere Tote gab und zahlreiche Sakralund Kulturdenkmäler sowie Häuser der serbischen Minderheit seitens aufgebrachter Kosovo-Albaner zerstört wurden, die Präsidentschaftswahlen am 27. Juni 2004 in Serbien/Montenegro, die weiteren Festnahmen von mutmaßlichen Kriegsverbrechern und deren Auslieferung an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, die Parlamentswahlen am 24. Oktober 2004 im Kosovo, bei denen die "Demokratische Liga Kosovos" (LDK) als Sieger hervorging sowie letztendlich das Scheitern eines Referendums gegen die territoriale Neuordnung in Mazedonien am 7. November 2004 friedliches wurden in Kreisen der betroffenen Volksgemeinschaften intern und in der Nebeneinander Öffentlichkeit nur mit größter Zurückhaltung diskutiert. Selbst die Unruethnischer hen im März 2004 waren für die im Ausland lebenden Serben kein Anlass Nationalitätenfür Demonstrationen oder sonstige öffentlichkeitswirksame Aktionen. In gruppen 138 Insgesamt leben in Baden-Württemberg 235.229 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien/Montenegro). Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stand: 31. Dezember 2004. Wegen einer Bereinigung des Ausländerzentralregisters im Jahr 2004 ist die genannte Zahl mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt vergleichbar 104 Islamismus/Ausländerextremismus Baden-Württemberg, das als Ruheraum gilt, gingen sich Serben und Kosovo-Albaner weiterhin möglichst aus dem Weg. Von hier aus unterstützten sie vor allem finanziell die im Heimatland lebenden Familienangehörigen. Gewalttätige, häufig durch Alkoholeinfluss bedingte Auseinandersetzungen zwischen den einst verfeindeten Volksgruppen waren eher die Ausnahme. Das Motiv für möglicherweise politisch motivierte Straftaten wie Farbschmierereien in Weil am Rhein, wo Gebäudefassaden deutscher Staatsbürger mit der Bezeichnung "UCK" versehen sowie ein nationalistisches serbisches Symbol übermalt wurden, sind eher als Auswüchse von jugendlichem Vandalismus zu bewerten. Dennoch wird dadurch aber auch belegt, dass sich in Baden-Württemberg nach wie vor Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien aufhalten, die willens und geneigt sind, bei entsprechender Stimmungslage oder auch entsprechender politischer Indoktrination straffällig zu werden. Autonomiebestrebungen albanischer Volkszugehöriger Die in Baden-Württemberg lebenden Anhänger und Sympathisanten kosovo-albanischer und mazedonischer extremistischer Autonomiebewegungen haben sich überwiegend unauffällig verhalten. Thematisiert wurden allerdings die Unruhen vom März 2004 im Kosovo. Auffällig dabei war die äußerst kritische, zum Teil feindselige Haltung der Kosovo-Albaner gegenüber der "Administration der Vereinten Nationen zur Übergangsverwaltung des Kosovo" (UNMIK)139. Speziell das angebliche, auch in den deutschen Medien diskutierte Fehlverhalten der deutschen Bundeswehr hat in diesen Kreisen zu einem starken Ansehensverlust Deutschlands geführt. Nicht selten wurden sogar gewalttätige Aktionen gegen die UNMIK-Administration und die Bundeswehr im Kosovo gefordert. Bereits in der Zeit vor den Unruhen wurde das Mandat der UNMIK im Kosovo häufig öffentlich in Frage gestellt. In einem Interview mit einem ehemaligen Funktionär der "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) aus UNMIK Baden-Württemberg, das mit dem Titel "Wir haben kein Vertrauen in die in der Kritik UNMIK" überschrieben war, behauptete dieser, die UNMIK trage die Verantwortung für die katastrophale wirtschaftliche Lage und die hohe Kriminalitätsrate im Kosovo. Abschließend betonte er: 139 "United Nation Interim Administration Mission in Kosovo". 105 "Die Menschen in Kosova trauen im Gegensatz zur Zeit vor vier Jahren der UNMIK-Verwaltung nicht mehr über den Weg." 140 Sowohl die extrem nationalistische "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) mit Sitz in Donzdorf/Krs. Göppingen, die in Baden-Württemberg auch 2004 über etwa 20 und bundesweit über rund 50 Mitglieder verfügte, als auch die linksextremistische kosovo-albanische Emigrantenorganisation "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) können in Baden-Württemberg nicht mehr auf arbeitsfähige Strukturen zurückgreifen. Bemühungen von Führungsfunktionären der LPK in Deutschland und im Kosovo, die Parteiarbeit in Baden-Württemberg zu reaktivieren, scheiterten bisher am politischen Desinteresse der hier lebenden, noch etwa 20 (2003: 20) und bundesweit circa 150 zu dieser Organisation zählenden Mitglieder (2003: 150). Dennoch versuchten Funktionäre aus Bayern, in anderen Bundesländern (einschließlich in Baden-Württemberg) wieder Strukturen aufzubauen. Im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen am 24. Oktober 2004 im Kosovo wurden die im Ausland lebenden Anhänger wiederholt aufgefordert, den Wahlkampf der LPK finanziell zu unterstützen, da diese Organisation weiterhin von akutem Geldmangel betroffen war. So transferierten auch einzelne Volksräte (Ortsgruppen) Gelder ins Heimatland, wenn auch nicht in der von der Parteispitze erwarteten Höhe. Die Aktivitäten der in Mazedonien und im Grenzgebiet zum Kosovo agierenden "Albanischen Nationalarmee" (AKSH) standen nach wie vor im Blickpunkt derjenigen, deren politisches Ziel die Schaffung eines "Großalbanien" ist. So sympathisierten auch in Baden-Württemberg Kosovo-Albaner wie Mazedonier mit der als politische Plattform der AKSH bekannten "Front für die Albanische Nationale Vereinigung" (FBKSH), deren erklärtes Ziel ebenfalls die Vereinigung aller albanischen Siedlungsgebiete141 ist. Nachdem sich die AKSH im Jahr 2004 mehrfach zu Anschlägen auf staatliche Einrichtungen in Mazedonien und in Serbien bekannt hatte, wurden sowohl gegen die AKSH142 im Kosovo als auch gegen Vertreter der FBKSH in der Schweiz, in Belgien und in Deutschland exekutive Maßnahmen verhängt, die maßgeblich zu einer Schwächung der im Aufbau befindlichen Strukturen und zu einer Verunsicherung der Funktionäre geführt haben. So wurden bundesweit nur noch wenige Informationsveranstaltungen (unter 140 Homepage der FBKSH vom 27. September 2004; Übernahme wie im Original. 141 Teile von Nordgriechenland, Mazedonien, Südserbien und Montenegro. 142 Nach einem Sprengstoffanschlag auf eine Eisenbahnbrücke in der Nähe von Zvecan/Kosovo im April 2003 wurde die AKSH von der UNMIK als terroristische Organisation eingestuft und verboten. 106 Islamismus/Ausländerextremismus anderem in Pforzheim) organisiert. Den im Bundesgebiet aktiven Anhängern der FBKSH fehlte seit der Inhaftierung143 ihres politischen Sekretärs, Idajet BEQIRI, die politische Leitfigur. Während er in der Justizvollzugsanstalt Konstanz in Auslieferungshaft einsaß, agitierten seine Anhänger durch eine Petition und öffentliche Verlautbarungen gegen seine Auslieferung. Berichte zu dieser Thematik wurden regelmäßig auf der Website des Publikationsorgans144 der FBKSH veröffentlicht. Am 15. Juni 2004 wurde BEQIRI an Albanien ausgeliefert und Mitte Juli Führungsfunktio2004 von einem Gericht in Tirana/Albanien unter Anrechnung seiner in der när an Albanien Auslieferungshaft verbrachten Haftzeit zu 18 Monaten Gefängnis wegen ausgeliefert Anstachelung zu ethnischem Hass verurteilt. Bereits am Tag seiner Entlassung aus dem Gefängnis im August 2004 zeigte sich BEQIRI erneut kämpferisch. Vor Pressevertretern äußerte er sich zur Existenz der FBKSH und der "großalbanischen Frage": "Die FBKSH existiert und wird niemals sterben, solange das nationale Ideal der Wiedervereinigung Albaniens existiert. Derzeit zählt die FBKSH 87.000 Mitglieder und unsere (...) Nachbarn brauchen vor diesem Albanien keine Angst zu haben (...) Wir fordern kein Großalbanien, sondern das wiedervereinigte Albanien, so wie es gewesen ist, (...) denn wenn wir Großalbanien fordern würden, so wüssten (...) unsere Nachbarn sehr gut, bis wohin es reichen würde, nämlich von der Donau bis nach Arta145. (...) Weder der Balkan noch Europa werden jemals ohne die Wiedervereinigung Albaniens vereinigt werden können." 146 Abschließend antwortete BEQIRI auf die Frage, ob er denn nicht Angst habe, aufgrund seiner Äußerungen wieder inhaftiert zu werden: "Ich habe ein Leben, und wenn ich noch 100 hätte, ich würde sie ohne nachzudenken für die Wiedervereinigung Albaniens opfern." 143 Die Festnahme erfolgte am 15. Dezember 2003 in Konstanz. 144 Publikationsorgan der FBKSH ist die nur noch im Internet erscheinende Zeitung "Ribashkimi i Shqiperise" (Albanische Wiedervereinigung). 145 Stadt an der griechischen Westküste. 146 Hier und im Folgenden: Homepage der FBKSH, Redaktion "Ribashkimi i Shqiperise", vom 15. Juli 2004; Arbeitsübersetzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. 107 6. Sikh-Organisationen "Babbar Khalsa International" (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz: Merzenich/Kreis Düren Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (2003: 30) ca. 200 Bund (2003: 200) "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frank furt am Main Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2003: 80) ca. 600 Bund (2003: 600) Publikation: "Des Pardes" "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: Funktionärsgruppe in Baden-Württemberg wie bereits im Jahr 2003 ca. 50 Bund (2003: 50) Im Gegenzug zu den 1980er und 1990er Jahren wurden in den letzten Jahren keine neuen Terroranschläge durch extremistische Sikh-Organisationen mehr verübt. Die indischen Sicherheitsbehörden verhinderten durch umfassende Präsenz eine Restrukturierung der geschwächten Kommandostrukturen. Von der erstmaligen Wahl eines Sikhs zum Premierminister147 erhofften sich viele Sikhs eine Besserung der aus ihrer Sicht unverändert angespannten 147 In Indien fanden im Mai 2004 vorgezogene Wahlen statt, bei denen die Kongresspartei als Sieger hervorging, die einen Sikh zum Premierminister wählte. 108 Islamismus/Ausländerextremismus politischen Situation im Pandschab/Indien. Die Mehrheit der "Befreiungskämpfer" allerdings bezeichnete dies als Illusion. Sie hält den aktiven aktiver Kampf Kampf für einen unabhängigen Staat "Khalistan" unverändert für notwenfür "Khalistan" dig. Neben ihren traditionell bevorzugten Exilländern Kanada, USA, Großbritannien und Frankreich siedelten sich Angehörige der Sikh-Gemeinschaft, darunter Anhänger extremistischer Sikh-Gruppierungen - beispielsweise der in mehrere Flügel gespaltenen "International Sikh Youth Federation" (ISYF) oder der "Babbar Khalsa International" (BK)148 - auch in Deutschland an. Die Bundesrepublik wird als Ruheraum geschätzt, um von hier aus die im Pandschab kämpfenden Gesinnungsgenossen in finanzieller und propagandistischer Hinsicht zu unterstützen. In Baden-Württemberg konnten Stützpunkte Stützpunkte in den Großräumen Stuttgart und Mannheim sowie in den in BadenLandkreisen Reutlingen, Sigmaringen und Zollernalb lokalisiert werden. Württemberg Außerdem gab es in Tübingen nach wie vor eine nennenswerte Basis politischer Aktivitäten, obwohl sich die hier seit September 1997 als Ausländerverein gemeldete ISYF-Teilorganisation im April 2004 aufgelöst hatte. Bemerkenswerterweise gelang im August 2004 nach neun Jahren erbitterter Flügelkämpfe die Wiedervereinigung zweier rivalisierender ISYF-Fraktionen. Versuche, dies auch in Baden Württemberg umzusetzen, scheiterten indes an den Machtansprüchen hiesiger Funktionäre. Hauptversammlungsorte der Sikhs sind ihre Tempel (Gurdwaras), in denen kulturelle und religiöse Veranstaltungen, aber auch politische Treffen durchgeführt werden. Die Funktionäre der einzelnen Sikh-Vereinigungen nutzen diese Versammlungen stets auch zu Propagandazwecken. Bei "Märtyrer"Gedenkveranstaltungen149 forderten sie in kämpferischen Reden die Anwesenden regelmäßig zu großzügigen Geldspenden für den "Befreiungskampf" Spendenaufrufe und die Unterstützung von Familienangehörigen der "Märtyrer" auf. Aktionsschwerpunkte für die politischen Agitationen waren die Tempel in Köln und Frankfurt am Main. Entsprechende Aktivitäten der in BadenWürttemberg ansässigen Sikh-Organisationen konnten vor allem im Stuttgarter Tempel verzeichnet werden. Weitere Gurdwaras befinden sich in Mannheim und Tübingen. 148 Diese Bezeichnung wird von der "Babbar Khalsa" für die Auslandsorganisation verwendet. 149 Auf ihnen werden die im Kampf um ein unabhängiges "Khalistan" gefallenen Kämpfer als "Märtyrer" verehrt. 109 ProtestHiesige Aktivisten beteiligten sich an Protesten gegen die indische Regieveranstaltungen rung, so zum Beispiel am 26. Januar 2004 (indischer Nationalfeiertag) und am 5. Juni 2004 in Frankfurt am Main (20. Jahrestag der Erstürmung des "Goldenen Tempels"150 in Amritsar) sowie am 11. Oktober in Berlin anlässlich des Besuchs des indischen Ministers Jagdish Tytler, dem vorgeworfen wird, Ende Oktober 1984 für Massaker gegen Angehörige ihrer Volksgruppe mitverantwortlich gewesen zu sein. Zur politischen Agitation nutzten die Organisationen englischund pandschabisprachige Publikationen. So informierte die ISYF in der wöchentlich erscheinenden Sikh-Zeitschrift "Des Pardes" regelmäßig die im Ausland lebenden Landsleute über alle maßgeblichen Veranstaltungsvorhaben wie Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. 7. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2003: 80) ca. 750 Bund (2003: 750) Obwohl die an den im Jahr 2002 begonnenen Friedensverhandlungen beteiligte linksextremistische, separatistische Tamilenorganisation "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) und die zwischenzeitlich neue singhalesische Regierung151 immer wieder ihre Entschlossenheit zur Fortsetzung152 der Friedensgespräche signalisiert hatten, scheiterten im Jahr 2004 jegliche stockender Vermittlungsversuche zur Wiederaufnahme des seit über einem Jahr stagFriedensprozess nierenden Friedensprozesses auf Sri Lanka.153 Auf Seiten der Regierung blo150 Der "Goldene Tempel" in Amritsar ist das religiöse Zentrum der Sikhs im nordindischen Bundesstaat Pandschab. Es wurde am 6. Juni 1984 durch einen Angriff indischer Truppen (Operation "Blue Star") stark beschädigt. Bei den Kämpfen verloren mehr als 1.500 Aufständische ihr Leben, darunter auch der heute als "Märtyrer" glorifizierte Anführer Jarmail Singh BHINDRANWALE. 151 Anfang Februar 2004 löste die sri-lankische Präsidentin das Parlament auf und setzte für den 2. April 2004 Neuwahlen an. Auslöser waren Vorwürfe der Opposition an die Regierungspartei, den LTTE bei den Friedensverhandlungen zu weit reichende Zugeständnisse zu machen. Die Opposition gewann die Wahlen. 152 Anfang September 2004 hatte der Chef der politischen Abteilung der LTTE die Forderungen seiner Organisation nach Autonomie in Form der "Interim Self-Governing Authority" (ISGA) als verhandlungsfähig bezeichnet. Er ebnete somit seitens seiner Organisation den Weg für weitere Gespräche. 110 Islamismus/Ausländerextremismus ckierten einige Koalitionspartner die Verhandlungen, da sie die von den LTTE vorgeschlagene "Interim Self-Governing Authority" (ISGA) als Planung für eine Teilung des Staates Sri Lanka werteten. Vor allem aber verschärfte sich die Situation durch Anschläge im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um den ehemaligen Oberbefehlshaber der Rebellenarmee im Osten Sri Lankas, Vinayagamoorthy MURALITHARAN (genannt Colonel KARUNA), nachdem sich dieser Anfang März 2004 nach einer Befehlsverweigerung von der Organisation losgesagt hatte.154 In der Folgezeit verübten sowohl LTTE-Einheiten als auch KARUNAs Truppen mehrere Attentate, bei denen zahlreiche Angehörige beider Seiten ums Leben kamen.155 Insbesondere wegen finanzieller Aspekte sind die LTTE auf ein ausgeprägtes Solidaritätsbewusstsein der tamilischen Diasporagemeinschaft angewiesen. Dazu hat die nach hierarchischen Prinzipien gegliederte Vereinigung eine weltweite Organisationsstruktur aufgebaut. Im Ausland haben die LTTE eine Exilorganisation gegründet. Sie unterhalten Vertretungen in über 38 Ländern. In Deutschland bemühten sich LTTE-Kader unverändert um Vernetzung der den Ausbau eines breit gefächerten Netzes von Kulturund Sportvereinen Diasporasowie tamilischer Schulen156. Mit diesen Einrichtungen wird versucht, alle gemeinschaft im Ausland lebenden Tamilen zu erfassen und an die Organisation zu binden. Die LTTE beanspruchen nämlich das Alleinvertretungsrecht, als einzige Vereinigung die Interessen und Belange der tamilischen Bevölkerungsgruppe wirkungsvoll wahrnehmen zu können. Angesichts der Gefahr eines Wiederaufflammens des Bürgerkriegs auf Sri Lanka und des zu erwartenden erhöhten Finanzbedarfs nutzten die LTTE Geldbeschaffung auch im Jahr 2004 jede Möglichkeit der Geldbeschaffung. Erneut setzten sie 153 Auf Vermittlung der norwegischen Regierung hatten die LTTE und die singhalesische Regierung im Februar 2002 ein Waffenstillstandsabkommen vereinbart. Wenigstens dieses wurde von beiden Seiten auch im Jahr 2004 weitgehend eingehalten. Das Ziel der Friedensverhandlungen ist die Beendigung des nahezu 20 Jahre andauernden Bürgerkriegs mit annähernd 70.000 Toten auf Sri Lanka. 154 KARUNA weigerte sich Anfang März 2004, der Forderung der LTTE-Führung nachzukommen, 1.000 der von ihm befehligten LTTE-Kämpfer aus dem Osten in den Norden zu verlegen Er warf der Führungsspitze vor, über die "Ost-Tamilen" dominieren zu wollen. Nach einem kurzen Gefecht zwischen den zerstrittenen Parteien floh der mittlerweile aus der Organisation ausgeschlossene KARUNA mit seiner Anhängerschaft in die Urwälder Sri Lankas. 155 "Berühmtestes" Opfer der blutigen Auseinandersetzungen war KARUNAs Bruder. Medienangaben zufolge wurde er am 23. September 2004 westlich von Batticaloa/Sri Lanka von einem LTTE-Sonderkommando ermordet. 156 Tamilische Kinder und Jugendliche werden von frühester Kindheit an in der tamilischen Sprache und Tradition unterrichtet, damit sie später einmal den Bezug zu ihrer künftigen Heimat "Tamil Eelam" entwickeln können. In Deutschland gibt es etwa 120 tamilische Schulen (Thamilalayam), circa zehn davon in Baden-Württemberg. 111 ihren Schwerpunkt auf die finanzielle Abschöpfung der im Ausland lebenden Landsleute. Die deutsche Sektion leistete ihren Anteil, indem sie von allen hier lebenden Tamilen monatliche Beiträge erhob. Zusätzliche Erträge erbrachten Spendengeldaktionen wie die anlässlich des "Heldengedenktags" im November 2004. Darüber hinaus stellten die von den Tarnund Nebenorganisationen157 der LTTE initiierten Kultur-, Sportund Gedenkveranstaltungen, bei denen neben der Durchführung von Geldsammlungen Propagandaartikel zum Kauf angeboten wurden, eine weitere beträchtliche Einnahmequelle dar. Um ein bestmögliches Spendenergebnis zu erzielen, legten die Organisatoren bereits bei der Ausrichtung der Veranstaltungen viel Wert auf traditionelle Inhalte. Teilweise konnten dadurch mehrere hundert Personen - bei dem im November 2004 im nordrhein-westfälischen Herne durchgeführten "Heldengedenktag" waren es allein in Deutschland über 10.000 - zur Teilnahme an derartigen Veranstaltungen mobilisiert werden. Veranstaltungen In Baden-Württemberg wurden im Jahre 2004 unter anderem folgende Veranstaltungen bekannt: Am 17. Januar 2004 initiierte die "Kultur Vereinigung der Tamilen e.V." in Stuttgart eine "Kulturveranstaltung". Tatsächlich handelte es sich um eine "Heldengedenkfeier" zu Ehren eines ehemaligen LTTEKaders158. Unter den rund 700 Teilnehmern befanden sich auch mehrere LTTE-Funktionäre. 157 Die Organisation von Veranstaltungen durch Tarnund Nebenvereinigungen der konspirativ agierenden LTTE erfolgt, um nach außen hin nicht selbst in Erscheinung treten zu müssen. 158 Sathasivam KRISHNAKUMAR, genannt "KITTU", hatte im Januar 1993, während die indische Küstenwache ein mit Sprengstoff und Waffen beladenes Schiff der LTTE kontrollierte, den an Bord befindlichen Sprengstoff zur Explosion gebracht. Dabei wurden er und mehrere Besatzungsmitglieder getötet. Seitdem wird er als "Märtyrer" gefeiert. KITTU war einst LTTE-Gründungsmitglied und Leiter des internationalen LTTE-Sekretariats in London/Großbritannien. 112 Islamismus/Ausländerextremismus Am 30. Oktober 2004 führte der Verein "Tamilischer Kulturkreis e.V." in Bad Friedrichshall eine Veranstaltung zu Gunsten des tamilischen Projekts "Anpu Illam" ("Liebes Heim") durch, an der circa 750 Personen teilnahmen. Die Einnahmen aus der Spendensammlung sollten vorgeblich für den Bau eines Altersheims auf Sri Lanka verwendet werden. Mindestens 5.000 Personen, darunter rund 400 Teilnehmer aus BadenWürttemberg159, folgten dem Aufruf der LTTE, sich am 5. April 2004 an der unter dem Motto "Erweckungstag der Tamilen" stehenden Großkundgebung vor dem Gebäude der Organisation der Vereinten Nationen in Genf/Schweiz zu beteiligen. Der äußere Rahmen der friedlich verlaufenen Demonstration war deutlich von "Tiger-Symbolen" geprägt. Neben großen und kleinen Fahnen mit Tiger-Emblemen wurden vor allem Fotos des LTTE-Führers Vellupillai PRABHAKARAN mitgeführt. In Baden-Württemberg unterhalten die LTTE Stützpunkte hauptsächlich in der Region Heilbronn und im Großraum Stuttgart. 159 In Baden-Württemberg leben 5.359 Personen sri-lankischer Staatsangehörigkeit (Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Stand: 31. Dezember 2004). Eine weitere Differenzierung hinsichtlich der Volkszugehörigkeit - hier Tamilen - existiert nicht. Wegen einer Bereinigung des Ausländerzentralregisters im Jahr 2004 ist die genannte Zahl mit den Vorjahreszahlen nur eingeschränkt vergleichbar. 113 B. R ECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Wahlerfolge Die rechtsextremistische Szene machte 2004 insbesondere durch einige spektakuläre Wahlerfolge von sich reden, die nicht zuletzt durch Wahlabsprachen zwischen den Parteien "Deutsche Volkunion" (DVU) und "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) zustande kamen. Diese Erfolge führten zu einer gewissen Aufbruchstimmung innerhalb des gesamten rechtsextremistischen Lagers, die sich bisher jedoch nur im Falle der NPD in einem Mitgliederzuwachs niedergeschlagen hat, der zudem relativ geringfügig ausgefallen ist. Die Mitgliederzahl der DVU und das rechtsexrechtsextremistitremistische Personenpotenzial insgesamt sind weiter rückläufig, wenn auch sches Personennicht in demselben Ausmaß wie von 2002 auf 2003. Allerdings war - teils in potenzial Reaktion auf die rechtsextremistischen Wahlerfolge, teils schon davor - ein rückläufig verstärkter Wille zu registrieren, die notorische Zersplitterung und Zerstrittenheit des eigenen politischen Lagers zumindest teilweise zu überwinden. Möglichst geeint sollen die sich angesichts der insbesondere ökonomischen und sozialen Probleme in Deutschland dem Rechtsextremismus mutmaßlich bietenden Chancen effektiver genutzt werden. Man könnte für das Jahr 2004 in diesem Zusammenhang von deutlicher zutage tretenden Tendenzen zu verstärkter Kooperation und Bündelung der vorhandenen personellen und strukturellen Ressourcen im rechtsextremistischen Lager sprechen. Dazu zählt neben den Wahlabsprachen von NPD und DVU insbesondere die sich mittlerweile auch in einer personellen Verzahnung ausdrückende Annäherung von NPD und Neonaziszene. In diesem Zusammenhang muss aber auch das "Projekt Schulhof"160 genannt werden, das von einer breiten Allianz von Rechtsextremisten aus dem Inund Ausland getragen wird. BündnisEin weiteres Beispiel für diese Tendenzen zu verstärkter Kooperation und bestrebungen Bündelung stellt die Gründung des überparteilichen Vereins "Nationales Bündnis Heilbronn" (NBH) dar, der sich am Vorbild des "Nationalen Bündnisses Dresden"161 orientiert und das Ziel verfolgt, "gemeinsame Veranstaltungen der einzelnen Organisationen unter dem Dach des Bündnis durchzuführen, um so einen größeren Wirkungsgrad zu erzielen."162 Als 160 Vgl. Kapitel 9.2. 161 Dieses war bei den sächsischen Kommunalwahlen am 13. Juni 2004 in den Dresdner Stadtrat gewählt worden. 162 Hier und im Folgenden: Rundschreiben vom 25. Oktober 2004, Internetauswertung vom 2. November 2004. 114 Rechtsextremismus seine Unterstützer nennt das NBH die NPD und deren Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN), die "Deutsche Partei" (DP), die DVU, "ehemalige Mitglieder" der "Republikaner" (REP) sowie die dem neonazistischen Spektrum zuzuordnende "Freiheitliche Initiative Heilbronn". Langfristig will das NBH in Stadt und Landkreis Heilbronn kommunalpolitisch aktiv werden und an den Kommunalwahlen teilnehmen. Dabei sollen jedoch "die einzelnen Organisationen (...) nicht in Frage gestellt" werden. Inwieweit es sich hier um einen ernstzunehmenden Versuch einer organisationsübergreifenden Zusammenarbeit handelt und ob dieses Projekt ähnliche Erfolgsaussichten hat wie sein Dresdener Vorbild, muss abgewartet werden. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Wahlerfolge von NPD und DVU zum Teil auf eine seit einigen Jahren zu beobachtende strategisch-thematische Umorientierung zumindest von wichtigen Segmenten des rechtsextremistischen Lagers zurückzuführen sind. Denn seit einiger Zeit veranlasst die bisstrategische und her bestehende Isolation und die daraus resultierende Erfolglosigkeit der thematische rechtsextremistischen Szene zumindest diejenigen Rechtsextremisten, die Neuausrichtung ernsthaft nach Außenwirkung und politisch-gesellschaftlichem Einfluss streben, zu der Überlegung, ob eine Akzentverschiebung weg von den "klassischen" Themen hin zu aktuelleren, populäreren und ursprünglich vielleicht sogar eher für andere politische Lager spezifischen Inhalten die eigene gesellschaftliche Akzeptanz und Bündnisfähigkeit erhöhen könnte. Die seit dem ersten Halbjahr 2004 verstärkt zu beobachtende rechtsextremistische Hinwendung zu Komplexen wie "Krise und Reform", "Agenda 2010", "Hartz IV" beziehungsweise "EU-Osterweiterung" und zur Frage eines eventuellen EU-Beitritts der Türkei sind - natürlich nicht nur, aber auch - in solchen strategischen Querfrontbeziehungsweise Bündnisbestrebungen begründet. Auch der Versuch, über diese Fragen an gesamtgesellschaftliche Diskurse anzudocken und in der Mehrheitsgesellschaft an Akzeptanz zu gewinnen, spielt hier eine wichtige Rolle. Es ist abzusehen, dass aus derselben Motivationslage heraus die rechtsextremistische Szene nach dem Tod des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh, der am 2. November 2004 in Amsterdam von einem mutmaßlichen Islamisten marokkanischer Abstammung ermordet wurde, die auch in der deutschen Gesellschaft entfachte Diskussion um den Themenkomplex "(Muslimische) Zuwanderung und ihre Gestaltung" aufgreifen wird, um ihre altbekannten ideologischen, fundamental ablehnenden Positionen zur Zuwanderungsfrage in die Mehrheitsgesellschaft zu tragen. 115 1.1 Rechtsextremistische Personenund Wählerpotenziale Das Abschneiden rechtsextremistischer Parteien bei Wahlen kann anders als 2003 nicht auf eine Formel gebracht werden. 2004 standen deutliche Niederlagen neben spektakulären Wahlerfolgen - teilweise für ein und dieselbe Partei. So scheiterte die NPD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl am 29. Februar 2004, obwohl sie als einzige rechtsextremistische Partei angetreten war, mit 0,3 Prozent der Stimmen. Dieselbe Partei errang jedoch bei der sächsischen Landtagswahl am 19. September 2004 9,2 Prozent und zog damit erstmals seit 1968 wieder in einen deutschen Landtag ein. Rechtsextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2002 - 2004 2002 2003 2004 Rechtsextremismus Land Bund Land Bund Land Bund Rechtsextremistische Skinheads 800 10.700 870 10.000 1.000 10.000 und sonstige gewaltbereite Zirkel Neonazistische Parteien/ Organisationen und Einzelpersonen 270 2.600 290 3.000 300 3.800 nach Abzug der Doppelmitgliedschaften Rechtsextremistische Parteien 2.800 28.100 2.530 25.000 2.390 24.300 ddavon: DVU 1.200 13.000 1.100 11.500 1.000 11.000 REP 1.200 9.000 1.000 8.000 950 7.500 NPD 400 6.100 380 5.000 380 5.300 DP 50 500 60 500 Sonstige rechtsextremistische 450 4.400 400 4.100 350 3.800 Organisationen1 Gesamtsumme 4.320 45.800 4.090 42.100 4.040 41.900 Tatsächliches Personenpotenzial nach 4.200 45.000 4.000 41.500 3.900 40.700 Abzug der Mehrfachmitgliedschaften Grafik: LfV BW 1 einschließlich Studentenund Jugendorganisationen Stand: 31.12.2004 Gründe Dass trotz der Wahlerfolge für NPD und DVU die rechtsextremistischen für MitgliederParteien 2004 in der Summe weiter an Mitgliedern verloren, ist unter andeverluste der rem mit zwei Faktoren zu erklären. Zum einen verharrten die REP und Parteien - deutlicher noch - die DP 2004 in der mittlerweile gewohnten Erfolglosigkeit und konnten schon deshalb keine gesteigerte Attraktivität auf eventuelle Neumitglieder ausüben. Zum anderen bestehen die innerparteilichstrukturellen und Imageprobleme der rechtsextremistischen Parteien, wie sie schon in den vergangenen Jahren festgestellt wurden, fort. Dies trifft auch und gerade für DVU und NPD zu, so dass selbst bei diesen beiden die Wahlerfolge und der Zuspruch, den sie aus der Ausnutzung der Krisenerscheinungen in Deutschland ziehen können, den Mitgliederschwund der 116 Rechtsextremismus letzten Jahre lediglich abbremsen (DVU) beziehungsweise in einen nur geringen Zuwachs wandeln (NPD) konnten. Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, darunter der Skinheads, Zahl der stagniert zwar bundesweit, ist aber in Baden-Württemberg relativ deutlich Gewaltbereiten angestiegen. Der Anstieg der Neonazizahlen ist hingegen in Baden-Würtgestiegen temberg minimal ausgefallen, während diese Szene bundesweit einen für ihre Verhältnisse deutlichen Personenzuwachs verzeichnen konnte. 1.2 Strafund Gewalttaten Im Jahr 2004 war im Gegensatz zu 2003 bei den rechtsextremistisch motivierten Straftaten ein Anstieg zu registrieren, ohne dass jedoch das Niveau von 2002 (919) wieder erreicht wurde. Der Anstieg bei der Anzahl der Anstieg der Gewaltdelikte in Baden-Württemberg setzte sich fort. Nach 51 Gewalttaten Anzahl der 2002 und 56 Gewalttaten im Jahr 2003 erhöhte sich diese Zahl 2004 - nicht Gewalttaten zuletzt vor dem Hintergrund einer relativ deutlichen Zunahme beim Potenzial gewaltbereiter Rechtsextremisten in diesem Jahr - weiter auf 67. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Rechts sowie rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 2004 1.3 Ideologie Das Arsenal rechtsextremistischer Ideologiebestandteile ist über die Jahrzehnte von hoher Konstanz geprägt. Aufgrund wechselnder historisch-politischer Rahmenbedingungen können jedoch einzelne dieser Bestandteile an Bedeutung innerhalb des ideologischen Gesamtgefüges verlieren (zum Bei117 spiel die rechtsextremistische Variante des Antikommunismus seit 1989) oder gewinnen (zum Beispiel die rechtsextremistische Variante des Antiamerikanismus seit 1989): Die "Ideologie der Ungleichheit", insbesondere der rechtsextremistische Nationalismus, Sozialdarwinismus163 und Rassismus. Rassismus erhält eine erhöhte Brisanz, wenn er zur Begründung des im rechtsextremistischen "Lager" allgegenwärtigen Antisemitismus herangezogen wird (Rassenantisemitismus). Die "Ideologie der 'Volksgemeinschaft'", die auch als Völkischer Kollektivismus bezeichnet wird. Rechtsextremistische Fremdenund Ausländerfeindlichkeit haben nicht zuletzt in diesem rassisWesensmerktisch-nationalistischen Konzept ihren Ursprung. male des Rechtsextremismus Autoritarismus. Konkrete Ausformungen des rechtsextremistischen Autoritarismus sind Militarismus und Antiliberalismus164, aber auch ein auf das Führerprinzip reduziertes Staatsund Politikverständnis, das wiederum Demokratiefeindschaft und Antiparlamentarismus beinhaltet. Revisionismus. Von Geschichtsrevisionismus spricht man, wenn Rechtsextremisten die NS-Verbrechen - insbesondere den Holocaust und die nationalsozialistische Schuld am Ausbruch des 2. Weltkrieges - verschweigen, rechtfertigen, verharmlosen, durch Aufrechnung mit vermeintlichen und tatsächlichen Verbrechen anderer Nationen und politischer Systeme relativieren oder sogar leugnen. Von Gebietsrevisionismus ist die Rede, wenn Rechtsextremisten die Anerkennung der deutschen Gebietsverluste, wie sie sich aus den beiden Weltkriegen ergeben haben, verweigern oder gar noch weitere Gebiete entgegen den vertraglichen Verpflichtungen, die Deutschland seit 1918 beziehungsweise 1945 eingegangen ist, für Deutschland beanspruchen. Der rechtsextremistische Antimodernismus äußert sich in deutlich ablehnenden Reaktionen auf geistige, wissenschaftlich-technische, ökonomische, soziale und kulturelle Modernisierungsschübe und in der Verklärung vergangener Zustände. 163 Sozialwissenschaftliche Theorie, die Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften überträgt. 164 Ablehnung einer Staatsund Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gegeben werden soll. 118 Rechtsextremismus 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Zielrichtung rechtsextremistisch motivierter Gewalt Im Jahr 2004 verübten Rechtsextremisten in Baden-Württemberg insgesamt Zahl der Gewalt67 Gewalttaten. Damit hat sich der Trend des Vorjahres bestätigt, als die taten gestiegen Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten von 51 (2002) auf 56 gestiegen war. Auch 2004 zeugten einzelne dieser Taten von einer Skrupellosigkeit, die darauf schließen lässt, dass die jeweiligen Täter schwerste, womöglich tödliche Verletzungen auf Seiten der Opfer fahrlässig oder bewusst in Kauf nahmen. Beispiele Am 20. März 2004 warfen in Dornstetten im Kreis Freudenstadt zwei Täter Molotowcocktails gegen die Terrassentür einer Erdgeschosswohnung in einem Mehrfamilienhaus, das ausschließlich von russlanddeutschen Aussiedlern bewohnt wird. Einer der Molotowcocktails durchschlug die Terrassentür zum Wohnzimmer, blieb dort aber auf dem Boden liegen, ohne zu explodieren. Zur Tatzeit hielt sich ein Vater von zwei Kindern allein in dem Zimmer auf. Er blieb unverletzt. Insgesamt drei Personen hatten die Tat bereits zwei Tage zuvor geplant und vorbereitet, das konkrete Anschlagsziel wurde jedoch wahllos festgelegt. Als Motiv gaben die Täter Hass auf Aussiedlerfamilien im Allgemeinen und Fremdenfeindlichkeit an. Das Landgericht Rottweil verurteilte am 30. September 2004 zwei Angeklagte wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer Brandstiftung zu Jugendstrafen von fünf beziehungsweise vier Jahren sowie einen weiteren Angeklagten wegen Beihilfe zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Letztere wurde zur Bewährung ausgesetzt.165 Beispiele Am 29. Mai 2004 setzte ein Täter Zeitungen im Hauseingang eines überwiegend von Türken bewohnten Mehrfamilienhauses in Pforzheim in Brand, indem er Benzin auf den Flur goss und entzündete. Das Feuer breitete sich explosionsartig aus. Der Brand konnte jedoch gelöscht werden, bevor Hausbewohner zu Schaden kamen. Als Tatmotiv gab der Täter an, ein Zeichen gegen die vermeintliche "Überfremdung" Deutschlands setzen zu wollen. Das Landgericht Karlsruhe verurteilte ihn am 23. November 2004 165 Az.: 1 KLs 21 Js 3850/04. Das Urteil ist hinsichtlich des Angeklagten, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, rechtskräftig. 119 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten.166 Das Urteil ist rechtskräftig. 2.2 Rechtsextremistische Skinheads Insgesamt lebten 2004 in der Bundesrepublik Deutschland circa 10.000 gewaltbereite Rechtsextremisten (2002: 10.700, 2003: 10.000), davon rund 1.000 in Baden-Württemberg (2002: 800, 2003: 870). Die rechtsextremistideutlicher schen Skinheads167 bilden unter den gewaltbereiten Rechtsextremisten die Anstieg der zahlenmäßig größte Gruppe. Ihre Zahl betrug 2004 im Land 960 (2002: 770, Skinheadzahl 2003: 830), womit ein relativ deutlicher Anstieg zu verzeichnen war. Dieser Trend ist mit der ungebrochenen Attraktivität der rechtsextremistischen Skinheadszene zu erklären. Eine wichtige Rolle spielen auch die von ihr veranstalteten Konzerte. 2004 fanden in Baden-Württemberg mehr Konzerte statt als 2003, die zudem im Durchschnitt mehr Besucher anlockten als noch im Vorjahr. Es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, Rekrutierungsdass von diesen Konzerten und der dort gespielten beziehungsweise auf effekt durch CDs vertriebenen Skinheadmusik ein Rekrutierungseffekt für die SkinMusik headszene ausgeht, der sich ungefähr proportional zur steigenden Konzertzahl verhält. Diese Konzerte bieten Sicherheitsbehörden auch die Möglichkeit zu einer detailgenaueren Aufklärung der Szene und damit auch zu einer genaueren Erhebung des Personenpotenzials. Unter den rechtsextremistischen Skinheads sind ideologische Fanatiker anzutreffen, was sich nicht zuletzt in der Existenz von vereinzelten Mischszenen aus Neonazis und Skinheads manifestiert. Dennoch ist die Gewaltbereitschaft rechtsextremistischer Skinheads nur zum Teil mit deren Gesinnung zu erklären. Denn viele von ihnen sind an ideologischen Fragen tendenziell eher desinteressiert, so dass ihre diesbezüglichen "Überzeugungen" als eher diffus, oberflächlich, unreflektiert, unstrukturiert und wenig gefestigt zu bezeichnen sind. Dies erklärt zum Teil auch die hohe Fluktuation in der Szene. Verfestigter ideologischer Fanatismus scheidet also als Tatmotiv bei manchem rechtsextremistischen Skinhead, der eine Gewalttat begeht, aus oder ist zumindest nur einer von mehreren Faktoren. Vielmehr liegt häufig eine komplexe Gemengelage von Tatauslösern vor, von denen rechts166 Az.: 1 Ks 91 Js 7189/04. 167 Nicht alle Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. So findet man neben weitgehend unpolitischen Skinheads auch Personen, die "linkes" oder sogar linksextremistisches Gedankengut verinnerlicht haben und zum Teil eindeutig antirassistisch geprägt sind. 120 Rechtsextremismus extremistische Gesinnung nur einen - wenn auch wichtigen - Aspekt ausMotive und macht. Oft spielen andere typische Szenecharakteristika eine ebenso große Auslöser für Rolle, die - für sich gesehen - einen unpolitischen Charakter aufweisen könGewalttaten nen: allgemeinkriminelle Neigungen; eine hohe Bereitschaft zur Gewalt, die sich auch gegen "Kameraden" und Zufallsopfer richten kann; ein unter anderem durch ostentative Gewaltbereitschaft definiertes Männlichkeitsideal; wiederholter, exzessiver Alkoholgenuss, der Hemmschwellen abbaut. Ideologie, insbesondere von Skinheads verinnerlichte rechtsextremistische Feindbilder, geben dieser grundsätzlichen Gewaltneigung aber häufig die Angriffsziele vor. Nicht von ungefähr wählen gewalttätige rechtsextremistische Skinheads sich ihre Opfer eben oft nicht willkürlich aus, sondern vergreifen sich an klassischen Feindbildern des Rechtsextremismus, zum Beispiel an "Fremden" oder Menschen, die von Skinheads als solche wahrgenommen werden, an Ausländern, "Linken", Homosexuellen. Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang die in Ton und Text häufig äußerst aggressive Skinheadmusik. Sie kann als eines der wichtigsten Medien betrachtet werden, über die rechtsextremistische Ideologieversatzstücke in die Szene transportiert werden. In vielen Texten wird massiv bis hin zum Gewaltaufruf gegen besagte Feindbilder gehetzt. Nicht zuletzt aufgrund des in der Skinheadszene vorherrschenden Männlichkeitswahns spielen Frauen (so genannte "Renees") dort kaum eine niedriger Rolle. Ihr Anteil an der baden-württembergischen Szene beträgt wie 2003 Frauenanteil etwa 19 Prozent. Altersstruktur der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg im Jahr 2004 Stand: 31.12.2004 Grafik: LfV BW 121 Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg nach Wohn-, Veranstaltungsorten/Szeneaktivitäten Stand: 31.12.2004 Grafik: LfV BW Räumliche Schwerpunkte Hohe Flexibilität und Mobilität gehören zu den typischen Merkmalen der rechtsextremistischen Skinheadszene. Die Szene-Angehörigen nehmen am Wochenende durchaus Fahrten über mehrere hundert Kilometer auf sich, um Skinheadveranstaltungen (zum Beispiel Konzerte, Partys, Grillfeste) in anderen Bundesländern oder dem benachbarten Ausland zu besuchen. VeranstaltungsDaher lassen sich die räumlichen Schwerpunkte der Szene nicht allein orte: wichtig zur anhand der Wohnorte der einzelnen Skinheads, sondern auch anhand häuKontaktpflege fig frequentierter Veranstaltungsorte definieren. Die genannten Veranstaltungen werden unter anderem zum Informationsaustausch und zum Knüpfen und Festigen von persönlichen Kontakten genutzt, die losgelöst von konkreten Organisationsstrukturen bestehen. Diese Beobachtung hat sich 122 Rechtsextremismus insbesondere auch nach dem im September 2000 erfolgten Verbot der neonazistisch geprägten Skinheadorganisation "Blood&Honour" (B&H) bestätigt. Denn bis heute sind Verbindungen zwischen ehemaligen Mitgliedern früherer B&H-Sektionen festzustellen. Baden-Württemberg ist davon in der Grenzregion zu Rheinland-Pfalz berührt, wo Angehörige der früheren B&H-Sektionen Baden und Pfalz immer noch Kontakt halten. Strukturierungsansätze in der rechtsextremistischen Skinheadszene Skinheads erweisen sich meist als unwillig und/oder unfähig zur Schaffung festerer Organisationsstrukturen. Eine trotz der Szenezugehörigkeit einzelner Akademiker im Allgemeinen festzustellende geringe Intellektualität, Desinteresse an ideologischen Fragen sowie rein "Spaß"-orientiertes Verhalten, beispielsweise besagter exzessiver Alkoholgenuss, und die daraus resultierende Disziplinlosigkeit machen meist schon eine kontinuierliche Mitarbeit in einer der bereits vorhandenen Organisationen schwierig bis unmöglich. Wenn sich dennoch Szene-Angehörige einmal regional zusammenschließen, ist damit nur selten eine konkrete politische Zielsetzung verbunden. Zudem lösen sich viele dieser Gruppierungen meist schon nach keine neuen kurzer Zeit wieder auf. Nachdem im Jahr 2003 neue Skinhead-GruppierunOrganisationen gen innerhalb Baden-Württembergs in Erscheinung getreten waren, sind im gegründet Jahr 2004 keine Ansätze zu Neustrukturierungen zu erkennen. Die seit dem Jahr 2003 auch im Internet präsenten Gruppierungen "Widerstand Schwaben" aus dem Raum Ulm und "Kameradschaft KaiserstuhlTuniberg" aus Merdingen setzten ihre Aktivitäten auch im Jahr 2004 fort. Diese beschränkten sich aber meist auf kleinere Veranstaltungen innerhalb der regionalen Szene. So veranstaltete der "Widerstand Schwaben" am Skinkonzert 21. August 2004 in einer Scheune in Lorch im Ostalbkreis ein Skinkonzert in Lorch mit circa 60 Besuchern. Das Konzert, bei dem drei Skinbands auftraten, wurde im Anschluss an den jährlich im bayerischen Wunsiedel stattfindenden "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" durchgeführt und in der Szene auch als "Rudolf-Heß-Memorial" bezeichnet. Im Gegensatz zu diesen Organisationen handelt es sich bei den "Hammerskins" und "Furchtlos und Treu" (F+T) um bereits länger bestehende und international agierende Skinhead-Gruppierungen. Die 1986 in den USA international gegründeten "Hammerskins" haben sich die Schaffung einer "Hammerskinagierende Nation" zum Ziel gesetzt, der alle Skinheads weißer Hautfarbe angehören Gruppierungen sollen. Darin kommt der dezidierte Rassismus dieser Gruppierung zum Ausdruck. Die "Hammerskins", denen bundesweit rund 100 Personen zugerechnet werden, verfügen nicht über gleichermaßen ausgeprägte Strukturen 123 wie einst B&H. In Baden-Württemberg unterhalten lediglich Einzelpersonen Kontakte zu dieser Organisation. Die Ende 1999 gegründete rechtsextremistische Skinheadgruppierung F+T aus dem Raum Ludwigsburg/Heilbronn pflegt auch weiterhin ihren Internetauftritt und präsentiert sich dort als klar strukturierte Organisation mit politischer Zielsetzung. Entsprechende Aktivitäten konnten bisher jedoch wenig kaum festgestellt werden. Selbst das am 28. August 2004 von F+T in BraAktivitäten ckenheim-Haberschlacht/Krs. Heilbronn veranstaltete Fußballturnier dürfte für die ca. 120 Teilnehmer einen eher unpolitischen Charakter gehabt haben. 3. Rechtsextremistische Musikszene 3.1 Skinkonzerte Nachdem die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadkonzerte bundesweit bereits in den vergangenen Jahren gestiegen war (2001: 80, 2002: 112, 2003: 119), hielt dieser Trend auch 2004 weiter an.168 Baden-Württemberg lag in diesem bundesweiten Trend und hatte nach Zahl der zwei Jahren mit je elf Skinkonzerten im Jahr 2004 einen Anstieg auf 14 KonKonzerte und zerte zu verzeichnen. Auch die Besucherzahl stieg 2004 auf durchschnittlich Besucherzahl rund 160 Personen. Während im Jahr 2003 nur ein Konzert mit mehr als gestiegen 150 Teilnehmern stattgefunden hatte, wurden 2004 sieben Konzerte mit Teilnehmerzahlen von etwa 150 bis 500 Teilnehmern veranstaltet. Obwohl bei derartigen Veranstaltungen eine Mischung aus aggressiver rechtsextremistischer Musik, hohem Alkoholkonsum und erhöhter Gewaltbereitschaft des Publikums entsteht, von der nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausgeht, sind im Jahr 2004 in Baden-Württemberg - wie schon im Vorjahr - keine Gewalttaten im Zusammenhang mit einem Skinheadkonzert bekannt geworden. Beispiele Im April 2004 führte die rechtsextremistische Sängerin "Saga" aus Schweden eine Konzerttour im süddeutschen Raum durch und trat in diesem Rahmen am 9. April in Kuppenheim/Krs. Rastatt und am 10. April in Laupheim/Krs. Biberach auf. Das Konzert in Kuppenheim fand mit circa 150 Personen im 168 2004: 137. 124 Rechtsextremismus Kameradschaftsraum der neonazistischen "Kameradschaft Rastatt" statt. Bei dem Konzert in Laupheim, das auf einem Privatgelände vor rund 200 Besuchern abgehalten wurde, trat neben "Saga" die rechtsextremistische Skinheadband "Act of Violence" aus Ulm auf. Im Kameradschaftsraum der "Kameradschaft Rastatt" fand am 4. September 2004 erneut ein Skinkonzert statt. Diesmal spielten vor rund 280 Teilnehmern die Bands "Aryan Rebells" aus Bayern, "Spreegeschwader" aus Berlin sowie "Lunikoff"169. Beispiele Das teilnehmerstärkste baden-württembergische Skinkonzert des Jahres 2004 fand am 3. Juli auf einem Privatgelände in Brühl im Rhein-NeckarKreis mit circa 450 bis 500 Besuchern statt. Neben der britischen Skinband "Brutal Attack" spielten "Barking Dogs" aus Nordrhein-Westfalen. Skinkonzerte in Baden-Württemberg 2004 Stand: 31.12.2004 Grafik: LfV BW 169 Bei "Lunikoff" handelt es sich um Michael REGENER, den ehemaligen Sänger der neonazistischen Berliner Band "Landser". Am 22. Dezember 2003 verurteilte das Kammergericht Berlin ihn und zwei weitere Mitglieder der Band wegen Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (SS 129 StGB). 125 Anders als bei Skinkonzerten, die wie die bisher genannten auf Privatbesitz Einschreiten durchgeführt werden, verfügen die zuständigen staatlichen Stellen bei Konstaatlicher zertveranstaltungen im öffentlichen Raum über effektive Möglichkeiten Stellen zum Einschreiten. So wurde am 31. Juli 2004 ein Skinkonzert in GerstettenDettingen/Krs. Heidenheim auf dem Gelände der Schutzhütte "Mergelgrube" nach nur wenigen Liedern der Band "Act of Violence" aufgelöst. Unter anderem hätten noch die Skinbands "Tobsucht" aus dem Raum Kirchheim/Teck und "Aryan Rebells" auftreten sollen. Das Gelände war unter dem Vorwand einer Geburtstagsparty bei der Gemeinde Gerstetten angemietet worden. Nachdem die Gemeinde den wahren Anlass der Veranstaltung erfahren hatte, kündigte sie die Mietvereinbarung, und die Polizei beendete das Konzert. Darüber hinaus wurde den circa 150 bis 200 Teilnehmern die Auflage erteilt, das Gelände bis 22 Uhr zu verlassen. Nachdem die Teilnehmer daraufhin ein Fest in der Innenstadt von Heidenheim besuchen wollten, wurde dort eine Kontrollstelle eingerichtet, an der die Fahrzeuge der Skinheads angehalten, Personalien festgestellt und Platzverweise für den Bereich der Stadt Heidenheim erteilt wurden. 3.2 Skinhead-Musikgruppen Zahl der Nachdem die Zahl der rechtsextremistischen Skinheadbands in BadenSkinbands Württemberg 2003 von zwölf auf 16 gestiegen war, traten 2004 nur 14 Bands gesunken in Erscheinung. Damit entwickelte sich die Musikszene in Baden-Württemberg entgegen dem bundesweiten Trend. Die im Jahr 2003 aktiven Bands "Frontal 88" aus dem Raum Heidelberg sowie "ODEM" und "White Anger" aus dem Raum Stuttgart fielen 2004 weder durch CD-Veröffentlichungen noch durch Konzertauftritte auf. Die einzige Neugründung im Jahr 2004 ist die Band "Tobsucht". Die Texte rechtsextremistischer Skinbands thematisieren das SelbstverTextinhalte ständnis und das Lebensgefühl der Skinheadszene, weisen aber auch verfassungsfeindliche Inhalte auf. So wird nicht selten gegen szenetypische Feindbilder wie Ausländer, Juden, Israel, die USA, Homosexuelle, Obdachlose, gegen die Presse sowie Staatsund Verfassungsschutz gehetzt. Dabei wird immer wieder auch zur Gewaltanwendung aufgerufen. Nicht immer - und wenn, dann nur aus taktischen Gründen - wird versucht, Verstöße gegen strafrechtliche Bestimmungen wie Volksverhetzung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu unterlassen. Im Ausland produzierte Tonträger, die im Herkunftsland nicht dem deutschen Strafrecht unterliegen, sind bei Konzerten und Szenetreffen in Deutschland aber jederzeit erhältlich. Dort werden auch Lieder gespielt, die den Straf126 Rechtsextremismus tatbestand der Volksverhetzung erfüllen und das Publikum zu Propagandadelikten wie dem Zeigen des Hitler-Grußes und "Sieg Heil"-Gegröle animieren. Übersicht über rechtsextremistische Skinhead-Musikgruppen und Versandhandel in Baden-Württemberg Stand: 31.12.2004 Grafik: LfV BW Während sich die Zahl der in Baden-Württemberg veröffentlichten CDs Anzahl der CDrechtsextremistischer Skinbands im Jahr 2003 auf neun belaufen hatte, lag Veröffentlichunsie 2004 nur noch bei sieben: gen gesunken 127 "Division Staufen" aus dem Raum Göppingen: CD-Debüt "Fiktion oder Realität" "Ultima Ratio" aus Stuttgart: Limitierte SingleCD "Du Rhein..." "Stromschlag" aus Friedrichshafen: CD "Wille und Weg" "Blue Max" aus Schwarzach im Neckar-Odenwald-Kreis: "Von Uns für Euch" "Jagdstaffel" aus dem Großraum Stuttgart: Erstlings-CD "Mein Freund" "Race War" aus dem Ostalbkreis: CD "Kingdom of Hate" "Noie Werte" aus Stuttgart: Live-CD "Live". Außerdem wirkten Mitglieder von "Noie Werte" 2004 bei der CD "Wir sind dabei" des Gemeinschaftsprojektes "Faktor Widerstand" mit, nachdem sie in den beiden vergangenen Jahren am Gemeinschaftsprojekt "EXXTREM" mit verschiedenen anderen Musikern beteiligt waren. Unter anderem "Tobsucht" und "Division Staufen" steuerten Titel zu dem CD-Sampler "Süddeutscher Nachwuchs/ Best of Schwarze Sonne" bei. Der seit Jahren anhaltende Boom der rechtsextremistischen Skinheadmusikszene schlug sich 2004 in BadenWürttemberg in weiter steigenden Konzertund Besucherzahlen nieder, während jedoch die Zahl der im Land ansässigen Skinheadbands und der hier veröffentlichten CDs rückläufig war. In überschaubaren Dimensionen ist dieser Boom für kommerzielle einige Szenemitglieder nach wie vor ökonomisch lukrativ: In Baden-WürtInteressen temberg existieren diverse Online-Shops und Vertriebe mit dem szenetypischen Angebot an rechtsextremistischen Musik-CDs und Skinhead-Devotionalien. Manche Anbieter haben sich auf die Versteigerung rechtsextremistischer Tonträger, Bücher, Textilien und Videos spezialisiert und bilden damit eine Kommunikationsplattform, die speziell Jugendliche anzieht. 128 Rechtsextremismus 3.3 Sonstige rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Skinheadmusik mit ihren harten, aggressiven Rhythmen, die am ehesten an (Hard-)Rockmusik erinnern, ist vor allem für Jugendliche attraktiv. Auf ältere Rechtsextremisten dürften sie und die dazugehörigen, von Alkohol, Lautstärke und "Gepoge"170 geprägten SkinVorbehalte gegen konzerte eher verstörend bis abstoßend wirken. Auch mancher überzeugte Skinmusik in der Nationalsozialist hegt an sich gegenüber einer Musikform, die im "Dritten rechten Szene Reich" mit Sicherheit als "undeutsch" und "entartet" verboten worden wäre, deutliche ideologische Vorbehalte, die nur deshalb relativ selten offen ausgesprochen werden, weil die Neonaziszene aufgrund der eigenen personellen Schwäche auf die Skinheads als Mobilisierungsund Rekrutierungspotenzial nicht verzichten will. Skinheadmusik ist also im Rahmen der rechtsextremistischen Gesamtszene nicht konsensfähig. Daher werden seit jeher von rechtsextremistischen Musikern auch andere Musikstile gepflegt, die geeignet sind, neben den Skinheads auch andere Szenesegmente anzusprechen. Wichtiges Beispiel dafür ist die rechtsextremistische Liedermacherszene. Frank RENNICKE aus Ehningen/Krs. Böblingen ist einer der bekanntesten rechtsextremistischen Liedermacher im deutschsprachigen Raum. Auch im Liedermacher Jahr 2004 konnte er durch seine vielfältigen Kontakte und Auftritte bei Verund Integrationsanstaltungen verschiedenster rechtsextremistischer Parteien und Organisafigur aus Badentionen bundesweit ein breites, an einzelnen Tagen in die Tausende gehenWürttemberg des Publikum erreichen. 2004 trat er schwerpunktmäßig in den neuen Bundesländern auf, zum Beispiel am 14. Februar bei einem Trauermarsch der rechtsextremistischen "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen" in Dresden vor etwa 2.500 Menschen. Der Marsch fand anlässlich des 59. Jahrestages der Bombardierung Dresdens statt. Schon am folgenden Tag sang RENNICKE bei einem von den REP veranstalteten Konzert vor rund 200 Personen im sächsischen Zwönitz. Auch beim "Deutsche Stimme"171-Pressefest am 7. August 2004 trug RENNICKE im sächsischen Mücka vor ca. 6.900 Teilnehmern musikalisch zum Programm bei. Aber auch in Baden-Württemberg ist RENNICKE weiterhin präsent: So fand am 1. Oktober 2004 in Brigachtal-Klengen im Schwarzwald-Baar-Kreis ein Liederabend mit ihm vor rund 70 Personen statt. 170 Der Pogo - einfache Sprünge und Rempeleien - ist der typische Tanz der Skinhead-Subkultur, bei dem ein fiktiver Gegner durch Schubsen und Anrempeln angegriffen und besiegt wird. Er entstand Ende der 70er-Jahre in der Punkszene. 171 Die "Deutsche Stimme" (DS) ist die Parteizeitung der Bundes-NPD. 129 4. Neonazismus 4.1 Allgemeines Anders, als in manchen Medien zuweilen dargestellt, verbirgt sich hinter dem Begriff "Neonazismus" nur ein Teilsegment des Rechtsextremismus: Zwar ist jeder Neonazi ein Rechtsextremist, nicht aber jeder RechtsextreDefinition mist ein Neonazi. Als neonazistisch sind Personenzusammenschlüsse und Aktivitäten zu bezeichnen, die ein Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen und/oder Protagonisten des historischen Nationalsozialismus erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Ersetzung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch einen totalitären Führerstaat nach dem Vorbild des "Dritten Reiches" ausgerichtet sind. Dieses offene und aggressive Eintreten für die Wiedererrichtung einer nationalsozialistischen Diktatur führte in den 90er-Jahren zum Verbot zahlreicher neonazistischer Vereinigungen, was das Erscheinungsbild dieser Szene nachhaltig veränderte. Mit dem bewussten Verzicht auf gefestigte Organisationsstrukturen wollten die Neonazis von nun an bereits vollzogene und für die Zukunft erwartete Organisationsverbote unterlaufen. Sie bildeten daher lockere, organisationsunabhängige Personenzusammenschlüsse, so genannte "Kameradschaften", "Neonazi-" oder "Freundeskreise" nach dem Vorbild der linksextremistischen autonomen Szene. Hohe Mobilität und teilweise modernste Standards bei der Ausstattung mit Kommunikationstechniken sind die Basis für bundesweite Kontakte und effektiven Informationsaustausch in der neonazistischen Szene. Insbesondere über "Nationale Info-Telefone" (NIT) mit abrufbaren Ansagetexten und Verweisen auf Handynummern, aber auch über diverse Neonazi-Internetportale werden szenerelevante Informationen bekannt gegeben. Merkmale Neonazistische Kameradschaften bestehen in der Regel aus fünf bis 20 Perneonazistischer sonen - zumeist jungen Männern - und sind nach dem Führerprinzip aufgeKameradschaften baut. Sie treffen sich regelmäßig in Gaststätten oder Wohnungen zu ihren Kameradschaftsabenden. Diese Treffen dienen nicht nur der Geselligkeit, sondern auch der politischen Schulung und der Vorbereitung von Aktionen. Ihre überwiegend aktionistische Ausrichtung stellen Kameradschaften durch zahlreiche Teilnahmen an Demonstrationen unter Beweis, die teils von Neonazis selbst, teils von anderen Rechtsextremisten veranstaltet werden. Wichtigstes Beispiel für eine typische Neonazi-Demonstration ist die jährliche Gedenkveranstaltung aus Anlass des Todestages des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß (17. August) im bayerischen Wunsiedel. Einzelne Szene-Angehörige nehmen auch an Skinkonzerten teil. 130 Rechtsextremismus 4.2 Bundesweite Aktivitäten 4.2.1 "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" Um die Person des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß (18941987) werden von Neonazis seit Jahrzehnten ein Märtyrerkult und eine Mythenbildung betrieben, wie sie seit 1945 keinem der übrigen, ähnlich hochrangigen NS-Protagonisten zuteil wurden. Das hängt weniger mit Heß konkreten politischen Funktionen während der NS-Diktatur zusammen, sondern vielmehr damit, dass der zeitlebens überzeugte Nationalsozialist Heß der Neonaziszene auch noch 17 Jahre nach seinem Selbstmord im Berlin-Spandauer Kriegsverbrechergefängnis nicht nur als Vorbild an ideologisch-fanatischer Unbeugsamkeit dient, sondern auch aufgrund seines Schicksals als zentrale Symbolund Integrationsfigur. Schon sein Großbritannien-Flug im Symbolfigur Mai 1941 wird in der Neonaziszene als vermeintlicher "Beweis" dafür gewertet, dass der - so die gängige Neonazi-Terminologie - "Friedensflieger" Heß und mit ihm die gesamte NS-Führung friedenswillig gewesen wären, während die Briten die Friedensbemühungen des Hitler-Stellvertreters mit Internierung beantwortet und damit den Beweis ihrer angeblichen Kriegslüsternheit geliefert hätten. Dass Hitler sich umgehend von der Aktion seines Stellvertreters distanzierte, unter anderem indem er Heß für geistesgestört erklären ließ, wird von Neonazis bei solchen Geschichtsklitterungen zumeist ausgeblendet. Anders als Hitler, Goebbels oder Himmler, die ihrem Leben 1945 ein Ende setzten, überlebte Heß den Zweiten Weltkrieg um 42 Jahre, die er aufgrund einer Verurteilung zu lebenslanger Haft beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis verbrachte. Dass er die letzten 21 Jahre seines Lebens nach der Entlassung der übrigen Gefangenen als einziger Häftling dort verblieb, trieb die Glorifizierung seiner Person durch die Neonaziszene weiter voran. Schon allein diese Fakten seiner Haft - sowie das Ausblenden von Heß' Schuld und der des NS-Regimes insgesamt - prädestinieren den Hitler-Stellvertreter aus neonazistischer Sicht zum Märtyrer der "Bewegung". Dieser Märtyrerkult wird von Neonazis noch auf die Spitze getrieben, indem sie seit 1987 unbeirrbar die faktenwidrige, längst widerlegte Verschwörungstheorie verVerschwörungsbreiten, Heß sei in Spandau ermordet worden, um die "wahren" Hintertheorie gründe seines Großbritannien-Fluges zu vertuschen.172 172 Siehe zu den vielschichtigen Aspekten des Heß-Kultes in der rechtsextremistischen Szene: Kohlstruck, Michael: Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik - Die Mythologisierung von Rudolf Hess im deutschen Rechtsextremismus. In: Fröhlich, Claudia; Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.). Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Stuttgart 2004, S. 95-109. 131 Das Thema hat für die neonazistische Szene auch viele Jahre nach Heß' Selbstmord nichts von seiner identitätsstiftenden Integrationsund Mobilisierungskraft verloren. So nahmen am 21. August 2004 im bayerischen Wunsiedel, wo Heß begraben liegt, an der zentralen Gedenkveranstaltung - die nach vorausgegangenen Gerichtsentscheidungen im vierten Jahr in Folge am selben Ort stattfinden konnte - laut Polizeiangaben circa 3.800 Rechtsextremisten teil. Nach Angaben neonazistischer Veranstaltungsteilnehmer sollen es sogar 7.000 gewesen sein.173 Hatten 2001 "nur" 900 Rechtsextremisten aus diesem Anlass nach Wunsiedel gefunden, so waren es 2002 schon knapp unter 3.000. 2003 war die Teilnehmerzahl auf über 3.000 gestiegen. Quelle: Homepage "Freier Widerstand" Das 2004 in Wunsiedel vertretene Teilnehmerspektrum verrät, dass das Thema "Heß" weit mehr Rechtsextremisten mobilisieren kann als nur Neonazis im engeren Sinne. So kamen die Teilnehmer zum großen Teil zwar aus breites dem neonazistischen Lager, aber auch aus der rechtsextremistischen SkinTeilnehmerheadszene und aus den Reihen der NPD sowie deren Jugendorganisation, spektrum in den JN. Neben bekannten Neonazis und rechtextremistischen LiedermaWunsiedel chern traten auch der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT und Vertreter ausländischer Gruppierungen als Redner auf. Ohnehin fiel auf, dass rund ein Fünftel der Teilnehmer aus dem europäischen Ausland anreiste, was dem "Gedenkmarsch" in Ansätzen sogar ein internationales Erscheinungsbild verlieh. Ein starkes Polizeiaufgebot begleitete die insgesamt friedlich verlaufene Veranstaltung. Im Vorfeld der Demonstration hatten diverse Organisationen und Gruppierungen (unter anderem die "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG), die NPD und deren baden-württembergischer Landesverband) zur Teilnahme am "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" mobilisiert. Die hohe Teilnehmerzahl in Wunsiedel wurde 2004 aber auch dadurch erreicht, dass wenige regionale neben dieser nur wenige regionale Veranstaltungen durchgeführt wurden. Veranstaltungen So fand in Lorch am selben Tag zwar ein Skinheadkonzert, das in der Szene auch als "Rudolf-Heß-Memorial" bezeichnet wurde, statt, aber erst im Anschluss an den Gedenkmarsch, so dass allen Konzertbesuchern die Möglichkeit gegeben war, vorher auch in Wunsiedel teilzunehmen. Diese Kon173 Internetauswertung vom 3. November 2004. 132 Rechtsextremismus zentration der rechtsextremistischen Szene auf Wunsiedel schlägt sich auch in der Zahl der baden-württembergischen "Gedenkmarsch"-Teilnehmer nieder. Rund 400 Rechtsextremisten aus dem Land reisten an, darunter Neonazis, Skinheads, NPDund JN-Mitglieder, nachdem es 2003 nur circa 300 gewesen waren. Vor dem Hintergrund der geltenden Rechtslage und der Tatsache, dass der Veranstalter, der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen RIEGER, bis 2010 jährliche Gedenkveranstaltungen in Wunsiedel angemeldet hat, ist Zukunftsdamit zu rechnen, dass die Teilnehmerzahl auch bei künftigen Heßprognose Gedenkveranstaltungen weiter ansteigt. 4.2.2 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 70 Baden-Württemberg (2003: ca. 70) ca. 600 Bund (2003: ca. 600) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) beging 2004 ihr 25-jähriges Bestehen, womit sie eine 25-jähriges organisatorische Beständigkeit verkörpert, die nicht nur vor dem HinterJubiläum grund der zahlreichen Vereinigungsverbote in den 90er-Jahren für die neonazistische Szene untypisch ist. Zudem ist sie nicht nur die mitgliederstärkste Neonazi-Vereinigung, sondern auch die einzige von bundesweiter Bedeutung. Sie versteht sich als organisationsübergreifendes Bindeglied für Neonazis im Inund Ausland. Tatsächlich kommt ihr als Integrationsund Vernetzungsfaktor innerhalb der Neonaziszene eine erhebliche Bedeutung zu, da viele ihrer Mitglieder zugleich auch anderen rechtsextremistischen Organisationen angehören. Als HNG-Vorsitzende amtiert seit 1991 Ursula MÜLLER aus Mainz. Die alljährliche HNG-Jahreshauptversammlung fand am 20. März 2004 im bayerischen Gremsdorf statt. Die HNG unterstützt inhaftierte Gesinnungsgenossen moralisch und mateVereinszweck riell, zum Beispiel durch Besuche, Rechtsberatung, Überlassung von rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten. Damit verfolgt sie das Ziel, die Strafgefangenen auch während der Haftzeit ideologisch wie sozial an die rechtsextremistische Szene zu binden. Die staatlichen Ausstiegsangebote sollen so unterlaufen werden. 133 Die "Nachrichten der HNG" erscheinen in der Regel monatlich. Die Seite, mit der sie seit Sommer 2003 im Internet vertreten waren, ist mittlerweile nicht mehr abrufbar. Die in den "Nachrichten der HNG" veröffentlichten Prozessberichte und Briefe inhaftierter Rechtsextremisten dienen vor allem dem Ziel, Verständnis für die politisch-ideologischen Motive der Angeklagten beziehungsweise Straftäter zu wecken und die deutsche Rechtsprechung als "Gesinnungsjustiz" sowie den Strafvollzug als willkürlich und unmenschlich im Umgang mit Rechtsextremisten zu diffamieren. Gemäß ihrer neonazistischen Ausrichtung lehnt die HNG die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland kompromisslos ab und verleiht dieser Verfassungsfeindlichkeit durch Abdruck entsprechender Texte in ihren "Nachrichten" auch Ausdruck. 4.3 Neonazistische Personenzusammenschlüsse in Baden-Württemberg Bis in die erste Jahreshälfte 2004 war die 1999 als "Bildungswerk Deutsche Volksgemeinschaft" gegründete, in Heilbronn ansässige "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) um ihren damaligen Bundesleiter Lars KÄPPLER als der aktivste rechtsextremistische Personenzusammenschluss in Baden-Württemberg einzustufen. Sie verfügte zu Beginn des Jahres 2004 zwar nur über 20 bis 30 Mitglieder, allerdings über ein deutlich höheres Mobilisierungspotenzial. Außerdem hatte sie seit dem ersten Halbjahr 2003 verstärkte ihre Aktivitäten intensiviert. Auch im ersten Halbjahr 2004 fand der AktioAktivitäten der nismus der BDVG seinen Niederschlag in diversen, offiziell oder inoffiziell BDVG im von der Organisation verantworteten Veranstaltungen innerund außerhalb 1. Halbjahr Baden-Württembergs. Manchmal zeichneten die mit der BDVG personell faktisch deckungsgleichen "Jungen Deutschen" für Aktionen verantwortlich. AgitationsWie schon 2003 stand auch 2004 wieder Schwäbisch Hall im Zentrum des schwerpunkt BDVG-Aktionismus. So meldete KÄPPLER unter seinem Namen für den Schwäbisch Hall 6. März 2004 in der Stadt eine Demonstration an, die aber faktisch der BDVG zuzurechnen war. Die von starken Polizeikräften abgeschirmte Demonstration unter dem Motto "Multi-Kulti-Diktat in Hall brechen! Schindluder mit Steuergeldern beenden: Linksradikalem 'Club Alpha' die Tantiemen streichen!", an der fast 200 Personen teilnahmen und auf der neben KÄPPLER auch der bundesweit bekannte Hamburger Neonazi Christian WORCH als Redner auftrat, geriet jedoch zum Misserfolg. Der 134 Rechtsextremismus Marktplatz konnte aufgrund einer Gegenveranstaltung nicht wie geplant erreicht werden, und eine Ersatzroute wurde schon nach wenigen hundert Metern durch Gegendemonstranten blockiert. Trotz dieses Fehlschlags zeigte sich KÄPPLER (und damit faktisch die BDVG) vorerst keinesfalls geneigt, Schwäbisch Hall als Agitationsschwerpunkt aufzugeben. Schon am 7. März 2004 gingen bei der Stadt vier weiteDemonstrationen re Veranstaltungsanmeldungen ein. Einerseits meldete KÄPPLER für den 25. März beziehungsweise 1. April 2004 zwei stationäre Kundgebungen an, die dann mit jeweils rund 20 Teilnehmern auf dem Marktplatz durchgeführt wurden. Andererseits meldeten er und ein weiterer BDVG-Funktionär gleich zwei Demonstrationen für den 11. September 2004 an. Als Motto wählten sie eine Abwandlung des Heinrich von Treitschke-Zitats, mit dem der Berliner Geschichtsprofessor 1879 den Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst hatte ("(...) die Juden sind unser Unglück!"): "Die U.S.A. sind unser Unglück! Schützt Europa vor Amerika!" Mit der Wahl von Motto und Termin der beiden Demonstrationen setzten die beiden Anmelder also einen entschieden antiamerikanischen Akzent mit antisemitischen Implikationen. Sowohl diese beiden Demonstrationszüge mit insgesamt rund 200 rechtsextremistischen Teilnehmern als auch zwei Gegenkundgebungen mit rund 300 Teilnehmern und der Blockadeversuch von bis zu 200 teilweise linksextremistischen Gegendemonstranten verliefen friedlich. Vor dem Hintergrund der verstärkten Veranstaltungstätigkeit der BDVG sowie ihrer führenden Funktionäre in Schwäbisch Hall wurden im Nachgang zu der Demonstration vom 6. März 2004 in der Öffentlichkeit Stimmen laut, die angesichts des mit dieser Veranstaltung verbundenen hohen Personalund Kostenaufwands für die Polizei ein Verbot der BDVG forderten. Seither konnte der offenbar systematische Versuch beobachtet werden, innerhalb der bisher als Sprachrohr beziehungsweise Publikationsorgan der BDVG dienenden Zeitschriften ("Volk in Bewegung - Vierteljahresschrift für eine neue Ordnung!"; "Der Schulungsbrief", der monatlich erscheint) und Internetseiten Bezüge zur Organisation entweder ganz zu tilgen oder durch Bezüge auf den seit dem Frühjahr 2004 erweiterten und von KÄPPLER betriebenen Verlag "Volk in Bewegung - Verlag & Medien oHG" zu ersetzen. Auch sonst trat die BDVG - beispielsRückzug der weise als Demonstrationsanmelderin - kaum noch offiziell in Erscheinung. BDVG Schon auf der von KÄPPLER organisierten und geleiteten geschlossenen Saalveranstaltung am 30. Mai 2004 in Stuttgart-Untertürkheim, an der 135 immerhin rund 350 mehrheitlich junge Rechtsextremisten aus Baden-Württemberg, dem übrigen Bundesgebiet und aus Österreich und der Schweiz teilnahmen, war von der BDVG so gut wie nicht mehr die Rede. Als HöheKÄPPLER punkt dieser Entwicklung kann angesehen werden, dass KÄPPLER am gibt Rücktritt 15. September 2004 in einem Fax dem Landesamt für Verfassungsschutz bekannt förmlich mitteilte, dass er bereits am 22. Juli 2004 "mit sofortiger Wirkung" aus der BDVG "ausgetreten und gleichsam als deren Bundesleiter zurückgetreten" sei. Verstärkte Vernetzungstendenzen unter gleichzeitiger Beibehaltung der Strategie der "Organisierung ohne Organisation" manifestieren sich in der Existenz des "Aktionsbündnisses Rhein-Neckar". Unter dieser Bezeichnung hatten sich im Sommer 2003 im Ballungsraum Mannheim/Heidelberg mehVernetzung durch rere "Kameradschaften" aus Baden-Württemberg sowie den angrenzenden gemeinsame Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz mit einer gemeinsamen InterInternetplattform netplattform zusammengeschlossen. Diese Form der Weiterentwicklung hin zu "Aktionsbündnissen" lässt sich in Baden-Württemberg derzeit zwar nur in diesem einen Fall nachweisen, ist aber auch in anderen Regionen Deutschlands erkennbar. Das "Aktionsbündnis Rhein-Neckar", das auf seiner Internetseite als "Aktionsbüro Rhein-Neckar" auftritt, machte bislang durch gemeinsame Vortragsveranstaltungen mit bekannten Rechtsextremisten, regelmäßige Koordinierungstreffen, Demonstrationsteilnahmen und Flugblattaktionen auf sich aufmerksam. Ansonsten ist die neonazistische Szene in Baden-Württemberg nach wie vor in verschiedene Gruppierungen zersplittert, ohne dass weitere Ansätze zu übergreifenden Organisationsstrukturen bestehen. Teilweise handelt es sich lediglich um Einzelaktivisten, die wenige Anhänger um sich versammeln. Unter den Neonazi-"Kameradschaften" im Land nimmt die "Kameradschaft herausgehobene Karlsruhe" nun schon seit über zehn Jahren eine herausgehobene Position Position der ein. Sie unterhält vielfältige Kontakte zu anderen "Kameradschaften" und "Kameradschaft "Freundeskreisen" innerund außerhalb Baden-Württembergs. Als Teil des Karlsruhe" "Nationalen Widerstands" beziehungsweise der "Freien Nationalen Kräfte" setzt sie auch auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten, die nicht als Neonazis im engeren Sinne zu bezeichnen sind. Mit ihrer Internetseite und den Ansagen des von ihr betriebenen NIT174 Karlsruhe, in denen insbesondere zur Teilnahme an eigenen und anderen rechtsextremistischen Veranstaltungen aufgerufen wird, sowie mit regelmäßigen "Kameradschafts"und "Schulungsabenden" versucht die "Kameradschaft Karlsruhe", den internen 174 NIT = "Nationales Info-Telefon". 136 Rechtsextremismus Zusammenhalt zu stärken, die Ideologisierung und Intellektualisierung der eigenen Szene voranzutreiben, interessierte Einzelpersonen zu integrieren oder im Entstehen begriffene Gruppen "rechtsorientierter" Jugendlicher oder Skinheads zu unterstützen. Allerdings führte sie 2004 keine Veranstalpartielle tung mit größerer Außenwirkung durch, wenn man von SeminarveranstalInaktivität tungen mit einem der führenden rechtsextremistischen Ideologen, Jürgen SCHWAB, absieht. Zudem wurde seit dem 24. Juni 2004 der Text des NIT nicht aktualisiert. Mit dieser zumindest partiellen Inaktivität dürfte die "Kameradschaft Karlsruhe" die von ihr selbst gewünschte Attraktivität nicht entfaltet haben. Im Oktober 2004 zog die Agitation via NIT Karlsruhe juristische Konsequenzen für drei Mitglieder beziehungsweise Sympathisanten der "Kameradschaft Karlsruhe" nach sich. Sie wurden vom Landgericht Karlsruhe gemäß SS 86a Strafgesetzbuch ("Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen") verurteilt. Grund zu dieser Verurteilung gab das NIT Karlsruhe: Verwenden der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" in einer Ansage des juristische NIT Karlsruhe vom 5. Oktober 2001. Außerdem war diese Ansage auf der Konsequenzen Internetseite der "Kameradschaft" abrufbar gewesen. Das Landgericht verurteilte den Verfasser des Ansagetextes, der mehrfach und einschlägig vorbestraft ist, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung und die beiden für die jeweilige Verbreitung des Textes verantwortlichen Mitangeklagten zu einer Geldstrafe. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da alle drei Angeklagten Revision eingelegt haben. Zwar lassen sich neonazistische Gruppierungen wie die "Kameradschaft Karlsruhe" aufgrund ihres relativ hohen Ideologisierungsgrades und der daraus resultierenden Art ihrer politischen Aktivitäten durchaus von den rechtsextremistischen Skinheads abgrenzen, dennoch hat es immer auch Überschneidungen beider Szenen gegeben. Diese Feststellung gilt auch für 2004. Neonazis versuchen seit langem, Skinheads ideologisch zu beeinflussen, für ihre Veranstaltungen, insbesondere Demonstrationen zu mobilisieren und geeignete Personen organisatorisch einzubinden. Umgekehrt besuchen einzelne Neonazis Skinkonzerte oder -partys, konsumieren Skinmusik oder nähern sich auch äußerlich dieser Subkultur an. Daher gibt es auch in Baden-Württemberg einige Skinund Neonazigruppierungen, denen ungeachtet ihres eindeutig zu definierenden Charakters einzelne Mitglieder aus dem jeweils anderen Lager angehören. Darüber hinaus haben sich in weni137 Mischszenen gen Fällen Mischszenen herausgebildet, die nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Dies bedeutet allerdings in der Regel auch, dass sich dort typisch neonazistische Aktivitäten zurückentwickeln und der subkulturelle Charakter überwiegt. Demzufolge sind in Mischszenen auch häufig allgemein "rechtsorientierte" Jugendliche anzutreffen, die sich einer ausgewiesen neonazistischen Gruppierung nicht anschließen würden. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 380 Baden-Württemberg (2003: ca. 380) ca. 5.300 Bund (2003: ca. 5.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) Organisation Die seit 1996 von ihrem Bundesvorsitzenden Udo VOIGT geführte "NatioNPD auffälligste naldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) war trotz ihrer relativ gerinrechtsextremisgen Mitgliederzahl auch 2004 wieder die auffälligste rechtsextremistische tische Partei Partei in Deutschland, zumal es ihr gelang, zum ersten Mal seit 1968 wieder als erfolgreiche Wahlpartei in Erscheinung zu treten. Aber auch dass ihre das gesamte Bundesgebiet überziehenden Organisationsstrukturen nicht nur in der Bundesspitze, sondern auch auf mancher Landesund Kommunalebene über aktionistische, kampagnefähige Kader verfügen, verleiht der NPD eine öffentliche Präsenz (zum Beispiel aufgrund von Demonstrationstätigkeit), die von anderen rechtsextremistischen Parteien so nicht erreicht wird. Die 16 NPD-Landesverbände unterscheiden sich in ihrer innerparteilichen Bedeutung jedoch zum Teil gravierend. Der baden-württembergische NPD-Landesverband unter seinem Landesvorsitzenden Siegfried HÄRLE, Riedlingen, zählt zu den tendenziell eher unauffälligen Landesverbänden. Negativtrend Selbst nach den Wahlerfolgen der saarländischen und sächsischen Parteigeim Land nossen konnte er bisher keinen Aufschwung verbuchen. Die Mitgliederzahl stagnierte auf niedrigem Niveau, ein orientierungsloser Landesvorstand und innerparteiliche Lethargie verstärkten den Negativtrend der vergangenen Jahre. Im Gegensatz zur Mutterpartei ist die NPD-Jugendorganisation, die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), die laut NPD-Satzung integraler Bestand138 Rechtsextremismus teil der Partei sind, nicht bundesweit flächendeckend organisiert. Der baden-württembergische JN-Landesverband zählt trotz sinkender Mitgliederzahlen (2004: 50, 2003: 60) noch zu den aktivsten Landesverbänden. Doch obwohl er im Jahr 2004 eine Werbekampagne mittels Aufklebern startete, wurde er in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der Negativtrend bei den baden-württembergischen JN wurde nicht gestoppt. Die in den seit November 2003 amtierenden, aber immer noch in Sachsen wohnhaften Landesvorsitzenden Alexander NEIDLEIN von der Organisation gesetzten Hoffnungen haben sich insoweit bisher nicht erfüllt. Ideologische Ausrichtung Neonazistisches Gedankengut ist zumindest in Teilen der NPD und auch in Reihen ihrer Führungskader bereits seit Jahren nachweisbar, obwohl bis in die jüngere Vergangenheit immer wieder ein bewusstes Abgrenzungsund Konkurrenzverhalten im Verhältnis zwischen der Partei und der eigentlichen Neonaziszene zu beobachten war. Seit den Wahlerfolgen der Partei Annäherung im Saarland und in Sachsen im September 2004 ist jedoch eine deutliche zwischen NPD Annäherung beider Seiten festzustellen. Diese äußert sich darin, dass zur und Neonazis ideologischen Verzahnung der NPD mit dem Neonazismus nun auch eine personelle hinzugekommen ist. Kurz nach den beiden NPD-Wahlerfolgen gab der Bundesvorsitzende Udo VOIGT der Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) ein Interview175, worin er deutlich neonazistische Einstellungen und eine kompromisslose Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erkennen ließ. Unter Bundesanderem bezeichnete er Hitler als "großen deutschen Staatsmann", dem er vorsitzender lediglich die "Verantwortung für die Niederlage Deutschlands" im Zweiten verharmlost Weltkrieg anlastete. Er stellte ihn also verharmlosend als einen militärischen Hitler Versager dar, dessen Versagen nur für Deutschland und die Deutschen katastrophale Folgen gehabt hätte. Die von Hitler aus ideologischem Fanatismus und mit hochgradig krimineller Energie betriebene Entfesselung des Krieges und des Holocaust, von denen weit mehr Menschen als nur die Deutschen in apokalyptischem Ausmaß betroffen waren, erwähnte er hingegen nicht. In demselben Interview forderte VOIGT ausdrücklich die "Überwin175 JF Nr. 40/04 vom 24. September 2004, Interview ",Ziel ist, die BRD abzuwickeln' - Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt über den Wahlerfolg seiner Partei und den 'Zusammenbruch des liberal-kapitalistischen Systems'", S. 3. 139 Ablehnung des dung der BRD" und bezeichnete es als "unser Ziel, die BRD (...) abzuwi"Systems" ckeln", also die freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen. Die JF distanzierte sich noch in derselben Ausgabe von den Aussagen ihres Interviewpartners. Die Berliner Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren auf der Grundlage des SS 90a StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole) ein.176 VOIGTs Aussagen in der JF erregten weit über die rechtsextremistische Szene hinaus großes Aufsehen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass offene Bekundungen von Feindschaft gegenüber der Bundesrepublik Deutschland sowie neonazistische Äußerungen bereits seit Jahren aus den Wandlung des Reihen der NPD zu vernehmen sind. Dies gilt nicht zuletzt für die "DeutParteiorgans sche Stimme" (DS), die Parteizeitung der Bundes-NPD. Seit VOIGT zum "Deutsche NPD-Bundesvorsitzenden gewählt wurde, sind deutliche Veränderungen in Stimme" Layout, Format, Umfang und intellektuellem Anspruch der DS feststellbar. Erschien die DS noch bis zur Dezemberausgabe 1996 in einem etwas vergrößerten DIN-A-4-Format und umfasste lediglich zwölf Seiten, so haben sich Format und Seitenumfang seither nach und nach verdoppelt. Dadurch wurde Platz für mehr und umfangreichere Beiträge zu einer breiteren Themenpalette geschaffen. Zudem veröffentlichen auch verstärkt rechtsextremistische Intellektuelle in der DS wie beispielsweise der Germanist Jürgen SCHWAB, der von 1999 bis 2001 sogar DS-Redakteur war. Das Blatt hat mittlerweile den Charakter eines führenden rechtsextremistischen Theorieund Strategieorgans angenommen, eine Entwicklung, die als Teil des von der Parteiführung im Rahmen des bisherigen "Drei-Säulen-Konzepts"177 geforderten "Kampfes um die Köpfe" zu sehen ist. Mit diesen Intellektualisierungsbemühungen ging freilich keinerlei Verminderung der deutlich neonazistische rechtsextremistischen, teils auch neonazistischen Tendenzen in der DS einTendenzen her. Tendenziell kann sogar eher das Gegenteil festgestellt werden. Dazu nur ein Beispiel, in dem die sehnliche Hoffnung des Autors auf einen Untergang der Bundesrepublik und anderer westlicher Demokratien mit der kaum verklausulierten Befürwortung einer Restauration nationalsozialistischer Ideologeme als Leitlinien deutscher Politik eine offene Allianz eingeht: 176 Bericht "Hitler-Lob und Systemschelte: Justiz ermittelt gegen NPD-Chef Voigt" von Matthias Gebauer auf www.spiegel.de, Stand: 27. September 2004. 177 Das "Drei-Säulen-Konzept" umfasst neben dem hier erwähnten "Kampf um die Köpfe" noch den "Kampf um die Straße" (Durchführung einer Vielzahl von Demonstrationen) und den "Kampf um die Parlamente". 140 Rechtsextremismus "Solange wir die BesatzungsRepublik-Deutschland (BRD) nicht überwinden, hat Deutschland keine Zukunft. (...) Nicht die nationale Opposition wird das Besatzungsregime stürzen - es wird sich selbst erledigen. (...) Weil das Besatzungsregime an den Dogmen seiner Existenz nicht rütteln kann, wird es immer nur Pseudoreformen hervorbringen, die den Zusammenbruch vielleicht um einige Jahre hinauszögern. (...) Die relative Stärke der kapitalistischen, auf materiellen Wohlstand orientierten BRD ist gleichzeitig auch ihre Schwäche. In dem Maße, in dem sich der Verlust an ideellen Werten durch die projizierten Leitbilder des Wohlstandes künftig nicht mehr kompensieren lässt, wird die BRD zusammen mit den meisten westlichen Demokratien an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen. Dadurch, dass alle Regulationsmechanismen ausgeschaltet, Oppositionelle diskreditiert und kriminalisiert werden, muss das System zwangsläufig in den Zusammenbruch steuern bevor eine Erneuerung möglich ist. Weil die BRD als Antipoden-Regime des Nationalsozialismus auftritt und scheitert, werden danach zwangsläufig auch wieder nationalsozialistische Gedankenelemente den Vorzug bekommen. Bislang wurden diese Elemente unterdrückt." 178 Die neuerdings zu beobachtende personelle Verzahnung mit dem NeonaParteieintritte zismus zeigt sich insbesondere darin, dass wenige Tage vor der Landtagsvon Neonazis wahl in Sachsen mit Ralph TEGETHOFF, der allerdings bereits seit Jahren in der DS publiziert179, Thorsten HEISE und Thomas WULFF drei führen178 DS Nr. 8 vom August 2004, Artikel "Sozialkrise: BRD wird an inneren Widersprüchen zerbrechen - Wo steht Deutschland 2004? Eine Lagebeurteilung zum Stand der Globalisierung", S. 6, Übernahme wie im Original. 179 Siehe beispielsweise: DS Nr. 8 vom August 2002, Artikel "Soldatentum: Herausragende Waffentaten für Großdeutschland - Vor fünf Jahren verstarb mit Otto-Ernst Remer ein Frontoffizier, der dem Reich auch nach 1945 treu blieb" von Ralph TEGETHOFF, S. 21. DS Nr. 9 vom September 2004, Artikel "Soldatentum: Stürmisches Leben zwischen Bergwelt und Schlachten - Generaloberst Eduard Dietl war der Held von Narvik und Vorbild aller deutschen Gebirgsjäger" von Ralph TEGETHOFF, S. 22. 141 de Protagonisten der Neonaziszene in die NPD eintraten. Beide Seiten erklärten die Schaffung einer "Volksfront von rechts" zu ihrem gemeinsamen Ziel.180 Beim Bundesparteitag der NPD vom 30./31. Oktober 2004 im thüringischen Leinefelde wurde der neuen Allianz sogar durch die Wahl HEISEs in den Bundesvorstand der Partei Ausdruck verliehen. Auf diesem Parteitag unterstrich der Bundesvorsitzende VOIGT die grundsätzliche Bedeutung, die die NPD der verstärkten Kooperation und Bündelung der vorhandenen personellen und strukturellen Ressourcen im rechtsextremistischen Lager beimisst, indem er in seiner Ansprache - unter anderem unter Hinweis auf die Wahlabsprachen mit der DVU - das bisherige "Drei-SäulenKonzept" "um eine vierte Säule, den 'Kampf um den organisierten Willen'" erweiterte. Er definierte diese "Säule" als den "Versuch der Konzentration aller nationalen Kräfte."181 Nach eigenen Angaben ist mittlerweile auch Michael REGENER ("Lunikoff"), der ehemalige Sänger der neonazistischen Band "Landser", zur NPD gestoßen.182 Insbesondere in den Reihen rechtsextremistischer Skinheads könnte dieser Schritt zu einer noch höheren Akzeptanz für die NPD führen. Perspektivisch dürften sich für die NPD aus ihrem offenen Schulterschluss Prognose mit bundesweit bekannten Neonazis mehr Nachteile als Vorteile ergeben. Zum einen ist das Personenpotenzial, das der Partei durch die Neonaziszene zufließen könnte, letztlich gering (die Verfassungsschutzbehörden registrieren in der Bundesrepublik circa 3.800 Neonazis). Als Wählerpotenzial sind ausgewiesene Neonazis also kein ernstzunehmender Faktor. Gleichzeitig aber entsteht für die NPD die Gefahr, dass andere, durchaus größere potenzielle Wählerklientelen, beispielsweise Protestwähler ohne oder mit nur wenig verfestigten rechtsextremistischen Einstellungen, vor der Stimmabgabe für eine in Teilen sich offen neonazistisch gebenden Partei zurückschrecken könnten. Sollte die NPD jedoch mit Blick auf diese Wählerschichten, auf die die Partei bei Landtagsoder gar Bundestagswahlen kaum verzichten kann, einen (oberflächlich) gemäßigteren (Wahlkampf-)Kurs fahren wollen - und sei es nur vorübergehend -, dürfte sie damit das Bündnis mit den Neonazis aufs Spiel setzen. Denn diese werden von der Partei einen kompromisslosen, eben möglichst nationalsozialistischen Kurs verlangen. 180 Internetauswertung vom 13. November 2004. 181 NPD-Homepage vom 25. November 2004. 182 Internetauswertung vom 28. Oktober 2004. 142 Rechtsextremismus Wahlen Betrachtet man die NPD-Wahlergebnisse des Jahres 2004, so fällt erstens auf, dass die Partei mit der Teilnahme an vier von fünf Landtagswahlen und an der Europawahl auf diesen Ebenen ebenso viele Wahlteilnahmen zu verbuchen hatte wie REP, DP (je zwei) und DVU (eine) zusammen. Das belegt, dass die NPD im Rahmen des von ihr bisher verfolgten "DreiSäulen-Konzepts" der "Säule" "Kampf um die Parlamente" im Wahljahr 2004 einen hohen Stellenwert einräumte, nachdem sie 2003 noch unter dem Eindruck des am 18. März 2003 eingestellten Verbotsverfahrens an keiner der vier Landtagswahlen teilgenommen hatte. Zweitens ergibt sich - gemessen an der Frage von Wahlerfolg beziehungsweise -misserfolg - eine Zweiteilung des Wahljahres für die NPD. Im ersten Halbjahr erlitt sie die für sie seit mehr als 30 Jahren typischen Wahlniederlagen. Der - aus NPD-Sicht - Tiefpunkt wurde schon zu Beginn des Jahres erreicht: Obwohl sich die NPD am 29. Februar 2004 bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft als einzige rechtsextremistische Partei den Wählern stellte, errang sie nur ganze 0,3 Prozent der Stimmen. Angesichts des zu erwartenden Misserfolgs trat die NPD bei der Kommunalwahl vom 13. Juni 2004 in Baden-Württemberg erst gar nicht an, errang aber bei den übrigen Kommunalwahlen an jenem Tag teils eindrucksvolle Ergebnisse (zum Beispiel in Sachsen oder im Saarland), die in einzelnen Orten Sachsens bis deutlich in den zweistelligen Prozentbereich reichten. Ansonsten konzentrierten sich die NPD-Aktivitäten auf die ebenfalls am 13. Juni abgehaltene Europawahl. Dennoch verfehlte sie ihr Ziel, bei dieser Europawahl Wahl stärkste Kraft des rechtsextremistischen Parteienspektrums zu werden, auch wenn sie ihren Stimmenanteil bundesweit mit 0,9 Prozent mehr als verdoppeln konnte (1999: 0,4 Prozent). In Baden-Württemberg schnitt die NPD noch schlechter ab, obwohl sie auch hier ihr Ergebnis auf 0,6 Prozent (1999: 0,3 Prozent) verdoppelte. Bei der gleichfalls am 13. Juni 2004 durchgeführten thüringischen Landtagswahl konnte die NPD ihren Stimmenanteil im Vergleich zum letzten Urnengang im Freistaat zwar - wenn auch mit 1,6 Prozent auf niedrigem Niveau - verachtfachen (1999: 0,2 Prozent), doch war dieser Zugewinn einer gesunkenen Wahlbeteiligung und vor allem der Tatsache geschuldet, dass 143 die 1999 mit 3,1 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste rechtsextremistische Partei, die DVU, 2004 nicht wieder antrat. Diese Wahlniederlagen sind teilweise auch darauf zurückzuführen, dass sich rechtsextremistische Parteien bei Wahlen gegenseitig Konkurrenz machen und so selbst dann den Einzug in ein Parlament verpassen, wenn das rechtsextremistische Gesamtwählerpotenzial für einen der Kontrahenten zum Sprung über die fünf Prozent-Hürde ausreichen könnte. Angesichts dessen Wahlabsprache verabschiedeten die Parteivorstände von NPD und DVU am 23. Juni 2004 zwischen eine "Gemeinsame Erklärung", wonach sie bei den Landtagswahlen am NPD und DVU 19. September 2004 in Brandenburg und Sachsen nicht gegeneinander antreten wollten. Die NPD konnte daraufhin in Sachsen ohne Konkurrenz durch die DVU antreten und verzichtete im Gegenzug auf eine Kandidatur in Brandenburg. Da in den beiden Ländern auch weder REP noch DP antraten, war die Chance zur Bündelung des rechtsextremistischen Wählerpotenzials durch jeweils eine rechtsextremistische Partei gegeben. Hinzu kam, dass im Laufe des Sommers 2004 eine teils heftig geführte gesamtgesellschaftliche Debatte über die Sozialreformen der Bundesregierung, aber auch über die Reformvorschläge der demokratischen Oppositionsparteien entbrannte. Bereits der Wahlkampf zur saarländischen Landtagswahl am 5. September 2004 war weitgehend von der "Hartz IV"beziehungsweise "Agenda 2010"-Thematik bestimmt. Auch die NPD setzte in ihrer Wahlpropaganda stark auf diesen Themenkomplex und erreichte damit 4,0 Prozent der Stimmen. Schon dieses Ergebnis war als Quantensprung zu werten für eine Partei, die seit ihrem letzten Einzug in ein westdeutsches Landesparlament im Jahr 1968 (9,8 Prozent in Baden-Württemberg) die Existenz einer Splitterpartei gefristet hatte. Noch bei ihrer letzten Landtagswahlteilnahme im Saarland im Januar 1990 hatte sie nur 0,2 Prozent der Stimmen für sich verbucht. Nach der Wiedervereinigung hatte sie bei westdeutschen Landtagswahlen bisher nie mehr als 1,0 Prozent der Wahlerfolg in Stimmen (2000 in Schleswig-Holstein) erhalten. Zwei Wochen später errang Sachsen die NPD bei der Landtagswahl in Sachsen sogar spektakuläre 9,2 Prozent (1999: 1,4 Prozent) und zog mit zwölf Abgeordneten in den sächsischen Landtag ein, während die DVU mit 6,1 Prozent den Wiedereinzug in den brandenburgischen Landtag schaffte (1999: 5,3 Prozent). Nachdem die Wahlabsprachen zwischen NPD und DVU den von beiden Parteien gewünschten Erfolg gebracht hatten, kam es zu weiteren Gesprächen auf der Ebene der Parteivorstände. Dabei wurde nach Angaben VOIGTs vereinbart, dass beide Parteien unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Eigenständigkeit "künftig Wahlabsprachen treffen bzw. gemeinsame Listen 144 Rechtsextremismus oder Listenverbindungen dort anstreben, wo dies wahlrechtlich möglich" sei. Man habe sich "darauf verständigt (...), dass zur Bundestagswahl 2006 die NPD die Listenführerin sein" werde, "und Dr. Frey sowie weitere Führungskräfte der DVU dann auf den NPD-Listen kandidieren werden. Umgekehrt" werde "die DVU zur Europawahl 2009 die Listenführerin mit Kandidaten der NPD auf ihrer Liste sein. Für die zwischenzeitlich stattfindenden Landtagswahlen" werde "eine ähnliche Übereinkunft angestrebt."183 Aktivitäten Auch 2004 maß die NPD der dritten Komponente ihres - mittlerweile um eine vierte "Säule" erweiterten - "Drei-Säulen-Konzepts", dem "Kampf um die Straße" große Bedeutung bei. Dies schlug sich unter anderem in zahlreichen Demonstrationen nieder, die die NPD entweder selbst veranstaltete oder an denen sie sich beteiligte. Aus NPD-Sicht besonders erfolgreich verlief das 4. Pressefest des "Deutschen Stimme"-Verlags am 7. August 2004 im sächsischen Mücka. Die Anzahl der Gäste konnte im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gesteigert werden. Angaben der NPD zufolge nahVeranstaltungsmen rund 6.900 Personen teil. Damit wäre es der Partei gelungen, weit erfolg mehr Menschen für eine Veranstaltung im äußersten Ostsachsen zu mobilisieren als sie bundesweit Mitglieder hat. Wesentlicher Anziehungspunkt war wieder das Musikprogramm mit Auftritten der rechtsextremistischen Musikgruppen "Sleipnir", "Kraftschlag", "Radikahl", "Youngland" sowie mehrerer rechtsextremistischer Liedermacher, darunter Frank RENNICKE. In Baden-Württemberg selbst kam es 2004 nur zu einer öffentlichkeitswirkkaum Aktivitäten samen NPD-Veranstaltung. Am 16. Oktober 2004 demonstrierten vor einer in BadenKaserne der US-Streitkräfte in Mannheim während einer durch den NPDWürttemberg Kreisverband Rhein-Neckar angemeldeten Kundgebung unter dem Motto "Nein zu den Unrechtstaten der Besatzer im Irak" circa 50 Personen.184 Ansonsten führte der Landesverband lediglich interne Veranstaltungen mit teilweise noch geringeren Teilnehmerzahlen durch. 183 DS Nr. 11 vom November 2004, Artikel "Kommentar: Deutsche Volksfront steht - REP sitzen in der Systemfalle - Der Umbruch hat begonnen" von Udo VOIGT, S. 2. 184 Im Vorfeld der Kundgebung kam es zu einer Auseinandersetzung mit linksextremistischen Störern. Vgl. Teil C, Kapitel 3, S. 189. 145 Am 21. November 2004 hielt der Landesverband seinen diesjährigen Parteitag in Villingen-Schwenningen ab. Bei der Veranstaltung mit circa 80 Teilnehmern fanden keine Neuwahlen statt. 5.2 "Die Republikaner" (REP) Gründung: 1983 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 950 Baden-Württemberg (2003: ca. 1.000) ca. 7.500 Bund (2003: ca. 8.000) Publikation: "Zeit für Protest"185 Organisation und Aktivitäten Im Jahr 2004 blieben nennenswerte organisatorische Änderungen beim baden-württembergischen Landesverband der Partei "Die Republikaner" (REP) aus. Die starken Mitgliederverluste der Vorjahre setzten sich 2004 leichter zwar in diesem Ausmaß nicht fort, konnten allerdings auch nicht endgültig Mitgliederverlust gestoppt werden. Als Landesvorsitzender amtiert seit März 2003 der ehemalige REP-Landtagsabgeordnete Ulrich DEUSCHLE, Notzingen/Krs. Esslingen. Obwohl sich die Aktivitäten der wenigen engagierten Parteimitglieder im baden-württembergischen Landesverband 2004 ohnehin schon auf die wenig Europaund die Kommunalwahlen konzentrierten, fanden selbst in diesem Aktivitäten Zusammenhang nur vereinzelt Veranstaltungen von einiger Bedeutung statt. Am traditionellen Republikanertag des Landesverbands Baden-Württemberg am 3. Oktober 2004 in Stuttgart nahmen zwar circa 150 und damit mehr Personen als im Vorjahr teil (2003: circa 100). Dennoch hatte diese Veranstaltung wiederum nahezu keine Außenwirkung. 2004 stand Dr. Rolf SCHLIERER aus Stuttgart seit nunmehr zehn Jahren als Parteivorsitzender an der Bundesspitze der REP. Die regionalen und örtlichen Strukturen der Partei mit noch immer 16 Landesund zahlreichen Kreisverbänden waren freilich selbst in den Wahlkämpfen des Jahres 2004 kaum noch aktiv. Erwähnenswerte Aktivitäten der Bundespartei beschränkten sich im Wesentlichen auf die "Aschermittwochveranstaltung" vom 25. Februar 2004 im bayerischen Geisenhausen, deren Teilnehmerzahl mit 185 Seit der Ausgabe Januar/Februar 2004; bis einschließlich Ausgabe 12/2003 "DER REPUBLIKANER". 146 Rechtsextremismus rund 200 Personen aber auch hinter denen der Vorjahre zurück blieb, und auf den Bundesparteitag vom 27./28. November 2004 im bayerischen Veitshöchheim, auf dem Dr. Rolf SCHLIERER in seinem Amt als Bundesvorsitzender erneut - wenn auch mit einer deutlichen Zahl von Gegenstimmen - bestätigt wurde. Das Parteiorgan der REP trägt seit Beginn des Jahres 2004 den Namen "Zeit für Protest" (Untertitel: "Die Zeitung für mündige Bürger"). Inhaltlich hat sich die Zeitung nicht gewandelt. Es werden die gleichen Themenbereiche abgedeckt wie vor der Umbenennung. Nach wie vor erscheint die Parteizeitung alle zwei Monate als Doppelausgabe. Politischer Kurs Nicht jedes einzelne REP-Mitglied verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Doch obwohl der Bundesvorsitzende Dr. SCHLIERER weiterhin darum bemüht ist, seiner Partei einen rechtskonservativen und gemäßigten Anstrich zu geben, wurden von verschiedenen, auch hochrangigen Mitgliedern der REP im Jahr 2004 Positionen vertreten, die kennzeichnend sind für eine Partei des rechtsextremistischen Spektrums und die die Existenz verfassungsfeindlicher Einstellungen innerhalb der Partei belegen. Dr. SCHLIERER selbst kann als Kronzeuge dafür herangezogen werden, dass seine anders lautenden Bekundungen - zumindest zum Teil - offenbar taktischer Natur sind. So verurteilte er laut einer Pressemitteilung der REPBundesgeschäftsstelle vom 13. September 2004 nicht nur eine vom polnischen Sejm am 10. September verabschiedete Entschließung, die die polnische Regierung dazu aufforderte, von Deutschland Reparationszahlungen für die während des Zweiten Weltkrieges in Polen verursachten Schäden zu verlangen. Eine solche Verurteilung allein ist noch nicht als rechtsextremistisch zu beurteilen, stieß diese Entschließung des polnischen Parlaments doch auch unter deutschen und polnischen Demokraten auf teils deutliche Ablehnung. Einer typisch rechtsextremistischen Rhetorik bediente sich gebietsrevisioDr. SCHLIERER jedoch, als er dabei die Legitimität und damit Endgültignistische keit der deutsch-polnischen Grenze, wie sie spätestens seit 1990 vertraglich Äußerungen festgeschrieben ist, bestritt und eine pauschale Aversion gegen Polen ("Landräuber") erkennen ließ: "Die Okkupation Schlesiens nach dem zweiten Weltkrieg stellt einen völkerrechtswidrigen Land147 raub dar, der nicht hingenommen werden kann und der auch durch den 2+4-Vertrag nicht legitimiert wurde. Landräuber haben keinen Anspruch auf Reparationen."186 Wahlen Den REP gelangen bei den Wahlen des Jahres 2004 nicht auch nur annähernd so spektakuläre Wahlerfolge wie der NPD und der DVU in Sachsen beziehungsweise Brandenburg am 19. September. Selbst dort, wo die Partei leichte Zugewinne zu verzeichnen hatte, bewegten sich ihre Ergebnisse immer noch auf niedrigem Niveau. Europawahl Bei der Europawahl am 13. Juni 2004 konnten sich die REP zwar auf 1,9 Prozent der Stimmen leicht verbessern (1999: 1,7 Prozent) und schnitten damit am besten von den drei angetretenen rechtsextremistischen Parteien ab, verpassten aber den Einzug in das Europaparlament deutlich. In BadenWürttemberg verloren die REP sogar noch einmal 0,5 Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Europawahl von 1999 und erreichten nunmehr 2,8 Prozent. Bei den Landtagswahlen im Saarland, in Brandenburg und Sachsen, bei denen andere rechtsextremistische Parteien Erfolge erzielen konnten, und in Hamburg traten die REP erst gar nicht mit eigenen Landeslisten an. Bei der thüringischen Landtagswahl, die zeitgleich mit der Europawahl stattfand, konnten die REP ihren Zweitstimmenanteil zwar mehr als verdoppeln (2,0 Prozent; 1999: 0,8 Prozent), doch wurde mit diesem Ergebnis der Einzug in den thüringischen Landtag weit verfehlt. Die baden-württembergischen Kommunalwahlen am 13. Juni 2004 waren zumeist durch Verluste für die REP gekennzeichnet. Bei der Regionalwahl, die sich auf den Großraum Stuttgart beschränkte, verloren die REP 0,9 Prozentpunkte. Insgesamt erreichten sie aber immerhin noch einen Stimmenanteil von 4,6 Prozent (1999: 5,5 Prozent) und zogen mit vier Mandaten Kommunal(1999: fünf Mandate) ins Regionalparlament ein. Bei den Kreistagswahlen wahlen verlor die Partei aber rund ein Viertel ihrer Mandate. Differenzierter fielen die Ergebnisse bei den Gemeinderatswahlen aus, insbesondere in früheren 186 Pressemitteilung der REP-Bundesgeschäftsstelle Nr. 39/04 vom 13. September 2004, REP-Homepage vom 25. Oktober 2004, Übernahme wie im Original. 148 Rechtsextremismus Hochburgen der REP. Obwohl Dr. SCHLIERER in Stuttgart selbst antrat, war die Resonanz verhalten. Die REP erzielten 3,9 Prozent gegenüber 4,9 Prozent 1999 und erreichten dadurch nur noch zwei Sitze (1999: drei Sitze). In Heilbronn, wo die REP mittlerweile traditionell überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen, verloren sie zwar 0,3 Prozentpunkte, erreichten aber mit 8,0 Prozent erneut drei Mandate. In Pforzheim konnten sie geringfügig Stimmen hinzugewinnen. Nach 4,6 Prozent 1999 erreichten sie 2004 5,3 Prozent. An der Zahl von zwei Mandaten änderte sich nichts. Insgesamt musste sich die Partei bei den Gemeinderatswahlen 2004 mit weniger Mandaten zufrieden geben als bei den letzten Wahlen 1999. Bündnisbestrebungen und Kontakte zu anderen Rechtsextremisten Trotz der Misserfolge bei der Europaund der thüringischen Landtagswahl und trotz der Tatsache, dass NPD und DVU ihre Wahlerfolge in Sachsen beziehungsweise Brandenburg nicht zuletzt ihrer Absprache zu verdanken hatten, nicht gegeneinander anzutreten, lehnte Dr. SCHLIERER in einer Ablehnung einer Pressemitteilung vom 22. September 2004 eine Zusammenarbeit mit der Zusammenarbeit NPD kategorisch ab und bestritt dabei die Existenz auch nur des "'kleinsten mit der NPD gemeinsamen Nenner[s] für eine politische oder parlamentarische Arbeit'" mit dieser Partei.187 Mit dieser Absage bestätigte Dr. SCHLIERER einen damals noch geltenden Beschluss vom Bundesparteitag 1990 und ähnliche spätere Beschlüsse des Parteivorstands, sich von (anderen) Rechtsextremisten abzugrenzen. Auf dem REP-Bundesparteitag am 27./28. November 2004 wurde der Bundesparteitagsbeschluss von 1990 durch ein Bekenntnis der Partei "zur freiheitlich demokratischen Grundordnung und zur Demokratie" abgelöst, das "gemeinsame Aktivitäten und Kandidaturen mit der NPD bei deren derzeitigen Zielen oder gar mit neonationalsozialistischen Organisationen und deren Umfeld" ausschließt. Andere rechtsextremistische Parteien (zum Beispiel die DVU) werden in dem Beschluss nicht in dieser expliziten Weise erwähnt.188 Dennoch waren auch 2004 auf nahezu allen REP-Parteiebenen Äußerungen und Verhaltensweisen festzustellen, die auf ein (weiteres) Abrücken zumindest von Teilen der Partei von diesen Parteibeschlüssen hinweisen. Selbst in der Parteispitze waren Tendenzen erkennbar, an der Abgrenzung zu anderen Rechtsextremisten nicht mit der nötigen Konsequenz festzuhalten. 187 Pressemitteilung der REP-Bundesgeschäftsstelle Nr. 41/04 vom 22. September 2004, REP-Homepage vom 25. Oktober 2004. 188 Pressemitteilung "Die Republikaner bekennen sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung und zur Demokratie", REP-Homepage vom 21. Dezember 2004. 149 Kontakte zu So empfahl in einer Entschließung, die am 27. August 2004 bezeichnenderanderen weise im DVU-Sprachrohr "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" rechtsextremis(NZ) abgedruckt wurde, der Berliner REP-Landesvorstand "allen Interestischen Parteien senten und Mitgliedern", bei der brandenburgischen Landtagswahl für die DVU zu stimmen. Darüber hinaus wurden Bundespräsidium und Bundesvorstand der REP aufgefordert, "sich in Zukunft an den Wahlteilnahmeabsprachen189 zu beteiligen". Es gelte, "die DVU als einzige im Landtag vertretene Rechtspartei zu unterstützen", hieß es in dem Aufruf, der vom Berliner REP-Landesvorsitzenden, Reinhard HAESE, unterzeichnet war.190 Auch die - nunmehr ehemalige - sächsische REP-Landesvorsitzende Kerstin LORENZ machte nicht erst seit 2004 aus ihrer Nähe zu eindeutig rechtsextremistischen Organisationen keinen Hehl. Insbesondere engagierte sie sich seit dessen Gründung im April 2003 für das "Nationale Bündnis Dresden", in dem unter anderem hochrangige NPD-Funktionäre eine zentrale Rolle spielten und spielen. Dieses Engagement führte allerdings innerhalb der REP zu einem Parteiausschlussverfahren gegen LORENZ. Bevor dieses Verfahren förmlich abgeschlossen wurde, trat LORENZ bei den REP aus und schloss sich der NPD an. Schon in der Einladung des ehemaligen baden-württembergischen REPLandtagsabgeordneten Karl-August SCHAAL, der dem REP-Bezirksverband Südwürttemberg vorsitzt, wurden zum "Bodenseetag" am 19. September 2004 als Gäste nicht nur "Freunde und Mitglieder" der REP, sondern ausdrücklich auch andere "Gruppen und Parteien willkommen" geheißen, die - so SCHAAL - "sich gleich gesinnt um die Zukunft Deutschlands sorgen". Unter den circa 150 Teilnehmern befanden sich dann neben dem badenwürttembergischen REP-Landesvorsitzenden Ulrich DEUSCHLE und dem ehemaligen REP-Bundesvorsitzenden Franz SCHÖNHUBER, der sich auch nach seinem Rückzug aus der Partei in rechtsextremistischen Kreisen bewegt, die baden-württembergische DP-Landesvorsitzende Jutta RETZ, der stellvertretende DP-Bundesvorsitzende Ulrich PÄTZOLD sowie mit Jürgen SCHÜTZINGER ein führender Funktionär der "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH). Abschließend wurde eine "Bodensee-Erklärung" verabschiedet, in der ein "parteiübergreifender Kongress deutscher Patrioten zum Zweck des Zusammenfindens"191 gefordert wurde. 189 Damit sind offensichtlich die Absprachen zwischen NPD und DVU gemeint. 190 NZ Nr. 36 vom 27. August 2004, Artikel "Brandenburger, wählt DVU - Empfehlung der Berliner Republikaner", S. 7, Kursivschreibung auch im Original. 191 Bericht "Bodenseetag 2004 - Kulturreise am Bodensee", Homepage des REP-Kreisverbands Tübingen vom 28. September 2004. 150 Rechtsextremismus 5.3 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 1.000 Baden-Württemberg (2003: ca. 1.100) ca. 11.000 Bund (2003: ca. 11.500) Sprachrohr: "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) Organisation, Aktivitäten und politisch-ideologische Ausrichtung Schon seit Jahren ist die "Deutsche Volksunion" (DVU) die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Diese relative Mitgliederstärke kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei dem autokratischen Führungsstil einer einzigen Person unterworfen ist: Ihr Gründer und seither einziger Bundesparteivorsitzender, der finanzkräftige Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY, finanziert die DVU in weiten Teilen und nutzt das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis, jeden innerparteilichen Pluralismus oder gar Widerspruch zu unterbinden. Das führt dazu, dass sich weder auf Bundesnoch auf Landesebene eine eigenständige Parteiarbeit entwickeln kann und neben Dr. FREY kaum überregional bekanntes, profiliertes DVU-Führungspersonal existiert. Dr. FREYs unanDr. FREY als gefochtene Position manifestiert sich auch darin, dass er auf dem DVUBundesvorsitzenBundesparteitag am 20. März 2004 in München, der mit circa 150 Teilnehder bestätigt mern noch schwächer besucht war als der vorangegangene (2002: circa 250), mit 99,2 Prozent192 der abgegebenen Stimmen in seinem Amt bestätigt wurde. Im DVU-Landesverband Baden-Württemberg mit seinen wenigen Kreisverbänden fungiert seit dem letzten Landesparteitag vom Januar 2003 Winfried MAYER aus Stuttgart als Vorsitzender. Aktivitäten der baden-württemberkaum gischen DVU sind schon seit Jahren kaum noch feststellbar. Ausnahmen Aktivitäten des sind vor allem lokale politische Stammtische. Für die Stammtische in Landesverbands Aalen/Heidenheim und Esslingen wurde 2004 sowohl in der NZ als auch auf der Internetseite der Bundes-DVU geworben. Das inoffizielle Sprachrohr der DVU, die von Dr. FREY herausgegebene Wochenzeitung NZ, ist das auflagenstärkste und in der Öffentlichkeit wohl auch bekannteste rechtsextremistische Presseorgan in Deutschland. Die in 192 Meldung "Dr. Frey im Amt als Vorsitzender bestätigt - DVU-Bundesparteitag in München", DVUHomepage vom 11. Oktober 2004. 151 ihr veröffentlichten Beiträge bedienen ein relativ breites Themenspektrum aus dem klassischen Arsenal der rechtsextremistischen Ideologie (zum Beispiel Fremdenund Ausländerfeindlichkeit, Gebietsund Geschichtsrevisionismus). Darüber hinaus schaltete sich die NZ (und damit die DVU) 2004 auch in die aktuellen rechtsextremistischen Diskurse zu den Themenkomplexen "Krise und Reform", "EU-Osterweiterung" beziehungsweise "Türkischer EU-Beitritt" ein, beispielsweise mit reißerischen Schlagzeilen auf der Titelseite wie diesen: "So verrät die SPD die Deutschen - 'Hartz IV': Sargnagel der Sozialdemokraten?"193, "Freie Fahrt für Kriminelle? EU-Osterweiterung und die Folgen"194 und "Wenn die Türkei in die EU kommt: Geht Deutschland unter?"195 Im brandenburgischen Landtagswahlkampf warb die DVU mit Parolen wie "Sauerei Hartz IV - Wehrt Euch!" für sich. Wahlen Die DVU gelangte 2004 nur einmal in den Focus des öffentlichen Interesses, nämlich mit ihrer erfolgreichen Teilnahme an der brandenburgischen Landtagswahl am 19. September. Zugleich war diese die einzige WahlteilWahlerfolg nahme der Partei im Jahr 2004 oberhalb der Kommunalebene. In Brandenburg gelang ihr mit 6,1 Prozent der Zweitstimmen der erneute Einzug in das Landesparlament (1999: 5,3 Prozent), was nicht zuletzt dadurch möglich geworden war, dass DVU und NPD im Vorfeld vereinbart hatten, dort und bei der gleichzeitigen Landtagswahl in Sachsen nicht miteinander zu konkurrieren: Die DVU trat nur in Brandenburg an, die NPD nur in Sachsen. Das Abschneiden der DVU bei der baden-württembergischen Kommunalwahl am 13. Juni 2004 nimmt sich gegen den späteren Erfolg in Brandenburg äußerst bescheiden aus. Nur der Kreisverband Konstanz trat mit einer Liste an, die bei der Gemeinderatswahl in Singen/Hohentwiel 1,97 Prozent (1999: 1,79 Prozent) der Wählerstimmen errang. 193 NZ Nr. 33 vom 6. August 2004, S. 1. 194 NZ Nr. 11 vom 5. März 2004, S. 1. 195 NZ Nr. 10 vom 27. Februar 2004, S. 1. 152 Rechtsextremismus 5.4 "Deutsche Partei - Die Freiheitlichen" (DP) Gründung: 1993 Sitz: Bad Soden/Hessen Mitglieder: ca. 60 Baden-Württemberg (2003: ca. 50) ca. 500 Bund (2003: ca. 500) Publikation: "Deutschland-Post" Organisation und Aktivitäten Der frühere hessische FDP-Landtagsabgeordnete Dr. Heiner KAPPEL aus Bad Soden/Hessen führt seit 2001 die "Deutsche Partei - Die Freiheitlichen" (DP) als Bundesvorsitzender. Das Parteiorgan der DP, die Publikation "Deutschland-Post", erscheint zehnmal jährlich. Nach eigenem Bekunden der Partei existieren in nahezu allen Bundesländern Landesverbände. Der baden-württembergische Landesverband wurde erst 2003 aus der Taufe gehoben. Die Gründung weiterer Untergliederungen vollzieht sich aber weiterhin nur zögerlich, was mit einer auffallenden Mitgliederschwäche einhergeht. So verfügt der Landesverband Baden-Würtorganisatorische temberg noch immer kaum über Kreisverbände und über nur wenige MitSchwäche im glieder. Nicht zuletzt auf diese Strukturund Mitgliederschwäche dürfte Land zurückzuführen sein, dass die DP in Baden-Württemberg selbst anlässlich des Europaund Kommunalwahlkampfs nur wenige Aktivitäten entfaltete und auch darüber hinaus kaum Parteiveranstaltungen durchführte. Als einzige überregionale Veranstaltung von Bedeutung hielt die DP im Hinblick auf die Europawahl am 24. Januar 2004 in Fulda einen Bundesparteitag ab. Wahlen Das desolate Abschneiden der DP bei der Europawahl am 13. Juni 2004 (0,2 Wahlniederlage Prozent) und bei der saarländischen Landtagswahl am 5. September 2004 (0,1 Prozent) stellt zum wiederholten Male unter Beweis, dass die DP als Wahlpartei bisher keine Rolle spielt. Bei den anderen Landtagswahlen des Jahres 2004 trat die DP erst gar nicht an. Die am 13. Juni 2004 in Baden-Württemberg abgehaltenen Kommunalwahlen brachten der DP einen bescheidenen, wenn auch überraschenden Achtungserfolg, der jedoch die schweren Niederlagen auf Europaund Landesebene nicht kompensieren kann. In Herbrechtingen/Krs. Heidenheim konnte die DP einen Gemeinderatssitz erringen. 153 Die Bemühungen der DP um eine Einigung des zersplitterten rechtsextremistischen Lagers Auch im Jahr 2004 lehnte die DP jede Abgrenzung gegen andere Rechtsextremisten ab. Sie strebte vielmehr weiterhin danach, die Zersplitterung keine des rechtsextremistischen Lagers zu überwinden. So kam es gemäß der LeitAbgrenzung zu linie "Wir grenzen keinen mehr aus, um uns selber nicht einzugrenzen"196 anderen Rechtsim Vorfeld der Europawahl zu einer Zusammenarbeit zwischen der DLVH extremisten und der DP. Via Internet bedankte sich die baden-württembergische DPVorsitzende Jutta RETZ, Abstatt/Krs. Heilbronn, unter anderem bei einem führenden DLVH-Funktionär für seine Mithilfe bei der Beschaffung der notwendigen Unterstützungsunterschriften, die zur Wahlteilnahme berechtigten: Er habe "sein über ganz Deutschland verbreitetes Mitglieder-Netzwerk" für die DP "überzeugend aktiviert".197 Gerade aber angesichts des Europawahlergebnisses machte sich im DPBundesvorstand - zumindest vorübergehend - Ernüchterung breit. Wieder einmal waren zu einer Wahl drei rechtsextremistische Parteien (REP, NPD und DP) angetreten, von denen noch dazu die DP mit Abstand am schwächsten abgeschnitten hatte. Unter diesem Eindruck wurde auf einer DP-Bundesvorstandssitzung am 18. Juli 2004 ein "Positionspapier" verabschiedet, das das Scheitern der eigenen Bemühungen um eine geeinte rechtsextremistische Partei eingestand.198 Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die DP von jeder Form der Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Organisationen verabschiedet hätte. So traten in der Folgezeit führende DP-Funktionsträger immer wieder Gerüchten entgegen, es existiere ein Abgrenzungsbeschluss der Partei gegenüber anderen Rechtsextremisten. Auch Dr. KAPPEL verlieh seinen Hoffnungen auf eine einheitliche rechtsextremistische Partei öffentlich Ausdruck. Er rief auf einer Veranstaltung des baden-württembergischen DP-Landesverbands aus Anlass des 15. Jahrestages der Wiedervereinigung am 1. Oktober 2004 in Neckarsulm "zur Zusammenarbeit", aber auch zum "Zusammenschluss aller patriotischen Parteien unter neuem Namen und neuem Programm, bis zur Bundestagswahl 2006" auf.199 Und auf einer DP-Bundesvorstandssitzung am 24. Oktober 2004 im sachsen-anhaltinischen Klieken wurde unter Bezug auf das zitierte "Positionspapier" folgender Beschluss gefasst: 196 "Deutschland-Post" Nr. 4/04 vom April 2004, Artikel "Geschafft, jetzt durchstarten!", S. 1. 197 Bericht "Der Startschuss für die Europawahl ist gefallen!" von Jutta RETZ, Homepage des DP-Landesverbands vom 13. April 2004. 198 Bericht "Deutsche Partei legt zukünftigen Kurs fest", Homepage der DP vom 26. Oktober 2004. 199 Bericht "Gedenken an den 15. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung", Homepage der DP vom 26. Oktober 2004, Übernahme wie im Original. 154 Rechtsextremismus "Die DEUTSCHE PARTEI macht wie bisher weiter, bleibt bei einem abgrenzungsfreien, partnerschaftlichen Kurs mit den anderen nationalen Parteien und wird in Zukunft Bündnisse, Wahlabsprachen und letztendlich als Ziel eine nationale Volksbewegung/Partei beibehalten. Einfach ausgedrückt: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Durch gemeinsame Veranstaltungen, Demonstrationen, Wahllisten usw. werden Hürden abgebaut, die der og. Gemeinsamen Rechten noch im Wege stehen."200 Angesichts dieser Stimmungsund Beschlusslage innerhalb der DP kann der Umgang der Partei mit der so genannten "Frankfurter Erklärung" nicht erstaunen. Es handelt sich bei der "Frankfurter Erklärung" um eine "Frankfurter "Gemeinsame Erklärung" von Dr. KAPPEL und den Bundesvorsitzenden Erklärung" zweier anderer Parteien, darunter demjenigen der REP, Dr. SCHLIERER. Der Erklärung zufolge hatten diese drei Personen Ende Oktober 2004 in Frankfurt am Main "eine engere Zusammenarbeit ihrer Parteien vereinbart". Es wurde die "Absicht" bekundet, "zusammen mit weiteren Parteien zu einer engen Kooperation und zu gemeinsamen Wahlkampfantritten zu kommen. Ziel der Kooperation" sei, "eine seriöse und demokratische Alternative zu den Bundestagsparteien rechts von der Union zu etablieren." Die Erklärung enthielt auch ein "Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zur Erhaltung unseres Staates." Gleichzeitig wurde in der über die REP-Internetseite verbreiteten Variante der Erklärung eine "Kooperation mit NPD/DVU oder einer nationalen Volksfront" ausgeschlossen: "Vielmehr wolle man deutlich machen, dass es im Gegensatz zu der Volksfront von NPD/DVU und Neonazis auch eine ernstzunehmende verfassungskonforme Gruppierung geben werde, die im Bewusstsein um die patriotische Verantwortung auf die deutsche Politik Einfluss nehmen wolle."201 Der rechtsextremistische Charakter der DP offenbart sich schon allein darin, dass die Variante der "Frankfurter Erklärung", die über die Internetseite der DP verbreitet wurde, ausgerechnet um die Passagen gekürzt wurde, in denen die REP-Version - im Versuch, ihre Verfassungskonformität 200 Bericht "Keine Abgrenzungsbeschlüsse", Homepage der DP vom 14. November 2004, Übernahme wie im Original, Kursivschrift auch im Original. 201 Pressemitteilung Nr. 51/04 der REP-Bundesgeschäftstelle vom 1. November 2004, REP-Homepage vom 14. November 2004. 155 zu dokumentieren - eine klare Abgrenzung von NPD, DVU und Neonazis innerparteiliche vornimmt.202 Zudem wurde auf einer DP-Bundesvorstandssitzung am Differenzen 21. November 2004 in Fulda ein Beschluss gefasst, wonach eine "Mehrheit" des Bundesvorstands die Erklärung ablehnte. Begründet wurde die Ablehnung damit, dass die Erklärung "nur zu einer weiteren Spaltung des patriotisch-freiheitlichen Parteiengefüges" führe und "die Chancen für die nationalen Parteien, im Jahr 2006 unter einer gemeinsamen Liste in den Bundestag einzuziehen", verringere.203 6. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 6.1 Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in Baden-Württemberg: "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag" Der 1953 von Dr. Herbert GRABERT in Tübingen gegründete "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" firmiert seit 1974 unter dem Namen "GRABERT-Verlag". GRABERTs Sohn Wigbert übernahm 1972 die Verlagsleitung und nach dem Tod des Vaters 1978 auch die alleinige Geschäftsführung. Der Verlag ist heute einer der größten organisationsunabhängigen rechtsextremistischen Verlage in Deutschland. Zum "GRABERT-Verlag" Tochtergehören eine Reihe von Tochterunternehmen, darunter der "Hohenrainunternehmen Verlag" (gegr. 1985) und die Versandfirma "Media-Service" (gegr. 1998), die Wigbert GRABERTs Sohn leitet. Die "GRABERT-Versandbuchhandlung" vertreibt neben Produkten aus dem "GRABERT-" und dem "Hohenrain-Verlag" auch Bücher anderer rechtsextremistischer Verlage. Die Mitglieder des "Deutschen Buchkreises" können die Veröffentlichungen der beiden Verlage unter bestimmten Bedingungen ermäßigt beziehen. "GRABERT-" und "Hohenrain-Verlag" bieten relativ umfangreiche Verlagsprogramme an, mit denen sie die ganze Bandbreite von Themenfeldern bedienen, die für den Rechtsextremismus von politisch-ideologischer Bedeutung sind, zum Beispiel Antiamerikanismus, Geschichtsund Gebietsrevisionismus. Mehrfach wurden bereits Bücher aus den Verlagsprogrammen wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfens Verstorbener einge202 Pressemitteilung von Dr. Heiner KAPPEL vom 2. November 2004, DP-Homepage vom 14. November 2004. 203 Pressemitteilung "Keine Zustimmung zur Frankfurter Erklärung" vom 21. November 2004, DP-Homepage vom 22. November 2004. 156 Rechtsextremismus zogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert. Seit 2004 sind beide Verlage mit eigenen Seiten im Interneuer net vertreten. Internetauftritt Wigbert GRABERT gibt (laut Impressum in Zusammenarbeit mit dem aber faktisch inexistenten "Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte") die pseudowissenschaftlich aufgemachte, vierteljährlich erscheinende Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" (DGG) heraus. Sie bedient auf 50 Seiten dieselben Themenfelder wie die Bücher des "GRABERT-" und des "Hohenrain-Verlags". Das alle zwei Monate erscheinende Informationsblatt "Euro-Kurier - Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten" beschäftigt sich mit der Situation der beiden Verlage, weist auf Neuerscheinungen hin und verbreitet rechtsextremistische Inhalte. So war die (verkürzte) August-Nummer 2004 als "Sondernummer" aufgemacht, die weitgehend aus grotesken antiamerikanischen und antifreimaurerischen Verschwörungstheorien bestand. 6.2 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) Der 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründeten "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) gehören bundesweit rund 450 Mitglieder (2003: 480) an, darunter in erster Linie rechtsextremistische Verleger, Redakteure, Publizisten und Buchhändler. Damit ist sie die mitgliederstärkste rechtsextremistische Kulturvereinigung in Deutschland. Zu den circa 40 in Baden-Württemberg ansässigen Mitgliedern zählt auch der GFP-Vorsitzende Dr. Rolf KOSIEK aus Nürtingen. Die GFP sieht ihre Aufgabe darin, "sich für die Freiheit und Wahrheit des Wortes einzusetzen"204, wobei sie unterstellt, dass Freiheit und Wahrheit - beispielsweise auf dem Gebiet der Zeitgeschichtsforschung - in Deutschland unterdrückt würden. "Das Freie Forum", das Mitteilungsblatt der GFP, erscheint vierteljährlich. Unter dem Motto "Die neue Achse - Europas Chancen gegen Amerika" führte die GFP vom 23. bis 25. April 2004 im thüringischen Friedrichsroda Kongress ihren alljährlich stattfindenden "Deutschen Kongress" durch. Die Teil204 Vorstand der Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) e. V. (Hrsg.): "Die neue Achse - Europas Chancen gegen Amerika. Kongress-Protokoll 2004. Veröffentlichungen der Gesellschaft für Freie Publizistik XX", 2004, S. 149. 157 nehmerzahl lag nach Angaben der GFP bei etwa 280205 und somit relativ deutlich über der des Vorjahres (circa 180). 6.3 "Freundeskreise 'Ein Herz für Deutschland'" Unter der Bezeichnung "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland'" agieren im Land zwei eigenständige rechtsextremistische Gruppierungen, die jedoch gute gegenseitige Kontakte unterhalten. Während der "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Stuttgart" (HfD) nur durch monatliche Vortragsveranstaltungen mit geringer Öffentlichkeitswirkung auffällt, verfügt der 1989 ursprünglich als Vorfeldorganisation der NPD gegründete, mittlerweile aber parteiund organisationsübergreifende "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e.V." (FHD) bereits seit Jahren über eine feste Organisationsstruktur und rund 50 Mitglieder. Immer wieder führt der FHD im Raum Pforzheim Veranstaltungen mit teilweise bundesweit bekannten Rechtsextremisten durch. So veranstaltete er am 2. Oktober überregionale 2004 einen "Liederund Konzertabend" in einem Vereinsheim in NieVeranstaltung fern/Enzkreis. Zeitweise nahmen daran bis zu 350 Rechtsextremisten aus ganz Baden-Württemberg und anderen Teilen Deutschlands teil, darunter vor allem Skinheads, aber auch Neonazis und Angehörige rechtsextremistischer Parteien. Neben dem rechtsextremistischen Liedermacher Frank RENNICKE traten noch zwei rechtsextremistische Skinbands auf. 7. Internationale Verflechtungen des Rechtsextremismus 7.1 Allgemeines Immer wieder tun sich im Verhältnis zwischen Rechtsextremisten unterschiedlicher Nationalität ideologische Gräben auf, die eine ZusammenarKontakte trotz beit von vornherein ausschließen, zum Beispiel, wenn gegenseitige nationaideologischer listische oder rassistische Ressentiments aufeinanderprallen. Dennoch pfleDifferenzen gen deutsche Rechtsextremisten aus dem Parteienbereich sowie aus dem Neonaziund Skinheadspektrum Kontakte zu ausländischen Gesinnungsgenossen.206 Für die baden-württembergischen Rechtsextremisten sind schon aus geographischen Gründen die Beziehungen nach Österreich und in die Schweiz, die vielen großdeutsch orientierten Rechtsextremisten ohnehin nicht als Ausland gelten, sowie nach Frankreich von Bedeutung. 205 "Das Freie Forum" Nr. 2 vom April/Mai/Juni 2004, Artikel "Bericht vom Jahreskongress 2004", S. 1. 206 Zur Motivation dieser Kontakte vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2003, S. 186f. 158 Rechtsextremismus Als Indikator für den Erfolg, den deutsche Neonazis bei ihren Bemühungen um Kontakte zu ausländischen Gesinnungsgenossen erzielen, kann die internationale Beteiligung am "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" am 21. August internationale 2004 in Wunsiedel gewertet werden. Die auf der Veranstaltung mitgeführBeteiligung am ten Transparente und Nationalflaggen sowie die gehaltenen Grußworte las"Heß"-Marsch sen auf die Teilnahme von Rechtsextremisten aus mindestens zwölf euro2004 päischen Ländern (inklusive Deutschland) schließen, darunter aus solchen (zum Beispiel Russland, Tschechien), die während des Zweiten Weltkrieges massiv unter der militärischen Aggression und dem Besatzungsterror des nicht zuletzt durch Rudolf Heß symbolisierten NS-Regimes zu leiden hatten. Gleichzeitig wird dieser Erfolg zumindest zum Teil von manchen deutschen Neonazis gar nicht als solcher gesehen, weil sie gegen einige der auf der Veranstaltung vertretenen Nationalitäten (zum Beispiel Tschechen) massive ideologische Vorbehalte hegen. Sie würden am liebsten an deren zukünftige Teilnahme Bedingungen knüpfen, die einer Ausladung dieser ausländischen Rechtsextremisten gleichkämen. Dies ist nur ein markantes Beispiel für die Grenzen, die ideologischer Fanatismus der internationalen Verflechtung im Bereich Rechtsextremismus setzen kann. 7.2 Geschichtsrevisionismus207 Internationalität und weltweite Vernetzung sind Hauptcharakteristika der weltweite internationalen Geschichtsrevisionistenszene, deren deutsche, britische, Vernetzung amerikanische, französische oder schweizerische Protagonisten ihre Thesen hauptsächlich über das Internet verbreiten, da sie sich hier vor Strafverfolgung sicher fühlen.208 Einer der einflussreichsten deutschen Holocaustleugner und eine zentrale Figur der internationalen Geschichtsrevisionistenszene ist der Diplom-Chemiker Germar RUDOLF. Er wurde 1995 wegen Erstellung und Verbreitung des 1992 erschienenen "RUDOLF-Gutachtens" vom Landgericht Stuttgart zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten ohne Bewährung verurteilt. In seinem Gutachten hatte RUDOLF mit pseudowissenschaftlichen Argumenten die Judenvernichtung mittels Zyklon B in Auschwitz geleugnet. Er entzog sich der Strafverbüßung im April 1996 durch Flucht ins Ausland und wird seitdem per Haftbefehl gesucht. Nach Aufenthalten in Spanien, England 207 Zur Definition vgl. Kap. 1.3, S. 118. 208 Laut einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 macht sich jedoch auch in Deutschland strafbar, wer eigene Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des SS 130 Abs. 1 oder des SS 130 Abs. 3 StGB erfüllen ("Auschwitz-Lüge") und die konkret zur Friedensstörung im Inland geeignet sind, auf einem ausländischen, aber Internetnutzern in Deutschland zugänglichen Server in das World Wide Web einstellt. 159 und Mexiko lebt er heute in den USA. RUDOLF ist Eigentümer des englischen Verlags "Castle Hill Publishers" und des US-amerikanischen Verlags "Theses and Dissertations Press", in denen deutschsprachige beziehungsweise englischsprachige geschichtsrevisionistische Bücher publiziert werden. Zudem fungiert er als Herausgeber der deutschsprachigen revisionistischen Zeitschrift "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" und der englischsprachigen Zeitschrift "The Revisionist". Maßnahmen in Auf Beschluss des Amtsgerichts Mannheim vom 18. August 2004 wurde das Badendeutsche Geschäftskonto RUDOLFs bei der Volksbank Heidenheim Württemberg gepfändet. Nach Feststellungen der Ermittlungsbehörden gingen auf dem Konto seit der Eröffnung am 27. Dezember 2000 bis zum 20. Juli 2004 Zahlungen in Höhe von über 380.000 Euro ein, die überwiegend aus dem Verkauf der Schriften aus RUDOLFs Verlagsbeständen herrührten. 8. Theorieund Strategiebildung im deutschen Rechtsextremismus Nach wie vor sieht sich der Rechtsextremismus in Deutschland mit zwei Probleme schwerwiegenden Problemen konfrontiert: zum einen ist die Szene organisatorisch zersplittert, zum anderen fehlen ihr in weiten Teilen ideologischtheoretische Grundlagen und Homogenität.209 Bereits seit Jahren versuchen einige rechtsextremistische Zirkel und Periodika, aber auch einzeln agierende rechtsextremistische Intellektuelle, diese Defizite anzugehen. Sie streben an, die Szene auf breiter Front mit einem möglichst einheitlichen ideologischen und intellektuellen Rüstzeug auszustatten, um damit in der Konsequenz auch der organisatorischen Zersplitterung entgegenzuwirken. Derartige Versuche sind bisher freilich meistens gescheitert. Als Beispiele für aktive Gruppierungen beziehungsweise Fortbildungseinrichtungen, die sich der rechtsextremistischen Theorieund Strategiebildung widmen, sind das "Deutsche Kolleg" (DK) und die "Deutsche Akademie" (DA) zu nennen. Das DK, das als Kontaktadresse ein Postfach in Würzburg angibt, wurde 1994 "Denkorgan des in Berlin gegründet und bezeichnet sich selbst als "Denkorgan des DeutDeutschen schen Reiches".210 Es verbreitet über seine Internet-Homepage und SchuReiches" lungsveranstaltungen die rechtsextremistischen Thesen seiner drei Protagonisten Dr. Reinhold OBERLERCHER, Horst MAHLER und Uwe MEENEN. 209 Zu den Gründen dafür vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2003. 210 DK-Homepage vom 20. Oktober 2004. 160 Rechtsextremismus Die DA verfügt auch über eine eigene Internetseite und firmiert unter einer Postfachadresse in Kaiserslautern. Sie führt an verschiedenen Orten in SeminarDeutschland nach eigenen Angaben "mehrmals im Jahr Wochenend-Semiangebote nare zu unterschiedlichen Themen durch."211 Über die Internetseite der DA bietet auch Jürgen SCHWAB seine "Seminarreihe Politische Theorie" an, die sich in jeweils circa vierstündige Seminare gliedert. Dieses Angebot wurde seit dem Frühjahr 2004 von der "Kameradschaft Karlsruhe" zu einer von ihr selbst so bezeichneten "regionale[n] Bildungsoffensive 2004 in Karlsruhe"212 genutzt. Im Laufe des Jahres veranstaltete sie im Raum Karlsruhe mindestens drei Seminare mit SCHWAB als Referent.213 Aktivitäten in BadenEin in seiner Struktur dem DK und der DA ähnlicher Zirkel hat sich im Württemberg August 2000 in Baden-Württemberg gegründet: die "Deutsche Studiengemeinschaft" (DSG) mit Postfachadresse in Leonberg. Durch die Selbstcharakterisierung als "parteipolitisch ungebunden" und als "überparteiliche Initiative von unabhängigen Persönlichkeiten", die "keinerlei parteipolitische Ziele" verfolge, sondern bezwecke, "durch gegenseitige Information und gemeinsame Studien politische Problemstellungen zu untersuchen und inhaltliche Schlussfolgerungen zu erarbeiten sowie den Meinungsbildungsprozess zu unterstützen", versucht sich die DSG auf ihrer Internetseite als moderate weltanschaulich neutral und seriös darzustellen. Dadurch unterscheidet sie Außendarstellung sich von DK und DA, die ihre rechtsextremistische Ausrichtung nicht einmal oberflächlich verhehlen. Die DSG bildet "Studienkreise", die sich mit einzelnen Fragestellungen gezielt befassen und teils so unverdächtige Titel tragen wie "Die staatliche Finanz[-] und Schuldenpolitik". Entgegen dieser harmlos anmutenden Selbstdarstellung sitzen im DSG-"Führungsgremium" auch einschlägige Rechtsextremisten. Zudem sind auf der DSG-Internetseite Texte eingestellt, die typisch rechtsextremistische (zum Beispiel gebietsrevisionistische) Positionen vertreten.214 Außerdem gibt die DSG die "Schriftenreihe der Deutschen Studiengemeinschaft" und ein Heft mit dem Titel "Informationsdienst der Deutschen Studiengemeinschaft (DSG)" heraus. Zirkel wie DK, DA und DSG agieren vorwiegend über Seminare, Vorträge, das Internet und dort abrufbare Positionsund Strategiepapiere, aber weniger oder gar nicht über Printpublikationen. Daneben unterstützen aber auch einige Periodika die Intellektualisierungsbemühungen der rechtsextre211 DA-Homepage vom 19. Oktober 2004. 212 NIT-Ansage vom 19. März 2004, Homepage der "Karlsruher Kameradschaft" vom 19. Oktober 2004. 213 NIT-Ansagen vom 12. März, 19. März, 7. Mai und 24. Juni, Homepage der "Karlsruher Kameradschaft" vom 19. Oktober 2004. 214 DSG-Homepage vom 19. Oktober 2004. 161 Printmistischen Szene, wie am Beispiel der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimpublikationen me" an anderer Stelle schon ausgeführt wurde. Ein weiteres wichtiges Beispiel dafür ist das älteste, in der Regel monatlich im bayerischen Coburg erscheinende rechtsextremistische Strategieund Theorieorgan "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE" (NE). Die NE erscheint seit 1951. Ihre Auflage beträgt 20.000 Exemplare. Darüber hinaus verfügt sie über eine eigene Homepage im Internet. Neben den bereits genannten Zeitschriften und weiteren hier nicht näher beschriebenen Publikationen, die eindeutig dem rechtsextremistischen Spektrum zuzurechnen sind, existiert eine Zeitung, die Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF), deren ideologische Einordnung weniger eindeutig und die daher seit Jahren immer wieder Diskussionsgegenstand im politisch-parlamentarischen Raum und in den Medien ist. Festzuhalten bleibt, dass etliche Beiträge in den Ausgaben des Jahres 2004 - wenn auch mehrheitlich in den Ausgaben des 1. Halbjahres - tatsächliche Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen enthalten. Daneben sind in der JF eine ganze Reihe von Anzeigen für rechtsextremistische Organisationen und Publikationen zu finden. Als Beispiel sei hier die vom rechtsextremistischen "Freundeskreis Unabhängige Nachrichten e.V." herausgegebene Monatszeitschrift "Unabhängige Nachrichten" (UN) genannt. In den UN wird unter anderem antisemitisch und ausländerfeindlich agitiert, geschichtsrevisionistisches Gedankengut vertreten und der deutsche Staat und seine Repräsentanten diffamiert. Die JF muss also weiterhin als ein wichtiges publizistisches Bindeglied zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsextremistischen Spektrum angesehen werden. Sie bietet einzelnen rechtsextremistischen Autoren ein Forum, während es ihr gleichzeitig seit Jahren immer wieder gelingt, namhafte demokratische Vertreter aus Medien, Politik und Wissenschaft für Interviews zu gewinnen. 162 Rechtsextremismus 9. Aktionsfelder 9.1 Rechtsextremistische Positionen zu den aktuellen Krisenund Reformdebatten Spätestens seit 2003 deutete sich an, dass die Krise der öffentlichen Haushalte, der Sozialsysteme und die stagnativen bis rezessiven Wirtschaftsdaten mit allen ihren Folgewirkungen (insbesondere für den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat) ihren massiven Niederschlag in der rechtsextremistischen Propaganda finden würden. Mittlerweile sind die Themenkomplexe "Krise und Reform" im Allgemeinen und "'Agenda 2010' und 'Hartz IV'" im Speziellen zu den wichtigsten Aktionsfeldern des deutschen Rechtsextremismus geworden. Das schlägt sich nicht nur in einschlägigen rechtsextremistischen Publikationsorganen nieder, sondern auch in themenspezifischen Internetseiten und Aktionen bis hin zu eigenen rechtsextremistischen "Montagsdemonstrationen". Rechtsextremisten führen also einen eigenen Krisenbeziehungsweise Reformdiskurs und bemühen sich darum, über diesen Themenkomplex an gesamtgesellschaftliche Diskussionen anzudocken, in der Mehrheitsgesellschaft an Ziele: Akzeptanz zu gewinnen, so die eigene Isolation aufzubrechen und vielleicht gesellschaftliche sogar Bündnispartner außerhalb des eigenen ideologischen Ghettos zu werAkzeptanz und ben. Es handelt sich damit auf den ersten Blick nicht um ein Thema aus der Gewinnung von Gruppe der rechtsextremistischen "Klassiker", sondern um ein tendenziell Bündnispartnern neues Thema, mit dem Rechtsextremisten nicht nur grundsätzliche ideologische Positionen, sondern auch strategische Optionen verbinden. Ein genauerer Blick offenbart aber, dass Rechtsextremisten auf diesem neuen Aktionsfeld keine neuen Positionen entwickeln. Vielmehr entpuppen sich ihre Beiträge zur Krisenund Reformdebatte als Wiederauflage althergebrachter rechtsextremistischer Feindbildbestimmungen, Deutungsmuster, Vorstellungen und Forderungen, die nunmehr als Krisenerklärung beziehungsweise Reformvorschläge herhalten sollen. An erster Stelle ist der entschieden ausländerfeindliche Akzent zu nennen, Ausländerder auch diesen neuen Teil der rechtsextremistischen Agitation kennzeichfeindlichkeit net. Rechtsextremisten versuchen immer wieder, die Engpässe in den deutschen Staatsund Sozialkassen vorrangig auf die Leistungen an in Deutsch163 land lebende Ausländer zurückzuführen. Dabei wird auch der pauschale Vorwurf gegen "die" Ausländer erhoben, sich Leistungen des deutschen Staates betrügerisch zu erschleichen. Einige rechtsextremistische Kommentatoren gehen noch einen Schritt weiter, indem sie einer multikulturellen Gesellschaft, als die sie auch Deutschland aufgrund des aus ihrer Sicht viel zu hohen Ausländeranteils betrachten, generell eine hohe Krisenanfälligkeit attestieren und jede Reformfähigkeit absprechen. Dazu sei nur eine ethnisch homogene, auf einen Willen und ein Ziel ausgerichtete, also antipluralistische "Volksgemeinschaft" fähig. Auch jedwede Zahlung an das Ausland und an internationale Organisationen, in denen Deutschland seine Mitgliedspflichten erfüllt (EU, UN, NATO), wird von Rechtsextremisten abgelehnt und für die heimischen Finanzkrisen verantwortlich gemacht. Allerdings spiegelt sich hierin weniger rechtsextremistische Ausländerfeindlichkeit als vielmehr rechtsextremistiNationalismus scher Nationalismus wider, aus dessen Warte die Relativierung des Nationalstaates durch Einbindung in internationale Verflechtungen eine Fehlentwicklung darstellt. angebliche Rechtsextremisten sehen das deutsche Volk jedoch nicht nur in einer matepsychologische riellen, sondern vor allem in einer mentalen, moralischen und psychologiKrise des schen Krise, von der die Strukturund Konjunkturkrisen nur Folgen und deutschen Volkes sichtbarer Ausdruck seien. So behauptete im Februar 2004 ein Autor in der "Deutschen Stimme", in Deutschland sei eine "Geldverschwendung" festzustellen (zum Beispiel zugunsten von "Scheinasylanten", EU, NATO, UN), die "aus Fremdentümelei, Auslandshörigkeit, Sühnegeilheit und Parteidenken" resultiere. Die "wahren Gründe der Sozialstaatspleite" bestünden demnach in einem von den Deutschen - so suggeriert der Autor - zum Prinzip erhobenen "perverse[n] Vorrang des Auslandes vor dem eigenen Land".215 Hinter solchen Behauptungen verbirgt sich die traditionelle rechtsextremistische Kritik an den fundamentalen Wandlungen der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Wertekanons, die seit 1945 in verschiedenen Schüben in Deutschland vollzogen worden sind. Unter den - aus rechtsextremistischem Munde abwertenden - Schlagworten "Umerziehung", "Frankfurter Schule"216 und "68" werden diese gesellschaftlichen Veränderungen seit Jahrzehnten von Rechtsextremisten bekämpft, was in der 215 DS Nr. 2 vom Februar 2004, Artikel "Sozialstaat: Kahlschlagpolitik gegen das Volk - Die 'Reformen' der Herrschenden beginnen zu wirken", S. 1 und 4, hier: S. 4. 216 Bezeichnung für den Kreis von Sozialund Kulturwissenschaftlern um Max Horkheimer und das Frankfurter Institut für Sozialforschung sowie die hier entwickelten, von Karl Marx und Siegmund Freud bestimmten soziologisch-philosophischen Lehren. 164 Rechtsextremismus Gegenwart darin seinen Ausdruck findet, dass sie für die aktuellen Krisen verantwortlich gemacht werden. Besonders das aus rechtsextremistischer Sicht durch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation und Geschichte, so behauptet nicht nur die im rechtsextremistischen Tübinger "GRABERT-Verlag" erscheinende Vierteljahreszeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" (DGG), führt zu kollektiver Depression, Perspektivund Orientierungslosigkeit, nationalem Selbsthass und Identitätsverlust, genusssüchtiger Oberflächlichkeit und in letzter Konsequenz zu den materiellen Krisen der Gegenwart: "Eine solche Vergatterung auf eine von Leid und Tod geprägte Vergangenheit kann ein Volk nicht frei und zukunftsfroh stimmen, hinter ihr lauert der Untergang. (...) 'Trauerarbeit', 'Vergangenheitsbewältigung', 'Erinnerungsverpflichtung' und 'Mahnmalkult' bestimmen - sich ablösend - seit bald 60 Jahren das geistige Klima, in dem die Deutschen leben müssen. Die Kriegsgeneration hat sich zwar zunächst in die Aufbauarbeit gestürzt und den psychologischen Angriff lange missachtet, aber die schon vor Kriegsende entworfenen Praktiken der Re-Education und dann - als Teil davon - das Wirken der 'Frankfurter Schule' brachten die Deutschen schließlich doch um den Rest ihres Selbstgefühls. Mehrere Wellen der Vergangenheitsbewältigung machten sie kleinlaut und geschichtslos. (...) Sehen wir uns um! Das 'Volk der Täter' versucht, das Amerikanische als neue Identität anzunehmen. Es ahmt die Sprache und den Stil der Amerikaner nach. Es betet deren Idole an: Geld und Klamauk. Doch in dem Maße, wie Geld und Spaßbetrieb das Bewusstsein der Deutschen betäuben, schwinden ihr Leistungswille und der Selbstbehauptungswille. Außerdem sehen sie keinen Lebensinhalt, der über sie hinausweist: Ihr Volk, das der Täter, kann gut auch aussterben! Das vorläufige Endergebnis der seelischen Erschlaffung ist ein Zustand der Beliebigkeit und Desorientierung, der sich im Treiben einer verwahrlosten Jugend am deutlichsten ausdrückt. 165 Aus diesen Wirkungen ist ein Übelstand erwachsen, der handgreiflich ist und Reformen unumgänglich macht."217 Nach Ansicht eines Kommentatoren in der "Deutschen Stimme" hat sich die "Umerziehung" besonders drastisch auf die politischen Verantwortungsträger in Deutschland ausgewirkt, sie zu vom deutschen Volk entfremdeten Internationalisten und somit reformunfähig gemacht. Dieser Kommentator geht noch einen Schritt weiter als der Autor in "Deutschland in GeschichGeschichtste und Gegenwart" und leugnet die NS-Verbrechen explizit, womit er den revisionismus Themenkomplex "Krise und Reform" zum reinen Anlass für geschichtsrevisionistische Äußerungen degradiert: "(...) alle diese zerstörerischen Zeiterscheinungen sind nicht zufällig vom Himmel gefallen, sondern wurzeln in der Tatsache, dass es den Politikern der Bundestagsparteien an Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem eigenen Volk mangelt. Als bedauerliche Umerziehungsopfer jahrzehntelanger antideutscher Exzesse in Schulen und Massenmedien sind sie heute schlichtweg unfähig, die Interessen des deutschen Volkes zu vertreten! Wie soll man sonst erklären, dass sie einerseits infolge leerer Haushaltskassen den Steuerzahlern immer neue Lasten aufbürden, andererseits aber skrupellos Hunderte Milliarden Euro zum Fenster hinauswerfen, um abenteuerliche und teilweise unverschämte Forderungen von jenseits unserer Grenzen großzügig zu befriedigen und mit dem weltweit spendabelsten Versorgungssystem für Ausländer ein Massenheer von Scheinasylanten anzulocken. (...) Die täglich vorgetragenen Schmutzund Lügenmärchen über die geschichtlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zu einer lebensbedrohlichen Lähmung des deutschen Selbstbehauptungswillens geführt. Zweifellos liegt die tiefere Ursache für alle Übel unserer Zeit in der jahrzehntelang schamlos verbreiteten Kriegsschuld-Lüge, weil die 217 DGG Nr. 1 vom März 2004, Artikel "Zur Lage Deutschlands", S. 2-4, hier: S. 2. 166 Rechtsextremismus Politiker unter dem Trommelfeuer dieser Kampagnen nicht wagten, den anmaßenden und hemmungslosen Forderungen aus London, Washington und Jerusalem zu widersprechen. So schlitterten wir zwangsläufig in den Staatsbankrott, und nur immer neue Schulden, Privatisierungstricks und Desinformationsberichte können von dem wahren Ausmaß der Katastrophe noch ablenken."218 Eine pauschale Schuldzuweisung an die Adresse der demokratischen Politipauschale Kritik ker markiert eines der konstantesten Motive des rechtsextremistischen an demokratiReformund Krisendiskurses. Als Beispiel dafür kann ein Flugblatt angeschen Politikern führt werden, mit dem eine "Initiative 'Für Volksgemeinschaft & Sozialstaat'" mit Postfach in Berlin, hinter der sich ein anlassbezogener Zusammenschluss verschiedener Neonazigruppen verborgen haben dürfte, zur Teilnahme an der Neonazi-Demonstration unter dem Motto "Deutsch bleibt das Land! Für Volksgemeinschaft & Sozialstaat" aufrief, die am 1. Mai in Leipzig stattfand. Es war an erster Stelle von Lars KÄPPLER219 unterzeichnet. Wörtlich heißt es dort in bemerkenswerter Unverblümtheit und Anlehnung an eine bekannte Anarchistenparole: "Allen deutschen Männern und Frauen, den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Leipzig bringen wir es am 1. Mai zu Gehör: 'Wer hat uns verraten? - Sozialdemokraten! Und wer schaut zu? - Die CDU!' Denn so lautet das Gebot der Stunde: Gnadenlose Sozialdemagogie!"220 Zahlreiche rechtsextremistische Kommentare versuchen, argumentativ eine Brücke zu schlagen von dem Aktionsfeld "Krise und Reform" hin zu dem für die rechtsextremistische Szene seit einigen Jahren immer wichtigeren Aktionsfeld "Globalisierungsgegnerschaft". Zu diesem Zweck gehen sie von der Prämisse aus, dass die Globalisierung mitoder sogar hauptverantwortlich sei für die Krisen in Deutschland. Anders als in demokratischen GlobalisierungsReformdiskursen, die zuweilen auch die Rolle der Globalisierung in diesem kritik und AntiKontext problematisieren, wird durch diesen Brückenschlag zugleich eine liberalismus Verbindung hergestellt zu dem rechtsextremistischen Gedankengebilde des Antiliberalismus. Denn der Liberalismus steht aus rechtsextremistischer Sicht an der Wiege der Globalisierung und der - von Rechtsextremisten 218 DS Nr. 4 vom April 2004, Artikel "Kommentar: Anschlag auf das Lebensrecht der Deutschen", S. 5. 219 Vgl. Kapitel 4.3. 220 Übernahme wie im Original. 167 konstruierten - dazugehörigen Ideologie des "Globalismus". Nach dieser Logik sind Globalisierung und "Globalismus" lediglich Ableitungen des Liberalismus. Die etablierten Parteipolitiker werden als durch die "Umerziehung" ideologisch hoffnungslos blockierte, "fanatische Befürworter der Globalisierung"221, aber auch als "Agenten der Globalisierung" und "Globalisierungs-Handlanger im BRD-Machtgefüge"222 hingestellt, die schon aus - so die Unterstellung - höchst egoistischen Gründen vom einmal eingeschlagenen, angeblich verhängnisvollen Weg nicht abweichen könnten: "Freilich können die Herrschenden nicht eingestehen, dass ihre eigene Globalisierungspolitik Ursache der gegenwärtigen Krise ist, würden sie damit doch die Hand, die sie füttert, abschlagen."223 Ausgehend von ihren Schuldzuweisungen an die Adresse "der" Ausländer wiederholen Rechtsextremisten ausländerpolitische Forderungen, die ihre ausländerfeindliche Propaganda seit Jahrzehnten bestimmen und die nun "Reformals rechtsextremistische "Reformkonzepte" recycelt werden. So heißt es in vorschläge" einem Flugblatt des neonazistischen "Aktionsbündnisses Rhein-Neckar", das Ende Mai 2004 in verschiedenen Städten des Dreiländerecks BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen, darunter auch in Mannheim, verteilt wurde und zum Teil aus wörtlichen Übernahmen von einer themenspezifischen, rechtsextremistischen Internetseite bestand: "Wir fordern einen kontinuierlichen Abbau der Ausländerbeschäftigung, durch die Besetzung jedes frei werdenden Arbeitsplatzes mit einem deutschen Arbeitnehmer und die Rückführung aller arbeitslosen [Nicht-EU-] Ausländer in ihre Heimatländer."224 Der NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT ging noch einen Schritt weiter und forderte, auch noch in Arbeit befindliche Ausländer auszuweisen: "Wir fordern, die hier arbeitenden und arbeitslosen Ausländer zurück in ihre Heimatländer zu bringen. 221 Beitrag "JN-Chef Rochow: Diskussion um Sozialabbau stellt einen unzulässigen Verteilungskampf zu Lasten der Sozialschwachen dar!", Homepage des JN-Bundesvorstands vom 21. Januar 2004. 222 DS Nr. 8 vom August 2004, Artikel "Sozialkrise: BRD wird an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen - Wo steht Deutschland 2004? Eine Lagebeurteilung zum Stand der Globalisierung", S. 6. 223 DS Nr. 7 vom Juli 2004, Artikel "'Agenda 2010', Teil II: Dem Staat neue Gestaltungsspielräume schaffen - Die Politik der Herrschenden dient ausschließlich der Klasse internationaler Kapitaleigner", S. 19, Übernahme wie im Original. 224 Übernahme wie im Original. 168 Rechtsextremismus Jeder beschäftigte Ausländer, der zurück in seine Heimat geht, macht einen Arbeitsplatz für Deutsche frei. Jeder ausländische Sozialhilfeempfänger, der nach Hause geht, liegt unserem Sozialversicherungssystem nicht mehr auf der Tasche."225 Derartige rechtsextremistische "Reformvorschläge" weisen letztlich alle mehr oder minder geradlinig auf ein viele Jahrzehnte altes Ziel deutscher Rechtsextremisten: Durch direkte Ausweisung beziehungsweise indirekte Verdrängung via sozialpolitische Deklassierung möglichst vieler Ausländer den Weg zu ebnen für eine ethnisch homogene deutsche "Volksgemeinschaft". Diese Einsparungen bei Ausländern und im Ausland - so suggeriert die rechtsextremistische Propaganda ihren deutschen Adressaten - wären so umfangreich, dass bei Deutschen gar nicht mehr eingespart, beispielsweise der Sozialstaat zwar für Ausländer, dann aber nicht mehr für Deutsche beschnitten werden müsste, sondern womöglich sogar noch aufgestockt werden könnte, frei nach dem Motto "Steuergeld ist genug da, wir müssen es nur an der richtigen Stelle ausgeben!"226. Hierin offenbart sich die nationalistisch-populistische Dimension, eben die "gnadenlose Sozialdemagogie" des rechtsextremistischen Krisenund Reformdiskurses, die über - häufig völlig überzogene - materielle Versprechungen versucht, die Deutschen für sich und gegen die von Einschnitten für alle Bevölkerungsgruppen bestimmten Reformkonzepte von Bundesregierung und demokratischer Opposition einzunehmen. Das Kernstück dieser Versprechungen aber bildet die Forderung nach einer finanziell großzügig geförderten "Bevölkerungspolitik". Sehen doch auch "BevölkerungsRechtsextremisten in der sinkenden Geburtenrate einen der Hauptgründe politik" für diverse Probleme in Deutschland. Von den vorsichtigen Vorschlägen demokratischer Politiker in Richtung "Bevölkerungspolitik", die sich des historischen Missbrauchs des Themas durch die NSund die SED-Diktatur bewusst sind, unterscheiden sich allerdings rechtsextremistische Forderungen im Grundsatz nicht nur dahingehend, dass sie darauf abzielen, nur die Zahl deutscher im Sinne von deutschstämmiger Kinder, nicht aber die Zahl der Kinder in Deutschland durch die vorgeschlagenen Maßnahmen zu erhöhen. Denn Ausländer und Deutsche ausländischer Abstammung sollen gerade nicht zu einer höheren Geburtenrate animiert werden. Zudem 225 DS Nr. 8 vom August 2004, Artikel "Quittung für 'Hartz IV' - Jetzt NPD!" von Udo VOIGT, S. 2. 226 UN vom Februar 2004, Artikel "Wir haben es satt!", S. 9-10, hier: S. 9. 169 spricht aus mancher rechtsextremistischen Äußerung in diesem Zusammenantifeministischer hang der Wille, das Thema "Bevölkerungspolitik" für einen antifeministiRollback schen Rollback zu instrumentalisieren, beispielsweise wenn Frauen durch materielle Anreize das Ausscheiden aus dem Berufsleben zugunsten der traditionellen Mutterrolle nahe gelegt werden soll. Letztlich, so legt die rechtsextremistische Analyse der Krisenursachen nahe, dürfe sich eine grundlegende Reformagenda in Deutschland nicht in konkreten Maßnahmen - zum Beispiel gegen Ausländer - und in materiellen Umverteilungen erschöpfen, sondern müsse auch die angeblichen geistigen Ursachen der Krise bekämpfen. Kurz: Deutschland müsse eine Abkehr von den fundamentalen Wandlungen der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Wertekanons der letzten Jahrzehnte und damit auch von Liberalismus, Globalisierung und "Globalismus" als vermeintlichen Krisenursachen vollziehen. Stattdessen solle die bundesdeutsche Gesellschaft (dann: deutsche "Volksgemeinschaft") auf rechtsextremistische "Werte" wie Nationalismus, Antiliberalismus oder "lebensrichtiges Menschenbild" ausgerichtet werden. Ein dergestalt "reformiertes" Deutschland wäre mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht mehr in Einklang zu bringen. Aber gerade Rechtsextremisten mit besonders hohem Fanatisierungsgrad wie den Neonazis und diversen NPD-Mitgliedern ist an einer evolutionären Reformpolitik im Rahmen des Grundgesetzes auch gar nicht gelegen, sondern an "Systemwechsel" einem politisch-revolutionären "Systemwechsel" von der freiheitlichen angestrebt demokratischen Grundordnung zu einer rechtsextremistischen "Volksgemeinschaft". Das stellt beispielsweise eine "Stellungnahme des JN-Bundesvorstandes zur aktuellen Reformproblematik und zur 'Agenda 2010' der Bundesregierung" in ihren Schlusssätzen in bemerkenswerter Offenheit klar, die zwar aus dem Mai 2003 stammt, aber einen über diesen Zeitpunkt hinaus relevanten Grundsatzcharakter aufweist und auch 2004 im Internet abrufbar war: "Wir Junge Nationaldemokraten als fundamentaloppositionelle Kraft wollen keine oberflächliche Reform des bundesrepublikanischen Sozialversicherungssystems. Wir Junge Nationaldemokraten haben die Notwendigkeit einer politischen Revolution erkannt. Nur durch eine Revolutionierung aller Bereiche der Politik und einer Verdrängung der liberalistischen Ideologie im national-revolutionären Sinne können die massiven Probleme unserer und 170 Rechtsextremismus zukünftiger Zeit wirklich überwunden werden. Nur der revolutionäre Nationalismus ist willens und in der Lage, die große politische Aufgabe anzugehen. Nur wir revolutionäre Nationaldemokraten können Deutschland retten."227 Derartig konsequent und offen verfassungsfeindliche Rechtsextremisten sind sich aber angesichts ihrer eigenen Schwäche im Klaren darüber, dass sie die von ihnen bereits seit Jahren beschworene "BRDigung" der Bundesrepublik höchstens dann bewerkstelligen könnten, wenn dieser Staat seine seit seiner Gründung und dem "Wirtschaftswunder" enorme Stabilität verliert. Unumwunden hieß es 2004 in einem in Villingen-Schwenningen Publikationen erscheinenden rechtsextremistischen Blatt: "Eine nationale Revolution hat aus Badendie völlig desolate politische, soziale und wirtschaftliche Lage zur VorausWürttemberg setzung."228 Da diese Rechtsextremisten jedoch die deutsche Gesellschaft als eine extrem genusssüchtige, materialistische und über materielle Konsumbefriedigung, nicht über ideelle Überzeugungen mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbundene Gesellschaft wahrnehmen, sehen sie die politisch-konstitutionelle Stabilität der Bundesrepublik in äußerster Abhängigkeit von ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit. Daher interpretieren sie die jetzigen Krisenerscheinungen als erste, aber vor diesem Hintergrund ernste Anzeichen einer ökonomischen und damit politischen Destabilisierung, die sie ausdrücklich begrüßen. Sie gehen davon aus, dass soziale Marktwirtschaft und freiheitliche demokratische Grundordnung als wechselseitig abhängige, bestimmende Elemente der Bundesrepublik in einer strukturellen, dem "System" innewohnenden und in seiner Dimension Existenz gefährdenden Krise stecken. Deshalb sei das "System" aus sich selbst heraus gar nicht mehr reformierbar und zumindest langfristig dem Untergang geweiht. Es stellt sich aus diesem Blickwinkel also weniger die Reformals vielmehr die Systemfrage. Diese Wunschvorstellungen tauchen auch in verschiedenen Texten auf, die sich mit der neonazistischen BDVG und deren - mittlerweile ehemaligen - Bundesleiter KÄPPLER in direkte Verbindung bringen lassen. Sie alle belegen, dass das Konzept der "gnadenlosen Sozialdemagogie" letztlich auf den Sturz der Verfassungsordnung abzielt. In einem als "Persönlicher Rundbrief an alle Freunde, Förderer und Unterstützer der Bewegung Deutsche Volks227 JN-Pressemitteilung 04/2003 "Stellungnahme des JN-Bundesvorstandes zur aktuellen Reformpolitik und zur 'Agenda 2010' der Bundesregierung", JN-"Frontdienst"-Homepage vom 30. Mai 2004, Übernahme wie im Original. 228 "Freiheit durch Wahrheit" Nr. 01/2004, Artikel "Appell an alle einigungswilligen Patrioten", S. 3. 171 gemeinschaft (BDVG)" gekennzeichneten Schreiben vom 20. Dezember 2003 ging KÄPPLER intensiv auf diesen Komplex ein und gab dabei die Strategie der BDVG für 2004 (und darüber hinaus) vor: "Innenpolitisch erkennen wir, klar und deutlich und für jeden nachvollziehbar, dass nun begonnen wurde, den Sozialstaat total und nicht mehr umkehrbar zu zerschlagen. Die Unzufriedenheit wächst und unterschwellig beginnt sich ein Epochenwechsel anzukündigen. Und was noch viel wichtiger ist: Die Linke ist tot! Die Lethargie und Trägheit der breiten Masse beginnt zu bröckeln. Es werden wieder Fragen gestellt werden, auf die wir die Antworten zu geben haben. Das Lebensgefühl der breiten Masse wird in einem absehbaren Zeitrahmen aus seiner Brotund Spiele-Mentalität erwachen und das harte Gesetz der Not zu spüren bekommen. Das sind Ansatzpunkte und Momente, die für uns die Marschrichtung vorgeben! Die Weichenstellungen werden jetzt gestellt und die Umstände machen es uns jetzt möglich, handelnd und gestaltend einzugreifen. Die ökonomische und soziale Basis des herrschenden Ungeistes und der herrschenden Unordnung bricht weg. Neue Ordnungskräfte werden von der breiten Masse eingefordert werden. Bereiten wir uns darauf vor! Hierbei darf das nationale Spektrum sich nicht länger als der letzte Fels in der Brandung darstellen, der von den gegnerischen Fluten umspült wird. Nein, das nationale Spektrum muss vielmehr aus der Position des Widerstandes heraus zum Angriff antreten und fordern: Wir wollen eine neue politische Ordnung! Propagierung Wir wollen eine neue politische Ordnung, die das einer "VolksgePrinzip des Nationalstaates mit einer gesunden meinschaft" Volksgemeinschaft dem Wahnkonzept eines globalen Weltstaates mit einer lemminggleichen Einheitsherde entgegenstellt."229 229 Übernahme wie im Original. 172 Rechtsextremismus Monate später ergänzte KÄPPLER diese strategischen Gedanken um einen außenpolitischen Aspekt. Da nämlich viele deutsche Rechtsextremisten die USA nicht nur als Personifizierung der westlichen Moderne interpretieren, sondern auch als deren ökonomische und militärische Garantiemacht, die die politischen Verhältnisse im vereinten Deutschland in gleicher Weise garantiere wie einstmals die Sowjetunion die Herrschaft der SED in der DDR, müsste nach dieser Logik in Analogie zu den osteuropäischen Ereignissen der Jahre 1985 bis 1991 einem Systemwechsel in Deutschland entAntiweder ein solcher in den USA oder/und ein Niedergang der westlichen amerikanismus Supermacht vorangehen. Diesem Umstand trägt KÄPPLER im folgenden Zitat durch die willkürliche Behauptung Rechnung, dass sich die USA im Niedergang befänden: "Die Unzufriedenheit im Land wächst, die herrschenden Politkaste ist am Ende! Eine wohl entscheidende Voraussetzung, die Freiheit des deutschen Volkes wieder zu erringen, ist das Niedergehen der US-Nachkriegs'ordnung'. Am brandaktuellen Beispiel des Irak lässt sich der anbahnende Niederbruch des 'Kolosses auf tönernen Füßen' ableiten. (...) Wenn der Irak zur Pestgrube für die Weltpest wird, dann bewegen sich die Ziffern der Weltuhr auf 5 vor 12 vor dem Ende der weltweiten U.S.-Hegemonie - und der alliierte Würgegriff um Deutschland löst sich langsam aber sicher.... Und mit dieser schicksalhaften Entwicklung einher geht das völlige Versagen der alliierten Handlanger in Deutschland, deren politischer Offenbarungseid derzeit jedem einzelnden, denkenden Deutschen bewusst gemacht wird. Der Niedergang des Systems kann nicht mehr aufgehalten werden. Das Neue kommt aus dem totalen Chaos des sterbenden Systems."230 Rechtsextremisten führten 2004 bundesweit diverse Demonstrationen Demonstrationen durch, die thematisch teilweise oder ausschließlich den Themenkomplex "Krise und Reform" zum Gegenstand hatten und zu denen in Einzelfällen Teilnehmerzahlen in vierstelliger Höhe mobilisiert werden konnten. 230 "Volk in Bewegung" Nr. 2/2004, Artikel "Wie retten wir Deutschland?" von Lars KÄPPLER, S. 3, Übernahme wie im Original. 173 Anhand dieser Demonstrationen lässt sich aber auch ein zentrales rechtsextremistisches Dilemma aufzeigen: Solche Veranstaltungen entfalteten im absoluten Regelfall, da sie von vornherein als rechtsextremistisch kenntlich gesellschaftliche und damit gesellschaftlich stigmatisiert waren, keinerlei Attraktivität für Isolation andere Bevölkerungsgruppen. Die Rechtsextremisten blieben unter sich und damit isoliert. Verschiedentlich sahen sie sich sogar mit massiven Störaktionen von Gegendemonstranten konfrontiert. Da es ihnen nicht gelingt, mit ihren eigenen Veranstaltungen zum Themenkomplex "Krise und Reform" eine über die eigene Szene hinausgreifende Öffentlichkeit herzustellen, versuchen zumindest einige Rechtsextremisten, an themenbezogenen Veranstaltungen anderer, gesellschaftlich respektierter Gruppen teilzunehmen, um diese als Bühne für sich zu nutzen. Quelle: Homepage des Dieses Kalkül ging am 3. April 2004 in Stuttgart Beteiligung an "Aktionsbüros Rhein-Neckar" für eine kleine Gruppe von nicht einmal einem "bürgerlichen" Dutzend Neonazis aus Karlsruhe und Mannheim auf. An diesem Tag reihDemonstrationen ten sie sich mit einem Transparent ("Volksgemeinschaft statt BRD-Abzocke") nach eigener Darstellung relativ ungehindert in die DGB-Großdemonstration gegen die Agenda 2010 in der Stuttgarter Innenstadt ein. In der Ansage des NIT Karlsruhe vom 5. April 2004 wurde unterstrichen, worum es bei dieser Aktion unter anderem gegangen sei, nämlich darum, "nationale Politik dorthin zu tragen wo sie hingehört - hinein ins Volk! Mit der Forderung 'Volksgemeinschaft statt BRD-Abzocke' wurde den Arbeitern gezeigt, dass es mit einer einfachen Abwahl der gegenwärtigen Regierung nicht getan ist. Grundlegende soziale Veränderungen fürs Volk sind mit Reformen nicht zu verwirklichen - ein radikaler Wandel muss her. (...) Ein klares Signal für alle Nationalisten! Es ist an der Zeit das Thema Sozialabbau nicht mehr länger bürgerlichen beziehungsweise antifaschistischen Strömungen zu überlassen und endlich den Begriff der Volksgemeinschaft erneut zu manifestieren. Bildet eigene Blöcke in gewerkschaftlichen Demonstrationen! Mitfahrgelegenheiten sind in DGB-Bussen immer umsonst. Raus aus der Subkultur - hinein ins Volk!"231 231 Homepage der "Karlsruher Kameradschaft" vom 21. April 2004, Übernahme wie im Original. 174 Rechtsextremismus Ein Internetbericht eines rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmers kündigte ausdrücklich "weitere spektakuläre Aktionen" unter dem Motto "Volksgemeinschaft statt BRD-Abzocke!" an.232 Dass die Abgrenzungsreflexe anderer Demonstrationsteilnehmer aber auch immer noch effektiv funktionieren können, mussten am 1. Mai 2004 Neonazis aus dem Saarland und dem Rhein-Neckar-Raum erfahren. An diesem Tag hatten sie laut eines Internet-Berichts versucht, sich - wiederum unter der Transparentparole "Volksgemeinschaft statt BRD-Abzocke" - einer DGB-Demonstration zum Tag der Arbeit in Saarbrücken anzuschließen, "um Öffentlichkeit herzustellen" und "die Ideen des Nationalen Sozialismus zum deutschen Arbeiter zu tragen." Lautstarke Proteste der anderen Demonstrationsteilnehmer, ein "Tumult" und schließlich das Einschreiten der Polizei ließen diese Aktion allerdings umgehend scheitern. Zwar meldeten die Neonazis daraufhin eine Spontandemonstration an, während der sie nach eigenen Angaben circa 45 Minuten lang durch die Innenstadt marschierten, allerdings mussten sie zugeben, dass sie mit dieser, nun wieder gesellschaftlich isolierten Demonstration "zahlenmäßig an diesem Tag doch eher unterrepräsentiert waren".233 Aus denselben strategischen Überlegungen heraus versuchten Rechtsextremisten, an den im Sommer/Herbst 2004 von demokratischen bis linksextremistischen Gruppen und Personen organisierten und in Anlehnung an die im Herbst 1989 gegen das SED-Regime gerichteten Demonstrationen als "Montagsdemonstrationen" bezeichneten Protestveranstaltungen teilzuneh"Montagsmen, die sich gegen die unter dem Schlagwort "Hartz IV" diskutierten demonstrationen" Arbeitsmarktreformen wandten. Zumindest in Baden-Württemberg mussten sie dabei aber weitgehend für sie enttäuschende Erfahrungen machen. So scheiterten solche Versuche in verschiedenen Städten im Land - darunter am 16. August in Stuttgart - immer wieder am erklärten und auch durchgesetzten Willen der Demonstrationsveranstalter und -teilnehmer, Rechtsextremisten auf ihren Veranstaltungen nicht zu dulden. Sobald Rechtsextremisten versuchten, eigene "Montagsdemonstrationen" durchzuführen, liefen sie wiederum Gefahr, den oben geschilderten Mechanismen aus Stigmatisierung und gesamtgesellschaftlicher Isolation zu unterliegen. Ein besonders drastisches Beispiel dafür ist die "Montagsdemonstra232 Bericht "Massenproteste gegen Sozialabbau in ganz Deutschland....Auch Freie Nationalisten waren in Stuttgart mit dabei", Homepage des "Aktionsbüros Rhein-Neckar" vom 14. Juni 2004. 233 Bericht "1. Mai - Tag der deutschen Arbeit!", Homepage des "Aktionsbüros Rhein-Neckar" vom 12. Oktober 2004. 175 tion", die die NPD für den 23. August 2004 in Stuttgart angemeldet hatte. Obwohl die NPD selbst nur mit zehn Teilnehmern gerechnet hatte, erschienen nur ganze vier. Aus den oben dargelegten ideologischen und strategischen Gründen ist allerdings vorauszusehen, dass derartige Misserfolge die rechtsextremistische Szene vorerst nicht davon abhalten werden, in ihrer Propaganda weiterhin verstärkt auf den Themenkomplex "Krise und Reform" und auf das Thema "Hartz IV" zu setzen. Darin dürfte sich die Szene nicht zuletzt durch die Wahlerfolge von NPD und DVU in Sachsen beziehungsweise Brandenburg bestätigt sehen, da beide Parteien ihre schließlich erfolgreichen Wahlkämpfe schwerpunktmäßig auf diese Themen abgestellt hatten. 9.2 Das "Projekt Schulhof": Entwurf einer rechtsextremistischen Propagandaoffensive mit neuer Dimension Schon vor vielen Jahren schrieb der Brite Ian Stuart DONALDSON (19571993), der als ehemaliger Sänger der rechtsextremistischen Band "Skrewdriver" und Gründer von B&H auch in der deutschen Skinheadszene bis heute, mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Tod, Kultstatus genießt, dem Musik als Medium Musik zentrale Bedeutung zu bei der Vermittlung rechtsextremisPropagandatischer Ideologieinhalte an Jugendliche: "Musik ist das ideale Mittel, mittel Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen, besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann, kann damit Ideologie transportiert werden." Leider lag DONALDSON im Grundsatz nicht falsch. Es kann in der Tat als gesichert gelten, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz der rechtsextremistischen Skinheads über den Konsum entsprechender Skinheadmusik in die Szene und damit in den Rechtsextremismus einsteigt. Das Attraktivitätspotenzial dieser Musik ist mehrschichtig: Zum einen erinnert sie mit ihren häufig harten, aggressiven Rhythmen an moderne Musikstile wie (Hard-)Rock oder Heavy Metal, denen das Image von - ursprünglich eher "links" zugeordneter - Nonkonformität und Rebellion anhaftet. Oberflächlich betrachtet kommt sie also alles andere als bieder, rückwärtsgewandt 176 Rechtsextremismus oder altmodisch daher. Dieses Image ist erfahrungsgemäß für viele Jugendliche attraktiv. Dass - mindestens - die rechtsextremistischen Inhalte dieser Musik zudem in den Medien und der Erwachsenenwelt der demokratischen Mehrheitsgesellschaft in der Regel konsequente Ablehnung und Stigmatisierung erfahren, kann in den Augen mancher Jugendlicher diese Attraktivität sogar noch steigern: Scheint ein Bekenntnis zum Rechtsextremismus beziehungsweise zu dessen zumindest nach außen antibürgerlichsten Variante, der rechtsextremistischen Skinheadszene, doch der sicherste Weg für Jugendliche zu sein, ihre Gesellschaft und Elterngeneration nachhaltig zu provozieren. Dass die Ablehnung, die rechtsextremistischer Skinheadmusik von Seiten der Provozierten entgegenschlägt, gute Gründe hat, wird von diesen Jugendlichen, die altersund/oder bildungsbedingt häufig noch nicht über eine fundierte politische Orientierung verfügen, nicht erkannt oder bewusst ignoriert. Die rechtsextremistische Szene ist sich der Anziehungskraft rechtsextremistischer Skinheadmusik seit langem bewusst und entwickelte im Jahr 2004 Aktivitäten, dieses Potenzial noch gezielter und in einer bisher unbekannten Dimension für sich zu nutzen. Bereits seit Anfang 2004 lagen den deutschen Verfassungsschutzbehörden erste, dann auch über das Internet verbreitete Informationen über eine rechtsextremistische Propagandaoffensive vor, die von ihren Initiatoren "Projekt Schulhof" getauft wurde. Im Laufe der folgenden Monate ergab sich ein genaueres Bild dieses "Projekts": Demnach planten dessen Initiatoren, zu denen unter andeProjektplanung rem einschlägig bekannte Rechtsextremisten aus Südwestdeutschland zählten, eine CD unter dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" in außerordentlich hoher Stückzahl bundesweit und kostenlos an Jugendliche zu verteilen, um sie für die rechtsextremistische Szene und deren Ideologien zu interessieren und letztlich zu rekrutieren. Zu diesem Zweck sollten die Verteilaktionen auf oder in der Nähe von Schulgeländen und an anderen Orten stattfinden, an denen sich Jugendliche verstärkt aufhalten. Gleichzeitig sollte eine die Aktion begleitende Internetseite geschaltet werden. Diese unter einer Adresse in Schweden234 registrierte Seite ist 234 Die Anschrift wurde laut schwedischen Behörden bereits in der Vergangenheit für den Vertrieb von Propagandamaterial verwendet. 177 seit Anfang November 2004 abrufbar, ihre konkreten Inhalte sind aber nur teilweise mit den auf der CD enthaltenen Dateien identisch. Dagegen ist es zu einer Verteilung der CD auch aufgrund von Maßnahmen der Sicherheitsbehörden bisher nicht gekommen, allerdings können die Lieder dieser CD auf anderen Wegen aus dem Internet heruntergeladen werden. Schon diese Fakten lassen erkennen, dass sich das "Projekt Schulhof" nicht mit einer der üblichen rechtsextremistischen CD-Veröffentlichungen verneues Konzept gleichen lässt. Die singulären Besonderheiten dieses "Projekts" lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Das "Projekt Schulhof" ist auf eine Breitenwirkung angelegt, die für jede andere "normale" rechtsextremistische CD unerreichbar wäre. So liegen die angestrebten Auflagenzahlen im fünfbis sechsstelligen Bereich und damit um ein Vielfaches über dem, was bei der Herausgabe rechtsextremistischer CDs normalerweise zu verzeichnen ist. Auch der beim "Projekt Schulhof" gewählte Ansatz, im Jugendliche Umfeld von Schulen und anderen jugendspezifischen Orten gezielt als Zielgruppe auf Jugendliche, die bisher nicht ins rechtsextremistische "Lager" eingebunden sind, zugehen und diese CDs als kostenloses Propagandamaterial verteilen zu wollen, zeugt von einem Willen zur Breitenwirkung über die eigene Anhängerschaft hinaus sowie von einer offensiven, zielgerichteten Initiative, die bislang bei der Verbreitung rechtsextremistischer Musik-CDs nicht an den Tag gelegt wurde. Schließlich haben die CD-Macher offensichtlich auch bei der Formulierung des gesprochenen, circa fünfminütigen Intros besagte Breitenwirkung im Blick gehabt. Denn anstatt den Hörer umgehend mit eindeutig rechtsextremistischen Parolen zu konfrontieren, die Jugendliche, die diesem Gedankengut noch unentschieden oder gar kritisch gegenüberstehen, hellhörig machen und abschrecken könnten, gibt sich der Intro-Text in Teilen, zumal am Anfang eher zurückhaltend und subtil. breite Allianz Das "Projekt Schulhof" wird von einer breiten Allianz von Rechtsextremisten aus dem Inund Ausland getragen. Dass verschiedene, 178 Rechtsextremismus deutsche wie ausländische Skinheadbands kostenlos Musiktitel unterschiedlicher Stilrichtungen zu einem CD-Sampler beitragen, konnte auch in der Vergangenheit schon beobachtet werden. Aber dass sonst in Konkurrenz zueinander stehende Vertreiber rechtsextremistischer Musik sich in diesem Fall zu einem gemeinsamen Projekt zusammenfinden, ist untypisch. Zudem wird die Aktion von Einzelaktivisten und diversen neonazistischen "Kameradschaften" unterstützt. Das "Projekt Schulhof" sprengt auch mit seiner Multimedialität den Multimedialität eindimensionalen Rahmen einer normalen Musik-CD, die nur akustische Informationen enthält. Diese Multimedialität wird nicht nur durch die Existenz der Internetseite erreicht. Auch die Schulhof-CD selber weist neben dem Intro und 19 Musiktiteln (darunter von den Bands "Noie Werte" aus Stuttgart und "Blue Max" aus Schwarzach im Neckar-Odenwald-Kreis) weitere Texte, Informationen und Hinweise, zum Beispiel Internetund Kontaktadressen rechtsextremistischer Gruppierungen (auch aus Baden-Württemberg) und Werbung rechtsextremistischer Musikvertriebe, in einem Datei-Format auf, das wie eine Website am Computer aufgerufen werden kann. Trotz des von den Machern des "Projektes Schulhof" betriebenen Aufwands ist eine Verteilung der CD bislang unterblieben. Dies ist vor allem auf die erfolgreiche Gegenmaßnahmen staatlicher Stellen zurückzuführen. So verzögerte sich staatliche Gegenbereits die Pressung der CD, weil die in Frage kommenden Unternehmen maßnahmen aufgrund einer nach Hinweisen der Sicherheitsbehörden erfolgten Warnmeldung des Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft e. V. für das Problem sensibilisiert waren. Nachdem dennoch eine Auflage von etwa 50.000 Exemplaren von einem nicht der rechtsextremistischen Szene zuzurechnenden Presswerk in Baden-Württemberg Anfang Juli 2004 an einen Produzenten und Vertreiber rechtsextremistischer Musik in Sachsen-Anhalt ausgeliefert worden war, erging am 30. Juli ein Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Stendal wegen des Verdachts des Beziehens und Vorrätighaltens von Trägermedien mit schwer jugendgefährdendem Inhalt. Das Gericht ordnete auch die Beschlagnahme und Einziehung der CDs an, die bei dem sachsen-anhaltinischen Adressaten der Lieferung allerdings nicht aufgefunden werden konnten. Am 4. August 2004 erließ das Amtsgericht Halle/Saale einen allgemeinen Beschlagnahmebeschluss, der im Fall einer Verteilung der CDs deren umgehende Beschlagnahme zur Folge hätte. Auch wurde 179 von den zuständigen staatlichen Stellen bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien eine Indizierung der CD beantragt, die aber erst erfolgen kann, sobald die CD verbreitet wird. Da diese Beschlusslage den Initiatoren des "Projekts Schulhof" eine Verbreitung der CD in der jetzigen Fassung faktisch unmöglich machte, schalAusweichen auf teten sie Anfang November 2004 die zum "Projekt" gehörende InternetInternetseite frei. Resignative Aussagen auf dieser Seite lassen vermuten, dass die veröffentlichung "Projekt"-Macher nicht mehr damit rechnen, die CD jemals verteilen zu können. Ebenfalls Anfang November 2004 wurden in einigen hessischen und rheinland-pfälzischen Orten Plakatklebeaktionen durchgeführt, insbesondere an und in der Nähe von Schulen. Ende November wurden diese Aktionen Plakataktionen auch auf Baden-Württemberg ausgeweitet, als entsprechende Plakate im Bereich einer Schule und eines Jugendzentrums in Brühl im Rhein-NeckarKreis festgestellt wurden. Auf diesen Plakaten, die mit "Nationaler Widerstand Sozialistische Zelle" unterzeichnet waren, letztlich aber auf die "Projekt Schulhof"-Initiatoren zurückgehen dürften, wurde auf die Internetseite aufmerksam gemacht und gegen das staatliche Vorgehen bezüglich der Schulhof-CD polemisiert. Nachahmer Trotz dieses sich abzeichnenden, partiellen Scheiterns des ursprünglichen "Projekts Schulhof" haben sich im Inund Ausland Nachahmer gefunden. So produzierte die NPD eine CD mit dem Titel "Schnauze voll? Wahltag ist Zahltag", um sie im sächsischen Landtagswahlkampf einzusetzen. Nach NPD-Angaben betrug die Auflage 25.000 Stück. Am 7. September 2004 beschlagnahmte die Polizei auf Beschluss des Amtsgerichts Riesa in den Geschäftsräumen des "Deutschen Stimme"-Verlages mehr als 700 Exemplare der CD. Die Staatsanwaltschaft Dresden hatte die Beschlagnahme beantragt, da sie den Tatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS 86a StGB) verwirklicht gesehen hatte. Die NPD 180 Rechtsextremismus legte jedoch Rechtsmittel gegen die Beschlagnahme ein, die daraufhin am 15. September 2004 vom Landgericht Dresden aufgehoben wurde. Nach NPD-Angaben wurden die CD-Exemplare in der Folgezeit "weitestgehend an die Jugendlichen gebracht". Die Partei kündigte sogar "zum Jahreswechsel eine neue und zwar eine deutschlandweite" CD an.235 Der - von der Partei zumindest behauptete - Erfolg der sächsischen NPD-CD könnte auch andere deutsche Rechtsextremisten anspornen, solche Projekte zu starten. Seit September 2004 tauchten im Internet sogar Informationen auf, dass US-amerikanische Rechtsextremisten in Anlehnung an das deutsche "Projekt Schulhof" ihrerseits ein "Project Schoolyard" ins Leben gerufen haben, dessen Strategie und Konzeption eindeutige Parallelen zum deutschen Vorbild aufzuweisen scheinen. Seit Oktober 2004 ist auch eine zum "Project Schoolyard" gehörende CD bestellbar. Mittlerweile wurde vom Hauptzollamt Frankfurt am Main eine Postsendung mit über 50 Exemplaren dieser CD sichergestellt, die an eine Adresse im Bundesgebiet gerichtet war. Es muss vor diesem Hintergrund von der Möglichkeit ausgegangen werden, dass das "Projekt Schulhof" auch von Rechtsextremisten anderer Staaten aufgegriffen 235 Bericht "Dreistigkeiten", NPD-Homepage vom 16. November 2004. 181 C. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Wie sich bereits 2003 angekündigt hatte, war die "soziale Frage" das überragende Thema des Jahres 2004. Linksextremisten sahen darin ihr ureigenes "Kampffeld". In gleichem Maße, wie die "Antiglobalisierungsbewegung" und deren Aktivitäten gegen internationale politische Gipfelereignisse an "soziale Frage" Schwungkraft verloren und die "soziale Frage" in den Vordergrund trat, verals überragendes lagerten sich die Proteste deutlich mehr auf die nationale Ebene, obwohl sie Thema ein europaweites Phänomen darstellten. Wie in der "Sozialforumsbewegung"236 blieben allerdings unverändert starke Tendenzen zu internationaler Vernetzung bestehen. Sie waren mit dem gleichzeitigen Bemühen verbunden, entsprechende, möglichst flächendeckende Strukturen auch auf nationaler beziehungsweise regionaler Ebene zu etablieren. Adressaten der Proteste deutscher Linksextremisten waren die Bundesregierung, aber auch die "etablierten Parteien", deren "Sozialkahlschlagspolitik" einhellig und aufs Schärfste verurteilt wurde. Der Anstoß zu den Protesten kam vom "Europäischen Sozialforum" in Paris bereits im Herbst 2003: Am 20. März 2004 als Jahrestag des Irakkriegs sollten europaweit Aktionen gegen den Krieg, am 2. und 3. April 2004 gegen "Sozialabbau" und am 9. Mai 2004 gegen den Verfassungsentwurf für die Europäische Union (EU) stattfinden. Hatte schon die bundesweite Großdemonstration vom 1. November 2003 eine "neue Phase" von "sozialen Kämpfen" in Deutschland ankündigen sollen, so fand diese vor allem in dem Aktionstag am 3. April 2004 und schließlich in einer "Herbstkampagne" ihre Fortsetzung. Linksextremisten sahen sich insgesamt einem gewaltigen "Roll-back" gegenüber: Krieg war wieder Mittel der Politik geworden. Die größte "imperialistische Macht", die USA, betrieb aus linksextremistischer Sicht im Irak ungeniert "Neukolonisierung". Deutschland richtete sich angeblich darauf aus, künftig weltweit militärisch intervenieren zu können. Aufrüstung und "Militarisierung" galten als das vermeintliche Programm der EU. Europaweit korrespondierte angeblich diese "Aggressivität nach außen" mit dem Abbau "sozialer" und demokratischer Rechte und mit "Repression nach innen". 236 Ist als solche nicht extremistisch; agiert unter Einschluss von Linksextremisten auch gegen "Sozialabbau". 182 Linksextremismus Dagegen ist die Neigung deutscher Linksextremisten zur Teilnahme an Protesten gegen internationale Gipfeltreffen 2004 deutlich gesunken. Die nur marginale Beteiligung deutscher Demonstranten an den Protesten gegen die vom 21. bis 25. Januar 2004 in Davos durchgeführte Tagung des Weltwirtschaftsforums hatte diese Entwicklung bereits angedeutet. Die Aktivitäten selbst im Inland, so anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2004, fielen erheblich geringer aus. Dass auch die "Antikriegs"Proteste im Lauf des Jahres erkennbar nachließen, war nicht etwa auf schwindendes Interesse der linksextremistischen Szene zurückzuführen. Ursächlich dafür war vermutlich eher der Umstand, dass im Vorfeld des drohenden Kriegs gegen den Irak eine weit höhere "Mobilisierungsdynamik" auch in der Bevölkerung vorhanden war als nach dessen Ausbruch und in dessen weiterem Verlauf. Der hohe Stellenwert für Linksextremisten war gleichwohl geblieben, wobei die Auseinandersetzung mit diesem Thema nach dem offiziellen Ende des Kriegs um weitere Aspekte erweitert wurde, die insbesondere geeignet waren, dem Antiamerikanismus in der Szene weiteren Auftrieb zu verleihen. Wahlund Politikverdrossenheit in der deutschen Bevölkerung schufen zwar theoretisch einen guten Nährboden für linksextremistische Agitation, doch mussten Linksextremisten enttäuscht feststellen, dass sich dieser Zustand nicht in wachsender Bereitschaft zum Engagement in außerparlamentarischen Bewegungen niederschlug. Eher noch war der Protest gegen "Sozialabbau" der Motor für Pläne zur Gründung einer "neuen Linkspartei". "neue LinksDieses, von bürgerlichen Kräften angestoßene und als solches nicht extrepartei" als mistische Projekt beschäftigte sämtliche linksextremistischen Parteien und Hoffnungsträger Organisationen nachhaltig und wurde von ihnen von Anfang an mit großem Interesse begleitet. Eine solche neue Partei wäre aus ihrer Sicht dazu prädestiniert, das soziale Protestpotenzial zu kanalisieren, bei regem Zulauf Veränderungen in der Parteienlandschaft nach sich zu ziehen und vor allem bei einer entsprechenden politischen Orientierung einer von Linksextremisten angestrebten gesamtgesellschaftlichen Akzentverschiebung näher zu kommen. Die Wahlen vom 13. Juni 2004237 zeigten, dass die teilnehmenden linksexTeilnahme tremistischen Parteien entschlossen sind, auf allen Ebenen den Parlamentaan Wahlen rismus für ihre Zwecke zu nutzen. Im Unterschied zu früheren Jahren betonen Linksextremisten inzwischen immer stärker die Bedeutung von Kommunalwahlen bei ihrem Bestreben, kommunistisches Gedankengut "an der 237 Am 13. Juni 2004 wurde zum sechsten Mal das Europäische Parlament gewählt; zeitgleich fanden die Landtagswahl in Thüringen und Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern statt. 183 Basis" zu etablieren, das heißt in das Alltagsleben der Menschen hinein zu tragen. Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) hatte sich erstmals seit acht Jahren entschlossen, unter dem Motto "Ein anderes Europa ist möglich" wieder zur Europawahl anzutreten, diesmal sogar mit einer eigenen Liste. Damit wollte sie, wie ihr Vorsitzender Heinz STEHR erklärte, "einen politischen Beitrag zur Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Gesellschaft leisten".238 Für die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) wurde die Europawahl zu einem unerwarteten Erfolg. Mit der Agitation gegen die im Juni 2004 von den Staatsund RegierungsAgitation gegen chefs der EU angenommene Verfassung für das vereinigte Europa eröffnete EU-Verfassung sich für Linksextremisten ein neues Aktionsfeld. Europa galt nunmehr als als neues "das Theater, in dem die zukünftigen Auseinandersetzung(en) und KlasAktionsfeld senkämpfe stattfinden werden" 239, und wurde als Fortsetzung nationalstaatlicher, "imperialistischer" Verhaltensmuster auf der supranationalen Ebene bekämpft. Dem sich vollziehenden "Konstitutionalisierungsprozess" sollte ein anderes Europa, ein "Europa von Unten" entgegengesetzt werden. Gleichzeitig schwelten im Themendreieck "Islamismus-Nahostkonflikt"linke" Szene Antisemitismus" die alten Konflikte weiter. Die unveränderte innere Zerweiterhin rissenheit der Szene erhielt eine neue Dimension, indem sich die Spanzerstritten nungen zwischen "Antideutschen" und "Antiimperialisten" erstmals öffentlich massiv mit Gewalt entluden. So kam es auf einer Demonstration in Hamburg im Januar 2004 zu einer Massenschlägerei zwischen verfeindeten Gruppierungen aus dem eigenen Lager. Die in der Szene fortlebende Antisemitismusdebatte erwies sich auch auf dem Aktionsfeld "Antifaschismus" als Störfaktor. Abgesehen davon wurde "Antifaschismus" jedoch in den bekannten Bahnen weiter praktiziert. Durch die Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien bei den Landtagswahlen in Brandenburg, vor allem aber in Sachsen, schien sich für Linksextremisten die Notwendigkeit "antifaschistischen" Engagements sogar noch zu erhöhen. Im Kampf gegen die drohende Schließung "autonomer Zentren" kündigten neue Entwicklungen an, dass dieses Thema nicht so rasch von der Tagesordnung verschwinden wird. Im Unterschied zu früheren, teils eher resignativen Tendenzen hat es in der bundesweiten autonomen Szene sogar eine Aufwertung erfahren. 238 "Unsere Zeit" (UZ) Nr. 1/2 vom 9. Januar 2004, S. 2. 239 "junge Welt" Nr. 114 vom 19. Mai 2004, Beilage S. 2. 184 Linksextremismus 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Die zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Reformierung des Sozialsystems boten Linksextremisten aller Couleur vielfältige Gelegenheiten, sich öffentlich zu präsentieren. Unter anderem die dabei aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten bis hin zur Spaltung der Protestbewegung haben wohl verhindert, dass sich Linksextremisten mit dem Propagieren ihres Verständnisses von "sozialer Gerechtigkeit" potenziellen neuen Mitgliedern empfehlen konnten. Dabei haben immer drängender Mitgliederwerdende Nachwuchssorgen, insbesondere wegen der damit eng verbundewerbung bleibt nen Finanzlage, dazu geführt, dass die Gewinnung neuer Mitglieder bei der wichtigstes Ziel DKP, aber auch linksextremistisch beeinflusster Organisationen wie der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) inzwischen besondere Priorität eingenommen hat. Vor allem bei der DKP darf angesichts ihrer anhaltend desolaten internen Situation bezweifelt werden, dass sie gerade für dringend gesuchte junge Menschen attraktiv ist. Dafür, dass die verstärkte Mitgliederwerbung spürbare Erfolge zeigt, gibt es noch keine Anhaltspunkte. Für die PDS dürfte das Ergebnis ihres Spagats zwischen der Rolle als selbst ernannte Anwältin "sozialer Gerechtigkeit" einerseits und ihren beiden RegierungsLinksextremistisches Personenpotenzial in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2002 - 2004 2002 2003 2004 Linksextremismus Land Bund Land Bund Land Bund Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten Kernund Nebenorganisationen 1.815 26.000 1.820 26.300 1.740 25.700 ddavon: DKP 500 4.700 500 4.700 500 4.500 MLPD 700 2.000 650 2.000 600 2.000 1 PDS 525 78.000 485 71.000 460 65.800 Beeinflusste Organisationen 1.445 15.200 1.450 19.000 1.400 18.000 Gewaltbereite Linksextremisten 630 5.500 615 5.400 615 5.500 Summe der Mitgliedschaften 1 ohne PDS 2.445 31.500 2.435 31.700 2.355 31.200 und beeinflusste Organisationen Tatsächliches Personenpotenzial nach Abzug der 2.375 31.100 2.375 31.300 2.295 30.800 Mehrfachmitgliedschaften 1 Die PDS wird in der Gesamtsumme der Mitgliedschaften nicht mitgezählt, da das Bundesamt für Verfassungsschutz Grafik: LfV BW von den Mitgliedern der PDS Deutschland nur die der "Kommunistischen Plattform" (KPF) erfasst (2004: 1.000). In Baden-Württemberg unterliegt der gesamte Landesverband der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Stand: 31.12.2004 185 beteiligungen auf Landesebene in Zeiten des "Sozialabbaus" andererseits bestenfalls ein Stagnieren der Mitgliederzahlen sein. Trotzkistische Organisationen wie "Linksruck" vermochten ebenfalls nicht an frühere Erfolge anzuknüpfen. Das Personenpotenzial der Autonomen bewegt sich in etwa auf dem Niveau des Jahres 2003. Vor dem Hintergrund fortgesetzter interner Meinungsverschiedenheiten ist in dieser Szene auch weiterhin kein Aufschwung zu erwarten. 2.2 Strafund Gewalttaten Die Anzahl der linksextremistischen Straftaten ist in Baden-Württemberg stark zurückgegangen. Gleichwohl ist die Zahl der politisch motivierten Kriminalität im Phänomenbereich Links angestiegen. Die auseinander driftende Entwicklung ist in 2004 darauf zurückzuführen, dass eine Vielzahl der Strafund Gewalttaten nicht eindeutig einer extremistischen Motivation zugeordnet werden konnten. Verantwortlich für einen Großteil der Gewalttaten waren ein weiteres Mal direkte Auseinandersetzungen mit dem "rechten" politischen Gegner. Der "antifaschistische Kampf" wurde weiterhin mit einer teilweise erschreckenden Brutalität geführt. In Erwartung des CASTOR-Transports nach Gorleben vom November 2004 kam es im Vorfeld erneut zu gefährlichen Eingriffen in den Bahnverkehr. Politisch motivierte Kriminalität im Phänomenbereich Links sowie linksextremistische Strafund Gewalttaten im Jahr 2004 Baden-Württemberg1 Bund2 2004 (2003) 2004 (2003) Politisch motivierte Kriminalität im 408 (398) 3.521 (3.614) Phänomenbereich Links insgesamt davon: linksextremistische 113 (139) 1.440 (1.459) Straftaten davon: linksextremistische 31 (51) 521 (483) Gewalttaten 1 Zahlen des LKA Baden-Württemberg 2 Zahlen des Bundesministeriums des Innern Grafik: LfV BW 186 Linksextremismus 3. Gewaltbereiter Linksextremismus Die Aktionsfähigkeit der gewaltbereiten Linksextremisten war weiterhin durch Streitigkeiten in der Antisemitismusfrage eingeschränkt, von denen relativ wenig nach außen drang. Dass sich die Szene auch in Baden-Württemberg mit diesem Thema beschäftigte, zeigte eine unter anderem von der "Antifa Freiburg" und der "Antifa Ulm" unterstützte Veranstaltungsreihe "Gegen jeden Antisemitismus! Zur notwendigen Verteidigung Israels" im Juli 2004 im Freiburger "Kulturtreff in Selbstverwaltung" (KTS). Unumstritten war dagegen in der autonomen Szene die Notwendigkeit des Kampfs um Möglichkeiten zur Praktizierung unkontrollierten "selbstbestimmten" Lebens. Im August und September 2004 fanden in mehreren Städten BadenWürttembergs - in Freiburg im Breisgau, Karlsruhe, Stuttgart, Tübingen, Heidelberg und Mannheim - Veranstaltungen im Rahmen einer, wie es auf einem Plakat hieß, "Karawane für linke freiräume, besetzte häuser + plätze + zentren" statt, mit denen "auf die notwendigkeit selbstbestimmter linker freiräume und deren bedrohte situation aufmerksam gemacht" werden sollte. Ein Schwerpunktbereich war erneut der "Antifaschismus". Im Zentrum Schwerpunkt "antifaschistischer" Gegenaktionen standen die wiederholten "Aufmärsche" "Antifaschismus" der rechtsextremistischen "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG). In Anbetracht "neonazistischer Umtriebe" im Raum Schwäbisch Hall gründete sich mit dem "Regionalen Antifaschistischen Aktionsbündnis Heilbronn/Schwäbisch Hall" (RAA-HN-SHA) ein Zusammenschluss autonomer Gruppen. Sein Gegenaufruf zur Demonstration der BDVG, die für den 11. September 2004 angekündigt worden war, endete mit den Parolen "Den Naziaufmarsch zum Desaster machen! BDVG zerschlagen"240. Nachdem an gleicher Stelle die Veranstaltung am 11. September 2004 als "auch für die Antifa/Linke seit langem eines der wichtigsten Ereignisse" bezeichnet worden war, an dem sich "die nahe Zukunft und (Mobilisierungs-)kraft der ANTIFAszene in BaWü" entscheiden werde, mussten der Verlauf der Gegenaktionen und die mit circa 300 Personen niedrige Teilnehmerzahl enttäuschend gewesen sein. Gegenüber Versuchen aus der Szene, in dieser kraftund - im Sinne der Autonomen - ergebnislosen Aktion doch noch 240 Homepage des "Infoladens Ludwigsburg" vom 7. September 2004; Übernahme wie im Original. 187 einen Erfolg zu sehen, kritisierten andere Stimmen vor allem die dilettantische, unkoordinierte Vorgehensweise. Die mit einem solchen Ausgang fraglos an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterte autonome Szene dürfte in ihrer Motivation im Hinblick auf künftige Aktionen zumindest vorübergehend geschwächt sein. Am 9. September 2004 kam es zu einer Hausdurchsuchung in Stuttgart wegen des Vorwurfs, zu Straftaten aufgerufen (SS 111 Strafgesetzbuch) und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwandt zu haben (SS 86a Strafgesetzbuch). Hintergrund war ein Flugblatt der "AG Antifa" der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS), mit dem sie zu den Gegenaktionen am 11. September 2004 in Schwäbisch Hall mobilisieren wollte. Darin hatte sie außerdem die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt und sich eine Gleichsetzung mit rechtsextremistischer Gewalt ausdrücklich verbeten: "Antifaschistische Militanz gegen die Faschisten hat zum Ziel, sowohl die tägliche Gewalt der Faschisten zu stoppen, als auch zu verhindern, dass sie politisch wieder Einfluss gewinnen und in noch größerem Ausmaß ihre menschenverachtende Politik durchsetzen. Sie hat nichts gemein mit der Gewalt der Nazis, die sich gegen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft richtet, sondern richRechtfertigung tet sich gezielt gegen die, die mit ihrer Hetze oder von Gewalt durch Taten für ein faschistisches System eintreten."241 In einer Stellungnahme zu der Hausdurchsuchung betonte die RAS: "All diese weltweit stattfindenden Versuche, die Grenzen des legitimen Widerstands immer enger zu fassen und jegliches Aufbegehren gegen die kapitalistischen Verhältnisse und ihre Auswirkungen mit polizeistaatlichen Mitteln zu bekämpfen, dürfen nicht von Erfolgen gekrönt sein. Im Gegenteil, diese Versuche müssen uns weiter ermuntern uns für eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse einzu241 Flugblatt "Nazidemos? Nicht ohne uns! Den Naziaufmarsch am Samstag 11.09.04 in Schwäbisch Hall verhindern!", Übernahme wie im Original. 188 Linksextremismus setzen und dafür zu sorgen, dass der Kapitalismus mit all seinen Institutionen dort landet wo er hingehört - auf dem Müllhaufen der Geschichte."242 Ähnlich polemisierte die RAS in ihrem Newsflyer "red action" vom September 2004 unter einem Kapitel "Stuttgart-Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt (...)" gegen die angeblichen Versuche der Stuttgarter Polizei, "linke AktivistInnen mit Strafverfahren zu überhäufen und einzuschüchtern". Ein Vorgang am Rande einer Kundgebung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) vor den Coleman-Barracks in Mannheim-Blumenau am 16. Oktober 2004 zeigte, mit welch brutaler Gewalt Linksextremisten mitunter gegen den "rechten" politischen Gegner vorgingen. Nach einem Auffahrunfall von drei mit Mitgliedern der rechtsextremistischen Szene besetzten Fahrzeugen - so schilderte ein mutmaßlicher Augenzeuge des Vorfalls in einer bei dem linksextremistischen Internet-Nachrichtennetzwerk "Indymedia" eingestellten Darstellung - "[sc. enterten] migrantenkids aus der nachbarschaft und antifas die autos (totalschäden) und [sc. zogen] die nazis raus. sie [sc. wurden] mit holzlatten schraubenziehern, und teleskoschlagstöcken verprügelt. Überall lagen blutende faschos am boden, gerüchteweise musste einer reanimiert werden. Riesen erfolg für uns, lasst es rocken, macht die nazis platt"243. Das Gerücht der erforderlich gewordenen Reanimierung eines der Opfer löste eine Diskussion über den Vorfall aus, bei der deutlich wurde, dass dieser angebliche Beinahetod mit einem gewissen Triumpfgefühl zur Kenntnis genommen, die Gewalttat von einigen Linksextremisten als "Erfolg" gesehen und das Ganze als "geiler Tag" gefeiert wurde. Andere hingegen gaben ihre Abscheu gegenüber solchen Einstellungen kund und beklagten, dass, wo "Tote in Kauf genommen" würden, "die Grenze zwischen (notwendiger) Militanz auf der einen und Verantwortungslosigkeit und Roheit auf der anderen Seite verwischt" werde. Schwerpunkte der autonomen Szene waren erneut die Räume Freiburg im örtliche Breisgau, Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart, Tübingen/Reutlingen und Ulm. Schwerpunkte 242 Homepage der RAS vom 20. Oktober 2004; Übernahme wie im Original. 243 Hier und im Folgenden: Auswertung "Indymedia" vom 18. Oktober 2004; Übernahme wie im Original. 189 4. Parteien und andere Organisationen 4.1 "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Gründung: 1989/1990 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 460 Baden-Württemberg (2003: ca. 485) ca. 65.800 Bund (2003: ca. 71.000) Publikationen: "Disput" "PDS-Pressedienst" "PDS-Landesinfo Baden-Württemberg" Die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) scheint nach jahrelang lähmenden innerparteilichen Auseinandersetzungen die Talsohle durchschritten zu haben. Aufbruchstimmung verbreitete auch die 1. Tagung des 9. Parteitags in Potsdam am 30. und 31. Oktober 2004. Gegenstand kritischer Diskussion waren vor allem die Regierungsbeteiligungen der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Die Parteilinke scheiterte jedoch erneut und deutlich mit dem Versuch, die Partei auf die Oppositionsrolle festzulegen. Basis des verabschiedeten Leitantrags "Für eine starke PDS: Sozial, mit aller Kraft! - Als sozialistische Partei 2006 in den Deutschen Bundestag" waren die im Hinblick auf die Bundestagswahlen 2006 vom Parteivorstand am 22. Juni Aufbruch2004 vorgelegten "Thesen zur strategischen Weiterentwicklung der PDS". stimmung auf Auf dem Parteitag sollten - so hatte der PDS-Vorsitzende Lothar BISKY in Potsdamer einem "Geleitwort" zu den "Thesen" formuliert - "die Aufgaben der PDS Parteitag bis 2006 beraten" und beschlossen werden. Es werde darum gehen, "inhaltliche und personelle Grundlagen für den Wiedereinzug in den Bundestag zu schaffen". Der Leitantrag selbst schließlich formulierte angesichts der Notwendigkeit eines politischen Richtungswechsels "hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung und ziviler Konfliktlösung" und nicht eines Regierungswechsels die Grundlinien der künftigen Politik der PDS. Demzufolge beabsichtigt die Partei, sich "auf eine eigenständige linkssozialistische Politik" zu konzentrieren, eine Politik, in der nach ihrem Verständnis "Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mitund Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck" bilden sollen. Die PDS bekundete ihre prinzipielle Bereitschaft, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Protest und 190 Linksextremismus Widerstand sollen somit gleichberechtigt neben der Mitarbeit in Regierungen stehen. Entscheidend für die Wahl zwischen den Alternativen "starke parlamentarische Opposition" oder "Koalitionspartner jeweils in Kooperation mit außerparlamentarischen Kräften" seien das jeweils erreichte "Kräfteverhältnis" und die sich daraus ergebenden Chancen politischer Einflussnahme. In einer Resolution zum anstehenden 60. Jahrestag der "Befreiung vom Faschismus"244 im Jahr 2005 bezeichnete sich die PDS als "konsequent antifaschistische, demokratische sozialistische Partei" und kritisierte die angebliche Tendenz in Deutschland, Schuld und Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg verdrängen, relativieren, damit verkleinern und letztendlich vergessen zu wollen. Rechtsextremismus sei im Aufwind, in den Medien stehe "mit der Gleichsetzung von NPD und PDS eine unsägliche Tradition der Volksverdummung wieder" auf. Es werde "Geschichtsrevisionismus" betrieben und ein einseitiges und verzerrtes Bild des Zweiten Weltkriegs vermittelt. Schließlich müsse der "Antikommunismus erneut als ideologisches und politisches Mittel zur Durchsetzung antisozialer, antidemokratischer, neoliberaler Politik herhalten". Die Worte "wieder" oder "erneut" weisen auf eine schon da gewesene und nun vermeintlich erneut drohende Entwicklung hin. Die PDS bewegt sich damit weiterhin in den alten Bahnen der noch immer virulenten kommunistischen Refaschisierungsthese245. Der Parteitag verabschiedete außerdem ein "Leitbild" zur Parteireform. Dabei stand neben innerparteilichen Strukturreformen die Mitgliedergewinnung im Vordergrund. Bei der angestrebten "Offenheit/Bürgernähe" 246 wird als Ziel formuliert, "in der Gesellschaft, in den sozialen Bewegungen verwachsen (zu) sein". Ähnlich heißt es zum Punkt "Aktionsfähigkeit": "Wir wollen unsere Präsenz im außerparlamentarischen Raum stärken." Dass außerparlamentarische Bewegungen unverändert wichtige Bezugspunkte der PDS sind, zeigte ihr Engagement in der "Antikriegsbewegung" ebenso wie bei den Protesten gegen "Sozialabbau". Die Partei mobilisierte in diesem Sinne zur Teilnahme an den Aktionstagen vom 2. und 3. April 244 Hier und im Folgenden: "Zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Resolution der 1. Tagung des 9. Parteitags der PDS". 245 Unterstellt einen wieder stärker werdenden Einfluss faschistischer Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland. 246 Hier und im Folgenden: "PDS-Parteireform 2005/2006". 191 2004 und beteiligte sich an den "Montagsdemonstrationen". In Reaktion auf die "Agenda 2010" hatte sie als Gegenentwurf ihre "Agenda Sozial" veröffentlicht. Der Potsdamer Parteitag kann als erster Schritt in Richtung konstruktiver politischer Arbeit unter Zurückstellung politischer Streitigkeiten gewertet werden. Eine Gefährdung des dort formulierten Ziels, 2006 wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen, stellt allerdings die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG)247 dar, die, im Juli 2004 als Verein etabliert, nach einer Urabstimmung als "neue Linkspartei" gegründet werden und ebenfalls zur nächsten Bundestagswahl antreten soll. Ein alternativer Leitantrag warnte davor, die westlichen Landesverbände für ein tak"neue Linkstisches Experiment zu opfern. Auf dem Parteitag waren Befürchtungen laut partei" wird geworden, eine auf den Osten begrenzte PDS könne mit der "neuen Linksals Konkurrenz partei" im Westen eine Kooperation eingehen. Sollte es dem von der PDS betrachtet als Konkurrenz betrachteten Projekt gelingen, PDS-Wähler und Sympathisanten für sich zu gewinnen, ginge damit eine ernsthafte Existenzgefährdung der ohnehin schwachen Westverbände einher. Dies wiederum würde die Wahlchancen der Gesamtpartei 2006 erheblich beeinträchtigen. In ihrem Leitantrag auf dem Potsdamer Parteitag betonte die PDS deshalb entsprechend ihre Offenheit für "eine inhaltliche Auseinandersetzung" mit dieser neu auftretenden politischen Kraft, betonte aber zugleich ihre "Sorge, dass sich die Linken immer mehr aufsplittern, statt durch gemeinsames Handeln stärker zu werden". Sie sehe in der künftigen "Linkspartei" "eine Herausforderung, ihre Politikfähigkeit - gerade im Westen - zu stärken und ihre Alternativen wirksamer in die öffentliche Debatte zu bringen". In einer Presseerklärung von Ende November 2004 erklärte sie ein weiteres Mal ihre Dialogbereitschaft. Auch der PDS-Landesverband Baden-Württemberg plädierte vor dem Hintergrund einer möglicherweise drohenden "verhängnisvollen Zersplitterung der Linken" beziehungsweise eines Wahlausgangs, der "die Linke auf Jahre zerfetzen und zurückwerfen" könnte, für eine Kooperation.248 Dem Versuch der PDS auf Bundesebene, ausgehend von einem deutlich gefestigten Zustand der Partei die Wiedererlangung der Politikfähigkeit in Angriff zu nehmen, stehen keine vergleichbaren Erfolge des Landesverbands Baden-Württemberg gegenüber. Der Mitgliederbestand stagniert. Ein möglicher massiver Mitgliederschwund in Reaktion auf die "reformer"geprägte bundespolitische Linie der PDS ist immerhin weitgehend ausge247 Die WASG ist kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 248 Homepage des PDS-Landesverbands Baden-Württemberg vom 4. November 2004. 192 Linksextremismus blieben. Ein "prominentes" Beispiel für einen solchen Schritt war allerdings der Parteiaustritt des früheren baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten und seinerzeitigen Vorstandsmitglieds im Landesverband BadenWürttemberg der PDS, Winfried WOLF, im Mai 2004. In einem Interview mit der "Sozialistischen Zeitung" vom Februar 2004 bekannte er, dass die Arbeit in der PDS "keinen Stellenwert mehr" für ihn besitze, weil die Partei angeblich "in der kapitalistischen Gesellschaft angekommen" sei. Seinen Austritt begründete er in einer Erklärung vom 21. Mai 2004 mit deutlicher Kritik am politischen Kurs der PDS. So sei diese keine sozialistische Partei mehr. Sie erhebe stattdessen das "kapitalistische Prinzip der Profitmaximierung" zum Maß aller Dinge und orientiere sich im Unterschied zur früher vorrangigen Ausrichtung auf außerparlamentarische Bewegungen in Richtung einer Teilhabe an bürgerlicher Macht. Mit ihrer Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin stehe sie "vielfach an der Spitze der Angriffe auf sozial Schwache" und betreibe selbst "das Spiel der OstWest-Spaltung". WOLF verurteilte außerdem die inkonsequente Haltung der PDS als "Antikriegspartei" und ihren populistisch gefärbten Europawahlkampf. Bei seinen Mitstreitern in Baden-Württemberg stieß der Zeitpunkt seines Austritts - kurz vor der anstehenden Europawahl - auf Unverständnis und Kritik. Der Sprecher des Landesverbands warf ihm vor, "den rechten Blick fürs 'linke' Maß verloren"249 zu haben. Eine wichtige Rolle spielten für die PDS die Vorbereitung und Durchfühhohe rung der Wahlen. Zur Bedeutung der Kommunalwahlen äußerte der LanBedeutung der dessprecher in einem Interview: Kommunalwahlen "Kommune hat was mit Kommunismus zu tun. Sozialistische Politik muss dort ansetzen, wo sich die meisten Menschen gesellschaftlich engagieren, in der Stadt, der Gemeinde, im Kreis."250 Der Potsdamer Parteitag hatte in seinem Leitantrag die Kommunalpolitik sogar als "eine entscheidende Handlungsebene" im Sinne der politischen Vorstellungen der Partei bezeichnet, auf der sich "Protest und Widerstand von unten aus konkreten Problemen heraus" aufbaue, und wo "Lösungsund Gestaltungsansätze entwickelt und umgesetzt" werden könnten. Gerade im Westen gilt eine kommunalpolitische Verankerung als wichtiger Schritt zum weiteren Aufbau der Partei. 249 "junge Welt" Nr. 120 vom 27. Mai 2004. 250 Stattzeitung. Für Südbaden und alle Weichensteller, Ausgabe Nr. 56 vom Juni/Juli/August 2004, S. 9. 193 Vor allem gemessen an den bescheidenen personellen und logistischen Ressourcen war die Kommunalwahl in Baden-Württemberg für die PDS durchaus ein Erfolg. Sie selbst wertete das Ergebnis als "Stärkung der sozialistischen Kommunalpolitik"251. Die Partei kandidierte in Stuttgart und Karlsruhe mit einer eigenen Liste und konnte dort wie in Konstanz ihre Gemeinderatsmandate verteidigen. In anderen Städten unterstützte sie bei KommunalWahlbündnisse, so in Freiburg im Breisgau die "Linke Liste/Solidarische wahl teilweise Stadt" (LiSST), die ein zusätzliches Mandat errang. In Heidelberg untererfolgreich stützte die PDS die "Bunte Liste", in Mannheim die "Linke Liste Mannheim" (LiLiMa). Beide waren erstmals angetreten und erhielten auf Anhieb jeweils einen Sitz. Als Fehlschlag erwies sich die erstmalige Kandidatur der PDS für die Kreistage in Offenburg und Konstanz. Ähnlich enttäuschend verlief die Wahl zum Regionalparlament in Stuttgart, obwohl sich die Partei hier durchaus "gute Chancen für ein bis zwei Mandate"252 ausgerechnet hatte. Ein Erfolg war hingegen der Wahlausgang in Tübingen, wo die PDS in Verbindung mit der DKP über die "Tübinger Linke/PDS" (TüL/PDS) im Gemeindeund Kreistag einen weiteren Sitz hinzugewinnen konnte und dort seither mit vier beziehungsweise zwei Mandaten vertreten ist. Fanalwirkung für die PDS hatte die Europawahl. Ihr Ausgang war im Vorfeld als eine Art Schicksalsentscheidung über die Zukunft der Partei verstanden worden. Im Ergebnis erzielte die PDS - auch für die eigenen Anhänger überraschend - einen klaren Erfolg, indem sie mit 6,1 Prozent der Stimmen die Fünfprozenthürde überwinden und mit nun sieben Abgeordneten in das Europäische Parlament einziehen konnte. Das unerwartet positive Resultat hat der Partei deutlichen Auftrieb verliehen und lässt sie optimistisch in die Zukunft blicken. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: ca. 500 Baden-Württemberg (2003: ca. 500) ca. 4.500 Bund (2003: ca. 4.700) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) 251 Erklärung des PDS-Landessprechers vom 17. Juni 2004. Homepage des PDS-Landesverbands BadenWürttemberg vom 21. Juni 2004. 252 "Kommunale Berichte Stuttgart" Nr. 6 vom 18. März 2004. 194 Linksextremismus Die mittlerweile dauerhaft mit Problemen konfrontierte "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) war auch im Jahr 2004 in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sachthemen widmete sie sich nur zweitrangig. Ihre Kraft reichte erneut nicht aus, um eigeninitiativ Kampagnen und Aktionen von nennenswerter Öffentlichkeitswirksamkeit durchzuführen. Immerhin gelang es der Partei, sich mit einer eigenen Liste an der Europawahl zu beteiligen. Trotz der anhaltenden finanziellen Notlage brachte sie zu diesem Anlass diverses Schriftmaterial heraus, um ihre politischen Standpunkte zu propagieren. Offiziell hatte die DKP die Teilnahme an der EuroTeilnahme an pawahl auf ihrer Wahlkonferenz in Berlin am 10. Januar 2004 beschlossen. Europaund Sieben von den insgesamt 34 Kandidaten auf der Wahlliste stammten aus Kommunalwahl Baden-Württemberg. Mit Ausnahme des 11. Listenplatzes wurden sie jedoch alle auf den hinteren Rängen platziert. Das Resultat der Wahl galt mit 0,1 Prozent (37.231 Stimmen) als "ein bescheidenes, aber nicht unerwartetes Ergebnis"253. Die Partei durfte immerhin erfreut zur Kenntnis nehmen, dass in den neuen Bundesländern Wahlergebnisse erzielt werden konnten, die über dem Bundesdurchschnitt lagen. An der Kommunalwahl in Baden-Württemberg beteiligte sich die DKP nur sehr verhalten, erzielte jedoch in einigen Städten durchaus Achtungserfolge. So erlangte ein Mitglied des DKP-Parteivorstands über die Freiburger Bündnisliste "Linke Liste/Solidarische Stadt" (LiSST) ein Mandat. Mit 5,7 Prozent ein für die Partei herausragender Einzelerfolg war das Ergebnis ihrer eigenen Liste in Heidenheim. Hier konnte sie die Zahl ihrer Mandate auf zwei erhöhen. Ein noch besseres Ergebnis erzielte die "Tübinger Linke/PDS" (TüL/PDS) mit 8,6 Prozent. Damit hat die DKP in Tübingen einen Vertreter im Stadtparlament und im Kreistag. In anderen Städten unterstützte sie eine "Offene Liste" der PDS (Stuttgart) und andere Listenverbindungen (Mannheim und Heidelberg). Der anhaltende Schwächezustand der DKP dokumentierte sich nicht nur in der offenkundigen Unfähigkeit, programmatische Defizite aufzuarbeiten, sondern auch in ihren Nachwuchsund Überalterungsproblemen und vor allem im Kampf um das finanzielle Überleben. So war die regelmäßige Herausgabe des Parteiorgans "Unsere Zeit" (UZ) immer wieder in Frage gestellt. Eigenen 253 UZ Nr. 25 vom 28. Juni 2004. 195 Angaben zufolge hatte sich die finanzielle Situation der Partei bis Mitte existenzielle 2004 dramatisch verschlechtert. Spendenaufrufe, Kampagnen und SolidariKrise tätsappelle an die Mitglieder erbrachten jedoch trotz einzelner Erfolge nicht die erhoffte Steigerung vor allem der Abonnentenzahlen, sondern unter dem Strich eher einen weiteren Rückgang. Am 1. September 2004 startete daher die vom Parteivorstand am 27. Juni 2004 beschlossene neuerliche UZWerbekampagne ("Die UZ muss Wochenzeitung bleiben"), die in zwei Etappen bis Ende Juni 2005 laufen soll. Wenigstens eine zumindest vorübergehende Verbesserung der "finanzielle(n) Handlungsfähigkeit"254 bedeutete eine unerwartete "Großspende". Diese nahm die Partei zum Anlass, an die "Genossinnen und Genossen, die keine Kinder und direkte Verwandtschaft" hätten, zu appellieren, "ihren finanziellen Nachlass (...) der Partei für die politische Arbeit" zukommen zu lassen. Erbschaften und Nachlässe seien wichtige "Finanzhilfen". weiterhin Dauerthema und zugleich eine Zerreißprobe für die Partei war weiterhin kein neues die Diskussion um ein neues Parteiprogramm. Die 2002 formulierte Parteiprogramm Absicht, bis Herbst 2003 einen Entwurf vorzulegen, konnte nicht realisiert werden. Auch die eigens eingesetzte Programmkommission brachte kein Ergebnis zustande. Ursächlich dafür waren fortbestehende erhebliche "Meinungsdifferenzen" und "unterschiedliche Positionen" innerhalb des Gremiums. In der Partei ging deshalb bereits die Sorge um, diese "kontroversen Diskussionen könnten die Einheit der Partei gefährden, ihre politische Kampffähigkeit lähmen."255 Ein von der Parteiführung für den 17. April 2004 einberufenes "Hearing" zur Programmfrage, auf dem ursprünglich die unterschiedlichen Meinungen herausgearbeitet und diskutiert werden sollten, dass "eine einheitliche politische Meinungsund Willensbildung möglich wird", endete in einem Desaster: Die unversöhnlichen Standpunkte wurden eher noch gefestigt statt harmonisiert. Ausdruck innerparteilicher Probleme dürfte auch die Zweiteilung des 17. Parteitags sein, der im Februar 2004 einberufen wurde. Für den ersten Teil am 12./13. Februar 2005 in Duisburg-Rheinhausen legte der Parteivorstand neben dem Entwurf einer "politischen Erklärung" eine "Handlungsorientierung" zur Beschlussfassung vor. Dabei soll vor allem über die Vorhaben der Partei in den Jahren 2005 und 2006 beraten werden. Das noch ausstehende neue Parteiprogramm hingegen soll Gegenstand einer auf Ende 2005/Anfang 2006 terminierten zweiten Veranstaltung sein. 254 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 43 vom 22. Oktober 2004. 255 UZ Nr. 3 vom 16. Januar 2004, S. 15. 196 Linksextremismus Ihr diesjähriges Pfingstcamp veranstaltete die "Sozialistische Deutsche Aktivitäten der Arbeiterjugend" (SDAJ), die Jugendorganisation der DKP, vom 28. bis Jugendorgani31. Mai 2004 in Köln unter dem Motto "Her mit dem schönen Leben!" sation Dabei bestimmten vor allem die Ausbildungsplatzsituation Jugendlicher sowie friedensund europapolitische Fragen die Vortragsund Diskussionsveranstaltungen. Der 17. Bundeskongress der SDAJ am 9. und 10. Oktober 2004 in Hannover stand unter dem Leitmotiv "100 Jahre Arbeiterjugendbewegung verpflichten - Ausbilden statt Ausbeuten! - Keinen Menschen & keinen Cent dem Militär! Kein Fussbreit den Faschisten!"256 Auch hier stand die Ausbildungsplatzsituation im Mittelpunkt, aber auch eine Kampagne gegen "Lehrstellenkiller" unter den Großbetrieben. Ziel der Kampagne sollte sein, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften aufzubauen beziehungsweise zu erweitern, den Anteil "Arbeiterjugendlicher" in der SDAJ zu erhöhen und den Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchten, zu vermitteln, dass "die Unternehmer ihnen das Recht auf qualifizierte Ausbildung [sc. vorenthielten] und der einzige Weg, das zu ändern, der Weg des Sozialismus" sei.257 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 1.350 Baden-Württemberg (2003: ca. 1.400) ca. 8.000 Bund (2003: ca. 9.000) Publikationen: "antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur" "Antifa Nachrichten" Für die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) wird das Problem der Überalterung ihrer Mitgliederschaft immer drängender. Auf ihrer 35. Landesdelegiertenkonferenz, die am 15./16. Mai 2004 unter dem Motto "Gegen Rechtsentwicklung und Sozialabbau! Für Antifaschismus und Frieden! Keine Naziaufmärsche in Schwäbisch Hall und anderswo!" in Schwäbisch Hall stattfand, musste sie einräumen, dass es in den letzten Jahren nur selten gelungen sei, ihre mortalitätsbedingten Mitgliederverluste durch Neuaufnahmen auszugleichen. Zwar habe sich die Kurve verflacht, aber die Entwicklung sei weiterhin rückläufig. Zudem musste man feststellen, dass diese Konferenz "die erste in der Geschichte der Landesvereinigung" war, "an der keines unserer Gründungsmitglieder teilnehmen konnte."258 256 Übernahme wie im Original. 257 UZ Nr. 43 vom 22. Oktober 2004, S. 9. 258 Hier und im Folgenden: "Antifa Nachrichten" Nr. 3 vom Juli 2004, S. 3-6. 197 Ein "Kassenbericht mit erschreckenden Zahlen" bilanzierte zudem eine angespannte finanzielle Situation der Landesvereinigung. Hauptursache der seit Jahren bestehenden finanziellen Schwierigkeiten sind sinkende Mitgliederzahlen. Die Konferenz beschloss daher, eine Kampagne zur WerMitgliederbung neuer Mitglieder zu starten. Sie gilt als die "Hauptaufgabe für die werbung als kommenden Jahre", bei der es darum geht, auf Sicht von vier Jahren jährSchwerpunkt lich 110 neue Mitglieder zu gewinnen. Mit der Wahl von Schwäbisch Hall als Tagungsort der Landesdelegiertenkonferenz sollte gegenüber den dortigen "antifaschistischen Kräften" ein Zeichen der Solidarität gesetzt werden, vor allem gegenüber der eigenen Kreisvereinigung, die "im Zentrum der vielen Gegenaktionen" gegen die wiederholten Aufmärsche der rechtsextremistischen "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) gestanden habe. Ein von der VVN-BdA mit zu verantwortender Aufruf zu einer neuerlichen Kundgebung in Schwäbisch Hall am 5. Juni 2004 forderte unter anderem, Organisationen wie die BDVG, "die die Verharmlosung des Nationalsozialismus auf ihre Fahnen" schrieben, "(...) entsprechend dem antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes zu verbieten." 259 Ein solches Verbot unter Berufung auf den angeblichen "antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes" begründet die VVN-BdA unverändert mit dem längst obsolet gewordenen Art. 139 Grundgesetz. Ihm zufolge hätten - wäre er weiterhin aktuell - die von den Alliierten erlassenen Rechtsvorschriften unter anderem zur Entnazifizierung bis heute Bestand. Dies würde in der Praxis bedeuten, dass einem Verbot neonazistischer Parteien und Vereinigungen kein entsprechendes juristisches Verfahren mehr vorauszugehen hätte, da ein solches ohnehin bereits bestünde. Bei der Kundgebung gegen die BDVG am 11. September 2004 trat der Bundesund Landessprecher der VVN-BdA, Werner PFENNIG, als Redner auf. Bereits im Vorfeld der Demonstration wurde er mit Äußerungen zitiert, in denen er den deutschen Behörden willkürliches, gesetzlich nicht gedecktes "politische Handeln unterstellte.260 So sei es schon schlimm genug, dass die Nazis mit Willkür" "volksverhetzenden Parolen" demonstrieren wollten. Der "eigentliche deutscher Skandal" aber sei, dass die Behörden und Gerichte dies zuließen, trotz der Gerichte angeblich klaren "Vorgaben" des Grundgesetzes. PFENNIG warf den deut259 Aufruf zur Kundgebung am 5. Juni 2004 in Schwäbisch Hall. 260 Hier und im Folgenden: "Kommunal-Info Mannheim" Nr. 18 vom 3. September 2004, S. 7; Übernahme wie im Original. 198 Linksextremismus schen Gerichten vor, "unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit" auch noch die deutlichsten rassistischen, menschenverachtenden und kriegshetzerischen Parolen von Rechtsextremisten zu decken. Die Stadt Schwäbisch Hall hingegen forderte er auf, "trotz dieser dem antifaschistischen Geist des Grundgesetzes widersprechenden Rechtsprechung" ein Verbot des bevorstehenden "Aufmarsches" auszusprechen. Auch der auf der Landesdelegiertenkonferenz verabschiedete Leitantrag "Unsere Aufgaben für eine Welt ohne Rassismus, Ausbeutung und Krieg" beschreibt ein Bild, demzufolge Rechtsextremisten in Deutschland entgegen anders lautenden öffentlichen Bekundungen angeblich wohlwollend geduldet und gefördert würden: "Trotz der eindeutigen Bestimmungen des Grundgesetzes und der Bekenntnisse fast aller politischen Parteien können sich neofaschistische Parteien und Organisationen in unserem Land fast unbehindert entfalten. Ihre Aufmärsche werden von höchsten Gerichten erlaubt, und von der Polizei und Bundesgrenzschutz vor antifaschistischen Protesten beschützt. Sie genießen das Parteienprivileg und erhalten staatliche Wahlkampfgelder. Viele ihrer Mitglieder und Funktionäre erhalten Honorare vom Verfassungsschutz und verwenden diese für neofaschistische Propaganda."261 Solche Passagen zeigen, dass die Vorstellungen der VVN-BdA nicht mit den Agitation gegen tragenden Prinzipien einer rechtsstaatlichen Demokratie überein zu bringen Grundsätze sind. Sie ist offenkundig nicht bereit zu akzeptieren, dass in einem Rechtsder Rechtsstaat für Mitglieder und Anhänger von Parteien und Organisationen gleich staatlichkeit welcher politischen Ausrichtung das Recht auf Versammlungsund Demonstrationsfreiheit gilt, solange sie nicht gegen Strafgesetze verstoßen. Im Falle von dem Rechtsextremismus zugeordneten Personen oder Organisationen wird Gleichheit vor dem Gesetz als Duldung und Förderung interpretiert. Wenn Rechtsextremisten nach Auffassung der VVN-BdA keine Toleranz verdienen, sondern vielmehr "auf allen Ebenen" bekämpft werden müssen, so spricht daraus der Wille, an die Stelle von Rechtsstaatlichkeit die willkürliche und konsequente Ausschaltung politischer Gegner zu setzen. 261 "Antifa Nachrichten" Nr. 3 vom Juli 2004, Einlage S. I; Übernahme wie im Original. 199 In Reaktion auf die als "Alarmsignal" bewerteten Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien in Sachsen und Brandenburg bei den Landtagswahlen 2004 stellte auch der Bundesausschuss der VVN-BdA in einer Erklärung einen Zusammenhang dazu her, dass antisemitische und ausländerfeindliche Propaganda angeblich "immer häufiger von Genehmigungsbehörden und Justiz als verfassungskonforme 'Meinungsäußerung' legitimiert"262 würden. Die eigentliche "Grundlage" solcher Wahlerfolge aber sei die von allen bürgerlichen Parteien "gegen die Lebensinteressen von Millionen Bürgern" betriebene Politik, namentlich "Hartz IV", "Umverteilung von unten nach oben", "Kriegspolitik", "Bildungsmisere" und "Demokratieabbau", woran Kritik zu üben als undemokratisch diffamiert werde. Eine solche Politik leiste "faschistischer Sozialdemagogie Vorschub". Wenn die VVN-BdA darüber hinaus wiederholt in solchen oder ähnlichen Formulierungen glaubt, feststellen zu müssen, dass "Antifaschisten kriminalisiert" würden und "Polizei und Justiz als Kumpane des Neonazismus" aufträten263, vertritt sie originäre linksextremistische Positionen. Im Rahmen ihrer Zielsetzung, sämtlichen "faschistischen Aktionen und Bestrebungen"264 den Kampf anzusagen, protestierte die VVNBdA "schärfstens" gegen die Teilnahme von "Nazis aller Couleur" an den Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Sozialreformen der Bundesregierung. Sie bot an, "Veranstaltern von Kundgebungen und Demonstrationen zur Abwehr der Teilnahme von Faschisten mit Rat und Tat behilflich zu sein". Den Veranstaltern selbst empfahl sie, öffentlich erkennbar gegen "Neofaschismus, Antisemitismus und Rassismus" Position zu beziehen. Bei Vorgesprächen mit der Polizei sei diese aufzufordern, dabei mitzuhelfen, Rechtsextremisten von der jeweiligen Veranstaltung fernzuhalten. Die Polizei habe "die Aufgabe Versammlungen zu schützen." Dieser Schutz von Veranstaltungen gilt für die VVN-BdA, wie sie immer wieder bekundet, offenkundig nur für "antifaschistische", nicht aber für rechtsextremistische Versammlungen. Wie auch ihre immer wieder zitierte Parole "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" deutlich macht, gelten für die VVN-BdA Grundfortgesetztes rechte wie die Versammlungsund Demonstrationsfreiheit oder das Recht "antifaschisauf freie Meinungsäußerung nur selektiv. Die von der VVN-BdA praktiziertisches" te Berufung auf das Grundgesetz bedeutet deshalb keineswegs, dass es ihr Engagement um die Einhaltung oder Durchsetzung der darin enthaltenen demokrati262 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 39 vom 24. September 2004. 263 "Antifa Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2004, S. 3. 264 Hier und im Folgenden: "antifaschistische nachrichten" Nr. 18 vom 9. September 2004, S. 1 und S. 3; Übernahme wie im Original. 200 Linksextremismus schen Prinzipien geht. Ihr Ziel ist eine reine Instrumentalisierung, um Politik und Justiz vermeintliche Verstöße gegen die Verfassung zu unterstellen. Eine solche Vorgehensweise ist geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in Parteien, Staatsorgane, Recht und Gesetz zu untergraben. 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 600 Baden-Württemberg (2003: ca. 650) mehr als 2.000 Bund (2003: unter 2.000) Publikationen: "Rote Fahne" (RF) "Lernen und Kämpfen" (LuK) "REBELL" Zentrales Ereignis des Jahres 2004 war für die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) ihr VII. Parteitag, der wie üblich unter absoluter Geheimhaltung im Frühjahr in Magdeburg durchgeführt wurde. Schon im Herbst 2003 waren die Vorbereitungen dazu angelaufen. Die Bilanz der Partei fiel erwartungsgemäß positiv aus. So bezeichnete sie die Betriebsund Gewerkschaftsarbeit als ihren besonderen "Trumpf". Mit ihrem Engagement "im Streik um die 35-StundenWoche in Ostdeutschland 2003, in der Metalltarifrunde Anfang 2004 oder in verschiedensten Kämpfen gegen Arbeitsplatzvernichtung, Lohnabbau und politische Entlassungen" habe sie dazu beigetragen, dass die Arbeiter in diesen Kämpfen VII. Parteitag stärker würden, sich organisierten "und ihre Einheit für den Klassenkampf zur Eroberung der politischen Macht im echten Sozialismus" festigten.265 So behauptete die MLPD, maßgeblich verantwortlich gewesen zu sein für die erfolgreiche Durchführung eines "DaimlerChrysler-Aktionstages" im Juli 2004 in Stuttgart. Eine gezielte Betriebsund Gewerkschaftsarbeit soll zukünftig den Kern der "Konzernzusammenarbeit" bilden. Als "wichtige Methode im Kampf auf dem Weg zur Arbeiteroffensive" habe daher der Parteitag "neue Organisationsstrukturen für die Konzernzusammenarbeit in Deutschland"266 beschlossen. Dafür sei sogar das Parteistatut verändert worden. Diese "Kon265 RF Nr. 18 vom 30. April 2004, S. 12. 266 RF Nr. 17 vom 23. April 2004, S. 6. 201 zernzusammenarbeit" sei zugleich von entscheidender Bedeutung "auch für die internationale Koordinierung und Revolutionierung der Arbeiterkämpfe weltweit als Beitrag zur Vorbereitung der internationalen Revolution".267 Der Parteitag fand für die MLPD "in einer gesellschaftlichen Situation statt, in der die Bundesregierung eine beispiellose Zerschlagung sozialer Errungenschaften und Rechte [sc. betrieb]. Wo die führenden Übermonopole die Arbeiter in Europa und der ganzen Welt in eine Konkurrenz um die niedrigsten Löhne und schlechtesten Arbeitsbedingungen treiben [sc. wollten]. Wo der US-Imperialismus die Welt mit Krieg [sc. überzog]."268 In einer solchen Lage, in der die Menschen angeblich massenhaft "nach Lösungsmöglichkeiten und Auswegen aus dem Diktat des Kapitalismus" suchten, und vor dem Hintergrund allgemeiner Parteienverdrossenheit in Deutschland bescheinigten Stimmen aus dem eigenen Lager gerade der MLPD "Anziehungskraft". Entgegen dem Trend bei den bürgerlichen Parteien, denen die Mitglieder "scharenweise" davonliefen, habe die MLPD seit ihrem letzten Partei angeblich Parteitag im Jahr 1999 angeblich 13,2 Prozent neue Mitglieder gewinnen im Aufwind können. Im Unterschied zum "allgemeine(n) Gejammer bürgerlicher Politiker" habe zudem der Parteitag die "Widersprüchlichkeit und Chancen" der derzeitigen Situation herausgearbeitet. Demnach seien noch "nie (...) die materiellen Bedingungen für eine entwickelte sozialistische Gesellschaft, die Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen so ausgereift wie heute" gewesen. Diese, in ihren Augen günstige Ausgangslage vermochte allerdings auch die MLPD nicht entsprechend zu nutzen. Die Partei beteiligte sich aktiv an den Protesten gegen "Sozialabbau" und propagierte dort ihre Forderungen "Weg mit Hartz IV". Auch in Baden-Württemberg trat sie in verschiedenen Städten als Anmelderin von Demonstrationen und Kundgebungen auf oder betrieb Infostände, so auch in Albstadt, Bruchsal, Esslingen, Friedrichshafen, Freiburg im Breisgau, Göppingen oder Heilbronn. Die Aktionstage am 2. und 3. April 2004 als einen der Höhepunkte der Proteste betrachtete die MLPD als "Machtprobe zwischen der Arbeiterklasse und den breiten Massen auf der einen und den Monopolen und ihrer Regierung auf der anderen Seite"269, die es erfolgreich auszutragen gelte. 267 RF Nr. 18 vom 30. April 2004, S. 13. 268 Hier und im Folgenden: "Rote Fahne News". Internetauswertung vom 10. November 2004; Fettdruck im Original. 269 RF Nr. 15 vom 9. April 2004, S. 3. 202 Linksextremismus Ungewöhnliche "Publizität" allerdings bescherte der MLPD die von ihr verursachte Kontroverse um die "Montagsdemonstrationen". Ihre Versuche, diese Veranstaltungen zu unterwandern und zu instrumentalisieren, stießen auf heftigste Kritik aus dem übrigen linksextremistischen Lager. So nutzte sie die auf solchen Veranstaltungen eingerichteten "offenen Mikrofone", über die "Stimmen aus dem Volk" Gelegenheit erhalten sollten, sich spontan und öffentlich zu äußern, um ihre eigenen politischen Vorstellungen zu propagieren. Zudem führte die MLPD auf den "Montagsdemonstrationen" offenbar manipulierte Abstimmungen durch, die sie in ihrem Sinne zu interpretieren wusste. Die Idee der "offenen Mikrofone" verteidigte die Partei zusammen mit Abstimmungen bei solchen Demonstrationen als "zukunftsweisende Formen der aktive Rolle bei Volksdemokratie", die allerdings nicht nur bei den "selbst ernannten kleinSozialprotesten bürgerlichen Führern", sondern auch "unter einem Teil so genannter 'linker' Kräfte regelrechte Allergien" auslösen würden.270 So bezichtigte die MLPD ihrerseits vor allem die PDS als Spalterin der "Montagsdemobewegung" und warf ihr "Fälschung demokratisch geführter Abstimmungen" vor. Anlässlich der Kommunalwahl in Baden-Württemberg kandidierte die MLPD in mehreren Gemeinden in "überparteilichen Personenwahlbündnissen" neben ihrem bereits "traditionellen" Wahlbündnis in Albstadt unter anderem auch in Bruchsal, Esslingen, Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart und Ulm. Bei der Europawahl rief die MLPD nicht nur zum Boykott auf, sondern forderte darüber hinaus: "Stimmt ungültig! Stärkt die MLPD!"271 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1975 Sitz. Dortmund Mitglieder: ca. 350 Baden-Württemberg (2003: ca. 340) ca. 4.600 Bund (2003: ca. 4.600) Publikationen: "Die Rote Hilfe" Die "Rote Hilfe e.V." ist bundesweit unter den linksextremistischen Organisationen eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Dies gilt gerade im Hin270 RF Nr. 43 vom 21. Oktober 2004, S. 14f. 271 RF Nr. 23 vom 3. Juni 2004. 203 stabile blick auf zentrale Punkte wie einen weiterhin positiven Trend in der EntMitgliederzahl wicklung der Mitgliederzahlen und eine solide Finanzlage. Im Vergleich zu früheren Jahren sind allerdings die in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Betätigungsfelder zurückgegangen. So hat das Interesse an dem traditionellen bundesweiten Aktionstag "18.3. Tag der politischen Gefangenen" offenbar sogar in der Organisation selbst nachgelassen. 2004 erschien keine Sonderbeilage zu diesem Thema in der "jungen Welt"272 mehr. Sie war "wegen mangelnder Resonanz und Beteiligung aus den Ortsgruppen"273 nicht zustande gekommen. Lediglich ein Plakat wurde entworfen, das das Verfahren aus dem Jahr 2003 gegen Mitglieder der linksextremistischen Szene in Magdeburg nach SS 129a Strafgesetzbuch (Bildung einer terroristischen Vereinigung) aufgriff. Als eine Sonderpublikation der "Roten Hilfe e.V." veröffentlichte die Ortsgruppe München im Sommer 2004 eine Broschüre "Der Umgang des Staates mit den Protesten gegen die Sicherheitskonferenz 2004 in München". Im Vorwort wurde unter anderem erklärt: "Wir denken, dass dies [das staatliche Vorgehen gegen die Demonstranten] symptomatisch dafür ist, wie im 'demokratischen Rechtsstaat' BRD mit Freiheitsrechten umgegangen wird, (...). Die staatliche Repression bei der Münchner Sicherheitskonferenz ist somit keine Ausnahme und auch keine ausschließlich bayerische Spezialität, sondern wird in ähnlicher Form z.B. bei Castor-Transporten im Wendland angewandt. (...) Auch wenn meist Einzelne von Repressionsfolgen betroffen sind, so sind es doch ihre politischen Motive, aufgrund derer sie ins Blickfeld der Verfolgungsbehörden geraten sind. Gemeint ist also die gesamte Bewegung." Ein Schwerpunkt der Aktivitäten der "Roten Hilfe e.V." war im Jahr 2004 Kampagne gegen die Kampagne gegen fälschlich so bezeichnete "Berufsverbote". Hinter"Berufsverbote" grund war die Nichteinstellung eines Lehramtskandidaten in den öffentlichen Dienst. Der "Rote-Hilfe"-Aktivist aus Heidelberg hatte Anlass zu 272 Zeitung aus dem linksextremistischen Spektrum. 273 "Die Rote Hilfe" Nr. 2 von 2004, Mitgliederrundbrief S. 19. 204 Linksextremismus Zweifeln an seiner Verfassungstreue gegeben. Nach SS 6 Abs. 1 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Baden-Württemberg darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. In einer in der "Roten Hilfe"-Zeitung veröffentlichten Erklärung protestierte der Bundesvorstand gegen die Maßnahme, mit der "eine lang überwunden geglaubte Repressionsmaßnahme wiederbelebt" worden sei. Die "Reanimation dieser Maulkorbpraxis" sei im Rahmen einer allgemeinen "Verschärfung staatlicher Repression" zu sehen, wie sie besonders seit dem 11. September 2001 praktiziert werde.274 Im Mai 2004 rief er die Ortsgruppen dazu auf, "sich dringend und solidarisch mit diesem Fall zu beschäftigen", dem "erste(n) Berufsverbotsverfahren gegen einen linken Aktivisten in der BRD seit 20 Jahren"275. An der Kampagne waren unter anderem das "Solidaritätskomitee gegen das Berufsverbot" in Heidelberg und die dortige Ortsgruppe der "Roten Hilfe e.V." maßgeblich beteiligt. Letztere zeichnete neben Plakatentwürfen auch für die Erstellung von Protestpostkarten verantwortlich. Finanziert wurde die Kampagne von der Bundesorganisation, die zu diesem Zweck ein bundesweites Spendenkonto einrichtete. Ab September 2004 wurde die Kampagne bundesweit forciert. Mit Unterstützung zahlreicher, überwiegend linksextremistischer Organisationen wurde für den 23. Oktober 2004 zu einer bundesweiten Demonstration in Heidelberg aufgerufen, an der circa 500 Personen teilnahmen. 4.6 Sonstige Vereinigungen Trotzkistische Gruppierungen waren 2004 erneut sehr aktiv. Vor allem "Linksruck" nutzte verschiedene politische Themenfelder, um sich öffentlich zu profilieren. Neben einer Kampagne gegen das "Kopftuchverbot" diente auch die Teilnahme an Protestveranstaltungen dazu, den Bekanntheitsgrad zu erhöhen, Mitglieder zu gewinnen und über Spenden die eigene finanzielle Situation zu verbessern. Nach dem Abflauen der "Antikriegs"Proteste konzentrierte sich "Linksruck" vor allem auf die Teilnahme an Demonstrationen gegen "Hartz IV" im Rahmen des "Widerstands" gegen "Sozialabbau". Bei der Kommunalwahl traten "Linksruck"-Aktivisten in ihrer Hochburg Freiburg im Breisgau auf der "Linken Liste/Solidarische Stadt" (LiSST) an. Darüber hinaus wurde erkennbar, dass die Organisation in der im Entstehen begriffenen "neuen Linkspartei" ein zentrales Betäti274 "Die Rote Hilfe" Nr. 1 von 2004, S. 29; Übernahme wie im Original. 275 "Die Rote Hilfe" Nr. 3 von 2004, Mitgliederrundbrief S. 21. 205 gungsfeld für sich erkannt hat und mittels der trotzkistischen "Entrismusstrategie"276 versuchte, diese noch junge und ungefestigte Organisation zu unterwandern und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die Notwendigkeit einer "neuen Linkspartei" propagierte auch die "Sozialistische Alternative VORAN" (SAV). Mitglieder der Organisation beteiligten sich ebenfalls "konstruktiv und solidarisch" am Aufbau der geplanten neuen Partei und nahmen aktiv an der Programmdiskussion teil, um auf eine sozialistische Ausgestaltung hinzuwirken. Mit Datum vom Oktober 2004 veröffentlichte die SAV eigens zu diesem Thema eine Broschüre. Bei der Kommunalwahl kandidierte die SAV in Stuttgart erfolglos mit einer eigenen Liste. Ähnlich wie andere linksextremistische Organisationen schenkten Trotzkisten im Zusammenhang mit der "sozialen Frage" Streiks und Protesten in deutschen Großbetrieben gegen drohenden Arbeitsplatzabbau besondere Aufmerksamkeit und solidarisierten sich ausdrücklich mit den "Arbeitskämpfen". 5. Aktionsfelder Sozialreformen 5.1 "Sozialabbau" werden als "Angriffe" auf Beherrschende Themen des Jahres 2004 waren die "Agenda 2010" sowie soziale ErrungenKürzungen im Bildungsund Gesundheitswesen als dem "massivsten schaften Angriff auf die sozialen Errungenschaften der breiten Massen in der BRD verstanden nach dem II. Weltkrieg"277. Der Sozialstaat, hieß es noch weiter ausholend, sei "das Resultat der politisch-sozialen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts und dennoch, ja sogar gerade deshalb ein Instrument der sozialen Befriedung". Er sei "das Eingeständnis des Staates, dass der Lohn nicht ausreicht, um für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit vorzusorgen. Sonst wären die Zwangsabgaben ja nicht nötig. Insbesondere im Kontext der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg" sei "der Ausbau des Sozialstaates grundlegend für die politische 276 Eindringen in demokratische Organisationen in dem Versuch, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. 277 "Gemeinsam aufstehen gegen Agenda 2010". Konstanzer Flugblattaufruf unter anderem von der MLPD, dem "Netzwerk gegen Rechts" und der PDS/Linken Liste. 206 Linksextremismus Legitimation"278 gewesen. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik habe "das Kapital enorme Profite (zu) erwirtschaften"279 vermocht und deshalb "den ArbeiterInnen relativ viele Zugeständnisse" gemacht. Der Dank der Arbeiterschaft sei im Gegenzug "das weitgehende akzeptieren der (humanen) kapitalistischen Ausbeutung" gewesen. Doch schon seit den 70er Jahren habe sich das "goldene Zeitalter des Kapitalismus" dem Ende zugeneigt. "Die Aufkündigung des Klassenkompromisses, also die Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnen mit Entlassungen, Lohnkürzungen etc." sei beziehungsweise seien "als Folge der schrumpfenden Profitaussichten geschehen (...)." Der Kapitalismus befände sich inzwischen in einer Krise. Dabei seien die 'Reformen' (...) notwendig um die Krisenerscheinungen des Kapitalismus auf uns (das heißt die Arbeitnehmer) abzuwälzen, während sie (die Kapitalisten) weiterhin ihre Profite einfahren" würden. Der derzeit praktizierte "Sozialabbau" habe eine zunehmende Aushöhlung der bürgerlichen Demokratie zur Folge. Sie befinde sich in einer Krise, was "die vorhandenen Tendenzen zu autoritären undemokratischen Regierungsformen verstärken"280 könne. Deshalb gehe es darum, den Erhalt der demokratischen Rechte und Freiheiten zu erkämpfen und diesen mit "Forderungen zu mehr gesellschaftlicher Mitbestimmung und neuen Bürgerrechten, wie zum Beispiel Volksabstimmungen" zu verbinden. In ihrer "politischen Erklärung"281 analysierte die DKP die mit den Einschnitten im Sozialbereich verbundenen Veränderungen des politischen Systems: "All diese Verschlechterungen im sozialen Bereich und der Abbau demokratischer Rechte waren mit der SPD-Bündnisgrünen-Regierung (...) mit geringerem Widerstand durchzusetzen als mit einem CDU/CSU-geführten Kabinett. Durch die traditionellen Beziehungen vieler Gewerkschafter zur SPD war diese eher in der Lage, sozialen Protest zu binden. (...) Mit der Zerstörung sozialstaat278 "anti atom aktuell" Nr. 151 vom April 2004, S. 43; Übernahme wie im Original. 279 Hier und im Folgenden: Flugblattaufruf der "Revolutionären Aktion Stuttgart" (RAS) zur Demonstration in Stuttgart anlässlich des europaweiten Aktionstags am 3. April 2004; Übernahme wie im Original. 280 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 28 vom 9. Juli 2004, S. 9; Übernahme wie im Original. 281 Entwurf einer "Politische(n) Erklärung der DKP. Den Widerstand gegen Kriegspolitik, Sozialkahlschlag und Demokratieabbau verstärken! - Das Kräfteverhältnis verändern!". 207 licher Regulierungen und demokratischer Rechte, mit den Kriegsbeteiligungen unter der SPD-Bündnisgrünen-Regierung verloren diese Parteien jedoch an Orientierungsfunktion und Legitimität. Die SPD verliert zugleich ihre Fähigkeit, soziale Proteste wie in der Vergangenheit ruhig zu stellen. Die Politik der führenden Vertreter von SPD und Bündnisgrünen ist antireformerisch und sozialreaktionär. Sie sind endgültig in das bürgerliche Lager übergegangen." Dabei betreibe die SPD den "reaktionären Umbau der Gesellschaft" in enger Zusammenarbeit mit der CDU/CSU. Auch die PDS sei keine Alternative. Dem fortschreitenden "Sozialabbau" stand folglich die Notwendigkeit verstärkten "Widerstandes" gegenüber. Der trotzkistische "Linksruck" forderte alle Mitglieder und Sympathisanten nachdrücklich auf, sich an den Kundgebungen zu beteiligen. Die Organisation sah es als ihre Aufgabe an, die Bewegung gegen den "Sozialkahlschlag" an Schulen, Universitäten und ebenfalls in Betrieben voranzutreiben. Wie diese nutzte auch die MLPD das Thema "Sozialabbau" zur Werbung neuer Mitglieder. Sie agitierte im Übrigen in Betrieben gegen die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche sowie gegen Entlassungen und unterstützte Protestaktionen und Streiks. Die DKP setzte auf die Bildung von Bündnissen in der Arbeiterschaft und eine "Politik der "Widerstand Aktionseinheit" in Betrieben und in den Gewerkschaften als der "größte(n) gegen fortschrittliche(n) Kraft und Organisation der Arbeiterklasse". Die Partei Sozialabbau" bekannte sich in ihrer "Politischen Erklärung" ein weiteres Mal ausdrücklich zu der Arbeit der Kommunisten in Betrieben und Gewerkschaften als dem "wichtigste(n) Feld politischer Aktivität". Am 3. April 2004, dem "europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau", fanden in Köln, Berlin und Stuttgart Demonstrationen statt, allein in Stuttgart waren es nach Angaben der Veranstalter rund 140.000 Teilnehmer. Beteiligt waren DKP, PDS, MLPD, "Linksruck", die SAV und der "Revolutionär-Sozialistische Bund" (RSB). Autonome bildeten einen "Schwarzen Block". Die "Revolutionäre Aktion Stuttgart" (RAS) hatte auf ihrer Homepage dazu auf208 Linksextremismus gerufen, sich nicht auf Forderungen zu beschränken, die lediglich kleine Veränderungen zur Folge haben würden: "Die Ursache für die Angriffe auf unsere Lebenssituation ist der Kapitalismus. Nur durch die Abschaffung dieses Systems, das auf Ausbeutung, Konkurrenz und Profit beruht, können wir wirkliche Veränderungen erreichen."282 Auch die verschiedenen traditionellen Veranstaltungen zum 1. Mai standen Aktionen in im Zeichen des Protestes gegen "Sozialabbau", so zum Beispiel in Stuttgart Badenoder in Mannheim. Württemberg Der Versuch ab August 2004, an die "Montagsdemonstrationen" anzuknüpfen, deren Proteste sich seinerzeit gegen das noch bestehende DDR-Regime gerichtet hatten, stieß in Ostdeutschland auf ein wesentlich größeres Echo als im Westen. Die ab Herbst 2004 abflauende Teilnehmerzahl fiel in etwa zeitlich zusammen mit einer sich vertiefenden Spaltung der Bewegung gegen den "Sozialabbau". Verantwortlich gemacht wurde dafür innerhalb der linksextremistischen Szene die MLPD, die massiv versucht hatte, sich Spaltung der politisch in den Vordergrund zu drängen. Das Zerwürfnis hatte zuvor schon Bewegung in der Auseinandersetzung um die zentrale Losung der Proteste begonnen: Während die MLPD auf der Parole "Weg mit Hartz IV - das Volk sind wir!" bestand, wurde die Formulierung "Wir sind das Volk" vom übrigen Spektrum abgelehnt. Den Höhepunkt der Kontroverse bildete die Entscheidung für zwei getrennte bundesweite Demonstrationen in Berlin am 2./3. Oktober 2004. Während ein breites Spektrum, dem unter anderem die PDS und "Linksruck" angehörten, sich auf den 2. Oktober 2004 festlegte, mobilisierte die MLPD ihrerseits für einen "Sternmarsch" nach Berlin am 3. Oktober 2004. Am 6. November fand eine weitere Großdemonstration in Nürnberg vor der Bundesanstalt für Arbeit statt. Rund 1.000 Personen bildeten einen "antikapitalistischen Block", darunter etwa 400 Gewaltbereite. Die Zahl von insgesamt rund 7.000 Teilnehmern signalisierte ebenfalls deutlich rückläufige Teilnehmerzahlen und damit ein Abebben der Protestbewegung. Das Thema "Sozialabbau" dürfte dennoch auf absehbare Zeit seine überragende politische Bedeutung behalten. 282 RAS-Homepage vom 1. April 2004. 209 5.2 EU-Verfassung Agitation gegen Die Osterweiterung der Europäischen Union (EU) sowie die Beratung und "reaktionäre" Verabschiedung einer Verfassung zeigten, dass die Idee eines vereinten EU-Verfassung Europas auch politisch zu einer realen Größe geworden ist. Die Europawahl war der gegebene Anlass für Linksextremisten, diese Entwicklung erstmals entschiedener aufzugreifen. Vor allem die EU-Verfassung stieß im linksextremistischen Lager auf einhellige Ablehnung: "Die geplante EU-Verfassung stellt im Vergleich zum Grundgesetz in vielerlei Hinsicht einen Abbau unserer Grundrechte dar. So eine Verfassung brauchen wir nicht. Das Kapital der europäischen Kernländer - allen voran Deutschland - braucht eine solche Verfassung sehr wohl. Sie ermöglicht ihm die verschärfte Ausbeutung der europäischen Arbeiterklasse und weitestgehende Kontrolle des europäischen Wirtschaftsraumes, der die notwendige Grundlage für alle weitergehenden, globalen Ansprüche im Wettbewerb der imperialistischen Zentren (USA, Japan, EU-Europa) darstellt."283 Kennzeichnend für die EU-Politik seien "Neoliberalismus nach innen" und "Militarisierung nach außen". Die am 1. Mai gefeierte Osterweiterung belege "einmal mehr den expansiven und neoliberalen Charakter der EU". Tatsache sei, dass sie zu den "Vorreitern" gehöre, "wenn es um Sozialabbau und Zerschlagung der staatlichen Rentensysteme, um die Beseitigung von Tarifverträgen und um Steuerentlastungen für Großkonzerne, um die Einschränkung des Asylrechts und die Militarisierung der Außenpolitik" gehe.284 Die Osterweiterung bedeute "ausschließlich (...) die Einund Unterordnung des ostund südosteuropäischen Wirtschaftsraums mit seinem ökonomischen Potenzial, seinen Rohstoffund Arbeitskräfteressourcen als abhängige Peripherie in die globalen Strategien des die EU dominierenden Finanzund Industriekapitals"285. Die Osterweiterung zähle zu den von der EU angeblich ausgehenden politischen Gefahren, denn dieser "ganz friedlich" verlaufene Vorgang sei in Wahrheit "ein aggressiver imperialistischer Akt", gegen den jeglicher Protest der "Friedensbewegung" ausgeblieben sei. Auch für die MLPD bedeutete die Osterweiterung in Wahrheit "den Start283 "Position. Magazin der SDAJ" 2/2004, S. 12f. 284 "junge Welt" Nr. 114 vom 19./20. Mai 2004, Beilage S. 1. 285 "Position. Magazin der SDAJ" 2/2004, S. 22. 210 Linksextremismus schuss für eine Offensive des Neokolonialismus insbesondere gegenüber den osteuropäischen Ländern. Mit ihrem Anspruch, bis zum Jahr 2010 'Weltmacht Nummer 1' zu werden", hätten "die europäischen Imperialisten den Rivalen USA [sc. provoziert] und die allgemeine Kriegsgefahr [sc. gesteigert]."286 Die "Demontage des Sozialstaates" in Deutschland fände in der "neoliberale(n) Skrupellosigkeit"287 der EU ihre Entsprechung und sei deshalb zugleich ein Teilhintergrund der Agitation gegen deren Verfassung. Auch auf europäischer Ebene habe man sich angeblich darauf verständigt, künftig mit einer neuen "Unterklasse" derjenigen zu leben, die durch den "Sozialabbau" in Armut und Arbeitslosigkeit getrieben würden. "Dass Deutschland und Europa hier im Gleichklang mit den USA die Ausbeutung des Globus" betrieben, ergebe sich schon aus der "Struktur des Kapitals". Denn über 50 Prozent ihrer Umsätze und Gewinne erzielten die großen Konzerne außerhalb ihrer Heimatländer. "Indem die USA die internationale militärische Kontrolle über Ressourcen, Transportwege und Märkte" übernähmen, erwiesen sie sich als "politisch-militärischer Dienstleister des globalen Kapitals insgesamt." Der "europäische Faktor" in der Weltpolitik schlage eben nicht "auf der Seite sozialer Gerechtigkeit zu Buche", sondern als "aktives Moment der globalen Ausbeutung". Die UZ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 21. Mai 2004 einen "Aufruf kommunistischer Jugendorganisationen", darunter der SDAJ, aus sieben europäischen Ländern. Dieser "Aufruf" setzte sich für eine Zusammenführung der gegen die EU gerichteten "Kämpfe der Jugendbewegung" ein und für eine "große Kampagne für ein 'NEIN' zu diesem EU-Verfassungsvertrag, wie allen anderen Versuchen neoliberale Politik im Interesse des Kapitals in europäischen Gesetzen festzuschreiben."288 Die DKP "benutzte" den Europawahlkampf daher auch dafür, die Bürger über die neue EU-Verfassung "aufzuklären". So sei kaum bekannt, dass die Verfassung alle Mitgliedsstaaten zur ständigen Erhöhung ihres Wehretats verpflichte. Dies aber rieche nach "Imperialismus und Krieg". Zudem enthalte die Verfassung eine 286 RF Nr. 19 vom 7. Mai 2004, S. 3; Übernahme wie im Original. 287 Hier und im Folgenden: UZ Nr. 1/2 vom 9. Januar 2004, S. 7. 288 UZ Nr. 21 vom 21. Mai 2004, S. 11; Übernahme wie im Original. 211 Klausel, wonach weitere Staaten nur dann in die EU aufgenommen werden könnten, wenn sie kapitalistisch verfasst seien. Die PDS formulierte in ihrem Europawahlprogramm die Vorstellung von "eine(r) Europäische(n) Union, die das Völkerrecht und die UNO-Charta achtet, Krieg und militärische Gewaltanwendung zur Lösung von Konflikten ablehnt, die frei von Massenvernichtungswaffen ist, ihre Rüstungsindustrie auf zivile Produktion umstellt und Rüstungsexporte beendet. Unser Ziel ist die Reduzierung der militärischen Kapazitäten auf strukturelle Nichtangriffsfähigkeit." Ihr in der Öffentlichkeit gepflegtes Image einer "konsequenten Antikriegspartei" übertrug die Partei auch auf die europäische Ebene, indem sie im Europawahlprogramm ebenfalls "der Anwendung militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten entschieden" entgegentrat und "jegliche EU-Militäreinsätze uneingeschränkt" ablehnte. Die Haltung der PDS zur europäischen Verfassung war zuvor auf heftige Kritik gestoßen. Die Vertreterin der PDS im EU-Verfassungskonvent und spätere Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Sylvia-Yvonne KAUFMANN, hatte zunächst bei den Verfassungsberatungen aktiv und konstruktiv mitgearbeitet. Bei der Abstimmung im EU-Parlament hatte sich die PDS allerdings der Stimme enthalten, um schließlich später deren Ablehnung zu beschließen. Diese wankelmütige Haltung wiederum war einer der Gründe, weshalb sich die DKP bei den Wahlen dieses Mal außerstande sah, eine Empfehlung zugunsten der PDS auszusprechen. 5.3 "Friedens-" beziehungsweise "Antikriegsbewegung" Die Proteste der "Friedens-" beziehungsweise "Antikriegsbewegung" haben 2004 weiter nachgelassen. So vermochte auch der Jahrestag des Irakkriegs am 20. März 2004 deutlich weniger Menschen zu mobilisieren. Nach dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen verlagerte sich das politische Interesse vor allem auf die Situation im Irak. In diesem Zusammenhang publik gewordene Folterpraktiken der USA waren geeignet, antiamerikanische Ressentiments einem neuerlichen Höhepunkt entgegen zu treiben. "Sexistische Demütigungen, Folter, Mord und Totschlag", kommentierte das MLPD-Parteiorgan "Rote Fahne" (RF), "das sind weder Einzelfälle noch Zufälle. Das ist das Gesicht des Imperialismus, der mit der verlogenen Begründung eines 'Antiterrorkriegs' ausgezogen ist, sich die ganze Welt zu unterwerfen."289 289 RF Nr. 20 vom 14. Mai 2004, S. 3. 212 Linksextremismus Die amerikanische "Fremdherrschaft" im Irak und die angebliche VerwerDiskussion um tung des Landes im eigenen Interesse, "der Ausverkauf des Landes an mulRechtmäßigkeit tinationale Konzerne" und Foltervorwürfe lösten eine Diskussion um die des WiderLegitimität des irakischen Widerstandes und dessen Formen aus. Ein Flugstands im Irak blattaufruf zu einer am 20. März 2004 in Heidelberg durchgeführten Demonstration stellte dazu fest: "Nicht alle Formen des Widerstands sind legitim. Wir wenden uns aber gegen die massive Propaganda, die die Besatzungsherrschaft als legale und alternativlose Ordnung und die, die sich ihr widersetzen, pauschal als Terroristen darstellt, eine Propaganda durch die der Weg zu einer direkten Unterstützung Deutschlands geebnet werden soll. Wir weisen darauf hin, dass schließlich erst die Gewalt der Besatzung die Gegengewalt provoziert. Wir erinnern zudem daran, dass das Recht auf 'individuelle oder kollektive Selbstverteidigung' gegen eine militärische Aggression in der UN-Charta verankert wurde."290 Der "Feldzug" der USA im Nahen Osten sei als "ein integraler Bestandteil der globalen kapitalistischen Konkurrenz" zu verstehen. Der Kampf gegen die "kapitalistische Globalisierung" schließe daher den Kampf gegen die "Rekolonisierung" des Irak ein, für dessen ideologische Rechtfertigung der "Kampf gegen den Terrorismus" herhalten müsse. Dem wurde das Selbstbestimmungsrecht des irakischen Volkes entgegengesetzt und demzufolge auch dessen Recht auf Widerstand gegen die Besatzung. Im Zuge der Verfassungsberatungen der EU schließlich startete die "FrieAntimilitarismusdensbewegung" eine bundesweite Antimilitarismuskampagne. Nicht zuletzt kampagne vor dem Hintergrund angeblich unzureichender Informationspolitik hatte der linksextremistisch beeinflusste "Kasseler Friedensratschlag" schon Ende 2003 einen Aufruf unter der Überschrift "Gegen diese EU-Verfassung! Für 290 Hier und im Folgenden: Flugblattaufruf des "Heidelberger Forums gegen Militarismus und Krieg", der DKP, VVN-BdA und anderen zur Demonstration in Heidelberg am 20. März 2004; Übernahme wie im Original. 213 ein Europa, das sich dem Krieg verweigert" verabschiedet, um damit eine Diskussion in der "Friedensbewegung" über die EU-Verfassung anzustoßen. Demnach galt es, deutlich zu machen, dass die EU mit dieser Verfassung ein völlig neues Gesicht erhalte, geprägt durch eine umfassende "Militarisierung", die Vorbereitung für weltweite Kriegseinsätze und die Schaffung einer europäischen Rüstungsagentur, begleitet von einer fortgesetzten "Entmündigung" des Europaparlaments. Zusammen mit späteren, ergänzenden Texten sollte vermittelt werden, dass die EU-Verfassung "nicht nur aus rein friedenspolitischen Gründen abzulehnen" sei. In ihrer Festlegung auf den "offenen Markt" spiegele sich zugleich "die gegenwärtig stattfindende neoliberale Globalisierung" wider. "Die Auswirkungen dieser Globalisierung bzw. einige Reaktionen darauf" dienten "wiederum als Begründung für Kriege." 291 5.4 Autonome Zentren Der Kampf um den Erhalt Kampf um "autonomer Zentren" (AZ) Erhalt der wurde auch 2004 fortgesetzt. Einrichtung Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums der Räumung des "AZ im Exil" fand am 31. Januar 2004 in Heidelberg eine Demonstration für ein neues AZ statt. Ein kurz zuvor besetztes Haus "Casa Loca" Haus "Casa Loca" in Heidelberg wurde von der Polizei geräumt. Am 24. Juli 2004 sollte ein weiterer "Aktionstag für ein neues selbstverwaltetes Zentrum" erneut auf die Forderungen der Heidelberger Autonomen aufmerksam machen. Der "selbstverwaltete Jugendclub" in Stuttgart-Degerloch an der Oberen Weinsteige 9 ("OBW 9") sah sich mit der Kündigung seiner bisherigen Räumlichkeiten zugunsten des Neubaus eines städtisch betreuten und damit nicht mehr selbst verwalteten Jugendhauses konfrontiert. Ein angebotenes Alternativobjekt in Bad Cannstatt wurde abgelehnt. Nachdem bereits im Mai 2004 eine Demonstration stattgefunden hatte, unterstrich eine weitere Kundgebung am 27. November 2004 unter dem Motto "Für 291 "zeitung gegen den krieg" Nr. 17 vom Frühjahr 2004, S. 4. 214 Linksextremismus einen heißen Winter - kein Stuttgart ohne uns!" die Forderung nach einem Erhalt des bisherigen Zentrums beziehungsweise nach einer für die Szene akzeptablen Alternative. Nachdem bei der "Ex-Steffi" in Karlsruhe zunächst für das Frühjahr 2004 die Räumung erwartet worden war, gelang es, eine Duldung bis zum 31. Januar 2006 zu erreichen, nachdem mit der Stadt Karlsruhe ein Vergleich geschlossen worden war. Zuletzt hatten die Bewohner am 19. Juni 2004 in der Karlsruher Innenstadt einen "Aktionstag" veranstaltet, um auf ihr Problem öffentlich aufmerksam zu machen. In ihrer Argumentation glaubten sie, auf den angeblichen "Widerspruch" hinweisen zu müssen, dass die Stadt Karlsruhe sich einerseits als "Kulturhauptstadt 2010" empfehle, auf der anderen Seite aber selbst die "Zerstörung einer kulturellen Initiative junger Menschen" betreibe.292 Der "Kulturtreff in Selbstverwaltung" (KTS) in Freiburg im Breisgau feierte sein 10-jähriges Bestehen unter dem Damoklesschwert einer drohenden Räumung, nachdem die Deutsche Bahn AG als Eigentümerin gegenüber der Stadt Freiburg die Kündigung der genutzten Räume ausgesprochen hatte. Seither fand eine ganze Reihe von Aktionen für den Erhalt der Einrichtung statt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erringen. Diese wurden von zahlreichen Farbschmierereien und Sachbeschädigungen insbesondere gegen Einrichtungen der Deutschen Bahn AG begleitet. So zerstörten unbekannte Täter in der Nacht zum 10. Februar 2004 in Tübingen drei Fahrkartenautomaten. Ein Selbstbezichtigungsschreiben bezog sich auf die Kündigung der KTS. Im Rahmen des Aktionswochenendes vom 19. bis 21. März 2004 unter dem Motto "KTS bleibt - Finger weg von AZ's, Wagenburgen und Squats293" anlässlich des zehnjährigen Bestehens gab es unter anderem am 20. März 2004 eine "Love-or-Hate-Parade" durch die Freiburger Innenstadt mit angeblich 2.500 Teilnehmern. Am späteren Abend kam es zur Besetzung eines ungenutzten Fabrikgeländes, wo dann die "Feier" des Jubiläums ablief. 292 "junge Welt" Nr. 82 vom 8./9. April 2004, S. 5. 293 "Herrschaftsfreie Räume", in denen Linksextremisten selbst bestimmen können. 215 Darüber hinaus fand, ebenfalls anlässlich des "Jubiläumswochenendes", ein angeblich "sehr gut" besuchtes "Städteplenum" statt, "auf dem sich linksradikale Projekte von Autonomen Zentren, über Wagenburgen bis zu Squats über ihre derzeitige Situation austauschten, über Möglichkeiten für eine weitergehende engere Vernetzung berieten und konkrete Aktionen planten"294. Anhand dieses Falles bestätigte sich ein weiteres Mal die wichtige Treffund Funktion "autonomer Zentren" für die Szene - hier als Treffund BeraBeratungsorte tungsort ausdrücklich selbst so bezeichneter "linksradikale(r) Projekte". Andererseits praktizierten Autonome eine gezielte "Informationspolitik", die darauf abzielte, der Öffentlichkeit ein der Realität nicht entsprechendes positives Bild von ihren "selbstverwalteten Freiräumen" zu vermitteln. Deutlich werden sollte aber zudem, dass man "auch in Zukunft gewillt" sei, die eigenen "Forderungen [nach dem Erhalt autonomer Zentren] aktiv umzusetzen". Dass der "Kampf um die Verteidigung selbstverwalteter Freiräume" bundesweit ein drängendes Thema der autonomen Szene ist, konnte man auch an den vom 4. bis 11. April 2004 in Berlin veranstalteten "Autoorganisationstagen" ablesen. Der Aufruf zu dieser Veranstaltung ließ ein weiteres Mal das Selbstverständnis solcher "autonomer Zentren" erkennen: "Der autoritären gesellschaftlichen Formierung versuchen linke Einrichtungen praktische Alternativen und Ausgangspunkte für Widerstand entgegenzustellen." 5.5 "Antifaschismus" "Anti-NaziDer "antifaschistische Kampf" stand unverändert auf der Agenda von LinksDemos" als extremisten. Sie beteiligten sich an "Anti-Nazi-Demos" im benachbarten Schwerpunkt Bayern, so am 24. April 2004 in Aschaffenburg oder in Senden, wo es wegen fortgesetzter NPD-Aktivitäten wiederholt zu Protestkundgebungen kam, und schließlich in Neu-Ulm, wo am 26. Juni 2004 einem "Neonazi-Aufmarsch" der "Kameradschaft Neu-Ulm" entgegengetreten werden sollte. Besondere Aufmerksamkeit galt unter anderem dem Auftritt Horst MAHLERs295 in Senden am 21. März 2004. Dass MAHLER auf Einladung des NPD-Kreisverbands Neu-Ulm in städtischen Räumen agieren durfte, habe damit "ihr [sc. die Stadt] unsägliches Verhalten, neofaschistische Veranstaltungen konsequent zu unterstützen, ungehindert [sc. fortgesetzt]." "Antifaschistischer Protest" hingegen sei "städtisch diffamiert" worden.296 294 Hier und im Folgenden: Monatsschrift der AIHD "break-out", Nr. 4/2004, S. 4; Übernahme wie im Original. 295 Vgl. Teil B, S. 160. 296 Aufruf der "Antifaschistischen Aktion Ulm/Neu-Ulm" auf deren Homepage vom 10. März 2004. 216 Linksextremismus "Antifaschistische" Aktivitäten in Baden-Württemberg konzentrierten sich aus gegebenem Anlass auf Schwäbisch Hall, wo die rechtsextremistische "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) wiederholt Protestkundgebungen veranstaltet hatte. Als diese am 6. März 2004 gegen den linksalternativen Club Alpha protestieren und mit einer Demonstration dessen Schließung einfordern wollte, gelang es circa 200 "Antifaschisten", den "Nazi-Aufmarsch" bereits nach wenigen hundert Metern zu stoppen und durch eine Blockade letztlich zu verhindern. Ein solcher "Erfolg" ließ sich bei den darauf folgenden Demonstrationen allerdings nicht wiederholen. Als erfolgreich bewertete die "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm" ihre Protestaktion gegen einen "Neonazi-Aufmarsch" am 26. Juni 2004: "Wer immer gedacht hat, dass wir einen Naziaufmarsch einfach so hinnehmen würden, hat sich getäuscht. Die Neonazis der 'Kameradschaft NeuUlm' haben es nur dem bayerischen Polizeistaat zu verdanken, dass sie nicht von der Straße gefegt wurden. Für uns wird ein Neonazi-Aufmarsch nie Normalität sein, genausowenig wie ein Gesellschaftssystem, das nicht zuletzt den Faschismus produziert. (...) Faschismus bekämpfen, Kapitalismus abschaffen!"297 Die Auseinandersetzungen im linksextremistischen Lager zwischen "Antiimperialisten" und "Antideutschen" haben auch auf den "Antifaschismus" ihre Schatten geworfen. Provokantes Auftreten von "Antideutschen" auf "antifaschistischen" und sonstigen Demonstrationen, ausgerüstet mit Israelideologische fahnen, führte zu heftigen Kontroversen zwischen verfeindeten GruppieSpaltung rungen im eigenen Lager. Den einen galt die Israelfahne als "nicht nur eine schwächt National-, sondern auch eine Meinungsfahne"298 und als eine "Provokation", die Szene 297 "Erklärung zum Neonazi-Aufmarsch am 26. Juni 2004". Homepage der "Antifaschistischen Aktion Ulm/Neu-Ulm" vom 20. Oktober 2004; Übernahme wie im Original. 298 "Jungle World" Nr. 14 vom 24. März 2004, S. 5. 217 den anderen als "Symbol dafür, dass wir uns als Bündnispartner Israels verstehen", als Zwang zum Bekenntnis über "antifaschistische" Floskeln hinaus und schließlich als "die wohl eindeutigste Bekundung eines konkreten Antifaschismus" 299. Ähnliche, allerdings nicht gewalttätige Vorfälle wie in Hamburg im Januar 2004, wo es auf einer Demonstration erstmals zu einer Massenschlägerei unter "Linken" gekommen war, ereigneten sich auch in Baden-Württemberg. Israelfahnen und die Fahnen der einstigen Anti-Hitler-Koalition tauchten am 23. Februar 2004 auf einer "Antifa-Demo" in Pforzheim auf. Erst im Nachhinein allerdings lösten über "Indymedia" veröffentlichte Photos eine heftige Diskussion aus. Für die nächste Demonstration am gleichen Ort am 3. April 2004 untersagten Organisatoren der Veranstaltung das Mitführen von Israelfahnen. Eine "antideutsch-kommunistische Koordination Baden-Württemberg" (ADKK) äußerte daraufhin ihr Unverständnis darüber, "wie eine Demo oder eine Organisation, die sich als antifaschistisch ansieht, es fordern beziehungsweise zulassen kann, dass die Fahne, welche die eindeutigste Bekundung eines konkreten Antifaschismus ist, von einer antifaschistischen Kundgebung/Demonstration verbannt wird. Für uns bedeutet konkreter Antifaschismus, unsere Solidarität mit Israel zu bekunden. (...)" 300 Neben den fortdauernden internen Querelen war ein weiterer Tiefschlag für die "antifaschistische Bewegung" die Beobachtung, dass "Neonazis" mittlerweile auch auf dem ureigenen Themenfeld für Linksextremisten, der "sozialen Frage", Fuß gefasst haben. Die Aufmerksamkeit, die Versuchen von Rechtsextremisten gewidmet wurde, sich in die Demonstrationen gegen "Sozialabbau" einzureihen, zeigte, dass eine unbehelligte Teilnahme von Rechtsextremisten an solchen Veranstaltungen unerwünscht war. Außerdem wurden immer wieder Appelle veröffentlicht, keine Rechtsextremisten auf Demonstrationen zu dulden. Anzeichen für eine bewusste Tolerierung durch Linksextremisten gab es denn auch nicht, geschweige denn solche für eine erfolgreich praktizierte "Querfrontstrategie"301. Als Alarmsignal wurden die Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, vor allem aber der Einzug der NPD in den sächsischen Landtag gewertet. Insbesondere die DKP 299 "Jungle World" Nr. 10 vom 25. Februar 2004, S. 5. 300 "(Links-)Deutsche Beißreflexe" - Flugblatt der ADKK. 301 Gemeinsames Agieren von Linksund Rechtsextremisten bei bestimmten politischen Fragen. 218 Linksextremismus registrierte diese Entwicklung mit "großer Sorge". Das Parteiorgan "Unsere Zeit" (UZ) zitierte die stellvertretende Parteivorsitzende mit den Worten: "Unabhängig davon, ob eine faschistische Herrschaftsvariante heute in der strategischen Planung des Großkapitals Berücksichtigung findet: Die faschistischen Parteien binden sozialen Widerstand. Sie sind zudem nützlich, um Angst und Unsicherheit zu verbreiten und gegen Linke Terror auszuüben. Sie erfüllen eine Funktion im und für das System." 302 Die Partei bekundete daher ausdrücklich ihre Absicht, den "antifaschistischen Widerstand" und Aktivitäten gegen die "Rechtsentwicklung" zu unterstützen und zu fördern. 302 UZ Nr. 45 vom 5. November 2004, S. 1. 219 D. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, 1970 erste Niederlassung in Deutschland, 1972 erste Niederlassung in Baden-Württemberg Gründer: Lafayette Ronald HUBBARD (1911-1986) Nachfolger: David MISCAVIGE (Vorstandsvorsitzender "Religious Technology Center", RTC) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: Baden-Württemberg ca. 1.100 (2003: ca. 1.200)303 Bundesgebiet ca. 5.000 - 6.000 (2003: ca. 5.000 - 6.000) weltweit ca. 100.000 - 120.000 (2003: ca. 100.000 - 120.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Free Mind", "Prosperity", "International Scientology News", "Impact", "The Auditor", "Advance!" u.a. 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen "Und zum Teufel mit der Gesellschaft! Wir machen eine neue."304 Die intensivierten Bestrebungen der SO, das Gemeinwesen zu durchdringen und auf breiter Basis über Managementund Personalberatung Einfluss auf die Wirtschaft zu nehmen, verliefen weitgehend ergebnislos. Gründe sind die fortschreitende Sensibilisierung in der Bevölkerung als Folge der seit Jahren betriebenen Aufklärungsarbeit unter anderem des Landesamtes für Verfassungsschutz, die Stagnation des Mitgliederbestands und insbesondere eine nicht ausreichende Zahl von SO-Anhängern im Wirtschaftsbereich. Expansion Um ihre Expansion voranzutreiben, hat die Organisation in Baden-Würtals Ziel temberg neue "Missionen" und Anlaufstellen gegründet, von denen allerdings im Jahr 2004 noch keine wesentlichen Aktivitäten ausgingen. Inwieweit ihnen eine dauerhafte Etablierung gelingen wird, bleibt abzuwarten. Derartige Neugründungen waren in Baden-Württemberg bislang wenig erfolgreich. In der öffentlichen Darstellung dürfte zukünftig noch stärker auf "Sozialprogramme" wie die angebliche Drogenhilfe "Narconon" oder auf Nachhilfeangebote abgehoben werden. 303 Der geringeren Zahl liegt eine gegenüber den Vorjahren verbesserte Erkenntnislage zugrunde. Nicht mehr zugerechnet werden Personen, die sich inzwischen nicht mehr für die SO engagieren oder sich von der Organisation zurückgezogen haben, ohne einen offenen Bruch mit ihr zu vollziehen. 304 L. Ron HUBBARD, zitiert in: Rundbrief der "Scientology Gemeinde Baden-Württemberg", August 2004. 220 Scientology-Organisation Die SO bemüht sich um intensive Unterstützung durch staatliche Stellen in den USA, indem sie haltlose Vorwürfe im Hinblick auf angebliche Diskriminierungen ihrer Mitglieder in Deutschland in den Raum stellt. Gleichzeitig versucht sie nach außen das Bild einer scheinbar unpolitischen und demokratiekonformen Religionsgemeinschaft zu vermitteln. Damit will die SO jedoch die Öffentlichkeit täuschen. Tatsächlich enthält HUBBARDs Lehre zahlreiche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Im November 2004 wies das Verwaltungsgericht Köln305 eine Klage der Beobachtung der "Scientology Kirche Deutschland" (SKD) auf Einstellung der Beobachtung SO zulässig durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ab. Das Gericht stellte fest, dass wesentliche Grundund Menschenrechte wie die Menschenwürde, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder auf Gleichbehandlung nach dem Willen von Scientology außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden sollen. Zudem strebe die Organisation eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen an. Die Beobachtung sei somit rechtmäßig. Die SKD hat Rechtsmittel eingelegt. 2. Politische Bestimmtheit und strategische Vorgehensweise "Die Zeiten müssen sich ändern. Heute balancieren wir als Kultur am Rande der Zerstörung. Ob die Zerstörung mit einem dramatischen Knall, durch politische Aufstände oder in einem schrittweisen sozialen Verfall erfolgt, ist nebensächlich. Sie wird kommen. (...) Wir sind die einzige Gruppe auf der Erde, die tatsächlich über eine funktionierende Lösung verfügt. (...) Wir dürfen es nicht zulassen, dass uns irgendwelche Repressalien seitens Regierungen, Kampagnen von unfähigen ,Heilern', die selbst bereits versagt haben, oder irgendwelche angedrohten Verhöhnungen oder Bestrafungen im Wege stehen. (...) Die Zeiten müssen sich ändern. Und wir, die Scientologen, sind diejenigen, die sie verändern."306 Die SO betrachtet die Programmatik ihres Gründers als einzig funktionierende Sozialund Verwaltungs-"Technologie" und als Gegenentwurf zur 305 Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 11. November 2004, Az.: 20 K 1882/03. 306 L. Ron HUBBARD, zitiert in: Flugblatt "Die Zeiten müssen sich ändern", Copyright 2004. 221 bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die als angeblich dekadent und dem Untergang geweiht dargestellt wird. Sie nimmt nicht offen an politischen Willensbildungsprozessen teil und betreibt zur Durchsetzung ihres umfassenden Machtanspruchs eine langfristig ausgerichtete Expansionsstrategie, die vor allem auf Meinungsführer und Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zielt. Zum Beispiel behauptete die Lafayette Ronald Organisation im Jahr 2004, einen Mandatsträger des HUBBARD Europaparlaments sowie zwei Vertreter der Europäischen Kommission für sich gewonnen zu haben.307 Sie propagierte auch Eroberung von erneut, Scientologen sollten "Schlüsselpositionen" in der Gesellschaft "Schlüssel"erobern". Auf diese Weise will sie langfristig Staat und Gesellschaft mit den positionen" in eigenen Konzepten durchdringen und Einfluss auf Meinungsbildungsund der Gesellschaft Gesetzgebungsprozesse ausüben. Speziell in Wirtschaft und Politik ist der geplant umfassende Einsatz von Beratern vorgesehen. Ein Leitartikel in einer SOZeitschrift legt hierzu dar: "Sie sind ganz sicher berechtigt, das zu stören, was lachhafterweise Selbstbestimmung genannt wird - (...) ,Was ist ein Scientologe?' (...) Er ist ein Schwierigkeiten-Beseitiger für das Individuum, für Kinder, die Familie und die politische und ökonomische Gruppe. (...) Eine weitere Sache, die ein Scientologe sein könnte, ist ein Berater für diejenigen, die für Leitung und Planung politischer und ökonomischer Gruppen verantwortlich sind."308 Erklärtes Ziel von "Applied Scholastics" (ApS)309 ist es, "ganze Schulsysteme zu durchdringen."310 Die konsequente Durchsetzung dieses Programms soll langfristig in eine radikale politische Systemveränderung münden. Aus Sicht der SO handelt es sich bei ihrer Lehre um nicht zur Disposition stehende "Wahrheiten". Auf Kritik, insbesondere von Außenstehenden, reagiert sie daher in der Regel mit heftigen Angriffen. Sie unterstellt Kritikern niedere Beweggründe und ein hohes Maß an Intoleranz. 307 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 28/2004, S. 44ff. 308 L. Ron HUBBARD, zitiert in: Leitartikel "Was ist ein Scientologe?", Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 25/2003, S. 4ff. 309 SO-Hilfsorganisation, die scientologische Lerntechniken anbietet. 310 Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 28/2004, S. 10. 222 Scientology-Organisation Darüber hinaus versucht die SO seit Jahren, auf die öffentliche Meinungsbildung durch Kampagnen Einfluss zu nehmen, etwa durch LeserbriefakKampagnen tionen, wobei die inhaltliche Richtung von der Organisation vorgegeben wurde. Zum Beispiel sollte der Eindruck erweckt werden, Bürger, die anscheinend nichts mit Scientology zu tun haben, empörten sich über eine ungerechte Presseberichterstattung gegenüber der SO. Ferner wurden Hinweise auf gesteuerte Protestaktionen bekannt, um die Tätigkeit der Legislative im eigenen Sinne zu beeinflussen. Auch dabei sollte der Eindruck erweckt werden, dass hinter Protestschreiben entrüstete Bürger ohne Bezug zu Scientology stehen. Derartige Aktionen richten sich insbesondere gegen Gesetzesentwürfe mit Bezug zur Psychiatrie, die die SO zu einem ihrer "Hauptfeinde" erklärt hat. Ein SO-Funktionär forderte Scientologen dazu auf, sich bei dem Verantwortlichen einer Studie zu Gefährdungspotenzialen so genannter Sekten und Psychogruppen massiv über eine von ihm angeblich verbreitete Hysterie zu beschweren. Ferner war Ziel der Aktion, den Adressaten mit zahlreichen Protestbriefen zu beschäftigen und zeitlich zu binden. Solche Aktionen erfolgen grundsätzlich unter Federführung des "Office of Special Affairs". 3. Das "Office of Special Affairs" (OSA) "Wenn irgendwo ein Angriff auf Scientology beginnt, schauen wir uns die Leute an, die daran beteiligt sind, und legen sie lahm. (...) Wir kennen unsere Feinde, ehe sie zuschlagen. (...) Nachrichtendienstliche Wachsamkeit, sogar dann, wenn wir keine Akten haben, zahlt sich aus in Form von Ruhe, Wachstum und Fortschritt. (...) Wenn wir es für nötig erachten, jemandem nachzustellen, dann untersuchen wir."311 Zur Durchsetzung ihrer Ziele unterhält die SO unter der Bezeichnung OSA einen eigenen Geheimdienst. Er dient der Diffamierung von Gegnern und Aufgaben Kritikern, deren Ausforschung mit nachrichtendienstlichen Mitteln und der Beseitigung jeglichen Widerstands gegen die Expansion der Organisation.312 311 L. Ron HUBBARD, "Handbuch des Rechts", Kopenhagen, 1979 (Copyright 1989), S. 2ff. 312 Die Hamburger Verfassungsschutzbehörde hat unter dem Titel "Der Geheimdienst der ScientologyOrganisation" eine umfassende Analyse veröffentlicht, URL: http://fhh.hamburg.de. 223 Das OSA unterhält Büros in den "Class V Orgs"313, darunter auch in der "Org" in Stuttgart. Im Jahr 2004 wurde erneut deutlich, dass das OSA eine systematische und computergestützte Sammlung und Auswertung personenund sachbezogener Daten betreibt. So ist vorgesehen, dass OSA-Büros Lageberichte bei der Zentrale in den USA wöchentlich computerlesbare Lageberichte nach einem vorgegebenen Raster abgeben sollen. Hierzu gehören folgende Punkte: vermutete oder festgestellte Sicherheitsprobleme in SO-Niederlassungen unter Angabe der Namen der Verantwortlichen beziehungsweise Verdächtigen, unzufriedene Scientologen unter Angabe der Namen beziehungsweise Angabe der Scientologen, die vorab einbezahlte Gelder zurückverlangen, drohende oder eingereichte gerichtliche Klagen gegen die Organisation, "Razzien"314 oder Alarm in Bezug auf befürchtete polizeiliche Durchsuchungen von Niederlassungen und Information bei Inhaftierung von Scientologen, kritische Medienberichte über die SO unter Angabe des Senders beziehungsweise der Zeitung sowie der verantwortlichen Journalisten. Ferner soll über die eingeleitete "Handhabung" "negativer Presse" berichtet werden. Sammlung Insbesondere der letzte Punkt zeigt auf, dass das OSA gezielt Informationen von Informationen über externe Kritiker sammeln will. Auf eine unerwünschte Berichterstatüber Kritiker tung ("Entheta315 Presse") kann es durchaus auch mit gerichtlichen Klagen reagieren, um Medien möglichst zu einer zumindest sehr zurückhaltenden Berichterstattung zu veranlassen. Auf der Grundlage von HUBBARDs unverändert gültigen Richtlinien ist das langfristige Ziel die "Schaffung von PR-Gebietskontrolle". Damit will das OSA "die Richtung der Gesellschaft "PR-Gebietsverändern."316 "PR-Gebietskontrolle" bedeutet faktisch die Erringung einer kontrolle" Art regionaler Meinungshoheit in der Medienlandschaft, in der eine kritische Berichterstattung über die SO nicht oder nur noch eingeschränkt möglich sein soll. Der erwünschte Idealzustand wird in einer internen Richtlinie mit dem Begriff "MACHT-QUALITÄT" umschrieben: Das OSA "hat PR-Gebietskontrolle zu solch einem Punkt aufgebaut, dass jegliche Atta313 Die einer SO-Basisorganisation übergeordnete Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 314 Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. 315 SO-Fachausdruck: Jede Kritik an Scientology ist für die SO per se "Entheta", das heißt verlogen, verleumderisch und destruktiv. 316 "Office of Special Affairs International Newsletter" Ausgabe 2, 1996, S. 1, Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. 224 Scientology-Organisation cken gegen die lokale Organisation durch die Leute im Gebiet zurückgewiesen werden." Es "hat vollständige Information über jegliche potenzielle Angreifer der Organisation" und "isoliert und handhabt jegliche Gruppen, die gegenüber der Organisation feindlich eingestellt sind."317 4. Expansionsbestrebungen in Baden-Württemberg "Eine Org ist eine Auditing318Fabrik, (...) Das ist der grundlegende Weg, wie wir die Welt gewinnen werden - Auditing."319 Die Expansion des Scientology-Netzwerks ist weiterhin das oberste Ziel des Managements. Die SO propagierte 2004 ein "unnachgiebig[es] Vorankommen mit unseren strategischen Programmen, um massive Expansion auf allen Sektoren zu erreichen, (...)"320 Dabei wurde gefordert: "Wir! gestalten die Zukunft von Baden-Württemberg!!"321 Gleichzeitig wurde der Anspruch Führungsanspruch erhoben, dass die SO in Baden-Württemberg führend und beispielgebend in Deutschland sein und ihren Einfluss auf ganz Baden-Württemberg ausdehnen solle. 4.1 Bestehende Organisationsstruktur Die Niederlassungen in Baden-Württemberg sind Teil einer weltweit tätihierarchische gen, hierarchisch gegliederten Organisation, die über eine enorme finanStruktur zielle Schlagkraft verfügt. Die seit längerem gefestigte Struktur umfasst hierzulande eine "Class V Org"322 in Stuttgart und "Missionen" in Ulm, Karlsruhe, Göppingen und Heilbronn, wobei Letztere über nur wenige Mitglieder verfügt. Bedeutungslos sind die "Mission" in Reutlingen und die "Scientology-Gemeinde" in Freiburg im Breisgau. Eine größere "Feldauditorengruppe"323 ist in Kirchheim/Teck aktiv. Die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM), eine Hilfsorganisation der SO, betreibt Vereine in Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg im Breisgau, die ungeachtet der nominellen Mitgliederzahl von nur wenigen Aktivisten getragen KVPM-Logo werden. 317 L. Ron HUBBARD, zitiert in: "Qualität der Abteilungen Checklisten", 1990, S. 13, Übernahme wie im Original. 318 "Auditing": Scientology-Psychotechnik zur Persönlichkeitsveränderung. 319 L. Ron HUBBARD, "Führungsanweisung LRH ED 67 INT", "Wie man Statistiken erhöht", Copyright 2002, im Jahr 2004 unter deutschen Scientologen gestreut. 320 Flugblatt "Neujahrsevent 2004", Stuttgart. 321 Flugblatt "Einladung zum Clear Expansionsevent", August 2004, Übernahme wie im Original. 322 Vgl. Fußnote 313. 323 "Feldauditoren": Personen, die scientologische Verfahren außerhalb der "Org" anwenden. 225 In Baden-Württemberg sind mit Schwerpunkt im Mittleren Neckarraum schätzungsweise bis zu 60 Mitglieder (Einzeloder Firmenmitgliedschaft) des SO-Wirtschaftsverbands "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) in unterschiedlichem Maß aktiv. Ziel von WISE ist die Verbreitung der Lehre HUBBARDs in Politik und Wirtschaft. In Stuttgart befindet sich WISE-Logo ein "WISE Charter Committee" (WCC) als "Justiz"-Stelle für WISE-Mitglieder. Diese betätigen sich häufig in der Informationsund Kommunikationsbranche, im Immobilienund Finanzdienstleistungssektor sowie in der Managementberatung, wobei derzeit etwa ein halbes Dutzend Firmen für Managementtraining in den Räumen Stuttgart und Karlsruhe von BedeuWCC-Logo tung ist. 4.2 "Central Orgs" und neue Niederlassungen Das Management will im Rahmen einer internationalen Kampagne zahlreiAufwertung der che "Class V Orgs", darunter auch die in Stuttgart, zur "idealen" und zur "Org" Stuttgart "Central Org" aufwerten. "Central Orgs" müssen künftig die regionalen geplant Aktivitäten der meisten SO-Hilfsorganisationen koordinieren. Das Management ist offenbar davon überzeugt, dass "Central Orgs" in repräsentativen Gebäuden nachhaltig dem Image der Organisation dienen und zu steigenden Statistiken führen. Neugründungen Die SO hat in Baden-Württemberg darüber hinaus die Gründung von "Missionen" beziehungsweise Gruppen in Leinfelden-Echterdingen, Welzheim, Weinstadt-Schnait sowie einer "Künstlermission" in Stuttgart bekannt gegeben. Ebenfalls in Stuttgart wurde ein "Professionelles Lerncenter" gegründet. Diese Einrichtung der ApS befindet sich in demselben Gebäude wie die KVPM Stuttgart. Solche Anlaufstellen haben wie die bereits im Jahr 2003 neu gegründeten "Missionen" in Sinsheim, Baindt/Krs. Ravensburg und Stuttgart gemeinsam, dass hinter ihnen bisher nur einzelne Personen stehen. Von den meisten dieser teilweise nach außen nicht als Scientology-Adressen ausgewiesenen Niederlassungen wurden 2004 keine nennenswerten Aktivitäten bekannt. Im Jahr 2004 traten die ApS-Einrichtungen in Stuttgart und die "Missionen" in Sinsheim, Welzheim und Leinfelden-Echterdingen jedoch mit Werbeaktionen bezieWerbung bei hungsweise Handzetteln in Erscheinung. In Welzheim wurden im Rahmen Kindern der Straßenwerbung auch Kinder angesprochen, um sie dazu zu bewegen, das "Dianetik Zentrum" im Ort zu besuchen. Die "Mission" in LeinfeldenEchterdingen verfügt als "Dianetik Fachgruppe" über eine Internetpräsenz. 226 Scientology-Organisation Darüber hinaus gab es vereinzelt Hinweise auf interne Treffen, Seminare in kleinem Kreis oder Anwerbungsversuche. Die neuen Einrichtungen dienen auch dazu, Vorgaben des Managements zu erfüllen, positive Statistiken vorzuweisen und nach außen den Eindruck einer ständigen Expansion zu erwecken. Einige juristische Erfolge im Jahr 2003324, die Kampagnen unter dem Motto "Ideale Org" und "Central Org" sowie der geplante Kauf eines repräsentativen Gebäudes in Zentrumslage für die Stuttgarter "Org" haben zu einer gewissen Aufbruchstimmung im Scientology-Milieu Quelle: "Scientology News", Baden-Württembergs geführt. Dennoch konnte Ausgabe 27 die SO ihre Stagnation nicht überwinden, weil sich trotz hohen WerbeaufMitgliederwands die Mitgliedergewinnung schleppend gestaltete. Zwar behauptete werbung wenig das Management wie stets eine Expansion, jedoch beklagten manche Scienerfolgreich tologen eine zu geringe Zahl von Neuanwerbungen. Unzufriedenheit über diese Mitgliedersituation besteht auch bei der SO-Europazentrale in Kopenhagen. 4.3 Milieu und Mitgliedergewinnung Die SO verfügt in Baden-Württemberg über einen Mitgliederstamm von etwa 1.100 Personen, wobei interne Verlautbarungen von höheren, aber nicht gravierend abweichenden Zahlen ausgehen. Erkennbar wird inzwischen eine im Trend eher wachsende Zahl von mittlerweile gänzlich inaktiven Scientologen beziehungsweise Sympathisanten, die auf Distanz zur Organisation gegangen sind, ohne sich offen von ihr abzuwenden. Mitunter spielen dabei auch große finanzielle Probleme eine Rolle, die eine weitere Inanspruchnahme des teuren Scientology-Kurssystems nicht mehr erlauben. Auch das Spendenaufkommen ist zurückgegangen. Dennoch konnte Spendenaufdie SO bei Einzelveranstaltungen im Land fallweise Spenden von über kommen trotz 100.000 Euro akquirieren. Rückgang hoch Die Altersstruktur der "Scientology-Organisation" in Baden-Württemberg ist insgesamt heterogen, wobei die Gruppe der zwischen 40 und 50 Jahre Altersstruktur alten Mitglieder mit rund 40 Prozent eindeutig dominiert. Etwa 20 Prozent der Mitglieder sind über 50 Jahre alt. Rund weitere 20 Prozent gehören der Altersgruppe der 30bis 39-Jährigen an. Die übrigen 20 Prozent verteilen 324 Vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2003, S. 263ff. 227 sich auf die jüngere Generation unter 30. Jugendliche und junge Menschen kommen in der Regel über ihre Eltern zur SO. Kinder werden nach der Lehre HUBBARDs als Erwachsene in kleinen Körpern angesehen. Sie werden ebenfalls problematischen Prozeduren wie dem Indoktrination "Reinigungsverfahren"325 unterworvon Kindern fen. Einige besonders überzeugte Scientologen sind auch bereit, ihre noch nicht volljährigen Kinder von der "Sea Organization" ("Sea Org") rekrutieren zu lassen. Diese unterhält Stützpunkte im Ausland und versteht sich als Elite der SO. Sie entsandte auch 2004 "Recruiter" nach Baden-Württemberg, um Scientologen für diese paramilitärisch organisierte und uniformierte Truppe anzuwerben und um Kontrollfunktionen auszuüben. Manche SO-Anhänger schicken ihre Kinder auch auf eine Schule bei Bjerndrup Aabenraa/Dänemark, die HUBBARD-Lerntechniken anwendet. Sie soll auch der "Sea Org" als Rekrutierungsfeld dienen. Die Lebensbedingungen in der "Sea Org" werden von Aussteigern, die teilweise aus Baden-Württemberg stammen, als ärmlich bis desolat beschrieben. interne Eine ganze Reihe von Scientologen ist offenbar mit den Zuständen innerKritiker halb der SO unzufrieden. So gibt es die Meinung, das Management repräsentiere heute nicht mehr den ursprünglichen Willen HUBBARDs. Die unzufriedenen Mitglieder entwickeln bislang aber noch keine Sprengkraft für die Organisation, auch weil sie es zumeist nicht wagen, Kritik offen zu äußern. Viele Scientologen sind eher unpolitisch und betrachten HUBBARDs "Technologie" vor allem als Selbstverwirklichungsideologie, ordnen sich aber seiner dogmatischen Lehre und den Vorgaben des Managements in der Regel unter. Für zahlreiche Mitglieder an der Basis bleiben nicht nur die Aktivitäten des OSA weitgehend im Dunkeln, auch die strategischen Ziele des Managements sind oft nur bruchstückhaft bekannt. Daneben gibt es jedoch einen "harten Kern" von zumeist hochtrainierten Scientologen, die oft politischer sind, als dies von außen zunächst wahrnehmbar ist. Insbe325 Das "Reinigungsverfahren" ("Purification Rundown") besteht im Wesentlichen aus Saunagängen, die sich über Wochen hinziehen können und der Einnahme hochdosierter Vitamine, darunter Nikotinsäure. Die Organisation erweckt den Eindruck, es mache immun gegen radioaktive Strahlung. 228 Scientology-Organisation sondere bei diesen Aktivisten offenbaren sich durchaus Elemente fanatiFanatismus scher Überzeugung und ein großer, ja totaler persönlicher Einsatz für die SO, der bis zur Aufopferung der eigenen materiellen Existenz reichen kann. 4.4 Werbung und Propaganda 4.4.1 Interne Propaganda Um die Vorgaben des Managements zu erfüllen, versuchte die "Org" Stuttgart intensiv, Scientologen als Mitarbeiter zu gewinnen, die teilweise bei der SO im Ausland trainiert werden sollen. Die interne Propaganda unterscheidet sich in Stil und Inhalt gravierend von Werbemaßnahmen, die sich an die Öffentlichkeit richten. Bei internen Veranstaltungen in Baden-Württemberg, an denen bis zu etwa 250 Personen teilnahmen, forderten Funktionäre zur Steigerung der Anhängerzahlen auf. Repräsentanten der Mitgliederorganisation "International Association of Scientologists" (IAS) traten IAS-Logo mit der Forderung auf, Spenden zu leisten. Die SO bewarb intensiv ihr kostenträchtiges Kurssystem und propagierte eine kämpferische Haltung gegenüber Kritikern der Organisation: "Zerschlagen Sie Unterdrückung (...) Hören Sie auf aggressive L. Ron Hubbard. Als er gefragt wurde, wer den Propaganda PTS/SP-Kurs absolvieren sollte, sagte er: ,Jeder Einzelne von Ihnen. Sie leben in den Vereinigten Staaten. Sie leben in England. Sie haben Regierungen. (...)' Absolvieren Sie den ,Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt'-PTS/SP-Kurs."326 4.4.2 Öffentliche Werbekampagnen und Täuschungsmanöver Nach außen will die SO dagegen ein gänzlich anderes Bild vermitteln. Öffentliche Kampagnen stellen individuelle Lebenshilfe in den Vordergrund und verschweigen die politischen Ziele der SO. Straßenwerbung (so genanntes "Body Routing") und Kontaktaufnahmen durch Scientologen in ihrem persönlichen Umfeld sind wesentliche Elemente der Mitgliederwerbung. Die Organisation führte in zahlreichen Kommunen im Land Straßenaktionen durch, unter anderem in Stuttgart, Karlsruhe, Ulm und Konstanz mit Informationsständen oder gelben Großraumzelten und einheitlich gelb gekleideten so genannten "Ehrenamtlichen Geistlichen" ("Volunteer Ministers"). Begleitend versandte sie im Rahmen einer "Bibliothekenkam326 Zeitschrift "International Scientology-News" Nr. 26/2004, S. 20. 229 pagne" Broschüren oder Bücher an Behörden. Dabei erweist sich die der Öffentlichkeit präsentierte Selbstdarstellung als systematische Täuschung. Die SO behauptet zum Beispiel, weltweit über acht Millionen Mitglieder zu überhöhte verfügen. Diese Zahl hat jedoch keinerlei ernsthafte Grundlage. Tatsächlich Mitgliederbeläuft sich ihre Anhängerzahl insgesamt auf etwa 100.000 bis 120.000 Perzahlen sonen, von denen rund die Hälfte in den USA lebt.327 Ein Wissenschaftler äußerte, dass die Behauptungen wohl nur so erklärbar seien, dass jede Person mitgezählt würde, die jemals einen Basiskurs belegt oder nur ein Buch gekauft habe.328 TäuschungsAuch in einer 2004 ausgestrahlten Fernsehreportage eines Privatsenders manöver über eine Zeltaktion der SO in Stuttgart wurde die Öffentlichkeit manipuliert. Zwei interviewte Frauen erweckten den Eindruck von begeisterten Passantinnen, die das erste Mal Bekanntschaft mit HUBBARD-Techniken gemacht haben: "Ich bin jetzt wirklich überrascht. Ich bin da reingegangen und - ist eigentlich ganz anders, wie ich's gedacht habe." Tatsächlich handelte es sich aber um langjährige Scientologinnen. In den USA täuschte eine SO-Nebenorganisation beispielsweise eine falsche Referenz vor. Die vermeintliche Drogenhilfe "Narconon" benutzte den Namen einer Wissenschaftlerin ohne deren Wissen als Referenz für die behauptete Wirksamkeit der Drogenentzugsmethode nach HUBBARD. Als sie davon Kenntnis erhielt, forderte sie ultimativ, jegliche Erwähnung ihres Namens in Bezug auf "Narconon" zu unterlassen. Die Betroffene betrachtete ihre Namensnennung in Zusammenhang mit "Narconon" als rufschädigend. Führende Experten werfen der SO-Teilorganisation "Narconon" vor, einige ihrer Theorien seien unverantwortlich und würden nicht auf Fakten beruhen.329 Öffentliche Werbeaussagen haben intern oft keinen Bestand. Beispielsweise suggeriert die SO Toleranz, indem sie sich mitunter als "überkonfessionell" darstellt: "Die Mitgliedschaft in Scientology bedeutet keineswegs, dass Sie ihre gegenwärtige Kirche, Synagoge, Moschee oder Ihren Tempel verlassen müssten."330 Jedoch wurde im Jahr 2004 bekannt, dass ein Scientologe in 327 Das Landesamt für Verfassungsschutz hat eine ausführliche Analyse unter dem Titel "Die Legende von den 8 Millionen Scientologen" im Internet veröffentlicht, URL: www.verfassungsschutz-bw.de. 328 "Scientology: Church now claims more than 8 million members", Deseret Morning News vom 18. September 2004. 329 "Antidrug program with Scientology links to be investigated", Associated Press vom 18. Juni 2004. 330 New Era Publications (Hrsg.), "Was ist Scientology?", Kopenhagen, 1993, S. 544. 230 Scientology-Organisation Stuttgart mit folgender Begründung als "Schwierigkeitsquelle" abqualifiziert worden war: "R. M. erklärte, dass er neben der Scientology Religion sich auch mit anderen Philosophien und Techniken beschäftigt. (...) um mehr Wissen zu erlangen und möchte sich nicht einem einzigen Weg anschließen. (...) Aus diesem Grund ist R. kein Mitglied in gutem Ansehen und ist für jegliches Training und Auditing suspendiert."331 In aufwändigen Werbebroschüren, etwa unter dem Titel "Menschenrechte als Mission", stellt die SO nach außen Werte wie Toleranz und Meinungsfreiheit in den Mittelpunkt. Im Innern sind jedoch Positionen maßgebend, die der Außendarstellung diametral gegenüberstehen. So ist die Ausübung Kritik als der Meinungsfreiheit für die Organisation dann ein "Schwerverbrechen", "Schwerverwenn sich jemand kritisch mit ihr auseinandersetzt. Zum Beispiel gelten als brechen" "unterdrückerische Handlungen": "Öffentliche Aussagen gegen die Scientology (...) Vor staatlichen oder öffentlichen Untersuchungen der Scientology feindlich gesinntes Zeugnis abzulegen (...) Das Schreiben von Anti Scientology-Briefen an die Presse (...) Es ist ein Schwerverbrechen, öffentlich mit der Scientology zu brechen."332 Das Management fordert, entsprechende Wahrnehmungen in Form von "Wissensberichten" an die Zentrale in den USA zu übermitteln.333 Die Organisation pflegt Feindbilder und stigmatisiert Kritiker als "antisoziale Persönlichkeiten" und als Kriminelle: "Wir finden keine Kritiker der Scientology, die keine kriminelle Vergangenheit haben. (...) Wir erteilen den Ruchlosen langsam und gründlich eine Lektion."334 Die SO erweckt gegenüber der Öffentlichkeit den Eindruck, bei ihr als Reduktion der "Kirche" stehe der Mensch und dessen geistige Vervollkommnung im Mitglieder Mittelpunkt. Tatsächlich werden Mitglieder jedoch oftmals auf ihre bloße auf ihre Funktionalität reduziert. Im Jahr 2004 wurde folgendes Rundschreiben Funktionalität eines neuen "Org"-Mitarbeiters bekannt, der sich dem Mitarbeiterstab wie folgt vorstellte: "Mein Posten: Call-inner (...) Aufgrund meiner augenblicklichen Statistik, Bits = Bodies in the shop335, bin ich in Non-ex.336 (...) Meine Aufgabe als Call-inner ist es, dafür zu sorgen, dass der Akademie-Kursraum 331 Name geändert, ansonsten Übernahme wie im Original. 332 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Unterdrückerische Handlungen, Unterdrückung der Scientology und von Scientologen", in: "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs", Kopenhagen, 2001, S. 129ff. 333 Zum Beispiel in einem Aufruf in der Zeitschrift "International Scientology News" Nr. 26/2004, S. 44ff. 334 L. Ron HUBBARD, Bulletin "Kritiker der Scientology", in: "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs", Kopenhagen, 2001, S. 78. 335 "Bodies in the shop": Scientology-Statistik für die Anzahl der "Akademiestudenten" in einer SO-Niederlassung. Gleichzeitig erhebt die SO den Anspruch, auf Grundlage solcher Statistiken das "Überlebenspotenzial" des für die Statistik Verantwortlichen messen zu können. 336 "Non ex": Der Mitarbeiter befindet sich - da neu auf dem Posten - gemäß der scientologischen Lehre im "ethischen" Daseinszustand "Nichtexistenz" (engl. "Non Existence"). 231 möglichst bis zum Überquillen mit Studenten gefüllt ist, die ihren Trainingsservice geliefert bekommen (...) Ebenso gehört dazu, Publics337 für ihren noch nicht gestarteten Service auf Kurs hereinzuholen (...) Mein Ziel ist es, in möglichst kurzer Zeit meine Statistik auf 120 Bodies/Woche hochzubringen (...)" "Hilfe" in Nach Katastrophen oder Terrorakten tauchen oftmals Scientologen bei den Notsituationen Betroffenen auf, um zu "helfen". Diese Hilfe besteht den Erfahrungen in Deutschland zufolge jedoch in der Regel in der Verteilung von Werbebroschüren und dem Angebot so genannter "Berührungsbeistände" ("touch assists"), ein Verfahren, das mit einer Art Massage oder Handauflegen verglichen werden kann. Dies dient vor allem einer weiteren Kontaktaufnahme und dazu, der Organisation ein harmloses Image zu verleihen. Nach der Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen in einer Schule in Beslan/Kaukasus mit mehr als 300 Toten im September 2004 führte die SO dort eine Missionskampagne durch, die auch auf traumatisierte Kinder abzielte. Das russische Innenministerium untersagte daraufhin diese Aktivitäten mit der Begründung, HUBBARD-Psychotechniken stellten unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe, insbesondere für Kinder und Jugendliche, eine Bedrohung dar.338 Ein im Jahr 2004 unter deutschen Scientologen gestreuter Richtlinienbrief zeigt eine vorbehaltlose Bereitschaft, zu Anwerbezwecken das Mittel der Täuschung einzusetzen: "Eine ergiebige Quelle (...) ist Kontakt mit Unfallopfern. Das ist sehr alt, wird fast nie probiert und ist immer ein sagenhafter Erfolg, vorausgesetzt, der Auditor geht es halbwegs auf die richtige Art an. Unter Verwendung seiner Visitenkarte als Geistlicher braucht ein Auditor nur in ein beliebiges nichtkonfessionelles Krankenhaus hineinzuplatzen, sich vom Leiter eine Genehmigung zum Besuch der Stationen zu holen, wobei er nichts von Prozessing339 erwähnt, sondern nur davon spricht, sich um das seelische Wohl der Menschen zu kümmern, (...) Suchen Sie sich nicht die Fälle aus, die in sehr schlechter Verfassung und bewusstlos sind. (...) Versuchen Sie nicht zu überwältigen. Dringen Sie durch. Und sogar ein Zeitungsreporter wird Ihnen aus der Hand fressen. 337 "Publics": Scientologen, die Dienstleistungen bei einer SO-Niederlassung in Anspruch nehmen. 338 "Scientology-Mitarbeiter aus Beslan ausgewiesen", Russland aktuell vom 25. Oktober 2004 URL: www.aktuell.ru. "Scientologists Sent Packing from Beslan - Police", Moscow News vom 22. Oktober 2004, URL: www.mosnews.com. 339 "Prozessing": Anderer Begriff für die Scientology-Psychotechnik "Auditing". 232 Scientology-Organisation (...) Die Welt gehört uns. Nehmen Sie sie in Besitz!"340 4.5 Verdeckte Werbung In dem informellen Netzwerk "Neue Impulse" sind verschiedene ScientoKontakte logy-Anhänger im Raum Stuttgart aktiv, die auch Verbindungen zu Personen zu Rechtsmit teilweise rechtsextremistischen Überzeugungen unterhalten. So wurden extremisten in einer Heftreihe mit dem Titel "Mehr wissen besser leben", die zwei SOAnhänger aus Stuttgart im Eigenverlag vertreiben, im September 2004 Bücher mit tendenziell rechtsextremistischen Inhalten und antisemitischen Anklängen vorgestellt und beworben. Zweck dieser Kontakte ist offensichtlich, vor allem über esoterische oder alternativmedizinische Themen an Einzelaspekte von HUBBARDs Lehre anzuknüpfen, um auf diese Weise neue Mitglieder zu rekrutieren. Dabei handelt es sich nicht um offizielle SO-Kontakte, sondern um Aktivitäten Einzelner, die von der Organisation aber offenkundig geduldet werden. Im Wirtschaftsbereich ist eine zunehmende überregionale Vernetzung zwiSO-Aktivitäten schen SO-Mitgliedern, die in der Unternehmensund Managementberain der Unternehtung tätig sind, festzustellen. 2004 wurde bekannt, dass Unternehmer und mensund Geschäftsleute über bundesweite Vortragsveranstaltungen für Scientology Managementgewonnen werden sollen. Personalberater, die WISE angehören, offenbaren beratung ihren Hintergrund in der Regel zunächst nicht. Sie bieten teilweise online im Internet eine 200 Fragen umfassende Persönlichkeitsanalyse für den Unternehmensbereich an, die jedoch nahezu identisch mit dem kostenlosen "Oxford Persönlichkeitstest" ist, welcher vom so genannten "Kirchenbereich" der SO zur Mitgliederwerbung verwendet wird und Wissenschaftlichkeit lediglich suggeriert. Darüber hinaus erfolgt ein Einstieg bei derartigen Trainings oftmals durch Angebote für Zeitmanagement oder Effizienztraining. Auch hier ist das Ziel, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das Anwerbeversuche wesentlich erleichtert. Das "WISE Charter Committee Stuttgart" behauptet, rund 40 Prozent aller Scientologen, die in der Dienstleistungszentrale "Flag" in Clearwater/Florida trainiert werden, seien ursprünglich durch Berater des SO-Wirtschaftsverbands zu Scientology gekommen. WISE will totalitäre Konzepte und Controlling nach HUBBARD auf breiter Front in der Wirtschaft einführen. Im Juli 2004 wurde für einen Vortrag in Kirchheim/Teck, dessen Zielgruppe Geschäftsleute waren, geworben. Dabei wurde nicht deutlich gemacht, 340 L. Ron HUBBARD, Richtlinienbrief "Tipps für die Verbreitung", Copyright 2002. 233 dass der Referent SO-Anhänger ist. Ebenso wenig war für Außenstehende erkennbar, dass die Veranstaltung bei einer Feldauditorengruppe341 durchgeführt wird. In einem anderen Fall erhielt ein Unternehmen von einem in Baden-Württemberg ansässigen Institut für Managementtraining unaufgefordert Werbung für Seminare im Bereich betrieblicher Organisation und Führung sowie für Motivationstraining. Der Geschäftsführer der Firma ging auf das Angebot ein und wurde - ohne vorab darüber in Kenntnis gesetzt worden zu sein - während des folgenden Seminars mit Inhalten der scientologischen Lehre konfrontiert. Ebenso verschwieg der Managementtrainer seine WISE-Zugehörigkeit. Als dem Geschäftsführer diese Zusammenhänge bewusst wurden, nahm er von weiteren Seminaren Abstand. Hinter individuellen Hilfsangeboten mit scientologischem Hintergrund verbirgt sich grundsätzlich das Ziel der Expansion. Gleichgültig, ob es sich um angebliche Drogenprävention, Nachhilfeangebote oder Managementtraining handelt: Sie dienen der Anwerbung neuer Scientologen in unterverdeckte schiedlichen Zielgruppen. Für die Betroffenen ist dies aber oftmals zunächst Werbung nicht ohne weiteres erkennbar. Sie sollen zuerst "zwanglos" in Kontakt mit Scientology gebracht werden. Nach anfänglich subjektiv positiven Eindrücken, etwa durch eine Lernhilfe oder in Bezug auf Effizienztraining bei einer Firma, sollen die Betroffenen nach und nach in die Organisation integriert werden. So warb ein Scientologe in einer Publikation für eine "Anti-Drogenkonferenz" im Mai 2004 in Stuttgart. Die Einladung enthielt keinen Hinweis auf Scientology. Hinter der für die Anmeldung angegebenen E-Mailadresse und Telefonnummer verbarg sich jedoch die "Org" Stuttgart. Im Juni 2004 wurde ein Seminar in einem Hotel in Kirchheim/Teck unter dem Titel "Lernen wie man lernt" angeboten. Auch dabei wurde nicht deutlich, dass die Referentin aktive Scientologin ist. 5. Diffamierungskampagnen Die SO versuchte auch im Jahr 2004, das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Repräsentanten planmäßig herabzusetzen. Die Propaganda, die von ihrer Zentrale in den USA gesteuert wird, zeichnet von Verunglimpfung Deutschland das Zerrbild eines Unrechtsstaates. So wird eine staatliche Deutschlands "Diskriminierung religiöser Minderheiten" und "Polizeibrutalität gegen Muslime, überwiegend gegen Türken und Kurden" unterstellt.342 Gleichzeitig versucht sie, unterschwellig eine Art geistigen Zusammenhang zwischen 341 Vgl. Fußnote 323. 342 "Freedom"-Homepage vom 15. April 2004, Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. 234 Scientology-Organisation der "diskriminierenden Politik" von Regierungsstellen in Frankreich und Deutschland und der Schändung jüdischer Synagogen durch Extremisten zu konstruieren.343 Mit ähnlicher Schärfe polemisiert die SO gegen einzelne Kritiker. Sie veröffentlicht deren Fotografien, darunter auch deutsche Staatsbürger, und verunglimpft sie als "antireligiöse Extremisten."344 Die Organisation strebte wie schon in der Vergangenheit eine Zusammenarbeit mit Gruppierungen im Bereich des Islam an. So warb die Stuttgarter "Org" im Frühjahr 2004 für eine angeblich zusammen mit einem islamischen VerBündnispolitik ein initiierte "Anti-Drogen Initiative in Kairo." Die SO-Schrift "Freiheit" griff das so genannte Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts in polemischer Weise auf und positionierte sich gegen Gesetzesvorhaben, die das Tragen eines Kopftuches durch muslimische Lehrkräfte im Unterricht untersagen sollen. Auch dies dürfte dem Ziel dienen, Sympathien bei Muslimen zu gewinnen. Die SO führt ihre Kampagnen auch mittels der Hilfsorganisation KVPM durch, die ihren Hintergrund teilweise nicht offenbart. In hetzerischen Publikationen behauptet sie, Missstände in der Psychiatrie bekämpfen zu wollen. Es scheint der KVPM aber vor allem darum zu gehen, Verschwörungstheorien, die auf der Lehre des SO-Gründers HUBBARD beruhen, in die Gesellschaft zu tragen. Um staatliche Stellen der USA zu einem Tätigwerden bei Organen der Bundesrepublik Deutschland zu veranlassen, behauptete die SO gegenüber der US-Handelsbeauftragten, die Scientology-kritische Tätigkeit einer Verbraucherschutzorganisation in Baden-Württemberg diene dazu, deutschen Unternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber amerikanischen Konkurrenten zu sichern. Derartige negative Propaganda könnte auch die Interessen der deutschen Wirtschaft berühren. 6. Vertrauliches Telefon Im Rahmen der Beobachtung der SO ist der Verfassungsschutz auch weiterhin auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie uns an: 0711/9561994. 343 "Religious Freedom Watch"-Homepage, Abschnitt "Anti-Religious Extremists" vom 19. Oktober 2004, Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. 344 Ebd. 235 E. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die weltpolitische Lage war in den letzten Jahren drastischen Veränderungen unterworfen. Im Mittelpunkt deutscher Sicherheitsinteressen steht inzwischen nicht mehr die klassische Landesverteidigung. Heutzutage stellen - neben dem internationalen Terrorismus und gewaltsam ausgetragenen nationalistisch und ethnisch motivierten regionalen Konflikten - die ABC345-Waffen-Fähigkeit von Krisenländern346 sowie die immer zahlreicher werdenden Angriffe auf unsere Informationsund Kommunikationssysteme die hauptsächliche Bedrohung dar. Der anhaltende Nuklearpoker Nordkoreas und die Besorgnis, der Iran könnte neben dem Aufbau eines zivilen Atomprogramms auch die Entwicklung von Kernwaffen erfolgreich vorantreiben, haben die Welt 2004 wiederholt in Unruhe versetzt. Die Politik beider Länder lässt eine Entwicklung mit möglicherweise weit reichenden Konsequenzen erahnen: die Verbreitung militärisch nutzbarer Kerntechnik könnte weitere Staaten animieren, selbst nach Atomwaffen zu greifen und damit bedeutsame Verschiebungen der strategischen und militärischen Kräfteverhältnisse nach sich ziehen. Auch terroristische Fanatiker könnten den Besitz von Nuklearsprengstoff anstreben. Die westliche Außenund Sicherheitspolitik ist daher darauf ausgerichtet, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen zu verhindern und bereits die Weitergabe des einschlägigen Know-hows und der notwendigen technischen Bausteine zu unterbinden. Die Spionageabwehr des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-WürtSchwerpunkte temberg (LfV) hat sich deshalb auch 2004 mit Nachdruck der Aufklärung solcher Aktivitäten im Interesse fremder Staaten angenommen, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie als illegal im Sinne des Außenwirtschaftsoder Kriegswaffenkontrollgesetzes anzusehen sind und die beteiligten Beschaffungsorganisationen dabei geheimdienstliche oder geheimdienstähnliche Methoden anwenden. Die klassischen Felder der Spionage - Politik, Militär und Wirtschaft/Wissenschaft - traten daneben etwas in den Hintergrund, ohne allerdings ihre 345 Atomare, biologische und chemische Waffen. 346 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird (derzeit: Iran, Nordkorea, Indien, Pakistan, Syrien), vgl. Kapitel 2.1. 236 Spionageabwehr Aktualität zu verlieren. 2004 waren aus Sicht der Spionageabwehr in diesem Zusammenhang die tief greifenden Veränderungen des politischen Systems in Russland sowie die wirtschaftliche Entwicklung in der Volksrepublik China und der dort praktizierte Umgang mit dem geistigen Eigentum Dritter besonders bedeutsam. Die aktuellen Erfahrungen deutscher Firmen und ihrer Repräsentanten im Ausland belegen, dass auch weiterhin mit Versuchen gerechnet werden muss, hierzulande erarbeitetes Know-how zum Nulltarif abzuschöpfen. Einen wichtigen Beitrag zur Aufhellung der Gefahren, die der einheimischen Industrie durch Wirtschaftsspionage und durch die vom LfV mangels Zuständigkeit nicht zu bearbeitende Konkurrenzausspähung drohen, leistet die von der Universität Lüneburg im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg durchgeführte Fallund Schadensanalyse auf dem Sektor Know-how-/Informationsverluste. Durch Interviews und Fragebogenauswertung konnten die Erfahrungen und Einschätzungen von 400 Unternehmen aus Baden-Württemberg zusammengeführt werden. Demnach beträgt das Gefährdungspotenzial für Produktideen und Produktions-Know-how mehrere Milliarden Euro pro Jahr, immense Schäden sind bereits eingetreten. Auch zeigt sich, dass erhebliche Defizite im präventiven Bereich und bei der Aufarbeitung festgestellter Sicherheitsvorkommnisse bestehen. Die Spionageabwehr hat 2004 erneut an der Bekämpfung des Islamismus mitgewirkt. Speziell ihre über Jahrzehnte hinweg gesammelten Erfahrungen bei der Beobachtung fremder Nachrichtendienste und aktuelle Erkenntnisse in Bezug auf Vertreter einschlägig aktiver Geheimdienste und andere verdächtige Akteure waren wichtige Mosaiksteine für die Einschätzung der Gesamtsituation. Im Rahmen der präventiven Spionageabwehr wurde der bisherige Kurs Prävention konsequent fortgesetzt. Der Mix aus allgemeiner Öffentlichkeitsarbeit in den Medien, unternehmensoder themenbezogenen Vorträgen und Beratungen sowie der Beteiligung an Sicherheitspartnerschaften hat verstärkt Beachtung gefunden und eine rege Nachfrage speziell aus der Wirtschaft hervorgerufen. Im Vordergrund stand das Bemühen der Unternehmen, ihre Mitarbeiter bei Auslandseinsätzen möglichst optimal auf potenzielle Gefahren vorzubereiten und damit drohenden Informationsverlusten frühzeitig vorzubeugen. Besonderes Interesse bestand auch an der Einschätzung technischer Entwicklungen unter Sicherheitsaspekten. Aufgeschreckt durch 237 Medienberichte über Schwachstellen bei drahtlosen Kommunikationssystemen hat eine Reihe von Sicherheitsverantwortlichen auf die Kompetenz des LfV zurückgegriffen. Solche Kontakte waren auch immer wieder Anlass, ganz generell vor den neuen Dimensionen und der gesteigerten Qualität der Angriffe auf Informationsund Kommunikationssysteme zu warnen. Besondere Probleme ergeben sich hier durch die Anonymität der Akteure, die weltumspannenden Möglichkeiten des Zugriffs auf die gesamte Infrastruktur einer modernen Informationsgesellschaft sowie durch die Tatsache, dass Auswirkungen oft nur schwer und zu spät erkannt werden. 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Krisenländer Schwerpunkt Die Verbreitung nuklearer, biologischer und chemischer MassenvernichProliferation tungswaffen stellt eines der größten Bedrohungspotenziale dar. Unbeirrbar halten die so genannten Krisenländer an ihrem Ziel fest, in den Besitz solcher Waffen und der zu ihrem Einsatz benötigten Trägertechnologie zu gelangen. Staaten wie Iran, Nordkorea, Indien, Pakistan oder Syrien sehen darin ein notwendiges Mittel, um äußere Bedrohungen abzuwehren oder politische Forderungen gegenüber benachbarten Ländern oder der internationalen Staatengemeinschaft besser durchsetzen zu können. Mit der zunehmenden Zahl der Krisenherde wächst auch die Bedeutung der Aufdeckung proliferationsrelevanter Sachverhalte. Länder, deren Nachrichtendienste sich um Waffentechnologien beziehungsweise Dual-Use-Güter347 bemühen, nutzen teilweise die Möglichkeit, über Tarnorganisationen Kontakte zu hier ansässigen Firmen herzustellen. Gerade im exportorientierten Baden-Württemberg laufen Unternehmen schnell Gefahr, zu Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) verleitet zu werden oder gar mit dem Strafrecht in Konflikt zu geraten. Davon betroffen sind vor allem Firmen, die entsprechende Genehmigungsvoraussetzungen für Exporte in Krisengebiete beachten müssen. Beispiel Im Mai 2004 wurde der Geschäftsführer einer Firma aus Königsbronn/Krs. Heidenheim vom Landgericht Stuttgart wegen Verstoßes gegen das AWG und das KWKG zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Hintergrund des Urteils war sein Versuch, 214 Aluminiumrohre mit einem Gesamtgewicht von rund 22 Tonnen 347 Als "Güter mit doppeltem Verwendungszweck" werden Güter einschließlich Datenverarbeitungsprogrammen und Technologien bezeichnet, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke verwendet werden können. 238 Spionageabwehr mit Hilfe einer Hamburger Firma ohne die erforderliche Genehmigung aus dem Europäischen Gemeinschaftsgebiet über China nach Nordkorea auszuführen. Die Spezifikationen und Abmessungen der Rohre sind für die Herstellung von Gasultrazentrifugen zur Produktion von waffenfähigem Uran für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper geeignet. Die Lieferung konnte auf dem Seeweg gestoppt werden. Der Geschäftsführer des beteiligten Hamburger Transportunternehmens, der sich an der verbotenen Ausfuhr beteiligte, wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Zuwiderhandlungen gegen Ausfuhrverbote und Embargobestimmungen nachrichtenwurden 2004 immer häufiger mit dem Verdacht der geheimdienstlichen dienstliche Agententätigkeit in Zusammenhang gebracht, weil eine Steuerung durch Steuerung den jeweiligen Nachrichtendienst vermutet beziehungsweise nicht ausgeschlossen werden konnte. Nicht selten basieren Proliferationsgeschäfte348 auf skrupelloser Gewinnsucht unter grober Missachtung der Bedrohung, die mittlerweile von den Krisenländern ausgeht: So zeigte sich der Geschäftsführer eines Unternehmens, das unter Beispiel anderem mit Maschinen für die Pharmaindustrie handelt, die auch zur Herstellung chemischer Kampfstoffe geeignet sind, uneinsichtig. Nachdem das LfV ihn auf die Gefahren aufmerksam gemacht hatte, kündigte er an, seine Geschäfte in Zukunft vom benachbarten Ausland aus abwickeln zu wollen. Proliferation wird auch durch illegalen Wissenstransfer begünstigt. Ingenieuren und Wissenschaftlern aus Krisenländern bieten sich vielfältige Möglichkeiten, im westlichen Ausland gezielt einschlägiges Know-how zu erlangen. Maßnahmen des LfV zur Verhinderung von Proliferationslieferungen führten in einem weiteren Fall zu Erkenntnissen über einen deutschen Unternehmer, der versucht hatte, bei einem Auslandsaufenthalt illegale Beschaffungsbemühungen mit seinem Wissen zu unterstützen: Ein Ingenieur aus Baden-Württemberg stand mit Rat und Tat einer Beispiel iranischen Beschaffungsdelegation, zu der auch iranische Wissen348 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 239 schaftler gehörten, bei dem Versuch zur Seite, im benachbarten Ausland 24 Telemanipulatoren349 zur Bearbeitung von Plutonium zu erwerben. Sie sollten von dort als Bestandteil eines militärischen Nuklearprogramms an den ausländischen Empfängerstaat für die Handhabung abgebrannter Kernbrennstäbe sowie zur Trennung von Plutonium geliefert werden. Das LfV konnte zur Eröffnung des Ermittlungsverfahrens wegen Verstoßes gegen das KWKG und geheimdienstlicher Agententätigkeit gemäß SS 99 Strafgesetzbuch Hintergrundinformationen beitragen. Nach den Erfahrungen der Verfassungsschutzbehörden gibt es folgende Anhaltspunkte für illegale Beschaffungsaktivitäten durch Krisenländer: Illegale Beschaffungsmethoden - Proliferation 349 Industrieroboter, der von einer Bedienkonsole aus gesteuert wird, um Arbeiten in gefährlicher oder unzugänglicher Umgebung zu ermöglichen; findet beispielsweise auch in der minimal-invasiven Chirurgie Verwendung. 240 Spionageabwehr Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder haben gemeinsam eine aktualisierte Broschüre350 zum Thema Proliferation herausgegeben, die weiterführende Informationen und nützliche Kontaktadressen enthält. 2.2 Volksrepublik China Seit Beginn der Reformpolitik Ende der 70erJahre hat die wirtschaftliche Entwicklung Chinas einen atemberaubenden Aufschwung erfahren. Auf dem Land und seiner Wirtschaft ruhen große Erwartungen. Kaum ein renommiertes Unternehmen kann es sich noch leisten, auf dem wachstumsstarken chinesischen Markt nicht vertreten zu sein. Die Zahl von Produktionsstätten und Repräsentanzen deutscher Firmen hat sich gegenüber dem Vorjahr mit weit über 2.000 - darunter allein circa 450 aus Baden-Württemberg - deutlich erhöht. Der Druck, im "Reich der Mitte" zu investieren, ist größer als die begründete Sorge, sich auf diese Weise gleichzeitig die eigene Konkurrenz "heranGefahren zuzüchten". Speziell Unternehmen, die sogar ihre Forschungsbereiche dorthin verlagern, laufen Gefahr, ungewollt kostenlose "Entwicklungshilfe" zu leisten. Zwar ist China zwischenzeitlich allen internationalen Konventionen zum Schutz geistigen Eigentums beigetreten. Gleichwohl beklagt die deutsche Wirtschaft, dass die Umsetzung der Gesetze vielerorts noch sehr zu wünschen übrig lasse und es so gut wie nichts gebe, was dort nicht kopiert werde. Die Aussage eines Insiders, "was Sie an Know-how und Technologie nach China bringen, ist weg", unterstreicht diese Befürchtungen. In einem metallverarbeitenden Betrieb in Baden-Württemberg ist Beispiel ein chinesischer Praktikant durch die massive Missachtung von Sicherheitsvorschriften aufgefallen, indem er verbotswidrig seinen privaten Laptop in das Unternehmen einschleuste und aus dem firmeninternen Computernetz die gesamten Daten eines kurz vor Beendigung stehenden Projekts auf seine Festplatte lud. Außerdem bemühte er sich in aufdringlicher Weise, Gespräche von Kollegen mitzuhören und hielt sich bevorzugt auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten im Unternehmen auf. 350 Die Broschüre "Proliferation - das geht uns an!" kann über die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bezogen werden; sie ist unter anderem auf der Homepage des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg eingestellt. 241 Sofern eine offene Erkenntnisgewinnung nicht möglich ist, setzt die Volksrepublik China nach wie vor auf ihre personenstarken Nachrichtendienste. Diese betreiben auch in Baden-Württemberg eine intensive Aufklärung im wirtschaftlichen und wissenschaftnachrichtenlichen Bereich. Hier ist weiterhin eine hohe Anzahl chinesischer Wissendienstliche schaftler und Doktoranden zu beobachten. Sie verfügen nicht nur über funAktivitäten diertes Wissen, sondern haben häufig auch noch unbeschränkten Zugang zu sensiblen Arbeitsbereichen. Dadurch eröffnen sich diesem Personenkreis ideale Möglichkeiten zur Ausspähung wertvoller Informationen. In Einzelfällen konnten Kontakte zu Nachrichtendienstangehörigen an der Chinesischen Botschaft in Berlin festgestellt werden. Das LfV nahm dies zum Anlass, Wissenschaftsund Forschungseinrichtungen sowie Wirtschaftsunternehmen zu sensibilisieren und auf die besondere Problematik hinzuweisen. Insbesondere wurde der Umgang mit chinesischen Delegationen thematisiert und auf die Risiken des Abhandenkommens von Unterlagen beziehungsweise Laptops und des unbefugten Fotografierens aufmerksam gemacht. Auffällig sind ferner Verbindungen von Angehörigen chinesischer Legalresidenturen351 zu landsmannschaftlichen Verbänden und Vereinen. Die Vorsitzenden solcher Vereine werden von chinesischen Nachrichtendiensten teilweise ganz gezielt eingesetzt, um sie in ihrem Sinne zu steuern. Besonders verdiente Funktionäre erhalten Einladungen zu Staatsempfängen. Die Vereine bekommen, sofern sie eine staatstreue Linie verfolgen, finanzielle Unterstützung. Funktionäre chinesischer Studentenvereinigungen beobachten zum Beispiel ihre studierenden Landsleute, um frühzeitig oppositionelle Bestrebungen erkennen zu können. Angehörige der seit 1999 in China verbotenen Falun-Gong-Bewegung sind - ungeachtet ihrer Nationalität - weiterhin auch im Ausland einer repressiven Überwachung durch chinesische Nachrichtendienste ausgesetzt. 2.3 Russische Föderation und andere Länder der GUS Russische Seit dem 11. September 2001 treibt die Russische Föderation den Aufund Föderation Ausbau ihrer bilateralen Verbindungen zu westlichen Nachrichtenund Sicherheitsdiensten stringent voran. Trotz der wachsenden Intensivierung der deutsch-russischen Beziehungen unternehmen die russischen Nach351 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet. 242 Spionageabwehr richtendienste jedoch nach wie vor große Anstrengungen, um in Deutschgroße land auf offenen und geheimen Wegen wichtige Informationen aus Politik, Anstrengungen Militär, Wirtschaft und Wissenschaft zu beschaffen. Mit Hilfe dieser Aktivitäten, die permanent den nationalen Interessen angepasst werden, können die Dienste weltweite politische und militärische Entwicklungen einschätzen und bei Bedarf darauf Einfluss nehmen. Auch die Leistungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft profitiert enorm von diesen Ausspähungsergebnissen. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, hat als Reaktion auf innere Unruhen und aus Gründen der Effizienz im Mai 2003 die Sicherheitsdienste umstrukturiert. Macht und Einfluss des zivilen Auslandsnachrichtendienstes SWR352 und des "Föderalen Sicherheitsdienstes" (FSB)353 wurden in den letzten beiden Jahren kontinuierlich und konsequent erweitert. RussiStärkung der sche Medien berichteten allerdings, dass nach der 2003 aufgelösten "FödeNachrichtenralen Agentur für Regierungsfernmeldewesen und Information" (FAPSI)354 dienste mittlerweile sogar der SWR für eine Übernahme durch den FSB zur Disposition stehe. Fachkreise sehen darin eine Rückkehr zu einem neuen allmächtigen Geheimdienst mit einer Aufgabenfülle und Personalstärke, wie man sie zu Zeiten des Kalten Krieges beim ehemaligen "Komitee für Staatssicherheit" (KGB)355 gewohnt war. SWR und FSB sind seit März 2004 dem Präsidenten direkt unterstellt. FSBDirektor Nikolai PATRUSCHEW, einem ehemaligen KGB-Offizier, verlieh Putin den Status eines Ministers im Kabinettsrang mit erheblich höherem Finanzund Personalbudget und ausgeweiteten Vollmachten gegenüber staatlichen Organen. Die russischen Nachrichtendienste sind seit jeher an Erkenntnissen aus allen Lebensund Wissensbereichen interessiert. Ihre Palette umfasst Methoden sowohl klassische konspirative Beschaffungsmethoden als auch moderne, an den Möglichkeiten heutiger Technik ausgerichtete Vorgehensweisen. Langjährig geführte Agenten mit Zugang zu besonderen Zielobjekten sind nicht nur in der Lage, kontinuierlich Wissen zu beschaffen, sondern können dieses zugleich auch noch unter fachlichen Gesichtspunkten bewerten. Über 352 "Slushba Wneschnej Raswedkij". 353 "Federalnaja Slushba Besopasnosti". 354 "Federalnoje Agenstwo Prawitelstvennoj Swjasi i Informazij". 355 "Komitet Gosudarstwennoj Besopasnosti". 243 die weltweit gespannten Computerund Datennetze lassen sich sowohl offene als auch - durch illegales gezieltes Eindringen in gesicherte Datenbanken - besonders geschützte Informationen erlangen. Um zu verhindern, dass für die Existenz und den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bedeutsames Know-how in falsche Hände gerät, sollte beispielsweise der Internetauftritt regelmäßig unter Sicherheitsaspekten "gecheckt" werden. Auch die diplomatischen oder konsularischen Vertretungen (Legalresidenturen) nehmen bei der Informationsgewinnung nach wie vor eine besondere Rolle ein. Ihre Mitarbeiter versuchen durch Kontakte zu Vertretern von Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung Wissenswertes in Erfahrung zu bringen. Dabei profitieren sie enorm von den Zugangsmöglichkeiten, die eine offene Gesellschaft und schwindende Ressentiments gegenüber dem ehemaligen Ostblock bieten. Beispiel Angehörige von Legalresidenturen der Russischen Föderation im Bundesgebiet erhalten über die Aufnahme in Adressund Verteilerverzeichnisse verschiedener Forschungseinrichtungen periodisch erscheinende Publikationen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, mit denen sie russische Forscher und Wissenschaftler unterstützen. Nachrichtendienstlich interessante Personen müssen auch heute noch davon ausgehen, während ihres Aufenthalts in Russland vom FSB permanent überwacht zu werden. Beispiel Mehrere Mitarbeiter eines baden-württembergischen Unternehmens entdeckten während einer Geschäftsreise in ihrem Hotelzimmer eine optische (Kamera/Video) und akustische (Mikrofon) Raumüberwachungsanlage. andere Von den anderen GU-Staaten sind in Baden-Württemberg vor allem die GU-Staaten Nachrichtendienste Kasachstans, Georgiens und der Ukraine aktiv. Der ukrainische Auslandsnachrichtendienst wurde aus dem Inlandsnachrichtendienst SBU356 herausgelöst. Die neu geschaffene Behörde SWRU357 hat die Aufgabe, Aufklärung unter anderem in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie zu betreiben. 356 "Slushba Bezapasnost Ukrainy", Sicherheitsdienst der Ukraine. 357 "Slushba Wneschnej Raswedki Ukrainy", Auslandsnachrichtendienst der Ukraine. 244 Spionageabwehr 3. Prävention Dem Landesamt für Verfassungsschutz obliegt die gesetzlich definierte Aufgabe, beim Schutz gegen Ausforschung von Staatsgeheimnissen und zur Sicherheit strategischer Einrichtungen, dem so genannten Geheimund Sabotageschutz, mitzuwirken. Dies bedeutet personelle Maßnahmen wie personelle Sicherheitsüberprüfungen und materielle Vorkehrungen sowohl auf amtund materielle licher als auch auf wirtschaftlicher Seite und umfasst zudem die laufende Maßnahmen Beratung und Betreuung. Ein effektiver Geheimschutz erfordert umfassendes Hintergrundwissen zu Schwerpunkten und Vorgehensweisen fremder Nachrichtendienste und ist ein wesentlicher Bestandteil der präventiven Spionageabwehr. Am Beispiel der gewerblichen Wirtschaft stellt sich der Geheimund Sabotageschutz als ein komplexer Aufgabenbereich für das LfV dar. 3.1 Geheimschutz in der Wirtschaft Ziel des Geheimschutzes in der Wirtschaft ist der Schutz von im öffentZiel lichen Interesse geheim zu haltenden Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen - der so genannten Verschlusssachen -, die einem Unternehmen zur Durchführung eines staatlichen Auftrags (zum Beispiel im Verteidigungsbereich) überlassen werden. Die Aufnahme eines Unternehmens in die amtliche GeheimschutzbetreuVerfahren ung wird in der Regel damit eingeleitet, dass der öffentliche Auftraggeber bei der zuständigen Stelle einen Antrag stellt. Bei Aufträgen von Bundesbehörden, zum Beispiel des Bundesamts für Wehrtechnik und Beschaffung, ist grundsätzlich das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) zuständig. Fungiert dagegen eine Landesbehörde als öffentlicher Auftraggeber, so tritt die jeweils zuständige oberste Landesbehörde an die Stelle des BMWA. Als Antragsberechtigte kommen auch Unternehmen in Betracht, die sich ihrerseits bereits selbst in der amtlichen Geheimschutzbetreuung befinden und beabsichtigen, einer anderen Firma einen geheimschutzbedürftigen Unterauftrag zu erteilen. Grundlegende Voraussetzung für das Verfahren ist die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen des "Handbuches für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB)358 durch Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen zuständiger Behörde und Unternehmen. 358 Weitere Informationen sowie der Text des am 15. November 2004 in überarbeiteter Version herausgegebenen GHB können unter www.bmwa-sicherheitsforum.de abgerufen werden. 245 Weitere Schritte sind die Einsetzung eines zentralen Sicherheitsorgans im Unternehmen, des so genannten Sicherheitsbevollmächtigten, und die Sicherheitsüberprüfung des betroffenen Personals, die unter Mitwirkung der jeweils zuständigen Verfassungsschutzbehörde durchgeführt wird. Im Bedarfsfall sind zusätzlich materielle Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, bei deren Festlegung neben dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) auch das Landesamt für Verfassungsschutz beteiligt ist. Betreuung von In Baden-Württemberg sind derzeit weit über 200 Firmen in das Geheim200 Firmen schutzverfahren (Bund oder Land) einbezogen. Sie werden vom LfV betreut im Land und regelmäßig über sicherheitsgefährdende Bestrebungen beziehungsweise geheimdienstliche Aktivitäten fremder Nachrichtendienste aufgeklärt und beraten. 3.2 Beratungspraxis des Landesamts für Verfassungsschutz BedrohungsSicherheit in der amtlich betreuten Wirtschaft und insbesondere auch in szenario Unternehmen, die nicht in die Geheimschutzbetreuung aufgenommen sind, ist ein wichtiger Standortfaktor. Das Spektrum der Bedrohung reicht von Spionage und Terrorismus bis hin zu Korruption und Organisierter Kriminalität. Bezogen auf Fälle des Know-how-Diebstahls geht von illoyalen Mitarbeitern das größte Risiko aus. Weitere Schwachpunkte der Informationssicherheit stellen beispielsweise Geschäftsbeziehungen mit Fremdfirmen und der Missbrauch moderner Kommunikationsnetze dar. PräventionsDeshalb ist eine angepasste Präventionsstrategie notwendig. Das Landesamt strategie für Verfassungsschutz hat es sich zum Ziel gesetzt, den Informationsschutz in der gewerblichen Wirtschaft durch Aufklärung und Beratung weiter zu stärken, um damit Ausspähungsversuchen fremder Nachrichtendienste und der Bedrohung durch terroristische und extremistische Bestrebungen vorzubeugen. Die empfohlenen personellen, technischen und organisatorischen Schutzvorkehrungen wirken sowohl gegen Spionageangriffe fremder Nachrichtendienste als auch gegen Ausspähungsbemühungen konkurrierender Unternehmen. 246 Spionageabwehr Eine mittelständische Firma aus Baden-Württemberg befürchtete Beispiel illegalen Know-how-Abfluss und wandte sich daher an die Spionageabwehr des LfV. Auslöser war die Manipulation an einem Rechner im Forschungsund Entwicklungsbereich während der Abwesenheit des zuständigen Mitarbeiters. Sehr schnell wurden gravierende Sicherheitsmängel offenbar: Von der Zutrittskontrolle über das Schlüsselmanagement bis hin zur Absicherung der EDV-Anlage und der Zugriffsberechtigung auf sensible Daten lagen die Schutzmechanismen im Argen. Durch Aufzeigen eines Bedrohungsszenarios konnte die Geschäftsleitung davon überzeugt werden, Sicherheit zum festen Bestandteil des Qualitätsmanagements zu machen. Als ersten Schritt bestimmte das Unternehmen einen Sicherheitsverantwortlichen, der anhand der Empfehlungen des LfV ein Sicherheitskonzept entwickelte, das auf die speziellen Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnitten ist. Dabei wurde dem überragenden Grundsatz aus dem amtlichen Geheimschutz "Kenntnis nur, wenn nötig" in besonderer Weise Rechnung getragen. Die öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz einerseits und verschiedene sicherheitsrelevante Vorfälle andererseits haben eine zunehmende Sensibilität bei den Unternehmen bewirkt. Dies lässt sich auch aus der deutlichen Zunahme von Beratungsersuchen Zunahme von aus der Wirtschaft ablesen. Dabei kam immer wieder ein großes Interesse Beratungsan der Sensibilisierung von Mitarbeitern zum Ausdruck, die in Länder mit ersuchen besonderen Sicherheitsrisiken entsandt werden. Diesem Anliegen konnte durch entsprechende Reiseund Verhaltensempfehlungen weitgehend entsprochen werden. Für Trainingsund Schulungsprogramme sind die Wirtschaftsunternehmen allerdings selbst verantwortlich. Unternehmen, die sich unter Missachtung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen im Ausland betätigen, riskieren erhebliche Nachteile. 3.3 Presseund Öffentlichkeitsarbeit der Spionageabwehr Das Landesverfassungsschutzgesetz sieht in SS 12 ausdrücklich vor, dass das Innenministerium und das Landesamt für Verfassungsschutz die Öffentlichkeit periodisch oder aus gegebenem Anlass unter anderem über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten unterrichten. Mitarbeiter der Spionageabwehr erstellen regelmäßig Informationsmaterial, hal247 Aktivitäten ten Fachvorträge, führen Beratungsgespräche und unterstützen Firmen bei 2004 der Erarbeitung von Schutzkonzeptionen. Im November 2004 wurde die Broschüre "Knowhow-Schutz - Handlungsempfehlungen für die gewerbliche Wirtschaft" veröffentlicht. Sie bietet eine praxisorientierte Grundlage für firmenspezifische Know-how-Schutzkonzepte und kann auch auf der Homepage des Landesamts für Verfassungsschutz359 abgerufen werden. Mit dem Thema Wirtschaftsspionage beteiligte sich die Spionageabwehr des LfV an einem gemeinsamen Messestand der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder wiederum erfolgreich an der Essener Sicherheitsmesse SECURITY 2004. Essener Sicherheitsmesse SECURITY 2004 359 URL: http://www.verfassungsschutz-bw.de. 248 Spionageabwehr Im Jahr 2004 wurden von Angehörigen der Spionageabwehr rund 20 Vorträge gehalten, über 90 Behördenund Firmenberatungen durchgeführt und 15 Medienkontakte wahrgenommen. 3.4 Sicherheitsforum Baden-Württemberg - Die Wirtschaft schützt ihr Wissen Das Sicherheitsforum Baden-Württemberg wurde 1999 initiiert. Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden, Kammern und Behörden haben es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, die Sicherheitspartnerschaft im Bereich von Wirtschaft und Politik unter besonderer Berücksichtigung der Belange kleiner und mittelständischer Unternehmen in Baden-Württemberg weiter zu entwickeln. Die Aktivitäten des Gremiums sind darauf ausgerichtet, in Grundsatzfragen der Informationssicherheit eine Scharnierfunktion zwischen Wirtschaft und Wissenschaft einerseits sowie der Politik andererseits zu erfüllen. Die Quantifizierung von Wissensverlusten der Wirtschaft durch Spionage wissenschaftliche war bislang weitgehend auf Schätzwerte gestützt. Daher gab das Gremium Studie zum bei der Universität Lüneburg eine wissenschaftliche Studie mit dem Ziel in Schaden durch Auftrag, die Höhe des Schadens zu ermitteln, welcher der baden-württemKnow-howbergischen Wirtschaft durch ungewollten Know-how-Verlust entsteht. Das Verlust Ergebnis der auf empirischer Basis durchgeführten Untersuchung wurde am 13. Oktober 2004 vorgestellt. Vorstellung der Fallund Schadensanalyse v. links: Wirtschaftsminister Ernst Pfister MdL, Innenminister Heribert Rech MdL, Prof. Dr. Egbert Kahle (Universität Lüneburg), Dr. Hans-Jürgen Reichardt (IHK Region Stuttgart). 249 Der Studie zufolge sind landesweit jährlich materielle und geistige Werte in Höhe von etwa sieben Milliarden Euro von Informationsverlusten bedroht. Mehr als zwei Drittel der beteiligten Unternehmen waren nach eigener Kenntnis bereits Opfer eines "unfreundlichen Informationsabflusses". Es entstand ein Schaden von rund 52 Millionen Euro. Die auf dieser Basis hochgerechneten Schäden für Baden-Württemberg betragen circa eine Milliarde Euro. In Relation dazu wurde der Mitteleinsatz der Unternehmen zum Zwecke der Prävention als zu gering angesehen. Einer der herausragenden Gesichtspunkte der vom Sicherheitsforum speSchaffung einer ziell für die mittelständischen Unternehmen erarbeiteten Empfehlungen ist betrieblichen die Schaffung einer betrieblichen Sicherheitsinfrastruktur, die zumindest Sicherheitseinen hauptoder nebenamtlichen Sicherheitsverantwortlichen vorsehen infrastruktur sollte. Er muss beispielsweise in der Lage sein, das komplexe Thema des notwendig Informationsschutzes unter besonderer Berücksichtigung der IT-Sicherheit verantwortlich zu bearbeiten und sowohl intern als auch extern als kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Das allgemeine Sicherheitsbewusstsein der Firmenangehörigen und Geschäftspartner bedarf im Rahmen eines umfassenden Sicherheitskonzepts überdies einer permanenten Pflege. Das LfV sieht sich durch die Ergebnisse der Studie in seiner bisherigen Einschätzung zum Stand des Informationsschutzes im Land bestätigt. Es unterstützt die Forderung, präventive Maßnahmen im Rahmen eines ganzheitlichen Sicherheitskonzepts unter Berücksichtigung personeller, materieller, organisatorischer und rechtlicher Aspekte zu realisieren. Die Studie mit den speziellen Präventionsempfehlungen des Sicherheitsforums kann neben zahlreichen weiteren Beiträgen zum Thema Unternehmenssicherheit auf der Website des Sicherheitsforums360 eingesehen werden. 360 URL: http://www.sicherheitsforum-bw.de. 250 Spionageabwehr 4. Erreichbarkeit der Spionageabwehr Wenn Sie Hinweise oder Anregungen geben wollen beziehungsweise weitere Informationen wünschen, erreichen Sie die Spionageabwehr wie folgt: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg - Abteilung 4 - Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart Telefon 0711 - 95 44 301 Telefax 0711 - 95 44 444 Über ein Vertrauliches Telefon können Sie der Spionageabwehr unter 0711 - 9 54 76 26 (Telefon) und 0711 - 9 54 76 27 (Telefax) rund um die Uhr Informationen - auch anonym - übermitteln. Selbstverständlich werden Ihre Hinweise auf Wunsch vertraulich behandelt. Alle Mitbürger, die aus ihrem beruflichen und privaten Umfeld Hinweise auf Spionagesachverhalte geben, leisten einen wesentlichen Beitrag für den Erhalt der inneren und äußeren Sicherheit. 251 F. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Struktur Der Bund und die 16 Länder unterhalten eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich in sechs Abteilungen und wird von einem Präsidenten geleitet. Die Personalstellen und Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind Haushalt im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2004 insgesamt 331 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter zugewiesen (2003: 333). Für Personalausgaben standen etwa 12,5 Millionen Euro (2003: 11,9 Millionen Euro), für Sachausgaben rund 2,4 Millionen Euro (2003: 2,4 Millionen Euro) zur Verfügung. 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz sammelt unter anderem Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, sobald ihm tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese die freiheitliche demokratische 252 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Grundordnung, den Bestand oder auch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Als derartige Bestrebungen sind Verhaltensweisen von Personen oder Organisationen zu verstehen, deren Ziel es ist, die obersten Werte und Prinzipien des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksoder rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland beziehungsweise dessen Regierung von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch Deutschland in außenpolitische Konflikte bringen könnten. Zu den weiteren Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt die Spionageabwehr. Sie ist darauf gerichtet, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und zu analysieren. Schließlich hat das Landesamt für Verfassungsschutz umfangreiche Aufgaben im Bereich des personellen und materiellen Geheimschutzes. Beispielsweise wirkt der Verfassungsschutz bei der sicherheitsmäßigen Überprüfung von Einbürgerungsbewerbern mit, überprüft Geheimnisträger und andere Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig werden wollen, und unterstützt beratend Behörden sowie Unternehmen bei der Einrichtung technischer Vorkehrungen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Die Arbeit einer Verfassungsschutzbehörde unterscheidet sich wesentlich von der einer Polizeibehörde. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeikeine lichen Befugnisse zu. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürpolizeilichen fen also keinerlei Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, DurchsuBefugnisse chungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen erlangt das Landesamt für Verfassungsschutz auf offenem Weg. Allerdings dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) genannten nachrichtendienstlichen Hilfsmittel angewendet werden. Gerade letzte253 re hochwertigen Erkenntnisse ermöglichen erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen. Alle diese Möglichkeiten stehen jedoch laut LVSG unter dem Vorbehalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, das heißt von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Nachrichtengewinnung ist diejenige auszuwählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Aufgabe der mit der Auswertung befassten Mitarbeiter ist es dann, den Aussagewert und die Bedeutung der beschafften Informationen zu analysieren und Lagebilder sowie Trendaussagen zu erstellen. Methoden der Erkenntnisgewinnung OFFENE BESCHAFFUNG Arbeitsweise VERDECKTE BESCHAFFUNG 4. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Innerbehördliche Maßnahmen - zum Beispiel Kontrollen durch den internen Datenschutzbeauftragten - stellen ebenso wie die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 16 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem 254 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Mitglieder aller Fraktionen angehören. Das G 10-Gremium, das aus fünf vom Landtag bestimmten Abgeordneten besteht, übt die parlamentarische Kontrolle über die Durchführung des Artikel 10-Gesetzes aus. Kontrolle 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann dauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Eine ganze Palette von Informationsmöglichkeiten steht dabei zur Auswahl. So können zahlreiche Broschüren zu den verschiedensten Themen des Verfassungsschutzes angefordert oder im Internet abgerufen werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz stellt auch gerne Referenten für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung und beantwortet Anfragen von Medienvertretern so umfassend wie möglich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-WürtÖffentlichkeitstemberg haben im Jahre 2004 112 Vorträge (2003: 101) gehalten. Die Zahl arbeit 2004 der Medienkontakte (Presse, Funk, Fernsehen) belief sich auf rund 110 (2003: 125). Etwa 13.400 Verfassungsschutzberichte 2003 und 14.400 Broschüren wurden auf Anforderung verteilt. Derzeit sind folgende Informationsschriften verfügbar: 255 Verfassungsschutz Baden-Württemberg (Kurzbroschüre - Januar 2005) Extremisten im Internet - Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden (Broschüre - Dezember 2001) Rechtsextremismus in Baden-Württemberg - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - April 2003) Rechtsextremistische Skinheads (Broschüre - Dezember 2001; gedruckte Auflage vergriffen, Neuauflage geplant) Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - Februar 2003) Antifaschismus als Aktionsfeld von Linksextremisten (Broschüre - März 2002) Die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) - Auf dem Weg in die Demokratie? (Broschüre - August 2000) Erscheinungsformen des Ausländerextremismus (Broschüre - März 2001) Islamismus (Broschüre - April 2004) Arbeiterpartei Kurdistans - Organisationsaufbau (Broschüre - Juli 1998) Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz (Broschüre - August 1997) 256 Verfassungsschutz Baden-Württemberg Die Scientology-Organisation (Broschüre - Juli 2003) Der Kampf der "Scientology-Organisation" um die Anerkennung der Gemeinnützigkeit in den USA und seine Auswirkungen auf Deutschland (Broschüre - April 2004) Know-how-Schutz - Handlungsempfehlungen für die gewerbliche Wirtschaft (Broschüre - Juli 2004) Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg Öffentlichkeitsarbeit Referat "Verfassungsschutz" Postfach 50 07 00 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/95 44 181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/95 44 444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.verfassungsschutz-bw.de E-Mail: lfv-bw@t-online.de Vertrauliche Telefone zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 "Islamistische Extremisten": 0711/95 61 984 257 G ESETZ ÜBER DEN V ERFASSUNGSSCHUTZ IN B ADEN -W ÜRTTEMBERG (L ANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ - LVSG) VOM 22. O KTOBER 1991 SS 1 freiheitliche demokratische GrundordZweck des nung, den Bestand und die Sicherheit der Verfassungsschutzes Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder frühzeitig zu erkennen und den Der Verfassungsschutz dient dem Schutz zuständigen Stellen zu ermöglichen, diese der freiheitlichen demokratischen GrundGefahren abzuwehren. ordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben und ihrer Länder. sammelt das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen, insbesondere sachSS 2 und personenbezogene Auskünfte, NachOrganisation, Zuständigkeit richten und Unterlagen von Organisationen und Personen über (1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben des Verfassungsschutzes unterhält das 1. Bestrebungen, die gegen die freiLand ein Landesamt für Verfassungsheitliche demokratische Grundordnung, schutz. Das Amt hat seinen Sitz in Stuttden Bestand oder die Sicherheit des Bungart und untersteht dem Innenministedes oder eines Landes gerichtet sind oder rium. eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Bundes oder eine Landes oder ihrer MitLänder dürfen im Geltungsbereich dieses glieder zum Ziele haben, Gesetzes nur im Einvernehmen mit dem 2. sicherheitsgefährdende oder geLandesamt für Verfassungsschutz tätig heimdienstliche Tätigkeiten im Geltungswerden. bereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, (3) Das Landesamt für Verfassungs3. Bestrebungen im Geltungsbereich schutz darf einer Polizeidienststelle nicht des Grundgesetzes, die durch die Anwenangegliedert werden. dung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige BeSS 3 lange der Bundesrepublik Deutschland Aufgaben des Landesamtes für Verfasgefährden, sungsschutz, Voraussetzungen für die Mitwirkung an Überprüfungsverfahren und wertet sie aus. Sammlung und Auswertung von Informationen nach Satz 1 (1) Das Landesamt für Verfassungssetzen im Einzelfall voraus, dass für Beschutz hat die Aufgabe, Gefahren für die strebungen oder Tätigkeiten nach Satz 1 258 Anhang Nummern 1 bis 3 tatsächliche Anhaltsempfindlichen Bereichen von Flughäfen punkte vorliegen. Zutritt haben, nach SS 29 c des Luftverkehrsgesetzes, (3) Das Landesamt für Verfassungs8. bei sonstigen Überprüfungen, schutz wirkt mit soweit dies im Einzelfall zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundord1. bei der Sicherheitsüberprüfung nung oder für Zwecke der öffentlichen von Personen, denen im öffentlichen Sicherheit erforderlich ist. Näheres wird Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsadurch Verwaltungsvorschrift des Innenmichen, Gegenstände oder Erkenntnisse annisteriums bestimmt. vertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen könDie Mitwirkung des Landesamtes für Vernen, fassungsschutz nach Satz 1 erfolgt in der 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Weise, dass es eigenes Wissen oder bePersonen, die an sicherheitsempfindreits vorhandenes Wissen der für die lichen Stellen von lebensoder verteidiÜberprüfung zuständigen Behörde oder gungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sonstiger öffentlicher Stellen auswertet. In sind oder werden sollen, den Fällen des Satzes 1 Nummern 1 und 3. bei technischen Sicherheitsmaß- 2 führt das Landesamt für Verfassungsnahmen zum Schutz von im öffentlichen schutz weitergehende Ermittlungen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatdurch, wenn die für die Überprüfung sachen, Gegenständen oder Erkenntniszuständige Behörde dies beantragt. sen gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte, (4) Die Mitwirkung des Landesamtes 4. auf Anforderungen der Einstelfür Verfassungsschutz nach Absatz 3 setzt lungsbehörde bei der Überprüfung von im Einzelfall voraus, dass der Betroffene Personen, die sich um Einstellung in den und andere in die Überprüfung einbezoöffentlichen Dienst bewerben, sowie auf gene Personen über Zweck und Verfahren Anforderung der Beschäftigungsbehörde der Überprüfung einschließlich der Verarbei der Überprüfung von Beschäftigten beitung der erhobenen Daten durch die im öffentlichen Dienst, bei denen der auf beteiligten Dienststellen unterrichtet Tatsachen beruhende Verdacht besteht, werden. Darüber hinaus ist im Falle der dass sie gegen die Pflicht zur VerfassungsEinbeziehung anderer Personen in die treue verstoßen, Überprüfung deren Einwilligung und im 5. bei der sicherheitsmäßigen ÜberFalle weitergehender Ermittlungen nach prüfung von Einbürgerungsbewerbern, Absatz 3 Satz 3 die Einwilligung des Be6. bei der Überprüfung der Zuverlästroffenen erforderlich. Die Sätze 1 und 2 sigkeit von Personen nach SS 12 b des gelten nur, soweit gesetzlich nichts andeAtomgesetzes, res bestimmt ist. 7. bei der sicherheitsmäßigen Überprüfung von Personen, die zu sicherheits259 SS4 gut dieses Gesetzes erheblich zu beschäBegriffsbestimmungen digen. (1) Im Sinne des Gesetzes sind (2) Zur freiheitlichen demokratischen 1. Bestrebungen gegen den Bestand Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes des Bundes oder eines Landes solche zählen: politisch bestimmten, zielund zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder 1. das Recht des Volkes, die Staatsgefür einen Personenzusammenschluss, der walt in Wahlen und Abstimmungen und darauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundurch besondere Organe der Gesetzgedes oder eines Landes von fremder Herrbung, der vollziehenden Gewalt und der schaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit Rechtsprechung auszuüben und die zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Volksvertretung in allgemeiner, unmittelGebiet abzutrennen; barer, freier, gleicher und geheimer Wahl 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit zu wählen, des Bundes oder eines Landes solche 2. die Bindung der Gesetzgebung an politisch bestimmten, zielund zweckgedie verfassungsmäßige Ordnung und die richteten Verhaltensweisen in einem oder Bindung der vollziehenden Gewalt und für einen Personenzusammenschluss, der der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, darauf gerichtet ist, den Bund, Länder 3. das Recht auf Bildung und Ausüoder deren Einrichtungen in ihrer Funkbung einer parlamentarischen Oppositionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtition, gen; 4. die Ablösbarkeit der Regierung 3. Bestrebungen gegen die freiheitliund ihre Verantwortlichkeit gegenüber che demokratische Grundordnung solche der Volksvertretung, politisch bestimmten, zielund zweckge5. die Unabhängigkeit der Gerichte, richteten Verhaltensweisen in einem oder 6. der Ausschluss jeder Gewaltund für einen Personenzusammenschluss, der Willkürherrschaft und darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 7. die im Grundgesetz konkretisierten genannten Verfassungsgrundsätze zu beMenschenrechte. seitigen oder außer Geltung zu setzen. SS 5 Für einen Personenzusammenschluss Befugnisse des Landesamtes handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen für Verfassungsschutz aktiv sowie zielund zweckgerichtet unterstützt. Verhaltensweisen von Einzel(1) Das Landesamt für Verfassungspersonen, die nicht in einem oder für schutz kann die zur Erfüllung seiner Aufeinen Personenzusammenschluss hangaben nach SS 3 erforderlichen Informatiodeln, sind Bestrebungen im Sinne dieses nen verarbeiten. Die Verarbeitung persoGesetzes, wenn sie auf Anwendung von nenbezogener Daten richtet sich insoweit Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer nach den Vorschriften dieses Gesetzes Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzund, soweit dort keine Regelungen getrof260 Anhang fen sind, nach den Vorschriften des Landen (nachrichtendienstliche Mittel). desdatenschutzgesetzes mit Ausnahme Diese sind in einer Dienstvorschrift zu der SSSS 8 und 11 Abs. 2 bis 5 sowie SSSS 12 benennen, die auch die Zuständigkeit für bis 20 des Landesdatenschutzgesetzes. die Anordnung solcher Informationsbeschaffungen regelt. Die Dienstvorschrift (2) Werden personenbezogene Daten bedarf der Zustimmung des Innenminisbeim Betroffenen mit seiner Kenntnis teriums, das den Ständigen Ausschuss des erhoben, so ist der Erhebungszweck anzuLandtags unterrichtet. geben. Der Betroffene ist auf die Freiwilligkeit seiner Angaben und bei einer (2) Das Landesamt für VerfassungsSicherheitsüberprüfung nach SS 3 Abs. 3 schutz kann personenbezogene Daten auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder und sonstige Informationen mit nachrichsonstige vertragliche Mitwirkungspflicht tendienstlichen Mitteln erheben, wenn hinzuweisen. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass (3) Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen dem Landesamt 1. auf diese Weise Erkenntnisse über für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 3 Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe Abs. 2 oder die zur Erforschung solcher um Maßnahmen ersuchen, zu denen es Erkenntnisse erforderlichen Quellen geselbst nicht befugt ist. wonnen werden können oder 2. dies zur Abschirmung der Mitarbei(4) Von mehreren geeigneten Maßnahter, Einrichtungen, Gegenstände und men hat das Landesamt für VerfassungsQuellen des Landesamtes für Verfassungsschutz diejenige zu wählen, die den schutz gegen sicherheitsgefährdende oder Betroffenen voraussichtlich am wenigsten geheimdienstliche Tätigkeiten erforderbeeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keilich ist. nen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten (3) Das in einer Wohnung nicht Erfolg steht. öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen Mitteln nur dann heimlich SS 6 mitgehört oder aufgezeichnet werden, Erhebung personenbezogener Daten wenn es im Einzelfall zur Abwehr einer mit nachrichtendienstlichen Mitteln gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für ein(1) Das Landesamt für Verfassungszelne Personen unerlässlich ist und geeigschutz kann Methoden, Gegenstände und nete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Instrumente zur heimlichen InformationsRechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauden kann. Satz 1 gilt entsprechend für den ensleuten und Gewährspersonen, Observerdeckten Einsatz technischer Mittel zur vationen, Bildund Tonaufzeichnungen, Anfertigung von Bildaufnahmen und Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenBildaufzeichnungen in Wohnungen. Maß261 nahmen nach Satz 1 und 2 bedürfen der gewonnen werden können. Die AnwenAnordnung durch das Amtsgericht, in dung des nachrichtendienstlichen Mittels dessen Bezirk sie durchgeführt werden darf nicht erkennbar außer Verhältnis zur sollen. SS 31 Abs. 5 Satz 2 bis 4 des PolizeiBedeutung des aufzuklärenden Sachvergesetzes sind entsprechend anzuwenden. halts stehen. Die Maßnahme ist unverzügBei Gefahr im Verzug können die Maßlich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht nahmen nach Satz 1 und 2 vom Leiter des ist oder sich Anhaltspunkte dafür ergeLandesamtes für Verfassungsschutz angeben, dass er nicht oder nicht auf diese ordnet werden; diese Anordnung bedarf Weise erreicht werden kann. der Bestätigung durch das Amtsgericht. Sie ist unverzüglich herbeizuführen. Einer (5) Bei Erhebungen nach Absatz 3 und Anordnung durch das Amtsgericht bedarf solchen nach Absatz 2, die in ihrer Art es nicht, wenn technische Mittel ausund Schwere einer Beschränkung des schließlich zum Schutz der bei einem EinBrief-, Postund Fernmeldegeheimnisses satz in Wohnungen tätigen Personen vorgleichkommen, zu denen insbesondere gesehen sind; die Maßnahme ist in diesem das Abhören und Aufzeichnen des nicht Fall durch den Leiter des Landesamtes für öffentlich gesprochenen Wortes mit dem Verfassungsschutz anzuordnen. Eine verdeckten Einsatz technischer Mittel anderweitige Verwertung der hierbei ergehören, ist der Eingriff nach seiner Beenlangten Erkenntnisse zum Zweck der digung der betroffenen Person mitzuteiGefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn len, sobald eine Gefährdung des Zweckes zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme der Maßnahme ausgeschlossen werden durch das Amtsgericht festgestellt worden kann. Einer Mitteilung an den Betroffeist; bei Gefahr im Verzug ist die richterlinen bedarf es nicht, wenn sich auch nach che Entscheidung unverzüglich nachzufünf Jahren noch nicht abschließend beurholen. Die Landesregierung unterrichtet teilen lässt, ob diese Voraussetzung vorden Landtag jährlich über den nach dieliegt. Die durch solche Maßnahmen erhosem Absatz erfolgten Einsatz technischer benen Informationen dürfen nur nach Mittel. Die parlamentarische Kontrolle Maßgabe des SS 7 Abs. 3 des Gesetzes zu wird auf der Grundlage dieses Berichtes Artikel 10 Grundgesetz vom 13. August durch das Gremium nach Artikel 10 des 1968 (BGBl. I S. 949) verwendet werden. Grundgesetzes ausgeübt. SS 2 Abs. I des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz (4) Die Erhebung nach den Vorschrifvom 13. Mai 1969 (GBl. S. 79) findet entten der Absätze 2 und 3 ist unzulässig, sprechende Anwendung. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere, den Betroffenen weniger (6) Die Befugnisse des Landesamtes beeinträchtigende Weise möglich ist; eine für Verfassungsschutz nach dem Gesetz zu geringere Beeinträchtigung ist in der Artikel 10 Grundgesetz bleiben unbeRegel anzunehmen, wenn die Informatiorührt. nen durch Auskunft nach SS 9 Abs. 4 262 Anhang SS 7 auf gerichtete Vorbereitungshandlungen Speicherung, Veränderung und Nutzung gegen die in SS 3 Abs. 2 Nr. 1 und 3 gepersonenbezogener Daten nannten Schutzgüter gerichtet sind, dienen. (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz kann zur Erfüllung seiner Aufga(4) Das Landesamt für Verfassungsben personenbezogene Daten speichern, schutz hat die Speicherungsdauer auf das verändern und nutzen, wenn für seine Aufgabenerfüllung erforderliche Maß zu beschränken. 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach (5) Personenbezogene Daten, die ausSS 3 Abs. 2 vorliegen, schließlich zu Zwecken der Datenschutz2. dies für die Erforschung und Bekontrolle, der Datensicherung oder zur wertung von Bestrebungen oder TätigkeiSicherstellung eines ordnungsgemäßen ten nach SS 3 Abs. 2 erforderlich ist oder Betriebs einer Datenverarbeitungsanlage 3. das Landesamt für Verfassungsgespeichert werden, dürfen nur für diese schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. Zwecke und hiermit in Zusammenhang stehende Maßnahmen gegenüber Bediens(2) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 3 teten genutzt werden. Abs. 3 dürfen vorbehaltlich des Satzes 2 in automatisierten Dateien nur Daten über SS 8 die Personen gespeichert werden, die der Speicherung, Veränderung und Nutzung Sicherheitsüberprüfung unterliegen oder personenbezogener Daten von in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen Minderjährigen werden. Zur Erledigung von Aufgaben nach SS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 dürfen in (1) Das Landesamt für Verfassungsautomatisierten Dateien nur Daten solschutz darf unter den Voraussetzungen cher Personen erfasst werden, über die des SS 7 Daten über Minderjährige vor bereits Erkenntnisse nach SS 3 Abs. 2 vorVollendung des 16. Lebensjahres in liegen. Bei der Speicherung in Dateien Akten, die zu ihrer Person geführt wermuss erkennbar sein, welcher der in SS 3 den, nur speichern, verändern und nutAbs. 2 und 3 genannten Personengruppen zen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte der Betroffene zuzuordnen ist. dafür bestehen, dass der Minderjährige eine der in SS 2 des Gesetzes zu Artikel 10 (3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und Grundgesetz genannten Straftaten plant, Absatz 2 gespeicherten personenbezogebegeht oder begangen hat. In Dateien ist nen Daten dürfen nur für die dort eine Speicherung von Daten über Mingenannten Zwecke sowie für Zwecke verderjährige vor Vollendung des 16. Lebenswendet werden, die der Wahrnehmung jahres nicht zulässig. von Aufgaben nach SS 3 Abs. 2 Nr. 2 oder der Beobachtung von Bestrebungen, die (2) Sind Daten über Minderjährige in durch Anwendung von Gewalt oder darDateien oder in Akten, die zu ihrer Per263 son geführt werden, gespeichert, ist nach ben des Landesamtes für Verfassungszwei Jahren die Erforderlichkeit der Speischutz erforderlich ist. cherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren die Löschung vorzuneh(3) Soweit nicht schon bundesrechtmen, es sei denn, dass nach Eintritt der lich geregelt, können die zuständigen Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach Stellen in den Fällen des SS 3 Abs. 3 das SS 3 Abs. 2 angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, Landesamt für Verfassungsschutz um Auswenn das Landesamt für Verfassungskunft ersuchen, ob Erkenntnisse über den schutz nach SS 3 Abs. 3 tätig wird. Betroffenen oder über eine Person, die in die Überprüfung mit einbezogen werSS 9 den darf, vorliegen. Dabei dürfen die Übermittlung personenbezogener Daten erforderlichen personenbezogenen Daten an das Landesamt für Verfassungsschutz und sonstigen Informationen an das Landesamt für Verfassungsschutz übermittelt (1) Die Behörden des Landes und die werden. Im Falle einer Überprüfung nach landesunmittelbaren juristischen PersoSS 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 ist das Ersuchen nen des öffentlichen Rechts sowie die über das Innenministerium zu leiten. Gerichte des Landes übermitteln von sich aus dem Landesamt für Verfassungsschutz (4) Das Landesamt für Verfassungsdie ihnen bekanntgewordenen personenschutz kann vorbehaltlich der in SS 11 bezogenen Daten und sonstigen Informagetroffenen Regelung von jeder öffenttionen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte lichen Stelle nach den Absätzen 1 und 2 dafür bestehen, dass die Informationen verlangen, dass sie ihm die zur Erfüllung zur Wahrnehmung von Aufgaben nach seiner Aufgaben erforderlichen personenSS 3 Abs. 2 Nr. 2 oder zur Beobachtung bezogenen Daten und sonstigen Informavon Bestrebungen erforderlich sind, die tionen übermittelt, wenn die Daten und durch Anwendung von Gewalt oder darInformationen nicht aus allgemein zuauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gänglichen Quellen oder nur mit unvergegen die in SS 3 Abs. 2 Nr. 1 und 3 hältnismäßigem Aufwand oder nur durch genannten Schutzgüter gerichtet sind. eine den Betroffenen stärker belastende Maßnahme erhoben werden können. Das (2) Die Staatsanwaltschaften und, vorLandesamt für Verfassungsschutz braucht behaltlich der staatsanwaltschaftlichen Ersuchen nicht zu begründen, soweit dies Sachleitungsbefugnis, die Polizeidienstdem Schutz des Betroffenen dient oder stellen dürfen darüber hinaus von sich aus eine Begründung den Zweck der Maßdem Landesamt für Verfassungsschutz nahme gefährden würde. Die Ersuchen auch alle anderen bekanntgewordenen sind aktenkundig zu machen. personenbezogenen Daten und sonstigen Informationen über Bestrebungen nach (5) Das Landesamt für VerfassungsSS 3 Abs. 2 übermitteln, wenn tatsächliche schutz darf Akten anderer öffentlicher Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Stellen und amtliche Register unter den Übermittlung für die Erfüllung der AufgaVoraussetzungen des Absatzes 4 und vor264 Anhang behaltlich der in SS 11 getroffenen RegeGesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz lung einsehen, soweit dies genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt für 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach Verfassungsschutz nach Satz 1 übermittelSS 3 Abs. 2 Nr. 2 und 3, ten Unterlagen findet SS 7 Abs. 3 und 4 des 2. zur Beobachtung von BestrebunGesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz entgen, die durch Anwendung von Gewalt sprechende Anwendung. oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen die in SS 3 Abs. 2 Nr. 1 SS 10 genannten Schutzgüter gerichtet sind, Übermittlung personenbezogener Daten 3. zur Erfüllung der Aufgaben nach durch das Landesamt für SS 3 Abs. 3 oder Verfassungsschutz 4. zum Schutz der Mitarbeiter und Quellen des Landesamtes für Verfassungs(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz gegen Gefahren für Leib und schutz kann personenbezogene Daten an Leben Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie an die Gerichte erforderlich ist und die sonstige Überdes Landes übermitteln, wenn dies zur mittlung von Informationen aus den Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist Akten oder den Registern den Zweck der oder der Empfänger die Daten zum Maßnahmen gefährden oder das PersönSchutz der freiheitlichen demokratischen lichkeitsrecht des Betroffenen unGrundordnung oder sonst für Zwecke der verhältnismäßig beeinträchtigen würde. öffentlichen Sicherheit benötigt. Der Über die Einsichtnahme nach Satz 1 hat Empfänger darf die übermittelten Daten, das Landesamt für Verfassungsschutz soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt einen Nachweis zu führen, aus dem der ist, nur zu dem Zweck verwenden, zu Zweck und die Veranlassung, die ersuchte dem sie ihm übermittelt wurden. Behörde und die Aktenfundstelle hervorgehen; die Nachweise sind gesondert auf(2) Das Landesamt für Verfassungszubewahren, gegen unberechtigten Zuschutz übermittelt der Staatsanwaltschaft griff zu sichern und am Ende des Kalenund, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftderjahres, das dem Jahr ihrer Erstellung lichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeifolgt, zu vernichten. dienststellen des Landes von sich aus die ihm bekanntgewordenen personenbezo(6) Die Übermittlung personenbezogenen Daten, wenn tatsächliche Anhaltsgener Daten und sonstiger Informationen, punkte dafür bestehen, dass die Überdie aufgrund einer Maßnahme nach mittlung zur Verhinderung oder VerfolSS 100 a der Strafprozessordnung bekanntgung von Staatsschutzdelikten erforderlich geworden sind, ist nach den Vorschriften ist. Delikte nach Satz 1 sind die in SSSS 74 a der Absätze 1, 2 und 4 nur zulässig, wenn und 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestegenannten Straftaten sowie sonstige Strafhen, dass jemand eine der in SS 2 des taten, bei denen aufgrund ihrer Zielset265 zung, des Motivs des Täters oder dessen machen. Der Empfänger darf die überVerbindung zu einer Organisation tatsächmittelten Daten nur zu dem Zweck verliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass wenden, zu dem sie ihm übermittelt wursie gegen die in Artikel 73 Nr. 10 Buchst. den. Der Empfänger ist auf die Verwen- b oder c des Grundgesetzes genannten dungsbeschränkung und darauf hinzuweiSchutzgüter gerichtet sind. sen, dass das Landesamt für Verfassungsschutz sich vorbehält, um Auskunft über (3) Das Landesamt für Verfassungsdie vorgenommene Verwendung der schutz kann personenbezogene Daten an Daten zu bitten. Dienststellen der Stationierungsstreitkräfte im Rahmen von Artikel 3 des Zusatzab(5) Das Landesamt für Verfassungskommens zu dem Abkommen zwischen schutz kann personenbezogene Daten an den Parteien des Nordatlantik-Vertrages öffentliche Stellen außerhalb des Gelüber die Rechtsstellung ihrer Truppen hintungsbereichs des Grundgesetzes sowie sichtlich der in der Bundesrepublik an überund zwischenstaatliche Stellen Deutschland stationierten ausländischen übermitteln, wenn die Übermittlung zur Streitkräfte vom 3. August 1959 (BGBl. Erfüllung seiner Aufgaben oder zur Wah1961 II S. 1183) übermitteln. Die Überrung erheblicher Sicherheitsinteressen mittlung ist aktenkundig zu machen. Der des Empfängers erforderlich ist. Die ÜberEmpfänger ist darauf hinzuweisen, dass mittlung unterbleibt, wenn auswärtige die übermittelten Daten nur zu dem Belange der Bundesrepublik DeutschZweck verwendet werden dürfen, zu dem land, Belange der Länder oder überwiesie ihm übermittelt wurden und das gende schutzwürdige Interessen des Landesamt für Verfassungsschutz sich vorBetroffenen entgegenstehen. Die Überbehält, um Auskunft über die vorgenommittlung ist aktenkundig zu machen. Der mene Verwendung der Daten zu bitten. Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermittelten Daten nur zu dem (4) Personenbezogene Daten dürfen Zweck verwendet werden dürfen, zu dem an andere als öffentliche Stellen nicht sie ihm übermittelt wurden und das übermittelt werden, es sei denn, dass dies Landesamt für Verfassungsschutz sich vorzum Schutz der freiheitlichen demokratibehält, um Auskunft über die vorgenomschen Grundordnung, des Bestandes oder mene Verwendung der Daten zu bitten. der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr sicherheitsgefährSS 11 dender oder geheimdienstlicher TätigkeiÜbermittlungsverbote ten für eine fremde Macht erforderlich ist und der Innenminister oder sein ständiger (1) Die Übermittlung von InformatioVertreter die Zustimmung erteilt hat; die nen nach den SSSS 5, 9 und 10 unterbleibt, Zustimmung kann auch für eine Mehrzahl wenn gleichartiger Fälle vorweg erteilt werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat 1. für die übermittelnde Stelle erdie Übermittlung aktenkundig zu kennbar ist, dass unter Berücksichtigung 266 Anhang der Art der Informationen und ihrer ErheSS 13 bung die schutzwürdigen Interessen des Auskunft an den Betroffenen Betroffenen das Allgemeininteresse an der Übermittlung überwiegen, (1) Das Landesamt für Verfassungs2. überwiegende Sicherheitsinteresschutz erteilt dem Betroffenen über zu sen oder überwiegende Belange der Strafseiner Person gespeicherte Daten auf verfolgung dies erfordern oder Antrag unentgeltlich Auskunft, soweit er 3. besondere gesetzliche Übermitthierzu auf einen konkreten Sachverhalt lungsregelungen entgegenstehen; die Verhinweist und ein besonderes Interesse an pflichtung zur Wahrung gesetzlicher einer Auskunft darlegt. Es ist nicht verGeheimhaltungspflichten oder von pflichtet, über die Herkunft der Daten, Berufsoder besonderen Amtsgeheimnisdie Empfänger von Übermittlungen und sen, die nicht auf gesetzlichen Vorschrifden Zweck der Speicherung Auskunft zu ten beruhen, bleibt unberührt. erteilen. (2) Informationen über Minderjährige (2) Die Auskunftserteilung untervor Vollendung des 16. Lebensjahres dürbleibt, soweit fen nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überoder 1. eine Gefährdung der Aufgabenerzwischenstaatliche Stellen übermittelt füllung durch die Auskunftserteilung zu werden. besorgen ist, 2. durch die Auskunftserteilung SS 12 Quellen gefährdet sein können oder Unterrichtung der durch die Ausforschung des ErkenntnisÖffentlichkeit standes oder der Arbeitsweise des Landesamtes für Verfassungsschutz zu beDas Innenministerium und das Landesfürchten ist, amt für Verfassungsschutz unterrichten 3. die Auskunft die öffentliche Sicherdie Öffentlichkeit periodisch oder aus heit gefährden oder sonst dem Wohl des gegebenem Anlass im Einzelfall über Bundes oder eines Landes Nachteile Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 3 bereiten würde oder Abs. 2. Dabei dürfen auch personenbezo4. die Daten oder die Tatsache der gene Daten bekanntgegeben werden, Speicherung nach einer Rechtsvorschrift wenn die Bekanntgabe für das Verständoder ihrem Wesen nach, insbesondere nis des Zusammenhangs oder der Darstelwegen der überwiegenden berechtigten lung von Organisationen oder unorganiInteressen eines Dritten, geheimgehalten sierten Gruppierungen erforderlich ist werden müssen. und die Informationsinteressen der AllgeDie Entscheidung trifft der Behördenleimeinheit das schutzwürdige Interesse des ter oder ein von ihm besonders beauftragBetroffenen überwiegen. ter Mitarbeiter. 267 (3) Die Ablehnung der Auskunftserteiund nach festgesetzten Fristen, späteslung bedarf keiner Begründung, soweit tens nach fünf Jahren, ob in Dateien dadurch der Zweck der Auskunftsverweigespeicherte personenbezogene Daten zu gerung gefährdet würde. Die Gründe der berichtigen oder zu löschen sind. GespeiAuskunftsverweigerung sind aktenkundig cherte personenbezogene Daten über zu machen. Wird die Auskunftserteilung Bestrebungen nach SS 3 Abs. 2 Nr. 1 oder abgelehnt, ist der Betroffene auf die 3 sind spätestens 10 Jahre nach dem ZeitRechtsgrundlage für das Fehlen der Bepunkt der letzten gespeicherten relevangründung und darauf hinzuweisen, dass er ten Information zu löschen, es sei denn, sich an den Landesbeauftragten für den der Behördenleiter oder sein Vertreter Datenschutz wenden kann. stellt im Einzelfall fest, dass die weitere Speicherung zur Aufgabenerfüllung oder SS 14 aus dem in Absatz 2 Satz 2 genannten Berichtigung, Löschung und Sperrung Grunde erforderlich ist. personenbezogener Daten (4) Das Landesamt für Verfassungs(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz hat die in Akten gespeicherten schutz hat die in Akten oder Dateien personenbezogenen Daten zu sperren, gespeicherten personenbezogenen Daten wenn es im Einzelfall feststellt, dass die zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; in Speicherung unzulässig war. Dasselbe gilt, Akten ist dies zu vermerken. Wird die wenn es im Einzelfall feststellt, dass ohne Richtigkeit der Daten von dem Betroffedie Sperrung schutzwürdige Interessen nen bestritten, so ist dies in der Akte zu des Betroffenen beeinträchtigt würden vermerken oder auf sonstige Weise festzuund die Daten für seine künftige Aufgahalten. benerfüllung voraussichtlich nicht mehr erforderlich sind. Gesperrte Daten sind (2) Das Landesamt für Verfassungsmit einem entsprechenden Vermerk zu schutz hat die in Dateien gespeicherten versehen; sie dürfen nicht mehr genutzt personenbezogenen Daten zu löschen, oder übermittelt werden. Die Sperrung wenn ihre Speicherung unzulässig war kann wieder aufgehoben werden, wenn oder ihre Kenntnis für die Aufgabenerfülihre Voraussetzungen nachträglich entfallung nicht mehr erforderlich ist. Die len sind. Akten, in denen personenbezoLöschung unterbleibt, wenn Grund zu gene Daten gespeichert sind, sind zu verder Annahme besteht, dass durch sie nichten, wenn die gesamte Akte zur Aufschutzwürdige Belange des Betroffenen gabenerfüllung nicht mehr benötigt wird. beeinträchtigt würden. In diesem Fall sind die Daten zu sperren. Sie dürfen nur SS 15 noch mit Einwilligung des Betroffenen Besondere Pflichten des Landesamtes übermittelt werden. für Verfassungsschutz (3) Das Landesamt für Verfassungs(1) Das Landesamt für Verfassungsschutz prüft bei der Einzelfallbearbeitung schutz prüft unverzüglich, ob die ihm 268 Anhang nach den Vorschriften dieses Gesetzes im Zusammenhang mit der Berichterstatübermittelten personenbezogenen Daten tung über die Tätigkeit des Verfassungsfür die Erfüllung seiner Aufgaben erforschutzes im Ständigen Ausschuss bederlich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie kanntgeworden sind. Dies gilt auch für nicht erforderlich sind, hat es die Unterladie Zeit nach ihrem Ausscheiden aus dem gen zu vernichten. Die Vernichtung kann Ständigen Ausschuss oder aus dem Landunterbleiben, wenn die Trennung von tag. anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder (4) Die Unterrichtung umfasst nicht nur mit unvertretbarem Aufwand möglich Angelegenheiten, über die das Innenmiist; in diesem Fall sind die Daten zu spernisterium das Gremium nach Artikel 10 ren. des Grundgesetzes zu unterrichten hat. (2) Erweisen sich personenbezogene SS 17 Daten, nachdem sie durch das Landesamt Einschränkung von für Verfassungsschutz übermittelt worden Grundrechten sind, als unvollständig oder unrichtig, sind sie unverzüglich gegenüber dem EmpfänAufgrund dieses Gesetzes kann das ger zu berichtigen oder zu ergänzen, es sei Grundrecht auf Unverletzlichkeit der denn, dass dies für die Beurteilung eines Wohnung (Artikel 13 des Grundgesetzes) Sachverhalts ohne Bedeutung ist. eingeschränkt werden. SS 16 SS 18 Parlamentarische Kontrolle Erlass von Verwaltungsvorschriften (1) Das Innenministerium unterrichtet Das Innenministerium kann zur Ausfühden Ständigen Ausschuss des Landtags rung des Gesetzes allgemeine Verwalüber die Tätigkeit des Verfassungsschuttungsvorschriften erlassen. zes halbjährlich sowie auf Verlangen des Ausschusses und aus besonderem Anlass. SS 19 Inkrafttreten (2) Art und Umfang der Unterrichtung des Ständigen Ausschusses werden unter Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 1992 in Beachtung des notwendigen Schutzes des Kraft. Gleichzeitig tritt das Gesetz über Nachrichtenzuganges durch die politische den Verfassungsschutz in Baden-WürtVerantwortung der Landesregierung betemberg (Landesverfassungsschutzgesetz - stimmt. LVSG) vom 17. Oktober 1978 (GBl. S. 553) außer Kraft. (3) Die Mitglieder des Ständigen Ausschusses sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen 269 Gruppen-, Organisationsund Sachregister Bezeichnung Seite/n 11. September 2001 31, 71 18.3. Tag der politischen Gefangenen 204 Act of Violence 125ff. Adil Düzen 55f., 66f. Advance! 220 AG Antifa 188 Akinci (Stürmer) 77 Aktionsbündnis Rhein-Neckar 136, 168 Aktionsbüro Rhein-Neckar 136, 175 Al-Aqsa e.V 40f. Albanische Nationalarmee (AKSH) 106 Al-Djamaa al-Islamiya (Islamische Gruppe) 42 Al-Djihad al-Islamiy (Islamischer Djihad) 43 Al-Manar 50f. Al-Mudjamma al-islami (Islamischer Zusammenschluss) 39 AL-Muhajiroun 26 Al-Muqawama al-Islamiya (Islamischer Widerstand) 50 Al-Qaida 18, 21f., 24ff., 28, 43, 78 Al-Qassam-Brigaden 40 Al-Quds-Tag 51 Al-Wai 45 All India Sikh Student Federation (AISSF) 108 Amal 50 Anadolu'da Vakit 60f., 65, 70 Anatolische Föderation e.V. 88f. An-Nahda (Bewegung der Erneuerung) 42 Ansar al-Islam 20ff., 42 Ansar as-Sunna 20, 25 anti atom aktuell 207 Antiamerikanismus 51, 71, 85, 118, 126, 135, 156f., 173, 183, 211, 213 antideutsch-kommunistische Koordination Baden-Württemberg (ADKK) 218 antifa. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur 197 Antifa Freiburg 187 Antifa Nachrichten 197, 199f. Antifaschismus 184, 187ff., 191, 197ff., 217ff. Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm 216f. 270 Anhang Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) 216 antifaschistische nachrichten 200 Antifa Ulm 187 Antiglobalisierungsbewegung 182 Antisemitismus 38, 51, 64, 69, 118, 126, 135, 161, 184, 187, 233 Antizionismus 64, 66, 126, 218 Applied Scholastics (ApS) 222, 226 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Aryan Rebells 125f. Atilim Avrupa 93f. At-Tauhid wa'l-Djihad 22, 26 Auditing 225, 231f. Autonome 184, 187, 208, 214ff. Autonome Zentren 184, 187, 214ff. Babbar Khalsa International (BK) 108f. Barika-i Hakikat (Das Aufleuchten der Wahrheit) 73ff. Barking Dogs 125 Befreiungsarmee Kosovos (UCK) 105 Befreiungseinheiten Kurdistans (HRK) 95 Beklenen ASR-I SAADET 73f. Bewaffnete Einheiten der Armen und Unterdrückten (FESK) 93 Bewegung der freien Jugend Kurdistans (TECAK) 103 Bewegung des Islamischen Widerstands siehe HAMAS Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft (BDVG) 132, 134ff., 171f., 187, 198, 217 Bildungswerk Deutsche Volksgemeinschaft 134 Blood & Honour-Bewegung 123, 176 Blue Max 128, 179 break-out 216 Brutal Attack 125 Bunte Liste 194 Castle Hill Publishers 160 Central Org 226f. Class V Org 224f. Church of Scientology International (CSI) 220 Das Freie Forum 158 Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) 49f. 271 Demokratische Liga Kosovos (LDK) 104 Demokratische Partei Kurdistans (KDP) 29 Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) 13, 73ff. DER REPUBLIKANER 146 Der Schulungsbrief 135 Des Pardes 110 Deutsche Akademie (DA) 160f. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 184f., 194ff., 207f., 211ff., 218 Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 150, 154 Deutsche Partei - Die Freiheitlichen (DP) 115f., 143, 153ff. Deutsche Stimme (DS) 129, 138, 140f., 145, 162, 166ff., 180 Deutsche Studiengemeinschaft (DSG) 161 Deutsche Volksunion (DVU) 114ff., 142ff., 149f., 151f., 155, 176 Deutscher Buchkreis 156 Deutsches Kolleg (DK) 160f. Deutschland in Geschichte und Gegenwart 157, 165f. Deutschland-Post 153f. Devrimci Sol (Dev Sol-Revolutionäre Linke) 83f. DEVRIMCI SOL 84, 88 Dianetik-Fachgruppen 226 Dianetik Zentrum 226 Dianetik-Post 220 Die Gesellschaft der Sunna und des Buches 21 Die Republikaner (REP) 115f., 129, 143, 146ff., 154f. Die Rote Hilfe 203ff. Disput 190 Division Staufen 128 Djihad 22f., 24ff., 55, 66 Djihadismus 25 Djihadisten 19, 23 Ehrenamtliche Geistliche 229 Ekmek ve Adalet 84, 88 Euro-Kurier-Aktuelle Buchund Verlags-Nachrichten 157 Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V. (EMUG) 54 Europäisches Sozialforum 182 Ex-Steffi 215 Exxtrem 128 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Förderaler Sicherheitsdienst) 243 272 Anhang Federalnoje Agenstwo Prawitelstvennoj Swjasi i Informazij (FAPSI, Föderale Agentur für Regierungsfernmeldewesen und Information) 243 Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) 34 Feldauditorengruppen 225, 234 Flag 233 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) 91, 93f. Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e.V. (AGIF) 92ff. Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) 81ff. Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e.V. (ADHF) 91, 94 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) 102 Free Mind 220 Freiheit 220, 235 Freiheit durch Wahrheit 171 Freiheitliche Initiative Heilbronn 115 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) siehe Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) Freundeskreis Ein Herz für Deutschland, Pforzheim e.V. (FHD) 158 Freundeskreis "Ein Herz für Deutschland", Stuttgart (HfD) 158 Freundeskreis Unabhängige Nachrichten e.V. 162 Frontal 88 126 Front der Kämpfer für den Islamischen Großen Osten (IBDA-C) 77f. Front für die Albanische Nationale Vereinigung (FBKSH) 106f. Front Islamique du Salut (FIS) 33, 41f. Furchtlos und Treu (F+T) 123f. Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) 157f. GRABERT-Verlag 156f., 165 Graue Wölfe 82 Groupe Islamique Arme (GIA) 33, 41, 42 Groupe salafiste pour la Predication et le Combat (GSPC) 33, 41, 42 Gruppen des libanesischen Widerstands siehe Amal Gurdwaras 109 Halk Icin Devrimci Demokrasi 90 Hammerskins 123f. Harakat Al-Muqawama Al-Islamiya siehe HAMAS HAMAS (Bewegung des islamischen Widerstands) 32f., 35, 39ff. Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg 213 Hilafet 45 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) 133f. 273 Hizb Allah (Partei Gottes) 35, 50ff. Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung) 43ff. Hohenrain-Verlag 156f. Impact 220 Infoladen Ludwigsburg 187 Informationsdienst der Deutschen Studiengemeinschaft 161 Initiative "Für Volksgemeinschaft & Sozialstaat" 167 Insitut des Sciences Humaines 59 Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte 157 International Association of Scientologists (IAS) 229 International Scientology News 220, 222, 227, 229 International Sikh Youth Federation (ISYF) 108f. Internationale Kamagatamaru Partei 108 Islamische Armee der Errettung (AIS) 33 Islamische Bewegung im Irakischen Kurdistan (IMIK) 20 Islamische Bewaffnete Gruppe siehe Groupe Islamique Arme (GIA) Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 34ff. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) 34 Islamische Heilsfront (FIS) siehe Front Islamique du Salut (FIS) Islamisches Informationszentrum Ulm e.V. 16 Islamisches Zentrum München (IZM) 32 Islamische Zentren 34 IslamOnline 38 Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland 54 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 33 Jagdstaffel 128 Junge Deutsche (JD) 134 Junge Freiheit (JF) 139f., 162 Junge Landsmannschaft Ostpreußen 129 Junge Nationaldemokraten (JN) 115, 132, 138f., 170f. junge Welt 193, 204, 210, 215 Jungle World 218 Kalifatsstaat siehe Der Kalifatsstaat Kamagata Maru Dal International (KMDI) 108 Kameradschaften 123, 130, 179 Kameradschaft Kaiserstuhl-Tuniberg 123 Kameradschaft Karlsruhe 136f., 161, 174 Kameradschaft Rastatt 125 Kameradschaft Neu-Ulm 216 274 Anhang Kasseler Friedensratschlag 213 Khalistan 109 Komitet Gosudarstwennoj Besopasnosti (KGB) 243 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) 225f., 235 Kommunal-Info Mannheim 198 Kommunale Berichte Stuttgart 194 Kommunistische Plattform (KPF) 185 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) 91 Konföderation für demokratische Rechte in Europa (ADHK) 91 Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa (CDK) 96 Kraftschlag 145 Krisenländer 236, 238ff. Kultur Vereinigung der Tamilen e.V. 112 Kulturtreff in Selbstverwaltung (KTS) 187, 215f. Kurdische Demokratische Volksunion (YDK) 95, 99 Landser 125, 142 Lernen und Kämpfen (LuK) 201 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 110ff. Linke Liste Mannheim 194 Linke Liste/Solidarische Stadt (LiSST) 194f., 205 Linksruck 186, 205f., 208 Maoistische Kommunistische Partei (MKP) 90 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 92ff. Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 185, 201ff., 206, 208ff., 212 Media-Service 156 mehr wissen besser leben 233 Milli Gazete 54, 59, 61f., 64f., 68, 70 Milli Görüs 54ff. Milli Görüs & Perspektive 54, 67 Milli Selamet Partisi (MSP, Nationale Heilspartei) 77 Modjahedin-e Khalq Organisation (People's Mojahidin of Iran, PMOI) siehe Volksmodjahedin Muaskar al-Battar 23 Mudjahidin 20 MuslimCity 38 Muslimbruderschaft (MB) 31ff., 41ff., 59, 71 275 Muslim Iranian Student's Society 78 Nachrichten der HNG 133, 134 Narconon 220, 230 National Council of Resistence (NCR) 78 National Liberation Army of Iran (NLA) 78ff. Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue (B.K.D.SH.) 106 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 114ff. 129, 132, 138ff., 149f., 152, 154ff., 162, 168, 170, 176, 180f., 189, 191, 216 Nationale Befreiungsarmee (UCK) 105 Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) 95 Nationale Info-Telefone 130, 136f., 161, 174 Nationaler Widerstand Sozialistische Zelle 180 Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) 78ff. Nationales Bündnis Dresden 114f., 150 Nationales Bündnis Heilbronn 114f. NATION & EUROPA 162 National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 150, 151f. Neonazis 116f., 120, 128, 131ff., 141f., 156, 158, 170, 174, 179, 218 Netzwerk gegen Rechts 206 Neue Impulse 233 Noie Werte 128, 179 OBW 9 214 ODEM 126 Office of Special Affairs (OSA) 223ff., 228 Özgür Politika 91, 94, 97ff. Organisation der Volksmodjahedin Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin OSA International 224 Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) siehe Maoistische Kommunistische Partei (MKP) Palästinensischer Islamischer Djihad 35 Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 82 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 184f., 190ff., 203, 206, 212 Partei freier Frauen (PJA) 101 Partizan 89ff. Patriotische Union Kurdistans (PUK) 29 Patriotisch-Demokratische Partei (PWD) 96, 103 276 Anhang PDS Landesinfo Baden-Württemberg 190 PDS-Pressedienst 190 People's Mojahidin of Iran (PMOI) siehe Volksmodjahedin Position. Magazin der SDAJ 210 Professionelles Lerncenter 226 Projekt Schulhof 114, 176ff. Proliferation 239ff. Prosperity 220 Race War 128 Radikahl 145 REBELL 201 red action 189 Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) 60 Reformdebatte 91, 94, 115, 144, 152, 163ff., 182f., 191ff., 202f., 205, 206ff., 211, 218 Regionales Antifaschistisches Aktionsbündnis Heilbronn/ Schwäbisch Hall (RAA-HN-SHA) 187 Religious Technology Center (RTC) 220 Republikaner siehe Die Republikaner Resistanbul Komitee Ulm 94 Revisionismus 68, 118, 147, 152, 156, 159f., 161f., 166, 191 Revolutionäre Aktion Stuttgart (RAS) 188f., 207ff. Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) 85f. Revolutionäre Volksbefreiungspartei (DHKP) 85 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-front (DHKP-C) 83ff. Revolutionär-Sozialistischer Bund (RSB) 208 Ribashkimi i Shqiperise (Albanische Wiedervereinigung) 107 Rote Fahne (RF) 201ff., 211f. Rote Fahne News 202 Rote Hilfe e.V. (RH) 203ff. Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 123, 130, 131ff., 159 Saadet-Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) 59, 61 Saga 124f. Salafismus 17f. Salafitische Gruppe für Predigt und Kampf siehe GSPC Saut al-Djihad 26 Scharia 43, 60, 73 Schriftenreihe der Deutschen Studiengemeinschaft 161 Scientology-Gemeinde 225 277 Scientology Kirche Deutschland (SKD) 221 Scientology-Organisation (SO) 220ff. Sea Organization (Sea Org) 228 Serxwebun 94 Skinheads 116f., 120ff., 130, 132, 137, 142, 158, 176f., 179 Skrewdriver 176 Sleipnir 145 Slushba Bezapasnost Ukrainy (SBU) 244 Slushba Wneschnej Raswedkij (SWR) 243 Slushba Wneschnej Raswedki Ukrainy (SWRU) 244 Solidaritätskomitee gegen das Berufsverbot 205 Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien in der Türkei (TAYAD) 87 Sozialistische Alternative Voran (SAV) 206, 208, 210f. Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend 197 Sozialistische Zeitung 193 Spreegeschwader 125 Stiftung Wissenschaft und Forschung (Bilim Arastirma Vakfi) 68 Stromschlag 128 Tabligh-i Jama'at (Gemeinschaft für Verkündung und Mission) 47ff. Tamil New Tigers (TNT) 110 Tamilischer Kulturkreis e.V. 113 TAYAD-Komitee e.V. 84, 89 The Auditor 220 The Revisionist 160 Theses & Dissertations Press 160 Tobsucht 126, 128 Todesfastenswiderstand 87 Tohum Kultur Verein Stuttgart 93 Trotzkistische Gruppierungen 205f. Tübinger Linke/PDS (TüL/PDS) 194f. Türk Federasyon Bülteni 81 Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) 90 Türkische Föderation Deutschland (ATF) 81ff. Türkische Kommunistische Arbeiterbewegung (TKIH) 92 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 89ff., 92 Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke (THKP/-C) 83ff. Ultima Ratio 128 Unabhängige Nachrichten 162, 169 Unsere Zeit (UZ) 194, 195f., 200, 207, 211, 219 278 Anhang Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) siehe Der Kalifatsstaat Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (AMGT) 54 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) 185, 197ff. Versandbuchhandlung GRABERT 156 Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung (Vffg) 160 Volk in Bewegung 135, 173 Volk in Bewegung - Verlag und Medien oHG 135 Volksbefreiungsarmee (HKO) 90 Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) 95 Volksbewegung von Kosovo (LPK) 105 Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) 49f. Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) 94ff. Volksmodjahedin 78ff. Volksverteidigungskräfte (HPG) 95, 100 Wahhabismus 47f. White Anger 126 Widerstand Schwaben 123 WISE Charter Committee (WCC) 226, 233 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 226, 233f. Yeni Demokrasi Yolunda Isci Köylü 90 Youngland 145 Zeit für Protest 146f. Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg 34 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 17, 34 279 Personenverzeichnis Name Seite/n Abd al-Kafi, Omar, Dr. 34f. Ahmad, Nadjm ad-Din Faradj (alias Krekar, Mullah) 20f. Akif, Mahdi 32 Al Attar, Issam 34ff. Al-Banna, Hassan 31, 34, 42 Al-Hudaibi, Ma'mun 32 Al-Maududi, Abu'l Ala 42, 71 Al-Muqrin, Abdul Aziz 22f. Al-Qaradawi, Yusuf 38 Al-Rantissi, Abd al-Asis 32, 40 Al-Wahhab, Ibn Abd 47 Al-Zawahiri, Ayman, Dr. 24, 43 An-Nabhani, Taqi ad-Din 43 Asch-Schami, Abu Anas 21f. Aydar, Zübeyir 94, 98, 100, 102f. Ayiri, Yusuf 25 Azzam, Abdullah 25 Az-Zarqawi, Abu Musab 19, 21, 23, 26 Beghal, Djamel 49 Beqiri, Idajet 107 Bhindranwale, Jarmail Singh 110 Bin Ladin, Usama 24f., 43 Bisky, Lothar 190 Bulac, Ali 60 Deuschle, Ulrich 146, 150 Donaldson, Ian Stuart 176 Elyas, Nadeem 34 Erbakan, Necmettin, Prof. Dr. 55f., 60ff., 64, 66, 69, 77 Erdis, Izzet (alias Mirzabeyoglu, Salih) 77 Eygi, Mehmet Sevket 64, 72 Ersoy, Arif, Prof. Dr. 63 Frey, Gerhard, Dr. 145, 151 280 Anhang Ganioglu, Sami 54, 70 Garaudy, Roger 76 Ghannoushi, Rashid 42 Grabert, Herbert, Dr. 156 Grabert, Wigbert 156f. Härle, Siegfried 138 Haese, Reinhard 150 Heise, Thorsten 141f. Heß, Rudolf 131f. Hofman, Murad 17, 34, 36f. Hubbard, Lafayette Ronald 220ff., 225, 228ff., 235 Ilyas, Maulana Muhammad 47f. Isik, Yusuf, Dr. 65 Käppler, Lars 134ff., 167, 171ff. Kaplan, Cemaleddin 73f. Kaplan, Metin 73f., 76 Kappel, Heiner, Dr. 153ff. Karatas, Dursun 84f. Kaufmann, Sylvia-Yvonne 212 Kavakci, Merve 60 Karuna siehe Muralitharan Kaypakkaya, Ibrahim 90f. Kebir, Rabah 42 Khaled, Amr 34ff. Kisayürek, Necip Fazil 77 Kiziltas, Ekrem 70 Koc, Hasan 69 Kosiek, Rolf, Dr. 157 Krekar, Mullah siehe Ahmad, Nadjm ad-Din Faradj Krishnakumar, Sathasivam (alias Kittu) 112 Lorenz, Kerstin 150 Lunikoff siehe Regener, Michael Mahler, Horst 160, 216 Mashal, Khaled 35, 39 Mayer, Winfried 151 Meenen, Uwe 160 281 Mirzabeyoglu, Salih siehe Erdis, Izzet Miscavige, David 220 Moussaoui, Zacarias 49 Müller, Ursula 133 Muralitharan, Vinayagamoorthy (alias Colonel Karuna) 111 Nasrallah, Hassan 35, 51 Neidlein, Alexander 139 Noyan, Münib Engin 70f. Oberlercher, Reinhold, Dr. 160 Öcalan, Abdullah 94f., 97, 101ff. Öcalan, Osman 96f., 101ff. Özcan, Mevlüt 67 Öztürk, Erol 54, 70 Oktar, Adnan (alias Yahya, Harun) 67ff. Pätzold, Ulrich 150 Prabhakaran, Vellupillai 113 Pfennig, Werner 198 Patruschew, Nikolai 243 Qutada, Abu 21 Qutb, Sayyid 42, 71 Radjavi, Maryam 79 Radjavi, Masud 79f. Regener, Michael (alias Lunikoff) 125, 142 Reid, Richard 49 Rennicke, Frank 129, 145, 158 Retz, Jutta 150, 154 Rudolf, Germar 159f. Schaal, Karl-August 150 Shalah, Ramadan Abdallah, Dr. 35 Schlierer, Rolf, Dr. 146f., 149, 155 Schönhuber, Franz 150 Schützinger, Jürgen 150 Schwab, Jürgen 137, 140, 161 Smyrek, Steven 53 Sofu, Ibrahim, Dr. 76 Stehr, Heinz 184 282 Anhang Tegethoff, Ralph 141 Türkes, Alparslan 82 Ücüncü, Oguz 34, 63, 66f. Voigt, Udo 132, 138ff., 145, 168 von Denffer, Ahmad 34 Wolf, Winfried 193 Worch, Christian 134 Wulff, Thomas 141 Yagan, Bedri 84 Yahya, Harun siehe Oktar, Adnan Yassin, Ahmad 24, 32, 39f. Yeneroglu, Mustafa 63, 66, 69 283 284 Notizen 285 286 Notizen 287 VERTEILERHINWEIS Diese Informationsschrift wird von d Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen lichkeit herausgegeben. Sie darf weder Helfern während eines Wahlkampfs zu den. Dies gilt für alle Wahlen. Missbräuchlich sind insbesondere die Informationsständen der Parteien sow parteipolitischer Informationen oder W Untersagt ist auch die Weitergabe an D Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer W verwendet werden, dass dies als Partein politischer Gruppen verstanden werden hängig vom Vertriebsweg, also unabhän Anzahl diese Informationsschrift dem E Erlaubt ist jedoch den Parteien, die Inf glieder zu verwenden. der Landesregierung Baden-Württemberg im Verpflichtung zur Unterrichtung der Öffentvon Parteien noch von deren Kandidaten oder um Zwecke der Wahlwerbung verwendet werVerteilung auf Wahlveranstaltungen und an ie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben Werbemittel. Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Wahl darf die vorliegende Druckschrift nicht so nahme der Herausgeberin zugunsten einzelner n könnte. Diese Beschränkungen gelten unabngig davon, auf welchem Wege und in welcher Empfänger zugegangen ist. formationsschrift zur Unterrichtung ihrer Mit-