A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Der politische Extremismus ist eine ständige Herausforderung für unsere Demokratie, die sich im Bewusstsein der Lehren aus den Jahren der Weimarer Republik und der leidvollen Erfahrungen aus der Nazidiktatur als "wehrhafte Demokratie" versteht. Neben anderen "Sicherheitsmechanismen" zum Schutz unseres demokratischen Gemeinwesens erwähnt das Grundgesetz auch den Verfassungsschutz (Artikel 73 Nr. 10 GG). Seine Aufgabe ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Bund und die 16 Länder unterhalten eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde, ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich in fünf Abteilungen und wird von einem Präsidenten geleitet. Sein Personalbestand ist im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2001 insgesamt 337 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter 1 zugewiesen (2000: 341). Personalausgaben waren in Höhe von etwa 24,16 Millionen DM/12,35 Millionen Euro (2000: 24,23 Millionen DM/12,39 Millionen Euro) und Sachausgaben in Höhe von rund 4,5 Millionen DM/2,3 Millionen Euro (2000: 4,25 Millionen DM/2,17 Millionen Euro) veranschlagt. Im Rahmen des von der Landesregierung im Oktober 2001 als Reaktion auf die Terroranschläge in den USA beschlossenen Anti-Terror-Programms erhielt das Landesamt für Verfassungsschutz zusätzliche 15 Stellen zur Bekämpfung des islamistischen Extremismus und Terrorismus. Diese wurden nach und nach insbesondere durch Mitarbeiter beziehungsweise Mitarbeiterinnen mit islamwissenschaftlicher Ausbildung und entsprechenden Sprachkenntnissen besetzt. Weiter wurden die sächlichen Mittel vor allem für nachrichtendienstliche Spezialtechnik und sonstige operative Zwecke um 3,1 Millionen DM/1,59 Millionen Euro aufgestockt. 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz ist immer dann gefordert, wenn den obersten Werten und Prinzipien des Grundgesetzes Gefahr droht. So hat das Landesamt nach SS 3 Abs. 1 und 2 des Landesverfassungsschutzgesetzes (LVSG) die Aufgabe, Informationen über solche Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder auch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind. Unter dem Begriff der Bestrebungen versteht man dabei eine "politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweise", die auf eine Beeinträchtigung der verfassungsmäßigen Ordnung abzielt (vgl. SS 4 Abs. 1 LVSG). Deshalb sammelt der Verfassungsschutz dort Informationen, wo Bestrebungen erkennbar sind, unsere Staatsordnung durch ein linksextremistisches, rechtsextremistisches oder sonstiges undemokratisches Staatsgebilde zu ersetzen oder durch terroristische Gewalt zu beseitigen. Der Verfassungsschutz ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksund rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch unseren Staat möglicherweise in außenpolitische Konflikte und Zwangssituationen bringen. Außerdem gehört die Spionageabwehr zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes. Hier geht es darum, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und auszuleuchten. 2 Aus dem Beobachtungsauftrag folgt die - ebenfalls gesetzlich bestimmte - Verpflichtung des Verfassungsschutzes, die für die Gefahrenabwehr zuständigen Stellen über seine Erkenntnisse zu informieren, damit dort die gebotenen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Schließlich erfüllt das Landesamt für Verfassungsschutz eine Mitwirkungsaufgabe im Bereich des vorbeugenden personellen und materiellen Geheimschutzes. Es unterstützt hierbei Behörden und außerbehördliche Stellen bei der Überprüfung von Geheimnisträgern und anderen Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig sind. Es bietet dabei auch Beratung an, wie geheimhaltungsbedürftige Vorgänge durch technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden können. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Verfassungsschutz und Polizei sind in der Bundesrepublik Deutschland streng voneinander getrennt. Dies gilt sowohl organisatorisch als auch hinsichtlich der spezifischen Befugnisse. Diese mit dem Begriff "Trennungsgebot" umschriebene Kompetenzverteilung wurzelt in der nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnenen Einsicht, dass sich die leidvollen Erfahrungen mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) niemals wiederholen dürfen. Durch das Trennungsgebot wird sichergestellt, dass dem Verfassungsschutz keine polizeilichen Befugnisse zustehen. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürfen also keinerlei Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen, die das Landesamt für Verfassungsschutz braucht, um seinen Auftrag zu erfüllen, beschafft es auf offenem, jedermann zugänglichem Weg. So werten die Mitarbeiter der Behörde Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter, Programme, Broschüren und sonstiges allgemein verfügbares Material extremistischer Organisationen aus und besuchen immer wieder auch deren öffentliche Veranstaltungen. 3 Allerdings kann das Landesamt für Verfassungsschutz seine Informationen auch verdeckt beschaffen und die dafür im LVSG vorgesehenen Methoden und Techniken anwenden beziehungsweise einsetzen. Gerade solche, durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnenen hochwertigen Erkenntnisse, ermöglichen im Grundsatz erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Beispiele für nachrichtendienstliche Mittel sind der Einsatz von Vertrauensleuten (V-Leuten) die Observation verdächtiger Personen geheimes Fotografieren sowie Tarnmaßnahmen, mit denen verdeckt werden soll, dass der Verfassungsschutz Beobachtungen vornimmt. Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses - G 10 -). 4. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Innerbehördliche Maßnahmen - z.B. Kontrollen durch den internen Datenschutzbeauftragten - stellen ebenso wie die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium sowie externe Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 16 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Ihm berichtet das Innenministerium halbjährlich sowie auf Verlangen des Ausschusses und aus besonderem Anlass über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Für die Wahrnehmung der spezifischen parlamentarischen Kontrolle über die Durchführung des "Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses" 4 (G 10) ist ein Gremium bestellt, das sich aus fünf Abgeordneten des Landtags zusammensetzt. Über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen entscheidet eine unabhängige Kommission, die aus drei vom Landtag bestellten Persönlichkeiten besteht, die nicht notwendigerweise Abgeordnete sein müssen. 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann dauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Eine ganze Palette von Informationsmöglichkeiten steht dabei zur Auswahl. So können derzeit 15 Broschüren zu den verschiedensten Themen des Verfassungsschutzes angefordert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz stellt auch gerne Referenten für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung und beantwortet Anfragen von Medienvertretern so umfassend wie möglich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahre 2001 114 Vorträge (2000: 86) gehalten, die Zahl der Medienkontakte (Presse, Funk, Fernsehen) belief sich auf rund 240 (2000: 160). Etwa 14.370 Verfassungsschutzberichte 2000 und 16.670 Broschüren wurden auf Anforderung verteilt. Derzeit sind folgende Informationsschriften verfügbar: Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg - Aufbau und Arbeitsweise (Broschüre - Januar 1999) Extremisten im Internet - Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden (Broschüre - Dezember 2001) 5 Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - Mai 1998; Neuauflage geplant) Die Partei "Die Republikaner" (REP) - konservativ oder rechtsextremistisch? (Broschüre - August 2000) Rechtsextremistische Skinheads (Broschüre - März 2001) Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - September 1999) Antifaschismus als Agitationsfeld von Linksextremisten (Broschüre - November 1998, Neuauflage geplant) Die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) - Auf dem Weg in die Demokratie? (Broschüre - August 2000) Erscheinungsformen des Ausländerextremismus (Broschüre - März 2001) Islamistische Extremisten (Broschüre - Juli 1999, Neuauflage geplant) Arbeiterpartei Kurdistans - Organisationsaufbau (Broschüre - Juli 1998, Neuauflage geplant) Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz (Broschüre - August 1997) 6 Die Scientology-Organisation (Broschüre - Juni 1999, Neuauflage geplant) Schutz vor Spionage - Ein praktischer Leitfaden für die gewerbliche Wirtschaft (Broschüre - Juni 1999) Wirtschaftsspionage - Die gewerbliche Wirtschaft im Visier fremder Nachrichtendienste (Broschüre - Oktober 1998) Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg seit Oktober 1997 mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Alle zu diesen Themenbereichen sowie zur Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Landesamts für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüren können heruntergeladen werden. Außerdem berichtet das Landesamt für Verfassungsschutz auf seiner Homepage über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse und bietet dazu Hintergrundinformationen an. Abbildungen, Schaubilder, Tabellen und Grafiken, Literaturhinweise und Erläuterungen von Fachbegriffen zum Thema Verfassungsschutz runden das Angebot ab. Von der Homepage gelangt man zur E-Mail-Adresse, über die Fragen, Anregungen, Kritik und Bestellungen von Publikationen direkt an das Landesamt für Verfassungsschutz gesandt werden können. Daneben besteht die Möglichkeit, die Anschriften aller Verfassungsschutzbehörden im Bundesgebiet abzurufen und über einen Link direkt zur jeweiligen Homepage - soweit vorhanden - zu wechseln. 7 Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 50 07 00 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/95 44 181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/95 44 444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.baden-wuerttemberg.de/verfassungsschutz E-Mail: lfv-bw@t-online.de Vertrauliches Telefon zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 Vertrauliches Telefon zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 Vertrauliches Telefon "Islamistische Extremisten": 0711/95 61 984 8 B. HINWEISE ZUR ERFASSUNG DER STRAFTATEN MIT EXTREMISTISCHEM HINTERGRUND Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg führt keine eigene Strafund Gewalttatenstatistik. Die in diesem Bericht aufgeführten statistischen Angaben zu politisch motivierten Straftaten beruhen auf Zahlenangaben des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. Anfang 2001 wurde durch Beschluss der Innenministerkonferenz ein neues bundeseinheitliches Definitionssystem zur Erfassung politisch motivierter Straftaten eingeführt. Dieses stellt die tatauslösende politische Motivation in den Mittelpunkt. Der polizeiliche Staatsschutz erfasst danach zwar weiter Taten mit erkennbarem extremistischem Hintergrund. Nur diese sind aufgrund des gesetzlichen Auftrags zur Extremismusbeobachtung für die Verfassungsschutzbehörden von Bedeutung. Darüber hinaus werden von ihm aber auch solche politisch motivierten Delikte berücksichtigt, bei denen (noch) nicht von einem extremistischen Hintergrund gesprochen werden kann. Die neue Zählweise ermöglicht es, den Verlauf der politisch motivierten Kriminalität künftig genauer zu analysieren. Ein Vergleich mit den noch nach dem alten Definitionssystem gewonnenen Zahlen des Vorjahres ist allerdings nur bedingt möglich. Die gewohnte Gegenüberstellung wird daher erst wieder vom nächsten Verfassungsschutzbericht an vorgenommen. 9 C. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Überblick Der Rechtsextremismus gehört weiterhin zu den Beobachtungsschwerpunkten des Landesamts für Verfassungsschutz. Vor allem die seit Jahren auf Bundesund Landesebene zu verzeichnende stetige Zunahme des gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrums macht eine intensive Auseinandersetzung mit den Ursachen dieser Entwicklung auch künftig erforderlich. 10 Bei der baden-württembergischen Landtagswahl im März 2001 verfehlten "Die Republikaner" (REP) deutlich die 5%-Hürde und damit den sicher geglaubten Verbleib im Landesparlament. Mit der Auflösung seiner Landtagsfraktion büßte der bislang erfolgreichste REP-Landesverband nicht nur seine Ausnahmestellung innerhalb der Partei ein, sondern die Partei verlor durch diese Wahlniederlage weiter an Bedeutung im rechtsextremistischen Lager. Trotz Erfolgen im Kampf gegen Rechtsextremismus sind auch weiterhin vielfältige Anstrengungen erforderlich. Im Rahmen präventiver Bekämpfungsstrategien ist dabei die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unerlässlich. Sie erfordert eine intensive Aufklärung der Bürger über Art und Umfang der Gefahren, die von rassistischen, rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und damit verfassungsfeindlichen Bestrebungen ausgehen. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei seinen Beitrag durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Vorträge und Informationsveranstaltungen insbesondere im schulischen Bereich unterstreichen die Bedeutung der politischen Bildungsarbeit bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Einen neuen Weg im Kampf gegen den Rechtsextremismus beschritten die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder mit den "Aussteigerprogrammen" für Rechtsextremisten. Auch unter Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörden sollen insbesondere jugendlichen Mitläufern Möglichkeiten, Chancen und konkrete Hilfen aufgezeigt werden, 11 die sie in die Lage versetzen, sich aus der rechtsextremistischen Szene zu lösen und wieder den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. 1.2 Ideologie Zu den Wesensmerkmalen des Rechtsextremismus zählen in erster Linie Nationalismus und Rassismus. Die zum Selbstzweck verklärte Nation gilt danach als höchstes Gut, dem sich alle anderen Werte und Interessen unterzuordnen haben. Daraus resultiert sowohl die angebliche Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen Staaten als auch die Unterdrückung der eigenen Staatsangehörigen, da deren Individualgrundrechte im Verhältnis zur Nation nachrangig und unbedeutend seien. Die Nation selbst wird "rassisch" begründet, basierend auf der ethnischen Zugehörigkeit ihrer einzelnen Mitglieder. Die daraus resultierende Ausgrenzung und Abwertung derjenigen, die nicht der gleichen ethnischen Gruppe angehören, führt zu der für den Rassismus typischen "Ungleichheitsideologie" und in letzter Konsequenz zur Aufhebung der Allgemeingeltung der Menschenrechte. Ein weiteres typisches Merkmal rechtsextremistischer Bestrebungen - nicht nur in Deutschland - ist die mangelnde Distanz zum Dritten Reich und der permanente Versuch, die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen (Revisionismus). Schließlich bilden Volksgemeinschaft und Führerprinzip die Basis für das von Rechtsextremisten propagierte autoritäre politische System, in dem demokratische Grundwerte und individuelle Freiheiten aufgrund der vermeintlichen Identität von Volkswille und Führerhandeln überflüssig sind. 1.3 Gewalt Nachdem die Zahl der Gewalttaten im Jahr 2000 auf Landesebene deutlich angestiegen war, ist ein leichter Rückgang der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten im Jahr 2001 zu verzeichnen, was auch auf zahlreiche Maßnahmen gegen Rechtsextremismus zurückgeführt werden kann. 12 Demgegenüber nimmt das gewaltbereite Personenpotenzial weiter zu: in BadenWürttemberg von 800 (2000) auf rund 850 und auf Bundesebene von 9.700 (2000) auf 10.400. 1.4 Neonazismus Die Zahl der Neonazis liegt auf Landesebene unverändert bei 280, während sie auf Bundesebene wieder steigende Tendenz aufweist (2000: 2.200; 2001: 2.800). Der organisierte Neonazismus spielt in Deutschland keine bedeutende Rolle mehr. Allerdings gelang es den so genannten "Freien Nationalisten" erstmals nach mehr als zehn Jahren wieder, einen zentralen "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" im bayerischen Wunsiedel, wo Heß beerdigt ist, durchzuführen. 1.5 Parteien Die unverändert bundesweit mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei (2000: 17.000; 2001: 15.000), die "Deutsche Volksunion" (DVU), spielt weder in BadenWürttemberg noch auf Bundesebene eine besondere Rolle. Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg am 23. September 2001 verfehlte die Partei deutlich den sicher geglaubten Einzug in die Bürgerschaft mit nur 0,7% der Stimmen. Zur Landtagswahl in BadenWürttemberg am 25. März 2001 war die Partei gar nicht erst angetreten. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) konnte bundesweit ihre Mitgliederzahl mit 6.500 unverändert halten. Die nach dem Beginn der Debatte um ein Verbot der NPD praktizierte öffentliche Zurückhaltung wurde im Laufe des Jahres 2001 mit der Durchführung einiger regionaler Kundgebungen wieder aufgegeben. Bei der badenwürttembergischen Landtagswahl im März erzielte die NPD nur 0,2% der Stimmen. Die Partei "Die Republikaner" (REP) verliert nicht nur auf Bundesebene weiter Mitglieder (2000: 13.000; 2001: 11.500). Nachdem sie bei der Landtagswahl in BadenWürttemberg überraschend an der 5%-Hürde scheiterte, ist die Partei nunmehr in keinem Landesparlament mehr vertreten. Massive parteiinterne Auseinandersetzungen verhindern eine konstruktive Parteiarbeit und könnten die REP weiter in die politische Bedeutungslosigkeit führen. 13 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Zielrichtung rechtsextremistisch motivierter Gewalt Auch wenn sich durch das geänderte Definitionssystem für den Bereich der politisch motivierten Kriminalität ein Vergleich mit dem Vorjahr verbietet, so kann doch ein Rückgang der Gewalttaten festgehalten werden. Besonders stark zeigt sich dieser Trend im Vergleich der beiden Halbjahre 2001, als sowohl im Land als auch bundesweit die Zahl gewalttätiger Übergriffe im zweiten Halbjahr abnahm. Insgesamt wurden 2001 in BadenWürttemberg 55 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten bekannt.1 Zu den Gründen für den Rückgang dürften der hohe staatliche Kontrollund Verfolgungsdruck sowie die Konsequenzen der vor einem Jahr beschlossenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus (Aussteiger-Programm, Kriminalprävention, Aufklärung, Jugendsozialarbeit) zählen. Beispiele: In der Nacht zum 8. Januar 2001 legten unbekannte Täter einen Brand an der Hauseingangstür eines Zweifamilienhauses in Klettgau-Erzingen/Krs. Waldshut-Tiengen, in dem die Gemeinde Asylbewerber untergebracht hat. Der Brand wurde von Hausbewohnern entdeckt und durch die Feuerwehr gelöscht; Personen wurden nicht verletzt. Zur Tatzeit hielt sich eine angolanische Familie in dem Haus auf. Am 19. Januar 2001 beleidigten und bespuckten im Hauptbahnhof in Stuttgart fünf Skinheads - darunter eine junge Frau - einen Iraker. Die Skins bestiegen gemeinsam mit dem Iraker die Stadtbahn in Richtung Stuttgart-Wangen. Als der Mann dort ausstieg, verließen die fünf ebenfalls die Bahn. Sie schlugen ihm unvermittelt mit einer Bierflasche auf den Kopf und traten schließlich den am Boden Liegenden ins Gesicht. Laut Pressemeldung verurteilte das Amtsgericht (AG) Ludwigsburg am 19. Juli 2001 den Haupttäter wegen schwerer Körperverletzung zu einer zweijährigen, einen seiner Komplizen zu einer dreimonatigen Bewährungsstrafe; die Verfahren gegen die anderen Skinheads wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. 1 Quelle: Landeskriminalamt Baden-Württemberg, Stand: 15. Januar 2002; zu den Erfassungsmodalitäten der Straftaten mit extremistischen Hintergrund vgl. Teil B. 14 Am 11. März 2001 beleidigten mehrere Angehörige der rechtsextremistischen Skinheadszene am Bahnhof in Mannheim drei Libanesen mit ausländerfeindlichen Äußerungen und griffen sie schließlich tätlich an. Das AG Mannheim verurteilte einen 17Jährigen am 29. August 2001 wegen gefährlicher Körperverletzung und Volksverhetzung rechtskräftig zu einer Jugendstrafe auf Bewährung. Ein 19-Jähriger wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen, das Verfahren gegen einen 18-Jährigen nach SS 154 StPO (unwesentliche Nebenstraftaten) eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Frankenthal stellte die Verfahren gegen eine 17-Jährige und einen 18-Jährigen aus Rheinland-Pfalz aus Mangel an Beweisen ein. In der Nacht zum 12. Juni 2001 stiegen zwei Skinheads in das Jugendhaus in Riedlingen/Krs. Biberach ein und legten einen Brand. Das Gebäude wurde völlig zerstört. Vor Gericht gaben die Skins als Motiv Rache an: Im Rahmen einer bereits seit längerem andauernden Auseinandersetzung mit "linken" Jugendlichen seien sie mehrfach provoziert worden. Das AG Biberach verurteilte die beiden Skinheads am 17. Oktober 2001 rechtskräftig wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung beziehungsweise zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Am Abend des 13. Juni 2001 griffen zwei 19-Jährige in Hemmingen/Krs. Ludwigsburg einen Mann aus Zaire in einer Telefonzelle an und traktierten ihn mit einem Holzknüppel. Der Mann konnte zu seiner Unterkunft fliehen, wurde aber von einem der Täter verfolgt und mit einem Schlagring misshandelt. Dabei soll der Täter "Heute Nacht musst Du sterben" gerufen haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen versuchten Mordes. In der Wohnung eines Beschuldigten wurde rechtsextremistisches Propagandamaterial sichergestellt. Er gestand die Tat und gab als Motiv an, er habe Tage zuvor eine "Meinungsverschiedenheit" mit einem Ausländer gehabt. Diesen habe er gesucht, statt dessen aber nur den Mann aus Zaire gefunden. Das Landgericht (LG) Stuttgart verurteilte die Täter am 7. November 2001 wegen gefährlicher Körperverletzung zu Jugendstrafen von drei beziehungsweise zweieinhalb Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. In der Nacht zum 19. Juni 2001 warfen drei Skinheads mehrere selbstgefertigte Brandsätze gegen ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus in Empfingen/Krs. Freudenstadt. Ein Fensterladen aus Holz fing dabei Feuer, das der Familienvater löschen 15 konnte. Das LG Rottweil verurteilte am 23. November 2001 den 19-jährigen Haupttäter wegen versuchten Mordes und besonders schwerer Brandstiftung zu einer Jugendstrafe von sechseinhalb Jahren und wies die beiden Mittäter in ein psychiatrisches Landeskrankenhaus ein. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Am Abend des 21. September 2001 belästigten ca. zehn Skinheads beim Hüttenfest in Oberdrackenstein/Krs. Göppingen einen ehemaligen Szeneangehörigen, den sie als "Aussteiger" bezeichneten. Sie hatten ihm bereits bei einem früheren Treffen angekündigt, dass er das nächste Mal "sein Fett abbekomme". Einer der Skins schlug ihm einen Bierkrug auf den Kopf. Weitere Skins prügelten mit den Fäusten auf ihn ein und drohten ihm und seiner Freundin: "Ihr scheiß Aussteiger, wenn eine Anzeige kommt, seid ihr fällig, dann gibt es ein Nachspiel." Die Staatsanwaltschaft Ulm wirft einem Skin in der Anklageschrift vom 20. März 2002 gefährliche Körperverletzung und zwei 21-Jährigen versuchte Nötigung vor. 2.2 Rechtsextremistische Skinheads Innerhalb der gewaltbereiten Rechtsextremisten bilden seit Anfang der 90er Jahre rechtsextremistische Skinheads die zahlenmäßig größte Gruppe. Ihre Zahl nahm in den letzten Jahren kontinuierlich zu und erhöhte sich 2001 in Baden-Württemberg auf rund 820 Personen (Vorjahr: 750). Die Anziehungskraft der rechtsextremistischen Skinheadszene scheint vor allem auf männliche Jugendliche ungebrochen. Sie suchen dort Anerkennung und Gemeinschaftserlebnisse, empfinden das Gefühl eigener Stärke und erhalten vermeintlich einfache Lösungen für ihre Probleme und Ängste. Die Szene ist von hoher personeller Fluktuation geprägt und eindeutig männlich dominiert. Obwohl Frauen, Renees, kaum eine Rolle spielen und überwiegend eher verächtlich behandelt werden, bleibt ihr Anteil konstant bei etwa 15 %. Bundesweit beläuft sich die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten, deren größter Teil der rechtsextremistischen Skinheadszene zuzurechnen ist, auf ca. 10.400 (2000: 9.700), in Baden-Württemberg auf ca. 850 (2000: 800). 16 Altersstruktur der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg im Jahr 2001 Grafik: LfV BW Räumliche Schwerpunkte Flexibilität und Mobilität sind typische Merkmale der rechtsextremistischen Skinheadszene. Sie bilden die Basis für Kommunikation und Informationsaustausch. Beides erfolgt überwiegend durch persönliche Kontakte, die bei Konzerten, Partys, Grillfesten und sonstigen Veranstaltungen gepflegt werden. Dabei beschränken sich die Aktivitäten nicht allein auf die Wohnorte der Szenemitglieder. Vielmehr werden befreundete Skinheads und deren Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet sowie im Ausland besucht. Aufgrund der geografischen Lage Baden-Württembergs bestehen seit Jahren intensive Beziehungen zu Skinheads in den angrenzenden Bundesländern Bayern und Rheinland-Pfalz sowie in die Nachbarländer Frankreich, Österreich und Schweiz. 17 Schwerpunkte der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg nach Wohnorten Grafik: LfV BW Während in den letzten Jahren insbesondere Skinheads aus dem Rhein-Neckar-Kreis und dem Bodenseeraum durch überregionale Kontakte auffielen, entstand 2001 in Wehr im Landkreis Waldshut-Tiengen mit einer Gaststätte ein Treffpunkt nicht nur für die lokale Szene, sondern auch für Skinheads aus Österreich, der Schweiz und dem Elsass. Nachdem dort mehrere Skinkonzerte in den Jahren 2000 und 2001 durchgeführt worden waren, wurde die regionale linksextremistische "Antifa" auf das Lokal aufmerksam und prangerte in Flugblättern die dortigen Umtriebe an. Schließlich rückte die Kneipe nach mehreren Presseberichten auch ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Mit dem Verbot eines für den 2. November 2001 geplanten "Balladenabends" setzte der Bürgermeister ein deutliches Zeichen, dass die Gemeinde nicht gewillt ist, zur überregionalen Anlaufstelle rechtsextremistischer Skinheads zu werden. Nach einem Pächterwechsel Ende 2001 steht das Lokal der "Szene" nicht mehr zur Verfügung. 18 Strukturierungsansätze in der Skinheadszene Mit dem am 14. September 2000 durch den Bundesminister des Innern ausgesprochenen Verbot der international agierenden und vernetzten Skinheadvereinigung "Blood&Honour" (B&H) und deren Jugendorganisation "White Youth" wurde in Deutschland der Ausbau ihrer Vernetzung auf internationaler Ebene gestoppt. Am 13. Juni 2001 wies das Bundesverwaltungsgericht die Klage der Organisation gegen das Verbot zurück; damit ist dieses unanfechtbar. Mehr als ein Jahr nach dem Verbot scheinen die meisten ehemaligen Mitglieder die Entscheidung akzeptiert zu haben, auch wenn sie unmittelbar danach noch der Meinung waren, sie müssten die Strukturen von B&H erhalten und die Aktivitäten fortsetzen. Die 1986 in den USA gegründeten "Hammerskins", die das Ziel verfolgen, alle weißen Skinheads in einer "Hammerskin-Nation" zu vereinen, konnten von dem B&H-Verbot nicht profitieren. Diese sich als elitärer Zirkel verstehende Gruppe verfügt in Deutschland nicht über gleichermaßen ausgeprägte Strukturen, wie sie bei B&H zu finden waren. Bundesweit werden den "Hammerskins" ca. 100 Personen zugerechnet, in BadenWürttemberg bestehen lediglich Einzelkontakte. Publikationen Die Bedeutung der Fanzines (szeneinterne Informationshefte, die zumeist in Eigenarbeit erstellt werden und Konzertbesprechungen, CDbeziehungsweise Plattenkritiken, aktuelle Szeneberichte, Interviews mit Skinbands, Besprechungen anderer Fanzines sowie juristische Tipps enthalten) nahm in Baden-Württemberg bereits im letzten Jahr ab, 2001 wurde kein Fanzine im Land herausgegeben. Ursächlich hierfür dürften einerseits die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden sein. Andererseits scheint die Bedeutung des Internets für die Szene immer mehr zuzunehmen. Außerdem wird der Kommunikationsbedarf vermehrt auf Skinheadtreffen und -konzerten abgedeckt. 19 3. Rechtsextremistische Musikszene Skin-Konzerte In Baden-Württemberg hält der Boom in der rechtsextremistischen Musikszene nunmehr im fünften Jahr an. Indikator dafür ist einmal mehr der Anstieg der Zahl der Konzerte unter Beteiligung rechtsextremistischer Skinheadbands (1997: 2, 1998: 5, 1999: 10, 2000: 8, 2001: 10)2. Bundesweit blieb die Zahl 2001 mit rund 80 rechtsextremistischen Skin-Konzerten nahezu gleich. Skinkonzerte in Baden-Württemberg im Jahr 2001 Grafik: LfV BW 2 Lediglich in der zweiten Hälfte des Jahres 2000 ging die Anzahl unter dem Eindruck des B&H-Verbots und der öffentlich geführten Diskussion über Bekämpfungsansätze gegen den Rechtsextremismus in Deutschland kurzzeitig zurück. 20 Skinheadkonzerte werden in der Regel von einzelnen Angehörigen der jeweiligen ortsansässigen Szene organisiert. Die Mobilisierung verläuft in den meisten Fällen über Telefonketten, per SMS über Handy, Mailinglisten im Internet und über Mund-zu-MundPropaganda. Die Teilnehmer erfahren in aller Regel nur einen Treffpunkt, von dem aus sie dann zum eigentlichen Veranstaltungsort weitergeleitet werden. Auffallend ist, dass auch kurzfristig ein großer Personenkreis mobilisiert werden kann. Auch wenn bei derartigen Veranstaltungen eine gefährliche Mischung aus aggressiver rechtsextremistischer Musik, hohem Alkoholkonsum und erhöhter Gewaltbereitschaft des Publikums entsteht, sind in den letzten Jahren anlässlich der in Baden-Württemberg abgehaltenen Konzerte - anders als in anderen Bundesländern - keine gewalttätigen Übergriffe bekannt geworden. Das größte Konzert wurde - wie schon im Jahr 2000 - von Skinheads aus dem Raum Reutlingen organisiert und fand am 25. August 2001 auf einem Grundstück in Rottenburg/Krs. Tübingen, zwischen den Ortsteilen Hailfingen und Oberndorf statt. Vor über 500 Szeneangehörigen, die aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland angereist waren, traten die Skinbands "Kommando Skin"/Raum Schwäbisch Gmünd, "Propaganda"/Raum Horb sowie "Radikahl" und "Volkstroi" aus Thüringen auf. Die Stimmung im Publikum steigerte sich im Laufe des Abends und gipfelte bei in der Szene allseits bekannten Liedern wie "Hakenkreuz" und "Blut" in "Sieg Heil"-Rufen und dem Zeigen des Hitler-Grußes. Skinheads aus dem Raum Ravensburg veranstalteten auf einem Privatgrundstück in Wolpertswende/Krs. Ravensburg 2001 gleich zwei Konzerte. Am 11. August kamen ca. 100 Besucher, um die Band "Schutt und Asche" aus Friedrichshafen zu hören. Am 6. Oktober reisten rund 250 Skinheads überwiegend aus Baden-Württemberg, Bayern, Österreich und der Schweiz an, um an einem Konzert der rechtsextremistischen Skinbands "Schutt und Asche", "National Born Haters"/Bayern, "Tollschock"/Österreich und "Oidoxie"/Nordrhein-Westfalen teilzunehmen. Diese heizten die Stimmung unter den Zuhörern mit Liedern wie "Blut", "Stiefel auf Asphalt", "Immer in die Eier" und CoverVersionen von Liedern der erst kurz zuvor verhafteten Berliner Skinband "Landser" an. Das Publikum beteiligte sich mit "Sieg Heil"-Rufen und Zeigen des Hitler-Grußes. Bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung waren die Skins äußerst konspirativ vorgegan21 gen, so dass die Polizei erst in der Nacht vom 6. Oktober 2001 durch einen jungen Mann, der Anzeige wegen einer bei dem Konzert erlittenen Körperverletzung erstattete, hiervon Kenntnis erlangte. Sie beschlagnahmte daraufhin eine Vielzahl von CDs mit rechtsextremistischen Inhalten und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS 86a StGB) ein. In einer Gaststätte in Wehr, wo sich seit 2000 regelmäßig Skinheads trafen, fanden 2001 zwei Skinkonzerte statt. Am 26. Januar spielten vor rund 100 Besuchern die ortsansässige Band "Blutrausch" sowie "White Voice" aus Villingen-Schwenningen und "Jungsturm" aus dem Saarland. Am 2. Juni traten "Blutrausch", "Propaganda"/Horb, "Eternal Fear"/Rheinland-Pfalz und "Tollschock"/Österreich vor ca. 130 Szeneangehörigen auf. Die Polizei erstattete anlässlich beider Konzerte Anzeige gegen Unbekannt nach SS 86 a StGB, da Zeugen mehrfach "Sieg Heil"und "Heil Hitler"-Rufe wahrgenommen hatten; außerdem soll eine der Bands in einem Lied wiederholt "Sieg Heil" gesungen haben. Ein für den 2. November 2001 geplanter Balladenabend in der Gaststätte wurde deshalb untersagt. Ebenfalls untersagt wurde ein für den 13. Oktober 2001 in Großdeinbach/Ostalbkreis geplantes Skin-Konzert. Deutlich zeigt sich in dieser Entwicklung, dass die einst von dem Gründer der "Blood&Honour"-Vereinigung, Ian Stuart Donaldson, geprägte Leitlinie, Jugendlichen den Nationalsozialismus unabhängig von der Einbindung in feste Organisationsstrukturen über das Mittel der Musik näher zu bringen, nach wie vor gültig und erfolgreich ist. Skinhead-Musikgruppen Ende 2001 waren in Baden-Württemberg zwölf Skinhead-Musikgruppen von bundesweit insgesamt rund 100 bekannt, darunter drei Neugründungen. Besonders aktiv war die aus dem Raum Friedrichshafen stammende Skinband "Schutt und Asche", die gleich im ersten Jahr ihres Bestehens nicht nur im Inland, sondern auch in Österreich und in der Schweiz auftrat. 22 Die Texte dieser Bands thematisieren die Weltanschauung und das Selbstverständnis der Skinheadszene, hetzen gegen szenetypische Feindbilder wie Ausländer, Juden, Homosexuelle, Dealer, Obdachlose, Presse, Staatsund Verfassungsschutz und rufen dabei nicht selten zur Gewaltanwendung auf. Aus taktischen Gründen wird versucht, Verstöße gegen die einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen zu vermeiden. Bei Konzerten und Szenetreffen sind aber entsprechende, meist im Ausland produzierte Tonträger jederzeit erhältlich. Dort werden auch Lieder mit volksverhetzenden Passagen gespielt, was wiederum das Publikum zu Propagandadelikten wie dem Zeigen des Hitler-Grußes und "Sieg Heil"-Gegröle animiert. Übersicht über rechtsextremistische Skinhead-Musikgruppen und Versandhandel in Baden-Württemberg im Jahr 2001 Grafik: LfV BW 23 Besonders hervorgetan hat sich dabei seit 1992 die Berliner Skinband "Landser", die immer wieder Musikstücke produzierte, in denen zur Begehung schwerer Straftaten wie Brandstiftung und Mord aufgerufen wurde. Nach mehreren Exekutivmaßnahmen gegen Bandmitglieder in den letzten Jahren gelang Anfang Oktober 2001 ein wichtiger Schlag gegen diese bundesweit populärste Band. Der Generalbundesanwalt ließ die Bandmitglieder sowie einen Vertreiber und Produzenten rechtsextremistischer Musik aus Sachsen festnehmen. Haftbefehl wurde erlassen. Ihnen wird u.a. die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Exekutivmaßnahmen wurde in der rechtsextremistischen Szene Baden-Württembergs zur Solidarität aufgerufen, außerdem wurden Spendensammlungen initiiert. In Baden-Württemberg wurden auch 2001 wieder Tonträger mit rechtsextremistischen Inhalten produziert. Die Skinbands "Blutrausch" aus Wehr, "Propaganda" aus Horb und "White Voice" aus Villingen-Schwenningen brachten jeweils ihr Erstlingswerk heraus. Die "Propaganda"-CD wurde durch die Polizei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vorgelegt und im Januar 2002 durch diese indiziert. Die Mannheimer Skinband "Aufbruch" trat erstmals nach zwei Jahren wieder mit einer neuen CD in Erscheinung. Weitere Bands veröffentlichten ihre Lieder gemeinsam mit anderen Musikgruppen auf Samplern. Auszug aus dem Lied "Verkauft und Verraten" von der CD "Entschlossen und stolz ..." der Skinband "Blutrausch": "Unsre Freunde aus berlin - haben Deutschland verraten Doch eines Tages - geht es ihnen an den Kragen. Sie haben - die Taten der Wehrmacht verhöhnt Und unsre Soldaten als Mörder - beschämt!!! Was glaubt Ihr denn über uns zu wissen Merkt Ihr nicht das wir auf eure Meinung pissen Wir sind stolze, deutsche Patrioten Kämpfen gegen eure Lügen und eure Verbote. 24 Doch für all eure Lügen, werdet Ihr noch bezahlen Denn ihr habt unser Land verkauft und verraten Dann wird aufgeräumt und unser Schlachtruf gellt Denn für Deutschland zu kämpfen dafür bist du auserwählt!!!" (CD-Cover "Entschlossen und stolz...", Fehler im Original) Sonstige rechtsextremistische Musik Zugpferd innerhalb der "nationalen" Liedermacherszene bleibt unverändert Frank RENNICKE, Ehningen/Krs. Böblingen, der durch seine vielfältigen Kontakte und Auftritte bei Veranstaltungen verschiedenster rechtsextremistischer Parteien und Organisationen bundesweit seine generationenübergreifende Anhängerschaft findet. Seine Gesangsvorträge ergänzt er mit politischen Kommentaren und kabarettistischen Einlagen, mit denen er auch versucht, sich als "Systemverfolgter" und "Märtyrer" darzustellen, um sein Publikum zu Spendenzahlungen zu animieren. Neben seinen eigenen Musik-CDs und -kassetten vertreibt RENNICKE auch Propagandakassetten3, Videos und rechtsextremistisches Schriftgut sowie "Fan-Material". Bezeichnend für seine Popularität war ein am 17. Februar 2001 vom NPD-Kreisverband Riesa/Sachsen organisierter Liederabend mit ihm als alleinigem Interpreten, den weit über 1.000 Teilnehmer besuchten. Zudem unterstützte RENNICKE im Oktober 2001 mit Auftritten die NPD bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. 3 In der so genannten "Staatsbürgerlichen Reihe" werden Reden bekannter Rechtsextremisten angeboten. 25 4. Neonazismus 4.1 Aktivitäten mit überregionaler Bedeutung 4.1.1 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 70 Baden-Württemberg (2000: ca. 70) ca. 600 Bund (2000: ca. 500) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ist die zahlenmäßig stärkste und einzige bundesweit aktive Organisation des neonazistischen Spektrums. Sie will Sammelbecken und Solidargemeinschaft sowie zentrale Kontaktstelle für Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland sein. Im Mittelpunkt steht für die HNG jedoch die Betreuung "nationaler politischer Gefangener". Da sie sonst keine eigenen politischen Aktivitäten entwickelt, hat sie kaum Außenwirkung und spielt trotz ihrer rund 600 Mitglieder keine besondere Rolle in der rechtsextremistischen Szene. Seit 1991 wird die HNG von Ursula MÜLLER, Mainz, geführt. Das Erscheinungsbild der diesjährigen Jahreshauptversammlung prägten zahlreiche rechtsextremistische Skinheads, die den Großteil der über 300 Teilnehmer bildeten. Auch aus dem Ausland waren einige Neonazis zu der Veranstaltung angereist. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen die Verbotsanträge gegen die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD), aber auch Spekulationen um ein befürchtetes Verbot der HNG. Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA In der Oktober-Ausgabe Nr. 248 ihrer monatlich erscheinenden Publikation "Nachrichten der HNG" wird der Aufsatz "Terrorismus - moderne Form der Kriegsführung?" des stell26 vertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Günter EISENECKER, MecklenburgVorpommern, veröffentlicht. Ausgeprägter Antiamerikanismus und unverhohlene Kapitalismuskritik verleiten EISENECKER zu der verharmlosenden Erkenntnis: "Die Anschläge in den USA galten nicht etwa Wohngebieten, sondern dem wirtschaftlich-militärischen Komplex der Weltmacht." Fraglich sei, "... ob denn ausgerechnet die USA berechtigt sind, gegen den Terrorismus Anklage zu erheben." Ein Wort des Bedauerns oder Mitleids mit den Opfern und ihren Angehörigen sucht man in diesem Artikel vergebens. 4.1.2 Kommunikationsmittel Die seit 1998 erscheinende Zeitschrift "Zentralorgan" bleibt auch 2001 - trotz nur noch halbjährlicher Erscheinungsweise - einziges neonazistisches Periodikum mit bundesweiter Bedeutung, das auch in Baden-Württemberg seine Leserschaft findet. Die in Ludwigslust/Mecklenburg-Vorpommern ansässige Redaktion ist maßgeblich von Neonazis aus Hamburg geprägt, die im norddeutschen Raum unter der Bezeichnung "Freie Nationalisten" versuchen, ein rechtsextremistisches "Netzwerk" aufzubauen. Das professionell aufgemachte Heft, das auszugsweise auch im Internet abrufbar ist, enthält neben so genannten Aktionsberichten zu rechtsextremistischen Demonstrationen auch Beiträge zum aktuellen politischen Geschehen sowie glorifizierende Darstellungen zu Themen und Personen aus der Zeit des Dritten Reichs. Die "Nationalen Info-Telefone" (NIT) tragen wesentlich zur informationellen Vernetzung von Rechtsextremisten bei. Kostengünstig und wenig arbeitsintensiv verbreiten sie über Anrufbeantworter Informationen und bieten die Möglichkeit, Nachrichten zu hinterlassen. Von Interesse sind insbesondere Veranstaltungshinweise, die kurzfristig bekannt gegeben werden und eine rasche Mobilisierung ermöglichen. So informieren viele NITs aktuell über Kundgebungen, Demonstrationen oder andere Veranstaltungen und unterrichten über behördliche Verbotsmaßnahmen und empfehlen Ausweichstrategien. Teilweise werden auch Kommentare zu tagespolitischen Ereignissen verbreitet. In der Ansage (phonetisch) des NIT Karlsruhe vom 12. Oktober 2001 heißt es zum Beispiel: 27 "Nun ist es schon wieder soweit! Die Finanzclique der USA hat die Bombardierung Afghanistans befohlen und die komplette westliche Welt hängt sich an deren Arsch dran. Doch auch in unserem Staat regiert der Terror. Die Bundesanwaltschaft erließ Haftbefehl gegen die Berliner Kultband 'Landser' und verfrachtete die angeblichen Mitglieder in U-Haft. Grund dieser Maßnahme sei die Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bis zum heutigen Tag durfte kein Inhaftierter mit seinem Anwalt sprechen. Die üblichen BRD-Methoden im Jahr 2001. (...)" "Nationale Info-Telefone" (NIT) Grafik: LfV BW 28 Aktiv waren in der Bundesrepublik im Jahr 2001 folgende "Nationale Info-Telefone": "Nationales Info-Telefon" NIT Karlsruhe "Nationales Info-Telefon" NIT Sachsen "Nationales Info-Telefon" NIT Rheinland "Nationales Info-Telefon" NIT Hamburg4 mit den Regionalanschlüssen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern "Info Telefon" IT Bündnis Rechts mit den Regionalanschlüssen SchleswigHolstein, Bayern und Brandenburg "Freies Info-Telefon" FIT Norddeutschland5 mit den Regionalanschlüssen Hamburg, Mecklenburg und Pommern. 4.1.3 "Rudolf Heß-Gedenkaktionen 2001" Erstmals seit 1990 führten Neonazis wieder einen "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" in Wunsiedel6 durch. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof7 in München hob am Nachmittag des 17. August 2001 die Verbotsverfügung des Landratsamtes Wunsiedel, die vom Verwaltungsgericht in Bayreuth bereits bestätigt worden war, wieder auf. Nur wenige Stunden später setzten die NITs und die Betreiber einschlägiger Internetseiten bundesweit ihre Klientel davon in Kenntnis und riefen nachdrücklich zur Teilnahme auf. Obwohl bereits im Vorfeld - insbesondere im Internet - massiv für die Kundgebung am 18. August 2001 geworben worden war und das Urteil euphorisch kommentiert wurde, beteiligten sich nur ca. 900 Rechtsextremisten an dem Marsch durch die Innenstadt. Der Besuch der Grabstätte wurde nicht genehmigt. An der Gegendemonstration beteiligten sich ca. 150 Personen. Beide Veranstaltungen verliefen friedlich. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bejahte in seiner Entscheidung zwar - in Anbetracht des Themas der Veranstaltung und der Person des Versammlungsleiters - eindeutig einen rechtsextremistischen Hintergrund sowie nationalsozialistisches Gedankengut. Indes fehle es an "hinreichend konkreten Tatsachen für eine Gefahrenprognose 4 Der Betreiber des NIT Hamburg gab im März 2001 die Einstellung seines Ansagedienstes bekannt. Das Angebot im Internet als NIT-Diskussionsforum bleibt bestehen. 5 Das FIT Norddeutschland ist ebenfalls im Internet vertreten. 6 Rudolf Heß wurde nach seinem Selbstmord am 17. August 1987 in Wunsiedel beigesetzt. 7 Az.: 24ZS 01 2097 - B1S 01.688. 29 mit dem Ergebnis, dass es zu Straftaten speziell im Bereich politischer Auseinandersetzungen kommen wird". Diese Entscheidung erging in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das bereits mit Beschluss vom 18. August 20008 eine vom Hamburger Neonazi Christian WORCH angemeldete Demonstration zugelassen und die zuvor ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben hatte. In der Begründung heißt es dazu: "Gewalt von 'links' ist keine verfassungsrechtlich hinnehmbare Antwort auf eine Bedrohung der rechtsstaatlichen Ordnung von 'rechts'. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken." Anmelder und Leiter der "Heß-Gedenkkundgebung" in Wunsiedel war der Rechtsextremist und Hamburger Rechtsanwalt Jürgen RIEGER, der mittlerweile beim Landratsamt Wunsiedel bis zum Jahre 2010 jährlich einen "Rudolf Heß-Gedenkmarsch" angemeldet hat. RIEGER selbst gehört bereits seit vielen Jahren der rechtsextremistischen Szene an; so leitete er bis zu deren Verbot am 11. Februar 1998 die neonazistische Organisation "Heideheim e.V.". In Baden-Württemberg wurden die Rechtsextremisten von der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs offenbar überrascht. So forderte das NIT Karlsruhe erst spätabends mit einer Sonderansage am 17. August 2001 zur Teilnahme am "kurioserweise" erlaubten "Trauermarsch für Kamerad Heß in Wunsiedel" auf. Ingesamt nahmen auch nur ca. 40 Personen aus Baden-Württemberg teil. Ansonsten beschränkte sich im Land die Thematisierung des 14. Heß-Todestages auf das Anbringen von Spruchbändern - zumeist an Brückengeländern stark befahrener Autobahnen - und Aufklebern sowie Plakataktionen, die jedoch keine nennenswerte Öffentlichkeitswirkung hatten. 8 BVerfG, Beschluss vom 18. August 2000, Az.: 1 Bv Q 23/00. 30 4.2 Neonazismus in Baden-Württemberg Überblick Die neonazistische Szene in Baden-Württemberg präsentierte sich 2001 sowohl hinsichtlich des Personenpotenzials (rund 280 Angehörige) als auch mit Blick auf ihre Struktur nahezu unverändert. Während sich bundesweit die Neonaziszene schon seit geraumer Zeit nach einigen erfolgreich durchgeführten Demonstrationen zunehmend selbstbewusster zeigt, lässt sich dieser Trend in Baden-Württemberg erst mit deutlicher Verzögerung feststellen. Immerhin nahmen Neonazis aus dem Land wieder verstärkt an Demonstrationen und Veranstaltungen in Deutschland teil. Im Vergleich zu den Vorjahren ist bundesweit eine deutliche Zunahme bei von Neonazis organisierten Demonstrationen festzustellen. Der bekannte Hamburger Neonazi Christian WORCH konnte zahlreiche Anmeldungen juristisch durchsetzen. Die unterschiedlichen Themen der Demonstrationen - gegen den Einsatz deutscher Soldaten in Mazedonien, gegen Castor-Transporte, für Versammlungsfreiheit und gegen "Repression", gegen das "Aussteigerprogramm", für Meinungsfreiheit, gegen "Eurowahn" und Globalisierung und zuletzt gegen "US-Imperialismus und Kriegshetze" - belegen zum einen die nicht zu unterschätzende Mobilisierungsfähigkeit der Szene, zum anderen aber auch den fehlenden thematischen und konzeptionellen Überbau für eine einheitliche und auf Dauer angelegte Kampagne. Die seit Mitte der neunziger Jahre vorgenommenen Strukturveränderungen im Neonazismus, die zu einer "Organisierung ohne Organisation" führten, machten die daraus letztlich entstandenen "Neonazikreise" oder "Kameradschaften" für staatliche Verbotsmaßnahmen kaum mehr angreifbar. Seit Juli 2001 zirkuliert in Baden-Württemberg ein Positionspapier mit dem Titel "Krieg der Worte", das diese Strategie noch verfeinert. Die Broschüre, die über das Postfach der neonazistischen "Kameradschaft Karlsruhe" zu beziehen ist und für die in Ansagen des NIT Karlsruhe geworben wird, enthält praktische Hinweise, wie das Risiko, Ziel staatlicher Maßnahmen zu werden, minimiert werden kann. Beispielsweise sollte nicht mehr über einen längeren Zeitraum an bestimmten Begriffen und Eigennamen festgehalten werden. Nach Inhalt und Diktion dürfte der anonyme Verfasser der Broschüre "Krieg der Worte" nicht der neonazistischen Szene Ba31 den-Württembergs, sondern vielmehr dem Kreis bundesweit führender Neonazis angehören. In Baden-Württemberg bestehen "Kameradschaften" und "Neonazikreise" in der Regel aus einem festen, nach dem Führerprinzip aufgebauten Aktivistenstamm von fünf bis 20 Personen - zumeist männlichen Geschlechts. Das weitere Umfeld und Mobilisierungspotenzial liegt jedoch anlassbezogen oftmals weit darüber. Zahlenmäßige Schwerpunkte der neonazistischen Szene in Baden-Württemberg finden sich im Großraum Villingen-Schwenningen und im Bereich Karlsruhe. Hier existiert seit 1993 die "Kameradschaft Karlsruhe". Mit Unterstützung des Hamburger Neonazis Christian WORCH führte sie am 2. Juni 2001 in Karlsruhe erstmals in BadenWürttemberg eine von Neonazis verantwortlich organisierte Demonstration durch. Unter dem Motto "Courage zeigen - nicht aussteigen!" marschierten 450 Neonazis und Skinheads aus dem gesamten Bundesgebiet sowie dem benachbarten Ausland durch die Stadt. Die Kundgebung richtete sich gegen das "Aussteigerprogramm" des Bundes und der Länder, mit dem Rechtsextremisten zum Ausstieg aus der Szene bewegt werden sollen. Neben WORCH trat auch der ehemalige Vorsitzende der verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP), Friedhelm BUSSE, als Redner auf. Während des Marsches skandierten die Rechtsextremisten u.a. Parolen wie "Widerstand statt Dönerstand" und "Hier marschiert die Schutzstaffel fürs Vaterland". An der Gegendemonstration beteiligten sich ca. 500 Personen. Die im Vorfeld befürchteten Ausschreitungen konnten durch die Polizei weitgehend verhindert werden. Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA Die Reaktionen baden-württembergischer Neonazis auf die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA verdeutlichen deren menschenverachtende Einstellung. Die Ereignisse in New York und Washington wurden durchweg begrüßt und belustigt kommentiert. Die Attentäter hätten gezeigt, "wie man es richtig mache". Parallelen zog man vor allem zu den alliierten Bombenangriffen auf Dresden. Bundeswie landesweit war kein Bedauern über die zahlreichen Opfer in den USA erkennbar. Nur vereinzelte Stimmen kritisierten, dass Mitglieder einer "unterlegenen Rasse" so viele Weiße getötet hätten. 32 Mit seiner Ansage vom 14. September 2001 solidarisierte sich das NIT-Karlsruhe "...ausdrücklich nicht mit dem Betroffenheitsritual und Lichterketten der westlichen Welt. Eine multikulturelle Gesellschaft, die keinen verfluchten Tag auslässt, in der noch so kleinsten Ecke dieser Welt Krieg zu spielen, braucht bestimmt nicht zu flennen, wenn die Geister, die sie rief, auch mal zu ihr kommen. (...) Wer Wind sät, wird Sturm ernten - fuck the USA." (phonetisch) Trotz dieser Kommentare ist in Baden-Württemberg lediglich eine geistige Solidarität der Neonazis mit Islamisten feststellbar, die in vereinzelten Forderungen nach einem gemeinsamen Kampf gegen Judentum, Kapital und die USA gipfelt. Tatsächliche Kontakte untereinander sind derzeit nicht erkennbar. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 "Die Republikaner" (REP) Gründung: 1983 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 1.600 Baden-Württemberg (2000: 1.700) ca. 11.500 Bund (2000: 13.000) Publikation: "DER REPUBLIKANER" Organisation Mit der Auflösung der REP-Landtagsfraktion Ende Mai 2001 infolge der verlorenen Landtagswahl büßte der bislang erfolgreichste und wichtigste Landesverband seine Ausnahmestellung ein. Auch der baden-württembergische Landesverband scheint sukzessiv auf das parteipolitisch bedeutungslose Niveau der anderen Landesverbände abzurutschen. Dadurch verliert die Partei insgesamt an Bedeutung im rechtsextremistischen Lager. Die Desillusionierung der Parteibasis aufgrund der kontinuierlich schlechten Wahlergebnisse war mitverantwortlich für einen weiteren Mitgliederrückgang im Jahr 2001 sowie für das Nachlassen der parteipolitischen Aktivitäten in allen Kreisverbänden. 33 Der "Republikanischen Jugend" (RJ) gelang es nicht, sich aus der Lethargie der letzten Jahre zu lösen. Von anderen bundesweit agierenden Untergliederungen, dem "Republikanischen Hochschulverband" (RHV), dem "Republikanischen Bund der Frauen" (RBF) und dem "Republikanischen Bund der Öffentlich Bediensteten" (RepBB), gingen kaum nennenswerte Aktivitäten aus. Beobachtung Die REP werden vom Bundesamt für Verfassungsschutz und von den Verfassungsschutzbehörden der Länder beobachtet. Nach der noch nicht rechtskräftigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 26. Mai 2000 ist die Beobachtung der REP durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg nicht zu beanstanden.9 Mit diesem Urteil setzte das Gericht eine verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung fort, die mit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Rheinland-Pfalz vom 10. September 199910 begann und vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 7. Dezember 199911 im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt wurde. In Kontinuität damit stehen auch die Entscheidungen des OVG Niedersachsen vom 19. Oktober 200012 und des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 200013. In sämtlichen Urteilen wird das Vorliegen von Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen, auch in Bezug auf die Missachtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, bei den REP ausdrücklich bestätigt. Politischer Kurs Die Parteispitze bemüht sich nach außen um Seriosität und weist rechtsextremistische Tendenzen weit von sich. Dabei will sie ihrem Anspruch gerecht werden, dass aus der Protesteine Programmpartei gewachsen sei, und versucht, sich als eine Sammlungsbewegung demokratischer Patrioten darzustellen. Tatsächlich sind aber unverändert 9 Az.: 18K 5658/98. Über die von den REP beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eingelegte Berufung war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch nicht entschieden (Az.: 1 S 2292/00). 10 Az.: 2 A 11774/98. 11 Az.: 1 C 30.97. 12 Az.: 11 L 87/00. 13 Az.: 5 A 2256/94. 34 Vorstellungen in unterschiedlicher Dichte und Ausprägung festzustellen, die gegen Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen und die verfassungsfeindliche Einstellung der Partei begründen. So fanden sich auch 2001 bei den REP die für eine Partei des rechtsextremistischen Spektrums typischen Agitationsmuster wieder. Dazu gehört etwa die Ablehnung alles "Fremden", wie der damalige badenwürttembergische Landesvorsitzende Christian KÄS14 auf dem Landesparteitag vom 7. Juli 2001 in Leinfelden deutlich macht: "Ich habe nichts - ich sage es ausdrücklich - gegen den einzelnen Moslem, der soll seinen Glauben pflegen, das billigt ihm die Religionsfreiheit zu, und dazu stehen wir als eine Partei, die sich der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit verschrieben hat. Aber ich habe etwas dagegen, dass so systematisch nach dem Motto: wir erobern Deutschland über die Wiege, eine Umvolkungspolitik betrieben wird. Ich habe durch Öffnen der Grenzen und den weiteren Zuzug solcher Menschen ein Problem damit, den Leuten erklären zu müssen, wie ich etwas wie Heimat und Kultur vermitteln kann. (...) Denn ich fühle mich als Deutscher sofort auch in Sachsen heimisch, ich fühle mich als Schwabe auch im badischen Landesteil heimisch, weil da - ich sag's mal - weil da die Kirche im Dorf steht. Wenn ich aber in einen Ort reinfahre, wo ich gleich am Ortseingang mit einer Moschee konfrontiert werde, wo an jeder Ecke ein Kebab-Stand ist, wo ich mich am helllichten Tag, wo die Leute eigentlich arbeiten, wundere, warum so viele fremdländische Menschen auf den Straßen sind, dann frage ich mich: Ist das noch die Heimat? Ist das angesichts unserer Geburtensituation in zehn Jahren noch die Heimat, meine Damen und Herren? Ist das eine Situation, in der wir auch in 20 Jahren noch wohnen dürfen und sind wir in 30 Jahren überhaupt noch die Mehrheit in unserem eigenen Volke?" (Fehler im Original) Durch die fortgesetzte Verwendung des Begriffs "Überfremdung" versuchen die REP weiterhin, Ressentiments gegen ausländische Mitbürger zu schüren und Ängste in der Be14 KÄS wurde mit Beschluss des Bundesvorstands vom 10. Februar 2002 seines Amtes enthoben. Er kündigte an, sich gegen diese Entscheidung zur Wehr zu setzen. Über den endgültigen Ausgang des Verfahrens war zum Zeitpunkt der Drucklegung des Jahresberichts noch nicht entschieden. 35 völkerung vor einer weiteren Zuwanderung zu wecken. Ausländer in Deutschland werden häufig in einen Kontext der Bedrohung der deutschen Bevölkerung gestellt. "Wir Deutschen werden in überschaubarer Zeit zu einer Minderheit im eigenen Vaterland werden. Alle fundierten Prognosen sagen das voraus, wenn sich der Überalterungsund Überfremdungsprozess von heute fortsetzt. ( ) Es darf auch nicht vergessen werden, dass wir seit 1945 und vor allem seit den Verträgen von Masstrich nicht mehr Herr im eigenen Hause sind. (...) In unsere Verfassung muss ein Proporz nach dem Vorbild der Schweiz, Österreichs und Südtirols rechtzeitig verankert werden. Nur so wird es möglich sein, auf Dauer eine 'feindliche Übernahme', wie es in der Wirtschaft heißt, zu verhindern." ("Als Minderheit überleben - Diskussionsbeitrag" von Erich FUCHS, REPFraktionsvorsitzender im Kreistag Waldeck-Frankenberg/Hessen, im rechtsextremistischen Theorieorgan "NATION & EUROPA - Deutsche Monatshefte", Nr. 2/2001, Fehler im Original). Ziel der seit Jahren bekannten und mit dem Demokratieprinzip unvereinbaren Agitation gegen die Repräsentanten und Institutionen des demokratischen Rechtstaats, die das tolerierbare Maß der politischen Auseinandersetzung weit übersteigt, waren insbesondere Politiker und Parteien des demokratischen Spektrums. Mit den von einer sachlichen Auseinandersetzung weit entfernten Diffamierungen beabsichtigen die REP, deren Ansehen zu schmälern und das Vertrauen in die Werteordnung des Grundgesetzes zu erschüttern. Dabei gebrauchen sie nicht selten Formulierungen, die den gewählten Volksvertretern eine Handlungsweise gegen das eigene Volk unterstellen: "Außer Kontrolle geratener Ausländerzuzug, wachsende Kriminalität, der vernachlässigte Schutz der Bürger vor Verbrechen und die unzureichende Hilfe für Opfer von Verbrechen - das sind die Kernfragen, bei denen unsere Innenpolitik Veränderungen erreichen will. Die etablierten Parteien schützen heute Verbrecher mehr als die eigenen Bürger." (DER REPUBLIKANER 2-3/2001) 36 Der im Zusammenhang mit den Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter des Dritten Reichs erhobene Vorwurf "Die Gewerkschaft, die Herren Lambsdorff, Eppelmann und Beck sprechen die menschenverachtende Sprache des Dritten Reiches. Ihr Verhalten ist Nötigung und damit strafbar." wurde in einer zum 7. September 2001 anlässlich einer Podiumsdiskussion aufgelegten mehrseitigen Broschüre erneut formuliert. Dort lehnen die REP die Stiftung für die Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter des Dritten Reichs ab und bewerten dessen Zustandekommen weiterhin als "große Erpressung". Aktivitäten Das parteiinterne Geschehen des Landesverbands Baden-Württemberg im Jahr 2001 wurde von der Landtagswahl vom 25. März dominiert. Konzentrierte sich die Partei dabei zunächst auf einen engagierten Wahlkampf, wirkte sie anschließend durch das unerwartet schlechte Ergebnis paralysiert. An der Basis versiegten nahezu sämtliche Aktivitäten. Anstelle einer sachlichen Wahlanalyse standen zum Teil öffentlich ausgetragene innerparteiliche Flügelkämpfe um den vermeintlich richtigen politischen Kurs im Mittelpunkt. Anhängern des Bundesvorsitzenden mit einem taktisch bedingten moderateren Kurs stehen Befürworter einer deutlicheren Positionierung im rechtsextremistischen Lager, personifiziert durch Christian KÄS, gegenüber. Die Wiederwahl von KÄS als Landesvorsitzender auf dem Landesparteitag vom 7. Juli 2001 in Leinfelden-Echterdingen führte nicht zur erwarteten Mäßigung beim kontroversen Umgang der innerparteilichen Gegner untereinander. Die jährlich stattfindende "Aschermittwochveranstaltung" am 28. Februar 2001 in Geisenhausen/Bayern fand aufgrund des zeitgleichen Wahlkampfs in Baden-Württemberg geringe öffentliche Aufmerksamkeit, der "Republikanertag" vom 3. Oktober 2001 in Stuttgart verlief dagegen nach dem enttäuschenden Wahlausgang nahezu ohne öffentliche Resonanz. 37 Wahlen und Wahlkampf Im Gegensatz zu früheren Landtagswahlkämpfen in Baden-Württemberg lag 2001 die Federführung des Wahlkampfs beim Bundesvorsitzenden Dr. SCHLIERER. Dabei ließ er sich von einer österreichischen Werbeagentur unterstützen, die bereits 1999 den Wahlkampf für die "Freiheitliche Partei Österreichs" (FPÖ) zur Nationalratswahl gestaltet hatte. Trotz des hohen finanziellen Einsatzes scheiterten die REP schließlich an der 5 %- Hürde. Gegenüber der Landtagswahl von 1996 verlor die Partei mehr als die Hälfte ihrer Wähler - ihr Stimmenanteil sank um 4,7 Prozentpunkte - und ist damit bundesweit in keinem Landesparlament mehr vertreten. REP-Wahlergebnisse in Baden-Württemberg in % LandBundesEuropaLandBundesEuropaLandtagswahl tagswahl wahl tagswahl tagswahl wahl tagswahl 1992 1994 1994 1996 1998 1999 2001 10,9 3,1 5,9 9,1 4,0 3,3 4,4 Auch bei der zeitgleichen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz verfehlten die REP den Einzug in den Landtag deutlich. Sie verloren gegenüber der letzten Landtagswahl von 1996 1,1 % und erreichten für sie enttäuschende 2,4 %. Die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft vom 23. September 2001 endete für die REP mit 0,1 % (1997: 1,8 %) ebenso desolat wie die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 21. Oktober 2001 mit 1,3 % (1999: 2,7 %). Über die Ursachen der baden-würtembergischen Wahlniederlage entbrannte zwischen den Parteiflügeln eine heftige Diskussion, die erneut zu Differenzen um den richtigen Kurs der Partei führte. Anhänger von Dr. SCHLIERER, die einen taktisch moderateren Wahlkampf empfahlen, sahen in den vom baden-württembergischen Landesvorsitzenden zu vertretenden strukturellen Defiziten die Ursache für die Wahlniederlage. Der Flügel um KÄS, der sich für eine deutlichere Positionierung ausspricht, machte dagegen vor allem das mangelnde Profil aufgrund des - wenn auch nur taktisch bedingten - gemäßigten Kurses des Bundesvorsitzenden dafür verantwortlich. Vor 38 diesem Hintergrund war die Wahl zum Landesvorsitzenden auf dem Landesparteitag vom 7. Juli in Leinfelden-Echterdingen auch eine Richtungswahl, der strategische Bedeutung zukam. Die Kampfabstimmung - stellvertretend für die beiden Lager - zwischen KÄS und dem stellvertretenden Landesvorsitzenden und Vorsitzenden des RepBB Herbert BASTL, der als "Wunschkandidat" von Dr. SCHLIERER in die Wahl ging, entschied KÄS für sich. Die Delegierten votierten nach zum Teil heftigen Diskussionen mit 93 von 146 abgegebenen Stimmen für den alten und neuen badenwürttembergischen Landesvorsitzenden. Kontakte zu anderen Rechtsextremisten Das den REP von mehreren Verwaltungsgerichten15 testierte ungeklärte Verhältnis zu anderen Rechtsextremisten konnte die Partei auch 2001 nicht widerlegen. Die Abgrenzung16 zu anderen rechtsextremistischen Organisationen und Personen, die die Partei offiziell hervorhebt, ist weiterhin lediglich taktisches Kalkül und innerparteilich umstritten. Auf dem Landesparteitag vom 7. Juli 2001 legten die Kreisverbände Biberach und Ravensburg/Bodensee zusammen mit dem Landesvorsitzenden einen Antrag vor, der jedem Deutschen, der auf der Grundlage des Parteiprogramms mitarbeiten wolle, den Zugang zur Partei ermöglichen sollte. Daneben wollte man ausgeschlossenen Mitgliedern die Rückkehr zur Partei ermöglichen. Eine Differenzierung auf der Grundlage des Abgrenzungsbeschlusses war nicht beabsichtigt. Über den Antrag wurde allerdings nicht abgestimmt. Dass REP-Mitglieder auch tatsächliche Kontakte zu anderen Rechtsextremisten nicht scheuen, belegen u.a. folgende Feststellungen: Anlässlich einer "Informationsveranstaltung" vom 4. Mai 2001 in Bad WaldseeReute, zu der die REP-Kreisverbände Ravensburg und Biberach eingeladen hatten, trat der bekannte Rechtsextremist Harald NEUBAUER als Referent auf. Unter den Teilnehmern befanden sich Parteimitglieder aus Bayern und BadenWürttemberg, u.a. der ehemalige REP-Landtagsabgeordnete Josef HUCHLER. 15 Vgl. Seite 34. 16 Beschluss des Bundesparteitags von Ruhstorf vom Juli 1990. 39 Auf Einladung der rechtsextremistischen "Freiheitlichen Initiative Heilbronn" referierte NEUBAUER am 14. September 2001 in Wüstenhausen bei Heilbronn. An der anschließenden Diskussion beteiligte sich laut einem Artikel in der rechtsextremistischen Publikation "NATION & EUROPA" auch der ehemalige REPLandtagsabgeordnete Michael HERBRICHT. Dem Bundesvorsitzenden selbst sind solche Bestrebungen in seiner Partei sehr wohl bekannt. Anfang April 2001 äußerte er in einem Rundschreiben: "Und leider gibt es immer noch Funktionsträger in der Partei, die lieber über runde Tische17 philosophieren als ihre tägliche Arbeit vor Ort im Kreisverband zu erledigen." Angesichts dieser Äußerung und der Vielzahl der Kontakte zu anderen Rechtsextremisten sowie der inkonsequenten Ahndung der Verstöße ist davon auszugehen, dass die Parteiführung solche Tendenzen weiterhin toleriert. Die wenigen Ordnungsmaßnahmen sind überwiegend taktisch motiviert und spiegeln kaum die tatsächliche Überzeugung der Parteioffiziellen wider. Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA Die REP verurteilten nicht nur die Terrorakte in den USA, sondern distanzierten sich auch von denjenigen - insbesondere auch im rechtsextremistischen Lager -, die diese Anschläge befürworteten. Zu den Gegenschlägen der USA gegen das Taliban-Regime in Afghanistan äußerten sich die REP ebenfalls grundsätzlich zustimmend. Gleichwohl wurde eine Beteiligung Deutschlands an Militäraktionen abgelehnt. Im Zusammenhang mit den Anschlägen gaben die REP mehrere Pressemitteilungen und Flugblätter heraus, in denen sie die Zuwanderungspolitik Deutschlands kritisierten und umgehende Konsequenzen im Umgang mit islamischen Fundamentalisten, insbesondere einen Zuwanderungsstopp, forderten. 17 "Runde Tische" standen seinerzeit für organisationsübergreifende Gespräche auch von REP-Mitgliedern mit anderen Rechtsextremisten. 40 5.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 450 Baden-Württemberg (2000: 480) ca. 6.500 Bund (2000: 6.500) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) "Nationale Nachrichten aktuell" (N-Aktuell) Organisation Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD), die in allen Bundesländern mit Landesverbänden vertreten ist, konnte den "Märtyrereffekt" aus dem gegen sie laufenden Verbotsverfahren und den damit verbundenen Anstieg der Mitgliederzahlen bis ins Jahr 2001 hinein retten. Bundesweit konnte sie ihr Mitgliederpotenzial bei 6.500 stabilisieren. In den 16 baden-württembergischen Kreisverbänden kam der Aufwärtstrend des vergangenen Jahres dagegen nicht nur wieder zum Stillstand, sondern kehrte sich geradezu um. Mitgliederverluste und interne Streitigkeiten lassen nur noch in wenigen Kreisverbänden eine aktive Parteiarbeit zu. Dem Landesverband fehlt es zudem an Vordenkern und Strategen, die auf das Zeitgeschehen aktuell eingehen und die Meinung der NPD im Land öffentlichkeitswirksam umsetzen können. Ideologische Ausrichtung Bei der NPD finden sich alle für eine rechtsextremistische Partei typischen Agitationsfelder wieder. Mit plakativen Parolen und vermeintlich einfachen Lösungen werden bestehende Ängste geschürt und Vorurteile verstärkt. Die Ideologie der "Volksgemeinschaft", in der als angeblich natürlicher Ordnung Staat und Volk zu einer Einheit verschmelzen und der alle anderen Interessen und Werte, auch die Bürgerund Menschenrechte, untergeordnet sind, prägt in besonderem Maße den politischen Kurs der NPD. 41 In der Vorstellung der NPD hat der Staat die Aufgabe, die schon vorher definierten "Volksinteressen" umzusetzen. Eine Demokratie, in der legitim widerstreitende Interessen in einem parlamentarischen System zum Ausgleich gebracht werden, ist der NPD fremd. Die Politik hat vielmehr - laut dem Programm der NPD von 1997 - einer klaren Richtschnur zu folgen: "Politische Organisationsformen müssen so geordnet sein, dass sie handlungsfähige Organe ermöglichen, die in Übereinstimmung mit den Grundzielen des Volkes handeln." Die NPD verhält sich unverändert aggressiv fremdenfeindlich. Die rassistisch motivierte Fremdenfeindlichkeit der Partei erschöpft sich dabei nicht in gelegentlichen Äußerungen einzelner Funktionäre oder Mitglieder, sondern ist Parteijargon und Bestandteil der Ideologie vom - in den "Grundgedanken" des Parteiprogramms von 1996 publizierten - "lebensrichtigen Menschenbild". In seinem vom "Deutsche Stimme-Verlag" aufgelegten Buch "Mut zur Volkssolidarität" erklärt das Stuttgarter NPD-Ehrenmitglied Carl-Arthur Bühring: "Bestes Beispiel für ein kapitales Naturverbrechen ist ohne jeden Zweifel die heute gepredigte Abschaffung der naturgewollten Vielfalt der Völker einschließlich der Vielfalt der Kulturen, um als Ersatz eine anonyme Massengesellschaft zu erzwingen, die in einem kriminellen Massenzirkus von Volksaufständen a la Jugoslawien untergeht". Trotz des laufenden Verbotsverfahrens bekennt sich die Partei auch weiterhin zu revisionistischem Gedankengut. In einer verharmlosenden bis aufwertenden Darstellung der nationalsozialistischen Diktatur werden die Verbrechen des Dritten Reichs relativiert oder gänzlich geleugnet und die Schuld am Zweiten Weltkrieg verneint. Ziel ist es, das Dritte Reich zu exkulpieren, das deutsche Volk von jeglicher Verantwortung freizusprechen und das nationalsozialistische Regime zu verherrlichen. Auch Bühring verklärt in seinem Buch das Dritte Reich und stellt den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" infrage. Er bezeichnet das "Volk der Deutschen" als "Freiwild für die Sieger", welche sich ungestraft durch "Folterungen, Vergewaltigungen, Vertreibung, Aufzwingung der Alleinkriegsschuldlüge und Verteufelung des deutschen Volkscharakters" am deutschen Volk vergangen hätten. 42 Aktuelle Situation Das Verbotsverfahren prägt die aktuelle Situation der NPD auf Bundesebene in besonderem Maße. Der Streit über die richtige Prozessstrategie im Parteivorstand und daraus resultierende Grabenkämpfe machen eine geordnete Parteiarbeit nur schwer möglich. Für den baden-württembergischen Landesverband hingegen scheint das Verbotsverfahren keine besondere Rolle zu spielen. Querelen mit der Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) bestimmten die politische Arbeit im Land nachhaltiger. Am 30. September 2001 führte der Landesverband seinen 37. ordentlichen Landesparteitag durch. Die Teilnehmer wählten den bisherigen kommissarischen Vorsitzenden Siegfried HÄRLE, Riedlingen, zum neuen Landeschef. Der bisherige Landesvorsitzende Michael WENDLAND, Weissach, war im Mai überraschend zurückgetreten. Unter der Leitung HÄRLEs dürfte der baden-württembergische Landesverband seiner bisherigen Ausrichtung treu bleiben und nicht wie in anderen Bundesländern Kontakte zur neonazistischen Szene suchen. Bereits vorhandene Verbindungen zwischen NPD und Skinheads, die sich jedoch nur auf wenige Regionen beschränken, dürften bestehen bleiben. Die so genannte NPD-Villa in Eningen unter Achalm/Krs. Reutlingen, die vom Landesverband als Geschäftsstelle genutzt wurde, wurde am 15. Mai 2001 für rund 2,2 Millionen DM (1,125 Millionen Euro) an die Gemeinde Eningen u.A. veräußert. Die NPD hatte die Immobilie im Jahr 1994 geerbt und seitdem als Schulungsund Begegnungsstätte genutzt. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Im Sommer 2000 begann die Debatte um ein Verbot der NPD. Die Bundesregierung reichte ihren Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD am 30. Januar 2001 beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein. Als Begründung führt sie in erster Linie das "strategische Konzept" der NPD aus dem Jahr 1997 an, in dem die "drei strategischen Säulen" - Schlacht um die Köpfe, Schlacht um die Straße und Schlacht um die Wähler - definiert sind. Darüber hinaus verweist sie auf etliche belegte 43 Verknüpfungen der NPD mit dem Neonazismus und dem gewaltbereiten Rechtsextremismus. Bundesrat und Bundestag reichten ihre Anträge am 30. März 2001 ein. Damit haben zum ersten Mal alle drei Verfassungsorgane einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei gestellt. In seiner Erwiderung auf den Antrag der Bundesregierung vom 20. April 2001 greift der Prozessbevollmächtigte der NPD, Horst MAHLER, die Bundesregierung und den demokratischen Rechtsstaat scharf an: "Unversehens finden wir uns in einer totalitären Meinungsdiktatur wieder - und es wird deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Demokratie ist, nie eine war." An zahlreichen Stellen des Schriftsatzes klingen zudem Theorien an, nach denen die Ursache des Zweiten Weltkriegs nicht in der aggressiven Politik der nationalsozialistischen Regierung, sondern in Verschwörungen amerikanischer beziehungsweise jüdischer Kreise zu suchen seien. Des Weiteren ist der Schriftsatz von antisemitischen Hasstiraden durchzogen: "An allen Fronten ist das Feldzeichen der Jüdischen Weltwirtschaft die Dekadenz. (...) Im Bewusstsein, das auserwählte Volk zu sein, bilden sie die Anti-Nation, die als solche der spirituelle Feind aller wahren Nationen ist. Bleiben diese ohne ein hinreichendes Feindbewusstsein, sind sie der Anti-Nation wehrlos ausgeliefert und werden von ihr zersetzt und schließlich vernichtet." In seiner Erwiderung vom 30. Mai 2001 auf den Antrag des Bundestags bezeichnete MAHLER es als "Schande", die NPD wegen Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus verbieten zu wollen. Ein derart begründeter Antrag spiegele letztlich nur die nach wie vor bestehende Unfreiheit des Deutschen Volkes zur Betrachtung seiner eigenen Geschichte wider und sei deshalb in seinem "Namen und kraft seiner Souveränität zurückzuweisen". Zur Unterstützung MAHLERs wurde dem stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Dr. Hans-Günter EISENECKER ein Mandat als weiterem Prozessbevollmächtigten erteilt. Auf den Antrag des Bundesrats erwiderte Dr. EISENECKER am 19. Juni 2001 und kriti44 sierte angebliche elementare Missverständnisse hinsichtlich des Wesens und der Ziele der NPD. Der zweite Senat des BVerfG beschloss am 1. Oktober 2001, die Verhandlung über die Anträge des Deutschen Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung durchzuführen. Die Parteiführung der NPD nahm den Beschluss angeblich "mit großer Erleichterung" zur Kenntnis. Sie erhalte nun "erstmals die Möglichkeit, sich vor dem obersten deutschen Gericht gegen die Lügen und Verleumdungen durch Verfassungsschutzämter und Innenminister zu verteidigen".18 Aktivitäten Als Folge der Verbotsdiskussion reagierte der Parteivorstand Ende 2000 mit der Absage aller bereits angemeldeten Demonstrationen; darüber hinaus trat der Bundesvorsitzende Udo VOIGT dafür ein, dass die NPD und die "Freien Nationalisten" keine gemeinsamen Aktionen mehr durchführen sollten. Die im März 2000 gegründete Oppositionsbewegung "Revolutionäre Plattform - Aufbruch 2000" (RPF) forderte daraufhin den Parteivorstand auf, den "Kampf um die Straße" fortzusetzen, und entschied die in der Partei dadurch ausgelöste Kontroverse schließlich für sich. Der NPD gelang es, regelmäßig Aufzüge, insbesondere in den neuen Bundesländern und in Berlin, durchzuführen. Am 1. Mai 2001 beispielsweise gab es gleich fünf regionale Veranstaltungen in Berlin, Dresden, Augsburg, Essen und Mannheim, an denen insgesamt mehr als 3.000 Personen teilnahmen. In Mannheim initiierten die NPD-Landesverbände Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland unter dem Motto "Arbeit zuerst für Deutsche" eine Demonstration mit ca. 300 Teilnehmern; im Vorjahr konnten aus gleichem Anlass noch 500 Rechtsextremisten mobilisiert werden. Maßgeblicher Ansprechpartner für die Polizei war als Ordnungsdienstleiter ein bekannter Neonazi aus Rheinland-Pfalz, der - über seine ehemalige Funktionärstätigkeit bei den JN hinaus - weitreichende Kontakte in die rechtsextremistische Skinheadsowie Hooliganszene unterhält. 18 Am 22. Januar 2002 wurden die für Februar vorgesehenen Termine zur mündlichen Verhandlung des NPDVerbotsverfahrens vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Es war bekannt geworden, dass eine der 14 Anhörungspersonen eine Aussagegenehmigung einer Landesbehörde für Verfassungsschutz vorlegen würde. Die damit aufgeworfenen prozessualen und materiellen Rechtsfragen seien - so das Gericht - bis zum Verhandlungstermin nicht zu klären. 45 Am 23. Juni 2001 beteiligten sich etwa 200 Personen an einer Sommersonnwendfeier in Ilsfeld-Schozach/Krs. Heilbronn. Als Veranstalter trat die rechtsextremistische "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) - eine Abspaltung ehemaliger Mitglieder der NPD und der JN - auf. Darüber hinaus waren in einer Einladung der NPD-Landesverband Baden-Württemberg, die "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH), verschiedene "Freundeskreise" sowie "weitere Gruppen und Initiativen der nationalen Opposition in Baden-Württemberg" aufgeführt. Bislang feierte die NPD ihre Sommersonnwendfeier immer ohne andere Gruppierungen. Aus diesem - bis jetzt einmaligen - Zusammenwirken können jedoch noch keine Anzeichen für eine neue rechtsextremistische Sammlungsbewegung in Baden-Württemberg abgeleitet werden. Wahlen Die NPD erhielt bei der Landtagswahl im März 2001 insgesamt 7.656 Stimmen, das sind 0,2% der abgegebenen gültigen Stimmen landesweit. Das schlechte Wahlergebnis deutete sich schon in den Wochen vor der Landtagswahl an. So wiesen bereits die beiden Wahlkampfveranstaltungen der Partei in Karlsruhe und Stuttgart mit lediglich rund 25 beziehungsweise sieben Teilnehmern auf die mehr als geringe Resonanz der NPD in der Bevölkerung hin. Darüber hinaus fanden nur wenige örtliche Wahlkampfveranstaltungen statt, die ebenfalls ohne Außenwirkung blieben. Das Konzept der NPD, das gegen sie anhängige Verbotsverfahren für ihren Wahlkampf zu nutzen, ging nicht auf. Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA Nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 wurden die gemeinsamen Feindbilder von Rechtsextremisten und Islamisten - USA und Israel - als Agitationsthema in den Vordergrund gerückt. Auch die NPD unterhält - wie verschiedene andere rechtsextremistische Organisationen - vereinzelte Kontakte zu Islamisten. Der zum Islam konvertierte Schweizer Staatsbürger Ahmad HUBER nimmt auch an Veranstaltungen der NPD und ihrer Jugendorganisation teil. Der ehemalige Journalist ist als Revisionist und Antisemit bekannt.19 Er propagiert die Zusammenarbeit von Islamisten und Rechtsextremisten, da sich beide in ihrer Ablehnung des "Weltjudentums" und der "Amerikanisierung" gleichen würden. HUBER referierte am 28. Oktober 2000 beim "7. Europäischen Kon19 Vgl. Teil D, Kap. 4.1, Seite 74. 46 gress der Jugend" in Dreisen/Rheinland-Pfalz, gewährte der "Deutschen Stimme" (DS, Ausgabe 9, September 2001) ein Interview und nahm an einem "DS-Pressefest" am 8. September 2001 im sächsischen Grimma teil. In einer Presseerklärung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) äußerte sich der Bundesvorsitzende Udo VOIGT ambivalent zu den Terroranschlägen in den USA: "Der NPD-Parteivorstand verurteilt den Terroranschlag in den USA und stellt fest, dass Gewalt kein Mittel der Politik sein darf. Allerdings befindet sich Amerika seit Jahrzehnten im Krieg und muss immer mit entsprechenden Gegenreaktionen rechnen. Erstmals wurden die Amerikaner auf ihrem eigenen Territorium empfindlich getroffen. Die USA betreiben seit ihrer Gründung eine imperialistische Politik. Sie begann mit der weitgehenden Ausrottung der Indianer, der Versklavung der Schwarzen und wird ihr Ende nicht mit der Bombardierung Jugoslawiens gefunden haben. Ein altes Sprichwort sagt: 'Wer Wind sät, wird Sturm ernten!'" Weiterhin reagierte die NPD mit einer vierseitigen "Sonderveröffentlichung" der Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) auf die Terroranschläge. Einerseits weisen darin die Autoren auf die unschuldigen Opfer der Attacken hin, andererseits stellen Schuldzuweisungen an die USA den Haupttenor des Blattes dar. So werden Bilder mit den Folgen der Terroranschläge in den USA verglichen mit Bildern von Dresden und Hiroshima im Zweiten Weltkrieg. Die USA seien verantwortlich für "Kriegstreiberei und Volksunterdrückung", weshalb fraglich sei, ob "die USA das Recht" hätten, "den 'Terrorismus' als internationales Unrecht anzuklagen". MAHLER äußerte sich in dem Artikel "Independence day live", den er zuvor bereits über die Homepage des rechtsextremistischen "Deutschen Kollegs" (DK)20 verbreitet hatte, wie folgt: "In unserem Mitgefühl für die Toten von Manhattan und ihre Angehörigen schwingt der fortwährende Schmerz und die Trauer der Deutschen über die Opfer des angloamerikanischen Bombenterrors gegen die deutschen Großstädte mit. Die Bilder des 20 Das DK wurde 1994 als Nachfolgeeinrichtung des Berliner Leserkreises der Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) gegründet. Seine zentrale Arbeit sieht das DK "in der Schulung der nationalen Intelligenz". Immer wiederkehrende Themen sind die Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, programmatische Beiträge zur Reichsidee und Bekenntnisse zum Dritten Reich. 47 Grauens wecken Erinnerungen an das Inferno von Dresden und Hiroshima. (...) Der Luftschlag der noch unbekannten Todeskommandos hat das Herz dieses Ungeheuers getroffen und für einen Tag gelähmt. Die Symbolkraft dieser militärischen Operation zerschmettert die Selbstgefälligkeit der auf Heuchelei gegründeten westlichen Zivilisation. (...) Die militärischen Angriffe auf die Symbole der mammonistischen Weltherrschaft sind (...) eminent wirksam und deshalb rechtens." Der Landesverband Baden-Württemberg äußerte sich nicht zu den Terroranschlägen in den USA. Offenbar wurden die einzelnen Verbände vom Bundesvorstand aufgefordert, wegen des laufenden Verbotsverfahrens keine eigenen, unautorisierten Erklärungen abzugeben. Lediglich in einer Einladung des NPD-Kreisverbands Freiburg-Südbaden wurden die Anschläge vom 11. September unter der Überschrift "NPD lehnt Terrorismus ab!" kommentiert. Sie wurden darin zuerst verurteilt, dann aber als selbst verschuldet dargestellt: "Schockiert nahmen wir die Anschläge von New York und Washington zur Kenntnis, und bedauern die unschuldigen Opfer ehrlich und aufrichtig. Allerdings haben die USA durch ihre imperialistische Außenpolitik dies selbst provoziert. Denken wir an Dresden, Hiroshima, den Vietnamund den Koreakrieg, Bombardierungen auf Lybien, Irak und Jugoslawien. Noch zuletzt im Kosovokrieg sind durch die U.S.-Airforce Tausende ums Leben gekommen. Alles dies wurde mit einem arroganten Achselzucken abgetan. Nun haben die USA selbst den Krieg gegen Städte zu spüren bekommen. Zu befürchten ist nun, das die Anschläge zum Vorwand genommen werden, die BRD noch stärker als bisher den USA Interessen unterzuordnen und verstärkt deutsche Soldaten in den Krieg zu schicken." (Fehler im Original) In einer Presseerklärung vom 6. November 2001 protestiert die NPD gegen die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan. Diese würden in einem "schmutzigen und unerklärten Krieg der USA verheizt". Die USA wollten ihre eigenen Soldaten nicht opfern, deshalb würden jetzt "die Soldaten der Vasallenstaaten an die Front geschickt". Die Presseerklärung schließt mit der Aufforderung, den Wehrdienst zu verweigern: 48 "Wir Nationaldemokraten lehnen eine deutsche Beteiligung an völkerrechtswidrigen, kriegerischen Handlungen der USA ab. Der Parteivorstand der NPD stellt fest, dass die Bundeswehr sich zu einer Söldnertruppe fremder Machtinteressen entwickelt und fordert alle deutschen Soldaten auf, ggf. von ihrem im Grundgesetz garantierten Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch zu machen". (Fehler im Original) "Junge Nationaldemokraten" (JN) Gründung: 1969 Sitz: Riesa/Sachsen Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2000: ca. 150) ca. 500 Bund (2000: ca. 500) Organisation Gemäß ihrer Satzung sind die "Jungen Nationaldemokraten" (JN) als Jugendorganisation der NPD integraler Bestandteil der Mutterpartei. Der Bundesvorsitzende der JN, derzeit Sascha ROßMÜLLER, Bayern, ist kraft seines Amtes auch Mitglied des Parteivorstands der NPD. Die JN sind eine hierarchisch aufgebaute Organisation mit einem Bundesverband, den Landesverbänden und als kleinsten Organisationseinheiten den Stützpunkten. Der Mitgliederzuwachs vom Vorjahr setzte sich nicht weiter fort; vielmehr sind in BadenWürttemberg die Mitgliederzahlen deutlich rückläufig. Der anfängliche Reiz, der für einige Jugendliche darin bestand, einer von einem möglicherweise bevorstehenden Parteienverbot tangierten Organisation anzugehören, ist offenbar verflogen. Tatsächlich sind die meisten JN-Mitglieder immer weniger politisch aktiv. Nach vier Neugründungen von JN-Stützpunkten in Baden-Württemberg im Jahr 2000 setzte sich dieser Trend 2001 nicht weiter fort. Neben einer punktuellen Unterstützung der NPD im diesjährigen Landtagswahlkampf durch das Sammeln von Unterstützungsunterschriften und Verteilen von Flugblättern bestanden die Aktivitäten der JN überwie49 gend aus gemeinsamen Freizeitunternehmungen, ohne dass ein direkter politischer Bezug festzustellen war. Aktuelle Situation Am Osterwochenende 2001 fand in Eningen unter Achalm/Krs. Reutlingen ein Strategieseminar des JN-Bundesverbands statt. Die rund 30 Teilnehmer waren JNFührungskräfte auf Bundesund Länderebene, die ausarbeiteten, in welche Richtung sich die JN in Zukunft entwickeln sollen. Als ein Ergebnis des Seminars sollen nun auch eigene "Mädelstrukturen" geschaffen sowie die JN-Mitglieder in mehrere Altersklassen eingeteilt werden, um zielgruppenorientierte Aktivitäten anbieten zu können. Das Verhältnis der JN zur Mutterpartei wird in Baden-Württemberg zunehmend schlechter. Die persönlichen Animositäten zwischen Funktionären der JN und der NPD sowie die damit verbundenen, zum Teil heftigen Streitigkeiten gipfelten schließlich darin, dass die JN ihre jährliche Sonnwendfeier am 23. Juni 2001 als Konkurrenzveranstaltung zur Sonnwendfeier der NPD organisierten. Bei ihrem diesjährigen Landeskongress am 20. Oktober 2001, der unter dem Motto "Gegen Globalisierung - Für eine Welt der freien Völker!" stand, wählten die JN einen neuen Landesvorstand. Der bisherige Landesvorsitzende Mike LAYER, Ludwigsburg, trat nicht mehr zur Wahl an. Als seinen Nachfolger bestimmten die Delegierten den bisherigen Landespressesprecher der JN Steffen EGOLF, Gochsen-Hardthausen/Krs. Heilbronn. Selbstverständnis der JN Die JN sehen sich als "Kaderorganisation", deren Aufgabe es ist, junge Menschen auszubilden und auf eine "Herrschaft der Besten, die die Herrschaft der Minderwertigen beendet", vorzubereiten. Als diese zukünftige herrschende Elite eines "Neuen Reiches" sehen sich die JN. Dieses "Neue Reich muss nach unseren Vorstellungen ein Staat mit einer unbedingten und starken Zentralgewalt sein. Von der Zentralgewalt gehen die notwendigen Befehle, Anweisungen, Anregungen und Organisationsarbeiten für die untergeordneten Gliederungen des Staates aus.(...) Alles was (...) den Bestand des Reiches 50 und der deutschen Volksgemeinschaft betrifft, bleibt in den festen Händen der Zentralgewalt." ("Thesenpapiere der Jungen Nationaldemokraten", 1998, Fehler im Original) Als Feinde und damit pauschal als Verantwortliche für alles Übel betrachten die JN Ausländer und "Linke". Der weltpolitische Einfluss der USA und des "American Way of Life" wird als Gefahr für die geistige und moralische Entwicklung Deutschlands angesehen. Im Christentum sehen sie eine Bedrohung, da es in ihren Vorstellungen vom Deutschtum etwas Fremdes darstellt. Folglich fordern sie ihre Gesinnungsgenossen über die Homepage des Landesverbands Baden-Württemberg auf, aus der Kirche auszutreten. Das drohende NPD-Verbot wird von den JN eher selten thematisiert. So heißt es im Informationsrundbrief 1/01 des JN-Bundesvorsitzenden vom 1. Februar 2001: "Trotz Verbotshetze und den damit einhergehenden verstärkten Repressionen haben die JN ihre Arbeit unbeirrt fortgeführt und werden sich auch weiterhin nicht der ,psychologischen Kriegsführung' der Berufsverleumder und nichtswürdigen, pseudodemokratischen Parteigänger des etablierten Machtapparates ergeben." Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA Zu den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 beteuern die JN zwar offiziell Mitleid mit den Opfern, signalisieren aber gleichzeitig Zustimmung in der Sache auf der Basis eines ausgeprägten Antiamerikanismus. In einer Erklärung, die auf dem JN-Bundeskongress am 22. September 2001 in Neustadt-Glewe/MecklenburgVorpommern verabschiedet wurde, "stellen die Jungen Nationaldemokraten fest, dass die völkerverachtende Kriegstreiberei und die imperialistische Hegemonialpolitik einer im Globalisierungswahn befindlichen USA als Ursachen herangeführt werden müssen, die eine militante Formen annehmenden Kulturkampf und seine Eskalation provozieren." Es sei richtig, den grausamen Bildern des 11. September 2001 "den Völkermord in Ruanda und Palästina sowie die Bombardierung Dresdens, Berlins und Hiroshimas gegenüberzustellen". Auch der JN-Stützpunkt Freiburg stellt in einem Schreiben an seine Mitglieder die Frage, ob denn ausgerechnet die USA berechtigt seien, gegen den Terrorismus Anklage zu 51 erheben, und fordert, "mit Nachdruck den Austritt Deutschlands aus der Nato sowie den Abzug aller US-Besatzungstruppen, um den Frieden auch in Zukunft im Herzen Europas zu sichern". An einer Demonstration unter dem Motto "Globalisierung stoppen - stoppt die Weltpolizei USA!", zu der der JN-Bundesverband groß angelegt über das Internet und mit Flugblättern aufgerufen hatte, nahmen am 27. Oktober 2001 in Heidelberg knapp 200 Rechtsextremisten aus mehreren Bundesländern teil. Um ein Zusammentreffen mit 150 gewaltbereiten linksextremistischen Gegendemonstranten zu verhindern, wurde die Versammlung der Rechtsextremisten bereits nach kurzer Zeit vom Veranstalter aufgelöst. 5.3 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 1.400 Baden-Württemberg (2000: ca. 1.500) ca. 15.000 Bund (2000: ca. 17.000) Sprachrohr: "National-Zeitung" - Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) Organisation Die "Deutsche Volksunion" (DVU) ist unverändert die zahlenmäßig stärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland, wenn auch mit kontinuierlich rückläufigen Mitgliederzahlen. Gründer und seitdem auch Vorsitzender ist der Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY. Seine Finanzkraft erlaubt ihm die diktatorische Führung der Partei, so dass es nur formal weitere Entscheidungsträger auf Bundesund Landesebene gibt. Ein eigenständiges Parteileben ist nicht erkennbar und scheitert an FREYs alleinigem Führungsanspruch. Vertreten ist die DVU in den Landesparlamenten in Sachsen-Anhalt, wo es im Jahr 2000 zur Spaltung der Fraktion und Gründung der "Freiheitlichen Deutschen 52 Volkspartei" (FDVP)21 kam, sowie in Brandenburg und in der Bremer Bürgerschaft. Der Landesverband Baden-Württemberg, nach eigener Darstellung einer der mitgliederstärksten, ist - auf dem Papier - in neun Kreisverbände gegliedert: Stuttgart, Böblingen/Tübingen, Schwäbisch Hall, Rottweil/Freudenstadt, Konstanz, Mannheim/Heidelberg/Rhein-Neckar, Sigmaringen/Zollernalb, Heidenheim/Ostalb und Karlsruhe. Nennenswerte Aktivitäten konnten nicht festgestellt werden. Politischer Kurs Die "National-Zeitung" (NZ), eines der auflagenstärksten rechtsextremistischen Presseorgane, dient der DVU als Sprachrohr zur populistischen Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Thesen. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus sowie Revisionismus sind die typischen Agitationsfelder. Während das Parteiprogramm der DVU bewusst allgemein gehalten ist, um deren rechtsextremistische Grundhaltung zu verschleiern, widerlegen die aggressiven Schlagzeilen der NZ das vermeintliche Bekenntnis der Partei zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung: "Massenzuwanderung - Segen oder Fluch? - Das Programm zur Umvolkung der Deutschen" (NZ, Nr. 20/2001) "Frisst uns der Islam? - Einwanderungsland - ein Wahnsinn!" (NZ:, Nr. 40/2001) "Vor Völkerwanderung nach Deutschland? - Die furchtbaren Folgen der EUErweiterung" (NZ, Nr. 23/2001) "Totschlaginstrument 'Antisemitismus' - Ist Kritik an Juden grundsätzlich verboten?" (NZ, Nr. 13/2001) 21 Seit der Landtagswahl vom 21. April 2002 sind weder DVU noch FDVP im Landesparlament vertreten. 53 "Wie viele Juden kommen noch? - 40 Milliarden Mark für 'Kontingentflüchtlinge'" (NZ, Nr. 16/2001) "Auschwitz und die 'deutsche Schuld' - Die Instrumentalisierung der Entrechtung unseres Volkes" (NZ, Nr. 5/2001) Aktivitäten Nennenswerte Aktivitäten entwickelte der baden-württembergische Landesverband auch in diesem Jahr nicht. Bezeichnenderweise fand sogar der Landesparteitag in München statt. Zusammen mit den Landesverbänden Bayern und Saarland musste dieses für eine Partei außerordentlich wichtige Ereignis am 3. Februar 2001 in einer Gemeinschaftsveranstaltung durchgeführt werden. Im Mittelpunkt stand dabei der Auftritt des Bundesvorsitzenden, der in seiner Rede die "alten Parteien" und "etablierten PolitVersager" scharf angriff. Bei der anschließenden Neuwahl der Vorstände wurde der bisherige stellvertretende Landesvorsitzende Oskar PFEIFFER, Stuttgart, zum neuen DVU-Landeschef in BadenWürttemberg gewählt. Er löste damit den bisherigen Vorsitzenden Peter JÜRGENSEN, Forst, ab, der erst gar nicht zum Landesparteitag erschienen war. Auf Bundesebene konzentrierte sich die DVU auf die einzige zentrale Großveranstaltung am 29. September 2001 in der Nibelungenhalle in Passau, die unter dem Motto "Wir sind stolz, Deutsche zu sein!" stattfand. Zu den Ehrengästen gehörte u.a. ein Funktionär der belgischen nationalistischen Partei "Vlaams Blok". Entgegen den Erwartungen und trotz hohen Werbeaufwands, aber auch unter dem Eindruck der Wahlniederlage in Hamburg war die Veranstaltung mit rund 1.200 Teilnehmern deutlich schlechter besucht als im vergangenen Jahr. 54 Wahlen Die DVU nahm am 23. September 2001 an der Bürgerschaftswahl in Hamburg teil. Ein Ergebnis deutlich über 5 % wurde angestrebt, um einen angeblichen Wahlbetrug wie bei der letzten Bürgerschaftswahl, als ihr lediglich 190 Stimmen für den Einzug ins Parlament gefehlt hatten, unmöglich zu machen. Trotz eines hohen Wahlkampfkostenetats verfehlte sie jedoch mehr als deutlich ihr Ziel und rutschte nach 4,98 % bei der Bürgerschaftswahl 1997 auf 0,7 % der Stimmen ab. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 25. März 2001 trat die DVU nicht an. Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA Die DVU verurteilte zwar die Anschläge, indem sie Mitgefühl und Solidarität mit den Opfern ausdrückte, forderte aber gleichwohl auf ihrer Homepage, "das Ruder in der Ausländerpolitik" müsse "jetzt um 180 Grad herumgerissen werden". Durch einen "unkontrollierten Ausländerzustrom" seien "deutsche Städte, insbesondere Hamburg, zu Terrornestern und Stützpunkten ausländischer Fanatiker geworden". Dies zeigt, dass trotz der Distanzierung von den Anschlägen die fremdenfeindliche Agitation fortgesetzt und die Gelegenheit ergriffen wird, Angst vor "Überfremdung" in der Bevölkerung zu schüren. In der Ausgabe Nr. 39 der NZ vom 21. September 2001 lehnt die DVU unter der Überschrift "Wegen New York sterben? - Tödliche Gefahren für das deutsche Volk" einen militärischen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen amerikanischer Vergeltungsschläge entschieden ab. 6. Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 6.1 "Cannstatter Kreis" (CK) Der "Cannstatter Kreis e.V.", der rund 50 Mitglieder zählt, wurde am 4. Februar 1994 von einer Gruppe politisch interessierter Bürger, vorwiegend Mitglieder einer demokratischen Partei, in Stuttgart-Bad Cannstatt gegründet. Seit dem Rücktritt des alten Vorstandes 1997 öffnete sich der Verein zunehmend auch Rechtsextremisten und bietet ein Forum für die Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts. 55 Um die Zusammenarbeit im "rechten Lager" zu fördern, führt der CK regelmäßig Vortragsveranstaltungen mit prominenten Vertretern rechtsextremistischer Organisationen und Parteien durch. Anlässlich einer Veranstaltung mit dem Thema "Immunisierung gegen linke Volksverhetzer - Angriff statt Verteidigung!", die der CK zusammen mit dem rechtsextremistischen Verein "Deutsches Seminar e.V." am 23. März 2001 in Stuttgart durchführte, waren auch die Partei "Die Republikaner" (REP) und die JNSplittergruppe "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) mit eigenen Informationsständen vertreten. 6.2 "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) Das Ziel der "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH), die Sammlungsbewegung der "nationalen Rechten" zu werden, hat sich auch im Jahr 2001 nicht verwirklichen lassen. Selbst durch die Aufgabe ihres Parteienstatus im Jahre 1996 konnte die 1991 gegründete DLVH ihren Abwärtstrend nicht stoppen. Die Mitgliederzahlen auf Bundesebene (ca. 230 Mitglieder) wie auch in Baden-Württemberg (ca. 30 Mitglieder) sind weiterhin rückläufig. Jürgen SCHÜTZINGER, der dem Gemeinderat der Stadt Villingen-Schwenningen und dem Kreistag des Schwarzwald-Baar-Kreises angehört, ist Landesvorsitzender und gleichzeitig einer von drei Bundessprechern der DLVH. 6.3 "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e.V." (FHD) Der 1989 als Vorfeldorganisation der NPD gegründete FHD strebt nach eigenen Aussagen eine Vereinigung aller "rechten" Parteien an. Er gibt vierteljährlich die Publikation "Freies Wort Pforzheim" heraus. Bei den regelmäßig durchgeführten Vortragsveranstaltungen des FHD referieren u.a. bekannte Rechtsextremisten zu einschlägigen Themen. Zu den Besuchern dieser Vorträge gehören Vertreter nahezu aller rechtsextremistischen Organisationen BadenWürttembergs. Beispielsweise besuchten am 15. Juni 2001 ca. 80 Personen einen vom FHD in Mühlacker organisierten Liederabend mit dem rechtsextremistischen Liedermacher Frank RENNICKE, Ehningen/Krs. Böblingen. Unter der Bezeichnung "Nationale 56 Kräfte Baden-Württemberg" führte der Verein zusammen mit der "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) - einer Abspaltung der NPD-Jugendorganisation JN - und der "Deutschen Liga für Volk und Heimat e.V." (DLVH) am 19. Oktober 2001 in Stuttgart eine Vortragsveranstaltung mit ca. 100 Zuhörern durch. 6.4 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) Die "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP), im Jahr 1960 von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründet, will vor allem "Aufklärungsarbeit" leisten, um die angeblich verzerrte Darstellung der Zeitgeschichte zu korrigieren. Ihr gehören vor allem rechtsextremistische Publizisten, Schriftsteller und Verleger an. Dr. Rolf KOSIEK, früherer "Chefideologe" der NPD und Mitarbeiter im rechtsextremistischen "GRABERTVerlag" in Tübingen, ist seit 1992 Vorsitzender des Vereins. Die GFP hat bundesweit etwa 500 Mitglieder (2000: 480), in Baden-Württemberg nach wie vor ca. 40. Vom 27. bis 29. April 2001 führte die GFP in Hohenroda/Hessen unter dem Motto "Deutschland wird leben" ihren Jahreskongress durch. Mit ca. 230 Teilnehmern war der Kongress deutlich schlechter besucht als im Vorjahr. Als Referenten traten unter anderem die rechtsextremistischen Verleger Dr. Gerd SUDHOLT und Udo WALENDY auf. 6.5 "GRABERT-Verlag" / "Hohenrain-Verlag" Der "GRABERT-Verlag" in Tübingen gehört zu den bekanntesten und hinsichtlich seines Buchangebots größten rechtsextremistischen Verlagen der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde bereits 1953 als "Verlag der Deutschen Hochschullehrerzeitung" von Dr. Herbert Grabert gegründet und tritt seit 1974 unter seinem jetzigen Namen auf. Seit 1972 leitet sein Sohn Wigbert GRABERT den Verlag, den er 1978 als alleiniger Geschäftsführer von seinem verstorbenen Vater übernahm. Neben dem "GRABERTVerlag" gehören heute die Unternehmungen "GIE German International Editions GmbH" - gegründet 1978 - und der "Hohenrain-Verlag" - gegründet 1985 - sowie die 1998 gegründete Versandfirma "Media-Service", die Wigbert GRABERTs Sohn leitet, zum "GRABERT"-Komplex. 57 Revisionistische Bücher und Publikationen sind der Schwerpunkt des Verlagsprogramms. Daneben erscheint vierteljährlich die Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" mit Grundsatzbeiträgen zu tagespolitischen und zeitgeschichtlichen Themen sowie zweimonatlich das Informationsblatt "Euro-Kurier" mit "aktuellen Buchund Verlags-Nachrichten". Im "Hohenrain-Verlag" werden überwiegend Bücher zu aktuellen Themen wie zur Euroeinführung, den Folgen der Globalisierung oder den angeblichen Gefahren einer multikulturellen Gesellschaft verlegt. Mit diesem Angebot sollen auch nichtrechtsextremistische Leser angesprochen und so der Kundenund Wirkungskreis ausgebaut werden. Mehrere Bücher aus den Verlagsprogrammen wurden wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfens Verstorbener (SSSS 130, 185, 189 StGB) eingezogen und/oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert. 7. Internationale Verflechtungen des Rechtsextremismus Deutsche Rechtsextremisten pflegten zwar auch im Jahr 2001 Kontakte zu ausländischen Gesinnungsgenossen, die internationalen Treffen haben für sie jedoch in den letzten Jahren kontinuierlich an Anziehungskraft verloren. So ging die Anzahl deutscher Teilnehmer an dem "internationalen Kameradschaftstreffen" in Belgien im Rahmen der jährlichen "Ijzerbedevaart" und in Spanien an der Gedenkveranstaltung der Falangisten zum Todestag von General Franco und des Parteigründers de Rivera merklich zurück. Der amerikanische Neonazi und Leiter der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Aufbauund Auslandsorganisation (NSDAP/AO), Gary Rex LAUCK, hat seine Aktivitäten weitgehend ins Internet verlagert. Seine Website ist mittlerweile in 19 Sprachen abrufbar. Über diese Homepage können Interessierte neonazistisches Propagandamaterial, antisemitische Schriften und NS-Devotionalien herunterladen beziehungsweise bestellen. Seine Publikation "NS-Kampfruf" ist mittlerweile in zwölf Sprachen lieferbar. Daneben bietet er in Deutschland verbotene Spiele wie "KZ-Rattenjagd", "Der SA-Mann" oder "Nazi Doom" und Videos wie "Der ewige Jude" oder "Jud Süß" an. Des Weiteren gibt LAUCK Hinweise, wie man das Internet als "Propagandawaffe" nut58 zen kann und wie sich mit seiner Hilfe "deutsche Websiten in den sicheren USA" einrichten lassen. Die Macher der revisionistischen Zeitschrift "National Journal", der Nachfolgepublikation des früheren "Deutschland-Reports" beziehungsweise der "Remer-Depesche", haben zu Lasten der Printausgabe ihre Internetaktivitäten verstärkt. Sie bezeichnen sich selbst als "Kampfgemeinschaft gegen antideutsche Politik und für die Wiederherstellung der Menschenrechte in Deutschland" und als "eine Gruppe von Freidenkern". Zur erreichen ist die Redaktionsgemeinschaft, die sich "Die Freunde im Ausland" (DFIA) nennt und deren personelle Zusammensetzung bislang unbekannt ist, über den Verlag des britischen Rechtsextremisten Anthony HANCOCK in Uckfield/England. 8. Revisionismus Neben den Versuchen, die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu relativieren oder zu negieren ("Kriegsschuldlüge"), besteht die am weitesten verbreitete Form des Revisionismus in Deutschland darin, die Tatsache und den Umfang des millionenfachen Mordes an Juden in der Zeit des Nationalsozialismus zu verharmlosen oder gar zu leugnen ("Auschwitz-Lüge"). Der bekannteste deutsche Revisionist, Germar RUDOLF, dessen letzte deutsche Wohnadresse in Baden-Württemberg war, soll sich nun in Mittelund Nordamerika (Mexiko und USA) aufhalten. 1995 hatte ihn das Landgericht Stuttgart wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Beleidigung und Aufstachelung zum Rassenhass zu 14 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Der Strafverbüßung entzog sich RUDOLF 1996 durch Flucht über Spanien nach England. RUDOLF ist nicht nur Autor mehrerer revisionistischer Schriften und Bücher, sondern auch Herausgeber der "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" (VffG), Eigentümer des Verlags "Castle Hill Publishers" und Alleinverantwortlicher für die Internetaktivitäten der seit 1985 bestehenden rechtsextremistischen belgischen Organisation "Vrij Historisch Onderzoek" (VHO). Als eine seiner Hauptaufgaben sieht er die Bereitstellung 59 aller jemals erschienenen revisionistischen Schriften und Bücher im Internet an, unabhängig davon, ob sie der Einziehung unterliegen oder indiziert sind. In der VffG-Ausgabe 3 vom September 2001 erklärt RUDOLF, zentrales Thema der Revisionisten bleibe das Lager Auschwitz. Zusammen mit anderen Revisionisten kündigt er eine neue Schrift "Auschwitz, wie es wirklich war. Eine Projektvorstellung" an, die auf lange Jahre das entscheidende Werk zu diesem Thema darstellen werde. Da ein dermaßen ehrgeiziges und umfassendes Projekt nicht ohne erhebliche Finanzmittel verwirklicht werden könne, bittet er bis ins Jahr 2003 hinein um finanzielle Unterstützung. In dem Beitrag "Großterrorismus und die Folgen", erschienen in der gleichen VffGAusgabe, in dem er zu dem Terrorangriff vom 11. September 2001 Stellung nimmt, erklärt RUDOLF u.a.: "Der Sache der Palästinenser und aller Araber und Moslems wurde durch die Terroranschläge ein ungemein großer Schaden zugefügt, und damit auch all jenen, die irgendwie mit diesen Gruppen sympathisieren. Dazu gehört auch der Holocaust-Revisionismus, der (...) eine sich stetig verbessernde Beziehung zu arabischen Intellektuellen aufgebaut hat." Der aus Baden-Württemberg stammende Revisionist Ernst ZÜNDEL verkaufte im Mai 2001 sein Haus in Toronto/Kanada und zog zu seiner Frau Ingrid RIMLAND in die USA. Seinen Verlag "Samisdat Publishers" gab er eigenen Angaben zufolge auf. Den Rundbrief "GERMANIA" verschickt ZÜNDEL weiterhin an Gesinnungsgenossen. 9. Intellektuelle Tendenzen im Rechtsextremismus 9.1 Allgemeines An der Schnittstelle zum Rechtsextremismus, zum Teil geschickt in einer Grauzone agierend, versuchen seit Beginn der 80er Jahre rechtsextremistische Intellektuelle, die sich abseits vom organisierten Rechtsextremismus in kleinen Zirkeln zusammenfinden, bei Zeitungen und in Verlagen mitarbeiten und vereinzelt auch Burschenschaften angehören, ihren Einfluss in der rechtsextremistischen Szene auszubauen. Ihr Ziel, "die poli60 tische Meinungsführerschaft im Kampf um die Köpfe" zu erringen, haben sie bisher jedoch nicht erreicht. 9.2 Publikationen Die Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) muss als ein wichtiges publizistisches Bindeglied zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsextremistischen Spektrum angesehen werden. Sie veröffentlicht zahlreiche Beiträge, mit denen versucht wird, dem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat die Legitimation abzusprechen. So bezweifelte ein Stammautor in der Doppelausgabe 52/00-1/01 die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts: "Statt eine klare demokratische Legitimationskette aufzuweisen, verliert sich die Spur der Kontrolle über die höchsten Richterstühle Deutschlands im Dickicht des Parteienstaates." In der Ausgabe 12/01 behauptet ein ständiger JF-Mitarbeiter, dass "die Verfassungswirklichkeit weiter in Richtung auf eine totalitäre Parteifunktionsoligarchie driftet" und spricht von "Gesinnungsschnüffelei", "Gedankenkontrolle" und "Meinungslenkung". Ein anderer ständiger JF-Mitarbeiter spricht in der Ausgabe 7/01 davon, dass "in der Politik und in den Medien wir schon fast DDR-Verhältnisse haben". Trotz dieser verfassungsfeindlichen Einstellungen gelingt es der JF-Redaktion immer wieder, Politiker und andere Personen aus dem nichtextremistischen Spektrum zu Interviews zu bewegen. Am 16. August 1996 erhob die "Junge Freiheit Verlag GmbH & Co." Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen auf Unterlassung der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf22 stellte mit Urteil vom 14. Februar 1997 fest, dass sich zahlreichen in der JF veröffentlichten Beiträgen Anhaltspunkte für die Zielsetzung entnehmen lassen, tragende Strukturprinzipien der freiheitlichen demokrati22 Az.: 1 K 9318/96. 61 schen Grundordnung - insbesondere die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte sowie Bestandteile des Demokratieprinzips - zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Mit Beschluss vom 22. Mai 2001 wies das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen23 den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück; das Urteil ist somit rechtskräftig. Das Gericht hob insbesondere hervor, "dass die Klägerin konstant über einen längeren Zeitraum hinweg kommentarlos und ohne Distanzierung eine größere Anzahl derartiger Beiträge veröffentlicht hat, dass es sich hierbei nicht um einige wenige, gegenüber dem Gesamtcharakter der Zeitung zurücktretende Entgleisungen einzelner Autoren handelt, sondern um einen von der Klägerin kontinuierlich verfolgten Aspekt ihrer Gesamtstrategie, der den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen rechtfertigt". Der rechtsextremistische Liedermacher Frank RENNICKE, Ehningen/Krs. Böblingen, "der bekannteste Vertreter der nationalen Barden", wird in der Ausgabe 27/01 einer Gruppe von Musikern zugerechnet, "die trotz ihres untergründigen Erfolgs nie über den Status eines Geheimtipps herauskommen werden, weil es das Establishment nicht will". Auch die Terroranschläge in den USA werden in der JF kommentiert. Ein JFStammautor erklärt in der Ausgabe 38/01, dass "die terroristischen Aktivitäten im Nahen Osten proportional zur Unnachgiebigkeit Israels zugenommen und die USA diese Unnachgiebigkeit immer wieder mitgetragen haben, ist ihnen jetzt zum Verhängnis geworden". In der Ausgabe 39/01 wird ein Interview nachgedruckt, das der ständige JFMitarbeiter Alain de BENOIST24 der italienischen Tageszeitung "La Padania - La Voce Del Nord" gab. Darin erklärt BENOIST, dass die USA den Terroranschlag selbst zu verantworten hätten und dass sie nun "die Früchte ihres Staatsterrors ernten" würden. Neben der JF ist noch die monatlich erscheinende Schrift "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE" (NE) erwähnenswert. Sie ist als bedeutendstes rechtsextremistisches Strategieund Theorieorgan anzusehen. Als strategisches Ziel streben 23 Az: 5A 2255/97. 24 BENOIST wird als Chefideologe der französischen "Nouvelle Droite", einer Intellektuellengruppe, die sich auf die "Konservative Revolution" der Weimarer Republik beruft, angesehen. Der Begriff "Konservative Revolution" kennzeichnet eine intellektuelle Strömung des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik (Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Edgar Julius Jung), die sich für einen autoritären Staat einsetzte und den liberalen Werten der Weimarer Demokratie deutlichen Widerstand entgegenbrachte. BENOIST veröffentlichte zahlreiche theoretische Aufsätze und Bücher in deutscher und französischer Sprache, die aus der Perspektive des intellektuellen Rechtsextremismus demokratische Prinzipien und Werte ablehnen. 62 die Macher die Überwindung der Zersplitterung der rechtsextremistischen Parteien und die Bündelung aller rechtsextremistischen Kräfte an. So ruft der frühere Bundesvorsitzende der Partei "Die Republikaner" (REP), Franz SCHÖNHUBER, in der NE-Ausgabe 11+12, November/Dezember 2001, in seiner regelmäßig erscheinenden Kolumne in einem Artikel unter der Überschrift "Skizzen für eine neue Partei" zur Gründung einer "Nationalen-Widerstands-Partei" (NWP) auf. 9.3 Burschenschaften In das Blickfeld der Öffentlichkeit rückten die Burschenschaften 2001 besonders durch die Vorgänge um die Münchner "Burschenschaft Danubia". Auslöser hierfür war ein Vorfall in der Nacht zum 13. Januar 2001 in München, als ein griechischer Staatsangehöriger von mehreren rechtsextremistischen Skinheads schwer verletzt wurde. Der Haupttäter fand nach der Tat Unterschlupf in den Räumen der "Burschenschaft Danubia". Laut "NATION & EUROPA" - DEUTSCHE MONATSHEFTE", Heft 9, September 2001, soll der aus Baden-Württemberg stammende Pressesprecher der Danubia in einer Presseerklärung bekundet haben, dass in seinem Bereich "rechtes Gedankengut" nach wie vor willkommen sei. In Baden-Württemberg gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die hier ansässigen Burschenschaften von Rechtsextremisten unterwandert sind oder mit ihnen zusammenarbeiten. Lediglich in Heidelberg gibt es eine rechtsextremistische Kleinstgruppierung, die sich "Burschenschaft Arminia Zürich zu Heidelberg" nennt, burschenschaftliches Brauchtum nachahmt und keinem studentischen Dachverband angehört. 10. Nutzung moderner Informationstechnik durch Rechtsextremisten 10.1 Allgemeines Die Anzahl der von deutschen Rechtsextremisten - in den meisten Fällen anonym über amerikanische Internet-Server - betriebenen deutschsprachigen Homepages im World Wide Web (WWW) hat sich erneut auf rund 1.300 (2000: 800) erhöht; davon haben wei63 terhin etwa 20-30 % strafbare Inhalte25. Nahezu alle in Deutschland aktiven rechtsextremistischen Parteien, Vereinigungen und organisationsunabhängigen Publikationsorgane sind mittlerweile mit einem eigenen Angebot im Internet vertreten. Rechtsextremisten nutzen dabei die Möglichkeiten des Internets zur Verbreitung audiovisueller Angebote weitaus stärker als linksextremistische Gruppierungen. Die sprunghafte Entwicklung der Zahl deutschsprachiger rechtsextremistischer Homepages unterstreicht die wachsende Bedeutung des Internets als Agitationsmedium für Rechtsextremisten. Die überwiegende Zahl derartiger Angebote wird weiterhin über ausländische, vornehmlich US-amerikanische Provider betrieben. Eine ganze Anzahl privater Initiativen in der Bundesrepublik und im benachbarten deutschsprachigen Ausland übt jedoch inzwischen über Kampagnen, die mit Imageschädigung gegenüber den Providern drohen, gezielt Druck auf derartige Anbieter aus. Amerikanische Provider reagieren deshalb inzwischen positiver und schneller auf Hinweise auf bei ihnen gespeicherte Seiten deutscher Rechtsextremisten und sperren diese in der Regel sofort. Die "Lebensdauer" einer ganzen Anzahl von neuen Angeboten war deshalb nur kurz. Ein Teil dieser Angebote dürfte jedoch nach einiger Zeit bei anderen Providern, teilweise unter neuem Namen, wieder auftauchen. Auch in Baden-Württemberg eingestellte rechtsextremistische Angebote waren im Berichtszeitraum abrufbar. Die meisten der unter deutschen Domains angemeldeten Angebote waren innerhalb weniger Tage nach deren Auftreten durch den Provider bereits wieder gelöscht worden. Rechtsextremistische Einzelpersonen nutzen zunehmend Gästebücher und offene Foren und nicht nur rechtsextremistische Seiten massiv zur Propaganda. Die zahlreichen rechtsextremistischen Störer in Internet-Diskussionsforen versuchen, durch antidemokratische provokative Texte oder durch ihre Kommentare das jeweilige Forum inhaltlich in eine bestimmte Richtung zu bringen oder gar zu dominieren. Umgekehrt finden sich in den Gästebüchern und Diskussionsforen rechtsextremistischer Homepages schon seit längerem Einträge von politischen Gegnern, insbesondere der linksextremistischen Antifa, die darauf abzielen, dort die Einstellungen zu stören und die Betreiber zu provozieren. 25 Die Zahl derartiger Angebote kann aufgrund ständiger Zuund Abgänge nur geschätzt werden. 64 10.2 Beispiele Verbreitung von Skinheadmusik im Internet So genannte "Oi-Musik" szenebekannter Musikgruppen und ähnliche NS-AudioAngebote in verschiedenen Dateiformaten werden inzwischen über eine große Anzahl von weltweit angesiedelten Internetangeboten verbreitet. Diese Musikstücke sind einfach herunterzuladen und bieten die Möglichkeit, eigene CDs herzustellen beziehungsweise sind über jeden gängigen Rechner oder so genannte Mp3-Player abspielbar. Über immer zahlreicher werdende kostenlose Vermittlungsangebote im Internet können Musikdateien weltweit zwischen individuellen Anbietern und Nutzern getauscht werden. Darunter fallen auch indizierte rechtsextremistische Musiktitel. Durch die weltweite Verbreitung derartiger Mp3-Musikdateien können rechtsextremistische Musikstücke und Texte einem breiten, bislang unpolitischen, jugendlichen Interessentenkreis problemlos verfügbar gemacht werden. Über mehrere Monate wurde die internationale Musikaustauschbörse Napster zur Weitergabe von strafrechtlich relevanten rechtsextremistischen Musikdateien bekannter Skinheadbands genutzt. Die Staatsanwaltschaft Bonn leitete dazu im Frühjahr 2001 in 120 Fällen Ermittlungsverfahren gegen Anbieter rechtsextremistischer Musikdateien über Napster wegen des Verdachts des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, der Volksverhetzung, der Aufstachelung zum Rassenhass beziehungsweise der Verherrlichung von Gewalt ein. In einem vom Bundeskriminalamt (BKA) koordinierten Einsatz durchsuchten Polizeibeamte der Länder in der ersten Aprilwoche bundesweit Wohnungen von 103 Personen in 15 Ländern, davon 16 in Baden-Württemberg. Dabei wurden Computer, Disketten und andere Datenträger sichergestellt26. Bei den betroffenen Personen in BadenWürttemberg handelt es sich, soweit bis jetzt bekannt, in der Mehrzahl um bislang nicht als Rechtsextremisten bekannte junge Männer im Alter zwischen 14 und 20 Jahren. Rechtsextremistische Musikdateien konnten auch nach Bekanntwerden der Maßnahme über Napster sowie die neuentstandenen Nachfolgetauschbörsen heruntergeladen werden. 26 www.bka.de/pressemitteilungen/2001/pm1004012.html. 65 Parteien Regionale Teilgliederungen rechtsextremistischer Parteien nutzen inzwischen neben dem jeweiligen Angebot auf Bundesebene in unterschiedlicher Intensität die Möglichkeiten einer eigenen Webseite mit regionalen Inhalten zur Selbstdarstellung im Internet. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ruft zu bundesweiten und regionalen Aufmärschen und Aktionen auf und berichtet hierüber. Insbesondere nutzte die NPD ihr Angebot intensiv zu der Kampagne "Argumente statt Verbote! - Nein zum NPDVerbotsantrag". Das bestehende Angebot auf Bundessowie auf Landesebene wurde nach Einleitung des Verbotsverfahrens beim Bundesverfassungsgericht erkennbar zurückgefahren. Revisionismus27 Internationale Revisionisten verfügen inzwischen über ein informelles Netzwerk im WWW, indem sie über eine größere Anzahl von Webseiten ihre Inhalte verbreiten und über "Links" aufeinander hinweisen. Im Fall des australischen Revisionisten und Direktors des "Adelaide Institute" Dr. Fredrick TÖBEN entschied der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil vom 12. Dezember 2000: "Stellt ein Ausländer von ihm verfasste Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des SS 130 Abs. 1 oder des SS 130 Abs. 3 StGB erfüllen ('Auschwitzlüge'), auf einem ausländischen Server in das Internet, der Internetnutzern in Deutschland zugänglich ist, so tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg (SS 9 Abs. 1, 3. Alternative StGB) im Inland ein, wenn diese Äußerungen konkret zur Friedensstörung im Inland geeignet sind." Dr. TÖBEN hatte auf einem australischen Rechner selbstverfasste revisionistische Texte für Internetbenutzer zur Verfügung gestellt, in denen der Massenmord an den Juden als Erfindung "jüdischer Kreise" dargestellt wurde. 27 Vgl. auch Kap. 8. 66 D. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Die Aktivitäten linksextremistischer Gruppen orientierten sich im Verlauf des Jahres 2001 an ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. So beschäftigten sich im ersten Halbjahr die linksextremistischen Parteien neben ihren jeweiligen Standardthemen vorrangig mit aktuellen innenpolitischen Problemen wie der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, der Rentenreform oder der Rinderkrankheit BSE, die als untrügliche Folge des "kapitalistischen Profitsystems" eingeordnet wurde. Vor allem aber sahen sich diese Parteien weiterhin stark mit ihren eigenen Problemen konfrontiert, wobei es deutliche Parallelen gab: Für alle besteht unvermindert die Notwendigkeit der Gewinnung neuer Mitglieder, was bei der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) aufgrund ihrer Überalterung unverändert eine Überlebensfrage ist, bei der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD) als Grundvoraussetzung für die angestrebte Entwicklung zur Massenpartei gilt und für die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) unverzichtbar bleibt, wenn sie im Westen eine Rolle spielen will. Bislang hat allein die MLPD 1999 ein neues Parteiprogramm verabschiedet. Die DKP hingegen tut sich schwer mit einer programmatischen Erneuerung und kommt hiermit kaum voran. Bei der PDS wiederum sind mit der parteiinternen Programmdiskussion Grundsatzfragen verbunden, die das Selbstverständnis der Partei elementar berühren und von den verschiedenen innerparteilichen Strömungen nach wie vor unterschiedlich beantwortet werden. Die Beteiligung von Linksextremisten an der Landtagswahl 2001 war noch verhaltener als im Wahljahr 1996. Während die PDS schon frühzeitig ihren Verzicht bekannt gegeben hatte, beschloss die DKP immerhin, dem Wähler eine "linke" Alternative zu den "bürgerlichen" Parteien anzubieten und in einigen wenigen Wahlkreisen zu kandidieren. Bei den politischen Aktionsfeldern war vor dem Hintergrund der badenwürttembergischen Landtagswahl bis Ende März 2001 zunächst der "Antifaschismus" erneut im Mittelpunkt, wobei im Zentrum die Auseinandersetzung mit den kandidierenden rechtsextremistischen Parteien stand. 67 Als ein neuer Themenschwerpunkt bot sich dann im Sommer der Protest gegen die Globalisierung an, der spätestens seit den gewalttätigen Ausschreitungen von Genua im Juli 2001 für einige Zeit in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses rückte. Insbesondere der Tod eines Gewalttäters führte zu einer teilweise aggressiv geführten Diskussion über die Rolle der italienischen Polizei und die Frage der Anwendung von Gewalt. Gerade die gewalttätigen Exzesse in Genua haben die "Antiglobalisierungsbewegung" für Autonome zunehmend attraktiv gemacht und dieser militanten Szene ein neues Gefühl von Macht und Stärke vermittelt. Auch organisierte Linksextremisten sahen nun neue Chancen für eine internationale Vernetzung und die Initiierung und Instrumentalisierung einer möglichst breiten Gegenbewegung gegen die "herrschenden Verhältnisse" mit einer letztendlich revolutionären Perspektive. Die Ereignisse des 11. September 2001 und in Reaktion darauf die Militärschläge der USA in Afghanistan nahmen dann freilich auch Linksextremisten aller Couleur voll und ganz in Anspruch. Dahinter mussten andere, bis dahin aktuelle Themenfelder zurücktreten. Dennoch bleibt insgesamt festzuhalten, dass im Jahr 2001 das politische Engagement in einigen Bereichen sogar schwächer geworden ist. Dies gilt für die Bemühungen um eine Wiederaufnahme des Verfahrens des wegen Polizistenmordes in den USA einsitzenden farbigen Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL28, mehr noch für die KurdistanSolidarität. Selbst die Anti-CASTOR-Proteste haben im Verlauf des Jahres deutlich an Schwung verloren. Gleiches gilt für den Kampf um "autonome Zentren". Sogar der Versuch, im Protest gegen die Kampfeinsätze der USA in Afghanistan die "Friedensbewegung" zu reaktivieren und diese zusammen mit der "Antiglobalisierungsbewegung" wie auch dem Potenzial der "CASTOR"-Gegner in eine große Antikriegsbewegung zusammenzuführen, war bislang wenig erfolgreich. Dafür deutete sich im gleichen Zusammenhang eine erneute Schwerpunktverlagerung an: Die besonders von Linksextremisten befürchtete Schaffung eines "Polizeiund Überwachungsstaats" in Folge der intensivierten Terrorismusbekämpfung im Inund Ausland ließen die "Innere Sicherheit" - ein ohnehin zentrales Thema für Linksextremisten - in der Prioritätenskala deutlich nach oben rücken. 28 Vgl. S. 95 f. 68 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Seit Jahren bemühen sich linksextremistische Parteien und Organisationen um Mitgliederzuwächse. So entscheidend diese für das langfristige Überleben sind, so wenig erfolgreich sind jedoch die dafür unternommenen Anstrengungen. Schon das Halten des Bestandes auf dem bisherigen Niveau muss daher als "Erfolg" gegenüber weiteren, zu befürchtenden Rückgängen gewertet werden. Selbst die PDS sah sich in BadenWürttemberg erstmals einer Phase der Stagnation gegenüber. Neben der "Roten Hilfe e.V.", die erneut Zugänge verzeichnen konnte, waren es vor allem die Trotzkisten der "Linksruck"-Organisation, die aggressiv aktuelle politische Themenfelder zu besetzen versuchten, um auf diese Weise neue Mitglieder und Sympathisanten an sich zu ziehen. 69 2.2 Strafund Gewalttaten29 Zahlreiche Strafund insbesondere auch schwere Gewalttaten gingen erneut auf das Konto des "antifaschistischen Kampfes". Die direkte, gewaltsame Auseinandersetzung mit "Nazis" als den politischen Gegnern besaß unverändert eine hohe Priorität, die im umgekehrten Falle so nicht gegeben war. Im Sommer 2001 traten neue Themenfelder in den Vordergrund. Dies galt insbesondere für die "Antiglobalisierungskampagne". Der Tod des Italieners Carlo Giuliani im Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen in Genua anlässlich des G-8-Gipfels führte auch in Baden-Württemberg zu teils gewaltsamen Reaktionen von Linksextremisten. Die Castor-Transporte des Jahres 2001 haben hingegen insgesamt zu deutlich weniger Strafund Gewalttaten geführt als in früheren Fällen. Die anhaltende Gewaltdebatte, die durch die Ereignisse in Italien ausgelöst wurde, hat erkennen lassen, dass die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele in der autonomen Szene keineswegs an Bedeutung eingebüßt hat. 29 Zu den Erfassungsmodalitäten der Straftaten mit extremistischem Hintergrund vgl. Teil B. 70 Beispiele: In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 2001 wurden bei fünf Gebäuden im Landkreis Ludwigsburg Fensterscheiben eingeworfen beziehungsweise Wände mit Parolen beschmiert. Es entstand ein Sachschaden von insgesamt ca. 35.000 Euro (68.000 DM). In allen Fällen handelte es sich um Örtlichkeiten, die von Mitgliedern der rechtsextremistischen Partei "Die Republikaner" zu Wahlkampfveranstaltungen genutzt wurden. Am 3. Juni 2001 wurde in Karlsruhe an zwei abgestellten Straßenbahnen ein Sachschaden von insgesamt 3.550.000 Euro (6.943.000 DM) verursacht. Eine der beiden Straßenbahnen wurde unter Verwendung eines Brandbeschleunigers entzündet und brannte völlig aus. Am Tag zuvor hatte in Karlsruhe ein Aufmarsch von Rechtsextremisten stattgefunden, wobei Angehörige dieser Szene mit der Straßenbahn zum Versammlungsort gefahren waren. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten Linksextremisten diese Straßenbahn angegriffen und durch Steinwürfe erheblich beschädigt. Am 15. Juni 2001 wurde in Stuttgart-Mitte eine Person von zunächst einem Einzelnen, kurze Zeit später von einer kleinen Gruppe Autonomer, die den Geschädigten offenbar als Rechtsextremisten einstuften, auf offener Straße angegriffen, mit Fäusten geschlagen und Füßen getreten. Dem am Boden Liegenden wurde anschließend Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Ein Anschlag auf eine Bankfiliale in Tübingen in den frühen Morgenstunden des 14. August 2001 verursachte einen Sachschaden von ca. 7.500 Euro (15.000 DM). Vier Fensterscheiben wurden mit Pflastersteinen eingeworfen. An der Hausfassade war die Parole "Für Genua" aufgesprüht. Am 20. August 2001, einem im Gedenken an den in Genua getöteten Demonstranten ausgerufenen "globalen Aktionstag", wurden an einem Stuttgarter Polizeirevier neun geparkte Polizeifahrzeuge mit Acrylfarbe beschädigt. 71 Unter dem Motto "fight racism!" riefen autonome Gruppen am 27. Oktober 2001 in Heidelberg zu einer Demonstration und anschließenden Aktionen gegen eine Kundgebung der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) auf. Starke Polizeikräfte verhinderten zwar ein direktes Aufeinandertreffen der politischen Kontrahenten. Militante Autonome reagierten jedoch mit massiven Würfen von Bierflaschen und -dosen sowohl auf die Polizeikräfte als auch auf die Teilnehmer an der JNKundgebung sowie mit Sitzblockaden im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen. Es kam zu mehreren Festnahmen. Drei Polizeieinsatzfahrzeuge wurden beschädigt. Bereits im Vorfeld waren bei Kontrollen drei Personen wegen Waffenbesitzes (u.a. ein Dolch) festgenommen worden. 3. Gewaltbereiter Linksextremismus Der Verlauf des vergangenen Jahres war zunächst wenig geeignet, die autonome Szene aus ihrer eher lethargischen Verfassung zu lösen. Ein Spiegelbild des Zustands zumindest eines Teils der autonomen Szene bot der Göttinger "Antifa-Kongress" vom 20. bis 22. April 2001 ("Antifa-Kongress 2001. Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen"). Dieser besiegelte das Ende der 1992 gegründeten "Antifaschistischen Aktion/Bundesweiten Organisation" (AA/BO), die sich kurz zuvor aufgelöst hatte. Damit ist wieder einmal ein überregionaler Organisationsansatz an typischen szeneinternen Auseinandersetzungen - diesmal an einer endlosen Sexismusund Vergewaltigungsdiskussion - gescheitert. Der "Kongress" belegte jedoch nicht nur die Unfähigkeit der autonomen Szene, in der Frage der eigenen Organisierung und damit Bündelung der politischen Kräfte Fortschritte zu machen. Er dokumentierte auch die Suche nach einer Zukunftsperspektive, nach Alternativen zu dem lange Jahre dominierenden Aktionsfeld "Antifaschismus". Als solche hat sich die "Antiglobalisierungsbewegung" etabliert, die für die gesamte autonome Szene eine herausragende Bedeutung erlangt hat. Die ausführliche Beschäftigung mit den Ereignissen von Genua, die seither angestoßene, vorwiegend publizistisch ausgetragene "Gewaltdebatte" wie auch die in BadenWürttemberg verübten Strafund Gewalttaten zeigten, dass die Bereitschaft zum Engagement in der autonomen Szene nach wie vor vorhanden ist. Andererseits aber setzte der anhaltende Schwächezustand der Szene deutliche Grenzen. Letzteres klang auch in einer in der Szeneschrift "Interim" vom 22. Februar 2001 veröffentlichten Erklärung 72 "Mr koas halt nedd älle recht macha!" der "Autonomen Antifaschistischen Aktion Stuttgart" (AAAS) zu ihrem Austritt aus der AA/BO an: Darin betonte die Gruppe, dass sie eine bundesweite Organisierung "sehr wichtig und nötig" finde, dass es ihr andererseits aber "aus Mangel an Zeit und Ressourcen nicht möglich" sei, sich in der wünschenswerten Weise in die Arbeit der AA/BO einzubringen. Stimmen aus der Szene beklagten darüber hinaus erneut die Unfähigkeit der Autonomen, eigene und überdies gemeinsame politische Positionen zu entwickeln, obwohl mit dem neuen Ansatz der "Antiglobalisierungsbewegung" die Bedingungen eigentlich günstig gewesen seien. Auch der "Antifaschismus" sei nach wie vor in erster Linie als "Anti-NaziKampf" begriffen worden. Über solche politische Oberflächlichkeiten hinaus seien jedoch keine weitergehenden und wahrnehmbaren Positionen gegen die kapitalistische Gesellschaft bezogen worden. Dass das erneute Scheitern einer bundesweiten Organisierung allerdings keineswegs einen Rückgang politischer Aktivitäten vor Ort bedeuten muss, belegt auch die mit etwa 670 Personen gleich gebliebene Zahl der Autonomen in Baden-Württemberg. Örtliche Schwerpunkte sind der Raum Bodensee (Konstanz/Ravensburg), Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Mannheim; Stuttgart; der Raum Mittlerer Neckar, Ulm sowie der Raum Tübingen/Reutlingen. 4. Parteien und sonstige Organisationen 4.1 "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Gründung: 1989/90 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 420 Baden-Württemberg (2000: ca. 420) ca. 83.500 Bund (2000: ca. 88.600) Publikationen: "Disput" "PDS-Pressedienst" "PDS Landesinfo Baden-Württemberg" 73 Nach einer jahrelangen Aufwärtstendenz musste der Landesverband Baden-Württemberg der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) 2001 erstmals eine Stagnation in der Entwicklung der Mitgliederzahlen hinnehmen. Eigene organisatorische und personelle Schwäche waren auch der Hauptgrund für den Verzicht auf eine Teilnahme an der Landtagswahl am 25. März 2001. Der Landesvorstand erkannte, dass eine fortgesetzte Nichtteilnahme an Wahlen den Weg in die Bedeutungslosigkeit zur Folge haben würde, und erhob das Hinarbeiten auf eine Kandidatur bei der nächsten Landtagswahl zu einem Schwerpunkt seiner politischen Arbeit. Die Gründe für die derzeitige Situation im Landesverband dürften erneut in der vorrangigen Beschäftigung der Partei mit sich selbst zu suchen sein. Insoweit bot sie ein Spiegelbild der Verhältnisse auf Bundesebene. Bundespolitische Themen bildeten deshalb auch den Schwerpunkt der baden-württembergischen PDS, darunter besonders die langanhaltende Diskussion um ein neues Parteiprogramm. Dies war vor allem durch das Engagement des auch die Landespolitik der PDS maßgeblich mitbestimmenden badenwürttembergischen Bundestagsabgeordneten Winfried WOLF30 bedingt. Er hatte als führendes Mitglied einer innerparteilichen Opposition gegen den politischen Kurs des Bundesvorstands zusammen mit Vertretern der "Kommunistischen Plattform" (KPF) und des "Marxistischen Forums" (MF) ebenfalls einen Programmentwurf als Minderheitsvotum erarbeitet. Dieser sollte nach den Vorstellungen dieser Gruppe gleichberechtigt neben dem offiziellen Entwurf des Bundesparteivorstands als Grundlage für die Programmdiskussion gelten. WOLF selbst forcierte in Baden-Württemberg die Auseinandersetzung mit den Programmentwürfen, was sich u.a. in den Diskussionsbeiträgen im "PDSLandesinfo Baden-Württemberg" niederschlug. Die Verbreitung des "Entwurfs 2.2", einer "qualifizierten" und "gekürzten" Fassung des ersten Entwurfs der Gruppe um WOLF, wurde von ihm mit hohem persönlichen Engagement, darunter auch der Aufwendung eigener finanzieller Mittel, gezielt vorangetrieben, obwohl der Bundesvorstand diesen nicht unterstützte. Im Vergleich zum Entwurf des Bundesvorstands enthielt der "Entwurf 2.2" deutlichere Formulierungen wie "Ein demokratischer Sozialismus als Alternative zur kapitalistischen Barbarei wird im 21. Jahrhundert zur entscheidenden Aufgabe."; "Kapitalismus und Krieg bilden eine Einheit."; "Die Herrschaft der Männer über die Frauen ist aufs Engste mit den kapitalistischen Herrschaftsund Knechtschaftsverhältnissen verbunden."; "Wir 30 WOLF, Führungsfigur im PDS-Landesverband und Anhänger der fundamentaloppositionellen Strömung in der Partei, ist auch Mitglied des "Marxistischen Forums" (MF). Weiter bestand eine Mitgliedschaft in der inzwischen aufgelösten linksextremistischen "Vereinigung für Sozialistische Politik" (VSP). 74 lehnen ein Denken und Handeln in Kategorien von Abschreckung, Bedrohung und Kriegführung ab. Gleichzeitig respektieren wir das Recht von Befreiungsbewegungen und fortschrittlichen Regierungen, sich gegen militärische Angriffe und Unterdrückung in letzter Konsequenz auch bewaffnet zu verteidigen."31 Ähnliche Töne stimmte WOLF mit den "Zehn Thesen zum Terrorismus und zur Logik der militärischen Gegenschläge" in Auseinandersetzung mit den Ereignissen vom 11. September 2001 auf seiner Internet-Homepage an. Darin verurteilte er in erster Linie die Reaktion der USA wie auch der NATO und stellte fest: "Längst stehen im Mittelpunkt nicht die Terrorakte, sondern das, was offiziell als 'Reaktionen' auf dieselbe ausgegeben wird. Und diese so genannten 'Reaktionen'...laufen auf eine umfassende Kriegstreiberei hinaus."32 Des Weiteren formulierte er, wie er es selbst nannte, eine "traditionelle marxistische Kritik am individuellen Terror" dahingehend, "dass Akte des individuellen Terrors ...darin münden, dass diejenigen, die allein die wirksamen Möglichkeiten zur Gegenwehr - gegen Unterdrückung, gegen Ausbeutung... gegen die Folgen von 'Globalisierung' - hätten, mit solchen Terrorakten hilflos gemacht und politisch 'entwaffnet' werden". Damit werde zum einen der Eindruck erweckt, dass "bestenfalls kleine Gruppen von hochspezialisierten Terroristen Widerstand leisten können." Andererseits verstärkten die Gegenschläge der USA und die "dann eingeleiteten Reaktionen von Rache, Vergeltung und militärischer Logik noch das Gefühl der Ohnmacht." Der anlaufende "militärische Automatismus" der "Herrschenden" vermittele nicht nur die Botschaft, dass jeder "Widerstand" zwecklos sei, sondern zugleich die weitergehende Zielsetzung: "Die US-Regierung und die hinter ihr stehenden maßgeblichen Vertreter der großen Konzerne, der Banken und insbesondere des militärisch-industriellen Komplexes sind gewillt, diese Anschläge in schamloser Weise zu einer umfassenden Militarisierung von Politik und zu einer Kriegstreiberei zu nutzen. Sie wollen schlicht unter zynischer Ausnutzung bzw. Instrumentalisierung der realen und berechtigten Betroffenheit die allge31 Broschüre: Programm der PDS. Entwurf 2.2. Dokumentation: Antrag zur Programmdebatte von Ellen Brombacher, Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer und Dr. Winfried Wolf; Brief von 25 Intellektuellen zur Programmdebatte an den Parteivorstand der PDS, S. 5, 7, 8; Fehler im Original. 32 Fehler im Original. 75 meine Tendenz kapitalistischer Politik nach Militarisierung und der Eroberung von Terrain durch Rüstung und Krieg vorantreiben." Der Krieg stehe in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den Terroranschlägen, sondern - so konstatierte WOLF - "Militarisierung und Kriegstreiberei sind eine allgemeine Tendenz im Kapitalismus...". Neben den eigentlichen Beweggründen, zu denen angeblich auch die erhofften Milliardenaufträge für die Rüstungsindustrie und die Chance zu einem Test neuer Waffengattungen gehörten, glaubte er - wie im Übrigen alle Linksextremisten - als innenpolitische Folge auch in der Bundesrepublik den von "reaktionäre[n] Politiker[n] wie Schily" betriebenen "Abbau demokratischer Rechte" sowie den "Ausbau der Tendenz zum starken Staat" erkennen zu müssen. Vor dem Hintergrund der Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 zog der Bundesvorstand der PDS seinen Entwurf für ein neues Parteiprogramm zurück und formulierte einen neuen Entwurf zum Leitantrag für den Dresdner Parteitag vom 6. bis 7. Oktober 2001. Darin wird die Beschlussfassung über ein neues Programm bis ins Jahr 2003 verschoben. Dieser mehrheitlich verabschiedete Leitantrag betonte allerdings ausdrücklich, dass an der Grundorientierung des Programms von 1993 festgehalten werden soll. Wörtlich zitiert wird darin ausgerechnet eine der Kernaussagen des alten, weiterhin gültigen Programms.33 Daran wird deutlich, dass sich, abgesehen von einer vom Bundesvorstand angesteuerten politischen Akzentverschiebung im Hinblick auf die angestrebte Regierungsfähigkeit der Partei, an der grundsätzlich systemoppositionellen Haltung der PDS in absehbarer Zeit nichts ändern dürfte. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: 450 Baden-Württemberg (2000: unter 500) über 4.500 Bund (2000: über 4.500) Publikation: "unsere zeit" (uz) 33 PDS Baden-Württemberg (Hrsg.): Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, S. 11. 76 Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) kämpft seit Jahren mit gleichbleibenden Problemen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms als auch in Bezug auf Mitgliederentwicklung und finanzielle Lage. Auch 2001 riss die Programmdebatte nicht ab. Als Eckpunkte formulierte der Parteivorsitzende und Leiter der Programmkommission, Heinz STEHR, ein weiteres Mal den "Sozialismus als strategisches Ziel". Er sah unverändert die Notwendigkeit, sich die Lehren von Marx, Engels und Lenin anzueignen, um "kommunistische Zukunftspolitik" zu gestalten. Als das Wesen kommunistischer Politik definierte er "heute wie damals und für den nächsten Zeitraum Systemopposition, das heißt, sie ist antikapitalistisch, antiimperialistisch, antifaschistisch."34 Ein herausragendes Ereignis war für die DKP das "12. uz-Pressefest" vom 22. bis 24. Juni 2001 in Dortmund. Es war gleichzeitig ein markanter Höhepunkt der "Kampagne zur Stärkung der DKP - für eine Wende in der uz-Entwicklung", die der 15. Parteitag im Juni 2000 beschlossen hatte und die am 1. September 2000 gestartet worden war. Diese schlug sich jedoch in der Berichterstattung des Parteiorgans "unsere zeit" (uz) selbst verhältnismäßig wenig nieder. Nach den im Rahmen dieser Kampagne formulierten Zielvorgaben sollten drei Prozent mehr Mitglieder geworben werden. Dies ist nach Eigenangaben der Partei angeblich mit einem realen Mitgliederzuwachs von 154 Personen gelungen. Für die uz sollen 85 Neuabonnenten gewonnen worden sein. In durchaus realistischer Selbsteinschätzung sieht die DKP darin jedoch noch keineswegs eine Stabilisierung ihrer Situation. Ein Versuch, politische Präsenz zu zeigen, war die Entscheidung zur Teilnahme an der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 25. März 2001. Hier kandidierte die DKP in sechs von insgesamt 70 Wahlkreisen (Stuttgart III und IV, Heidenheim, Heidelberg, Freiburg I und II). Das ernüchternde Ergebnis weist auf den weiteren Niedergang der Partei hin: Selbst in den Wahlkreisen, in denen sie auch 1996 kandidiert hatte, blieb sie knapp bis deutlich unter den damaligen Resultaten. Insofern hat sich auch ihr Schachzug, zugunsten jüngerer und weiblicher Kandidaten auf bekannte ältere Lokalgrößen zu verzichten, nicht ausgezahlt. Auch vermochte sie vom gleichzeitigen Wahlverzicht der PDS und der MLPD nicht zu profitieren. 34 uz vom 6. Juli 2001, S. 8. 77 Gleichwohl war die DKP bemüht, immerhin in Heidenheim, einer ihrer "Hochburgen", im Rahmen des Landtagswahlkampfs eigene Akzente zu setzen: Gemeinsam u.a. mit ihrer Jugendorganisation, der "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ), und der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) rief sie am 10. März 2001 zu einer Kundgebung und Demonstration "Miteinander gegen Rechts! Bunt statt braun" auf. Wie jedes Jahr organisierte die SDAJ außerdem regionale "Pfingstcamps" mit "Veranstaltungen und Workshops zu Antifaschismus, Arbeit, Ausbildung, Militarismus etc.". Eines davon, das sogenannte "Südcamp", fand vom 1. bis 4. Juni 2001 in Hermaringen/Krs. Heidenheim auf der Güssenburg statt. Nach Eigenangaben sollen knapp 200 Personen teilgenommen haben und 10 Neueintritte in die Jugendorganisation zu verzeichnen gewesen sein. Anknüpfend an den angeblichen Erfolg des Vorjahres führte auch die DKPKinderorganisation "Rote Peperoni" Baden-Württemberg wiederum ihre traditionellen Ferienlager durch. Die zwei Veranstaltungen fanden bewusst zu verschiedenen Zeitpunkten statt, um, wie die uz in ihrer Ausgabe vom 24. August 2001 berichtete, der gestiegenen Nachfrage entsprechen zu können. 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: 1.400 Baden-Württemberg (2000: ca. 1.500) ca. 5.000 Bund (2000: ca. 5.000) Publikationen: "Antifa Nachrichten" "antifa-rundschau" Die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) verfolgte wie in den Vorjahren eine zweigleisige Taktik: Auf der einen Seite arbeitete sie weiter an ihrem angestrebten Image einer in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus verdienstvollen demokratischen Organisation und 78 verwahrte sich erneut gegen ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Auf der anderen Seite erklärte sie wie selbstverständlich auch Linksextremisten zu ihren Bündnispartnern. Letzteres wiederum stimmte mit Teilen ihrer politischen Praxis überein wie auch damit, dass sie weiterhin eine Reihe von linksextremistischen Positionen teilte. Gleichwohl ist der prägende Einfluss der DKP auf den Landesverband der VVN-BdA unverändert vorhanden, unabhängig davon, dass ihm eine Vielzahl von Mitgliedern demokratischer Vereinigungen angehören. In der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" vom 18. Juli 2001 äußerte der Bundessprecher der VVN-BdA, Ulrich SANDER: "Für uns ist die politische Organisation kein Selbstzweck. Wir gehen Bündnisse mit verschiedenen gesellschaftlichen Kräften ein, also mit Gewerkschaften, verschiedenen Parteien, Migrantenorganisationen bis zu autonomen antifaschistischen Kräften..." Im weiteren Verlauf des Interviews sagte er weiter: "Die VVN war und ist eine Bündnisorganisation, in der ganz verschiedene antifaschistische Kräfte Platz haben. Dazu gehören nicht zuletzt aus ihrer Leistung im antifaschistischen Handeln begründet auch die Kommunisten..." Tatsächlich kam es auch 2001 zu einer Vielzahl von Kontakten zu beziehungsweise zur Zusammenarbeit mit linksextremistischen und linksextremistisch beeinflussten Organisationen und Gruppierungen bis hin zu Autonomen: Dies galt etwa für die Organisation einer Demonstration gegen Rechtsextremismus und Rassismus am 27. Januar 2001 in Freiburg oder den Aufruf zu einer weiteren Demonstration und Kundgebung "Gegen rechts" im März 2001 in Heidenheim. In Heidelberg warb die VVN-BdA im April 2001 gemeinsam mit der autonomen "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" für die Teilnahme an einem "antifaschistischen Stadtrundgang" unter dem Motto "Studentenverbindungen und Nationalsozialismus". In Ludwigsburg luden im Februar 2001 die VVNBdA und die "Autonome Antifa" zu einer Vortragsund Diskussionsveranstaltung über die Partei "Die Republikaner" (REP) ein. Zusammen mit der linksextremistischen "Roten Antifa Karlsruhe" (RAK) veranstaltete die VVN-Jugendantifa 2001 die alljährliche "Einheizfeier" der Karlsruher Szene: Auf dem Programm standen eine am 2. Oktober "Gegen Repression und Polizeiterror!" durchgeführte Demonstration, am 5. Oktober eine Veranstaltung "...zu Repression, Polizeiterror und den Verfassungsschutz"35 in der "Ex35 Fehler im Original. 79 Steffi", dem zentralen "Wohnund Kulturobjekt" der Karlsruher autonomen Szene, sowie schließlich eine "Solibar" für "die Opfer der Staatsgewalt". Einen Einblick in das Demokratieverständnis der VVN-BdA gibt ihre Reaktion auf die Wiederzulassung des "Heß-Marschs" am 18. August 2001 in Wunsiedel. In den "Antifa Nachrichten" wurde ein Bundessprecher der Organisation mit dem Kommentar zitiert, das Bundesverfassungsgericht habe diesen Marsch und damit Werbung für den Nationalsozialismus mit seinen Urteilen, "in denen verfassungswidrige faschistische Propaganda zur 'missliebigen Meinung' verniedlicht wird"36, möglich gemacht. Damit wird dem höchsten deutschen Gericht nicht nur willkürliche Verharmlosung des Rechtsextremismus, sondern zugleich dessen Förderung unterstellt. Des Weiteren wird in demselben Artikel die Feststellung des Gerichts, dass Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit - als Voraussetzung für ein Verbot der Veranstaltung - nicht erkennbar seien, als "Rechtsbeugung im Amt" bezeichnet, denn der Nationalsozialismus sei "getreu des Artikel 139 Grundgesetz keine Meinung, sondern ein Verbrechen."37 Die Unterstellung willkürlichen, nicht rechtsstaatlich gedeckten Handelns wird begründet mit einer überaus eigenwilligen Berufung auf das Grundgesetz (GG): aus Artikel 139 GG, der seinerzeit festlegte, dass die "Vorschriften zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus" weiterhin Gültigkeit besitzen, wird nicht nur ein fortbestehendes grundsätzliches Verbot "faschistischer", d.h. rechtsextremistischer Parteien und Organisationen, sondern auch die immer wieder behauptete, angeblich "antifaschistische" Ausrichtung des Grundgesetzes abgeleitet. Wenig bekannt ist, dass Artikel 139 GG zu den Übergangsund Schlussbestimmungen des Grundgesetzes gehört, die nur für einen bestimmten Zeitraum Geltung besaßen, die aber - wie im Falle des Artikels 139 - mit dem Abschluss der so genannten "Entnazifizierung" obsolet geworden sind und damit seither keinerlei Rechtsfolgen nach sich ziehen. Von einem wirksamen Fortbestand und normativen Charakter im Sinne einer Grundaussage über das Verhältnis des Grundgesetzes zum Nationalsozialismus beziehungsweise Faschismus kann nicht ausgegangen werden. Das Grundgesetz lehnt vielmehr durch seine Entscheidung für die freiheitliche demokratische Grundordnung totalitäre Staats36 "Antifa Nachrichten" Nr. 4 vom Oktober 2001. 37 Fehler im Original. 80 formen aller Art ab, was sich besonders im Prinzip der "streitbaren Demokratie" und seinen Schutzmechanismen äußert. Trotzdem versucht die VVN-BdA, mit Parolen wie "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen", die über das linksextremistische Lager hinaus Akzeptanz gewonnen haben, ihre Interpretation in die Öffentlichkeit zu tragen und meinungsbildend zu wirken. Sie ist der Auffassung, dass Rechtsextremisten eine öffentliche Meinungsäußerung generell verwehrt werden sollte. Grundrechte dürften somit nicht für alle gelten. Deutsche Gerichte, die die Allgemeingültigkeit von Grundrechten nach der Verfassung anmahnten, handelten willkürlich und begingen Rechtsbeugung. Ein solches Demokratieverständnis ist nicht mit dem unseres demokratischen Rechtsstaats vereinbar. 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 700 Baden-Württemberg (2000: ca. 700) ca. 2.000 Bund (2000: unter 2.000) Publikationen: "Rote Fahne" (RF) "Lernen und Kämpfen" (LuK) "Rebell" Mitgliederwerbung auf dem Weg zur "Massenpartei" und die Suche nach finanziellen Ressourcen blieben auch 2001 Schwerpunkte der Aktivität der "MarxistischLeninistischen Partei Deutschlands" (MLPD). Die Spendenkampagne des Jahres 2000 "zur Stärkung der sozialistischen Alternative" fand ihre Fortsetzung ab dem 1. März 2001 in der Einführung der Möglichkeit zum Erwerb einer "Zukunftsaktie" ("Jede Mark gefragt für eine starke MLPD"). Damit sollten der Parteiaufbau und der Landtagswahlkampf 2002 in Sachsen-Anhalt finanziert werden. Durch den Kauf dieser "Zukunftsaktie" wurden eigenen Angaben zufolge bis Mitte Oktober 2001 allein in BadenWürttemberg Spenden in Höhe von über 8.700 Euro (17.000 DM) eingenommen. Große Aufmerksamkeit widmete die MLPD der "kämpferischen Frauenbewegung". Auf der Grundlage des im Jahr 2000 erschienenen, vom Parteivorsitzenden Stefan ENGEL 81 und seiner Frau verfassten Buchs "Neue Perspektiven für die Befreiung der Frau - Eine Streitschrift", einer, wie es weiter heißt, "marxistisch-leninistische[n] Untersuchung der gesellschaftlichen Ursachen der doppelten Ausbeutung und Unterdrückung der Frau im Kapitalismus", wurden zahlreiche Buchlesungen, Seminare und Diskussionsveranstaltungen auch in Baden-Württemberg angeboten, u.a. in Stuttgart, Freiburg und Karlsruhe. Mit dieser Konzentration ihrer Kräfte "auf die Stärkung der kämpferischen Frauenbewegung" hatte die Partei auch ihren Verzicht auf eine Teilnahme an der Landtagswahl begründet und statt dessen mit der aktiven Beteiligung am Internationalen Frauentag vom 8. März einen weiteren Schwerpunkt gesetzt. Nachdem sich die MLPD schon 1999 im Zusammenhang mit der NATO-Militäraktion im Kosovo in der Öffentlichkeit mit Antikriegsprotesten zu profilieren versucht hatte, entfaltete sie im Rahmen der Friedensdemonstrationen gegen die Vergeltungsangriffe der USA auf das Taliban-Regime in Afghanistan erneut reges Engagement. Unter der Parole "Aktiver Widerstand gegen Bushs 'New War' und dessen Unterstützung durch die Bundesregierung" beteiligte sie sich unter anderem an den beiden Großdemonstrationen in Berlin und Stuttgart am 13. Oktober 2001 sowie weiteren Kundgebungen in Baden-Württemberg, um aktiv zu einer Wiederbelebung der "Friedensbewegung" beizutragen. Der damit verbundenen Intention, den eigenen Bekanntheitsgrad zu steigern und neue Mitglieder zu gewinnen, dienten auch die traditionellen Veranstaltungen wie das "10. Internationale Pfingstjugendtreffen" in Gelsenkirchen, an dem, wie üblich, neben der MLPD auch deren Vorfeldorganisation "Solidarität International" (SI), der "Frauenverband Courage" sowie die Jugendund Kinderorganisationen "Rebell" und "Rotfüchse" beteiligt waren. Insbesondere Veranstaltungen wie das alljährliche "Sommercamp" bezweckten u.a. das spielerische Heranführen der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen an die Arbeit und Ideologie der Partei. Der MLPD-beeinflusste "Frauenverband Courage" feierte am 20. Oktober 2001 in der Fellbacher Schwabenlandhalle sein zehnjähriges Bestehen. An dieser bundesweiten Großveranstaltung nahmen bis zu 700 Personen teil. 82 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1974 Sitz: Göttingen Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2000: ca. 260) über 4.000 Bund (2000: ca. 4.000) Publikation: "Die Rote Hilfe" Im Unterschied zum vergangenen Jahr ist die "Rote Hilfe e.V." 2001 auffallend selten in Erscheinung getreten. Ihre 2000 gestartete Kampagne "Freilassung für die politischen Gefangenen aus der RAF"38 fand im linksextremistischen Spektrum keine nennenswerte Resonanz. Dennoch sind die Mitgliederzahlen erneut leicht angestiegen. Dieser im Vergleich zur Entwicklung anderer linksextremistischer Organisationen eher untypische Trend dürfte auf die eigene Aufgabenstellung der "Roten Hilfe e.V." zurückzuführen sein. Zu dieser gehört vor allem die finanzielle Unterstützung von Betroffenen der "politischen Repression" - ein Personenkreis, der in den vergangenen Jahren deutlich erweitert wurde: Nicht nur die Gefangenen aus der RAF und ihre Angehörigen dürfen auf praktische Solidarität etwa in Form der Übernahme von Anwaltsund Prozesskosten hoffen. Diese Hilfe wird längst auch "Antifaschisten", "Antimilitaristen" und "Totalverweigerern", "Internationalisten", "Antirassisten", "CASTOR-Gegnern" und inzwischen auch im Zusammenhang mit den Antiglobalisierungsprotesten inhaftierten deutschen Straftätern zuteil, die wegen diverser Strafdelikte bis hin zu schwersten Gewalttaten, u.a. bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, angeklagt oder verurteilt wurden. Hintergrund und Selbstverständnis dieser Solidarität hat die "Rote Hilfe" dahingehend definiert, dass "Solidarität... Grundlage linker Politik" sei: "In allen kapitalistischen Staaten dient die (Klassen)Justiz der Sicherung der herrschenden Ordnung. Seitdem es politische Justiz gibt, ist es ihre Aufgabe, Einzelne aus revolutionären oder oppositionellen Bewegungen zu reißen und in die Knäste zu sperren - mit dem Ziel, die Einheit und Entschlossenheit der Kämpfe zu zersplittern, die diese für eine Gesellschaft fechten, in der die freie Entfaltung des Individuums Bedingung ist für die 38 Kürzel für die 1998 aufgelöste "Rote Armee Fraktion". 83 freie Entfaltung aller. ... In der Solidarität mit den politischen Gefangenen vermag sich das gemeinsame Ziel der Kämpfe, die solidarische Gesellschaft, abzubilden."39 Erneut stand 2001 der alljährliche bundesweite Aktionstag "18.3. Freiheit für alle politischen Gefangenen" im Mittelpunkt der Aktivitäten. Dessen unverändertes Ziel ist es, "gegen staatliche Unterdrückung und Repression in die Öffentlichkeit zu gehen". Hier war die "Rote Hilfe e.V." zudem Mitinitiator einer Kundgebung und Demonstration in Stuttgart am 17. März 2001. Zusätzlich veröffentlichte der Bundesvorstand der "Roten Hilfe e.V." eine Sonderzeitung mit dem Titel "Heraus mit den politischen Gefangenen", die am 14. März 2001 als Beilage in der linksextremistischen Tageszeitung "junge Welt" erschien. Darin befassen sich die einzelnen Beiträge mit der Entstehung des 18. März als "Tag der politischen Gefangenen" und dem Schwerpunktthema Hungerstreik, mit Berichten u.a. aus Frankreich, Spanien und der Türkei. Die Wahl sei, so heißt es, u.a. deswegen auf dieses Thema gefallen, weil der Hungerstreik zeige, "dass der politische Kampf nicht mit der Verhaftung aufhört. Auch im Knast finden viele Linke politische Handlungsmöglichkeiten und lassen sich nicht durch ihre Peiniger im Willen brechen."40 4.6 Sonstige Organisationen Im Zusammenhang mit den Ereignissen des vergangenen Jahres haben insbesondere trotzkistische Organisationen einen spürbaren Aufschwung genommen. Im Vergleich zum Vorjahr ist "Linksruck" noch stärker in Erscheinung getreten. Örtliche Schwerpunkte sind Freiburg und Konstanz geblieben. Über das Engagement in verschiedenen politischen Themenbereichen wie den Protesten gegen CASTOR-Transporte strebte die Organisation vor allem aber im Rahmen der "Antiglobalisierungsbewegung" an, in der öffentlichen Wahrnehmung präsent zu sein und neue Mitglieder zu gewinnen. Die "Sozialistische Alternative Voran" (SAV) versuchte mit der Gründung von Gruppierungen unter der Bezeichnung "Widerstand International" zumindest in Ansätzen eine neue Jugendbewegung gegen "Globalisierung" und "Kapitalismus" in Gang zu set39 "18.03.2001. Tag der politischen Gefangenen", Sonderzeitung der Publikation "Die rote Hilfe", S. 2. 40 Ebd. 84 zen. Sie erreichte bei den Landtagswahlen vom März 2001 außerdem mit einer Einzelkandidatur in Stuttgart 0,4 % der Stimmen. Ein Einzelkandidat des "RevolutionärSozialistischen Bundes" (RSB) erzielte bei der Landtagswahl am 25. März 2001 in Mannheim 0,3 % der Stimmen. 5. Aktionsfelder 5.1 "11. September 2001" Die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 haben auch im linksextremistischen Spektrum Betroffenheit ausgelöst. Das DKP-Zentralorgan "unsere zeit" (uz) etwa verurteilte in einer Extraausgabe die Anschläge, "denn sie verändern politische und soziale Entwicklungen nicht zu Gunsten der arbeitenden Bevölkerung."41 Der Vorsitzende der MLPD, Stefan ENGEL, lehnte in einer Stellungnahme "solche individuellen und massenfeindlichen Terrorakte grundsätzlich" ab, denn "der Imperialismus" könne "nur durch den Kampf der Arbeiterklasse und der Völker selbst geschlagen werden."42 Oftmals war aber die Betroffenheit reduziert auf die zu beklagenden Opfer oder selektiver noch auf die Betroffenen aus der "Arbeiterklasse". Nicht wenige der ersten Stellungnahmen hatten die Frage nach den Tätern bewusst offen gelassen. Als sich die Hinweise darauf verdichteten, dass die Verantwortlichen für die Anschläge in islamistischen Kreisen zu suchen waren, wurde dies hingegen als die bewusste Etablierung eines neuen rassistischen Feindbilds interpretiert, das nun ebenfalls zur Verwirklichung bislang nicht durchsetzbarer Ziele der USA instrumentalisiert werde. Wie an der zeitnahen Veröffentlichung einer Reihe von Verlautbarungen deutlich wurde, bereitete den Parteien und Organisationen die Einordnung der Vorfälle in das eigene ideologische Weltbild offenbar keine Probleme. Deutlich schwerer tat sich hingegen die autonome Szene. Anfänglich nur vereinzelt aufgetauchte Erklärungen bewegten sich angesichts der Vielzahl der Opfer zunächst auf der Ebene des Entsetzens. Die in der Folgezeit in der Szene formulierte Kritik, nicht in dieselben "gesellschaftskonformen Standardreaktionen" und in die von den "Herrschenden" vorgegebenen reaktionären 41 uz-Extrablatt vom 12. September 2001. 42 "Rote Fahne" Nr. 37 vom 14. September 2001. 85 Denkschemata vom Kampf "des Guten gegen das Böse" zu verfallen, mündeten in Appelle, statt dessen die Situation zu nutzen, um den Protest gegen ein angeschlagenes, weltweites kapitalistisches System zu forcieren. In weiten Teilen des dogmatischen Linksextremismus war das Wiederaufbrechen eines "Anti-Amerikanismus" unübersehbar, indem die Terroranschläge in einen kausalen Zusammenhang mit der von den USA angeblich über lange Jahre praktizierten globalen "Ausbeutungsund Unterdrückungspolitik" gebracht wurden. Die vermeintliche Folge, nämlich eine ständige Verschärfung des wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälles, galt folglich als die eigentliche Ursache für die Gewaltakte, die sodann als legitimer Kampf von "Arm gegen Reich" angesehen wurden. In diesem Sinne äußerte sich etwa der "Revolutionär Sozialistische Bund" (RSB) Mannheim in einem Flugblatt "Nein zum Terror, nein zum Krieg!": "Wen auch immer die USA mit Unterstützung der NATO angreifen werden, die sozialen Wurzeln des Terrorismus werden nicht beseitigt werden: die verheerende Auswirkung der 'Globalisierung' unter US-Führung. Es droht stattdessen eine neue Welle kriegerischer und terroristischer Gewalt weltweit. Es droht die weitere Verschärfung von Rassismus und Antisemitismus. Es droht noch mehr Ausgrenzung, Aushebelung demokratischer Rechte und Ausdehnung der Kluft zwischen arm und reich."43 Der uz-Chefredakteur Rolf PRIEMER formulierte bereits am 12. September 2001: "Wer Wind sät, wird Sturm ernten - so heißt ein deutsches Sprichwort. Ja, die Vereinigten Staaten von Amerika ernten nun, was sie gesät haben. Ausbeutung und Unterdrückung, Mord und Terror... schlägt nun ins eigene Gesicht."44 Eine solche Sichtweise wurde von einem Großteil des autonomen Spektrums nicht vollständig geteilt. Zwar war man ebenfalls der Meinung, dass den USA die Rechnung für ihre Politik präsentiert worden sei, doch glaubte man hinter Osama Bin LADIN als dem mutmaßlichen Urheber der Anschläge ebenfalls nichts anderes als einen Vertreter einer "autoritär-hierarchischen, letztendlich faschistischen Politik und Ideologie" erkennen zu können. 43 Fehler im Original. 44 uz-Extrablatt vom 12. September 2001. 86 Einigkeit bestand hingegen bei der Bewertung der von den USA in Afghanistan zur Terrorismusbekämpfung durchgeführten Militärschläge. Diese wurden ausnahmslos als "imperialistische Kriegsführung" einer "militarisierten Gesellschaft" verurteilt. Eine recht vordergründige Polemik charakterisierte den Krieg als eine von den beteiligten "kapitalistischen Ländern" angeblich lang ersehnte Chance, um zum einen die geostrategischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Machtpositionen auszubauen. Zum anderen hätte diese ihn als Rechtfertigung dafür benutzt, um im Rahmen der weltweiten wirtschaftlichen Rezession einen weiteren Abbau sozialer Standards zu Lasten der "Arbeiterklasse" vornehmen zu können. Die Terrorismusbekämpfung habe den benötigten Vorwand geliefert, um die Aufrüstung nach Außen sowie verstärkte Repression nach Innen auszubauen. Auf entschiedenen Widerspruch bei Linksextremisten stieß auch der Aufruf der Bundesregierung zur "bedingungslosen Solidarität" mit den USA. So betonte die "Rote Antifa Karlsruhe" (RAK) in einem Flugblatt: "Wir pfeifen... auf die Betonung der Verbundenheit mit den USA. Denn schon längst befindet sich Deutschland mit der 'westlichen Gemeinschaft' auf dem gemeinsamen Kreuzzug um die Zurichtung der Welt nach ihren Interessen. Und ihre Botschaft ist grausam: niemand hat das Recht, dem kapitalistischen System entgegenzutreten!" 5.2 Innere Sicherheit Schon vor den Ereignissen des 11. September 2001 hatte das Thema "Innere Sicherheit", "deren Ziel nichts weiter ist als die Verschleierung von Armut und die Zementierung der Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnisse", neue Nahrung erhalten. Auslöser war in Baden-Württemberg u.a. die Vorreiterrolle der Stadt Mannheim beim Einsatz von Videokameras zur polizeilichen Überwachung krimineller Brennpunkte im öffentlichen Raum. Anlässlich eines Treffens der Innenminister der CDU-regierten Länder kam es am 13. Februar 2001 zu einer Demonstration in der Innenstadt unter dem Motto "Kameras weg - für eine überwachungsfreie Gesellschaft". Die Demonstration richtete sich gegen den mit einer Videoüberwachung verbundenen angeblichen Abbau demokratischer Rechte und den Ausbau des "Polizeistaates" "a la George Orwell" durch fortschreitende "Überwachung" und "Bespitzelung". In diesen Zusammenhang gehörte auch 87 die Agitation gegen die DNA-Analyse als neue technische Möglichkeit der Verbrechensaufklärung oder gegen die Speicherung des "genetischen Fingerabdrucks". Schon die gewaltsamen Ausschreitungen im Rahmen der Antiglobalisierungsproteste hatten den Staat aus Sicht der Szene zu Überlegungen veranlasst, die Zügel der "Repression" stärker anzuziehen. Aus dieser Perspektive haben nun die Terroranschläge in den USA den letzten und entscheidenden Vorwand geliefert, um den Ausbau des "Polizeiund Überwachungsstaats" noch hemmungsloser vorantreiben zu können. Die von Bundesinnenminister Otto Schily im Rahmen der "Sicherheitspakete" vorgeschlagenen Maßnahmen, darunter die besonders heftig attackierte Einführung der "Rasterfahndung", repräsentierten einen angeblich nunmehr völlig entfesselten Staat. So trat etwa der PDS-Landesverband Baden-Württemberg in seiner Presseerklärung vom September 2001 "jeder Mobilmachungsstimmung und Kriegshetze" entgegen und mahnte, Terrorakte dürften "nicht zum Vorwand genommen werden, Konflikte weltweit zu verschärfen und im Land demokratische Rechte abzubauen." Die Diskussion um den Begriff "Terrorismus" und Versuche einer umfassenden Definition, wie er etwa von der "Europäischen Union" unternommen wurde, hätten gezeigt, wohin die Reise gehe. Solche Schlagworte seien von den "Herrschenden" benutzt worden, um damit die öffentliche Legitimation dafür zu erlangen, jeden zu bekämpfen, der das staatliche Gewaltmonopol nicht anerkenne. Unter dem Leitwort "Innere Sicherheit" sei nunmehr versucht worden, unliebsame Kritiker und Gegner durch verstärkte Repression und Überwachung einzuschüchtern und zu schwächen und damit aktuelle und gerade für die linksextremistische Szene vielversprechende Ansätze einer sozialrevolutionären Bewegung wie den Antiglobalisierungsprotest im Keim zu ersticken. Bei der "floskel" von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sei es faktisch, so schrieb die Freiburger Szeneschrift "Koraktor", um den "abbau weiterer grundund persönlichkeitsrechte..., die weitere verschärfung des asylgesetzes und rassistische hetze gegen minderheiten sowie endlose militarisierung, noch mehr sparmaßnahmen, weiterer sozialabbau...(gegangen)." Der Krieg gegen den Terrorismus ist daher aus Sicht der Szene "der Krieg gegen uns und gegen alle sozialen errungenschaften, die dem direkten verwertungsinteresse des kapitals entgegenstehen. ...die schwarze liste der schweine ist lang. der krieg mit dem äußeren feind zähmt die innere opposition und schweißt die gesellschaft - ausnahmen bestätigen die regel - zur homogenen volksgemeinschaft zu88 sammen. kapitalismuskritik und widerstand gegen das system werden so wirkungsvoll unterdrückt..."45 Geradezu trotzig klang demgegenüber die Aufforderung, "anstatt uns entmutigen zu lassen und den aktuellen angriffen der herrschenden tatenlos ins gesicht zu blicken... genau dort weiterzumachen, wo wir vor den anschlägen angefangen haben. beim kampf gegen den kapitalismus, der die ganze scheiße, die armut, den wahnsinn und den terror überhaupt erst hervorbringt."46 5.3 Antiglobalisierungsbewegung Die gewalttätigen Ausschreitungen anlässlich des G-8-Gipfels vom 20. bis 22. Juli 2001 in Genua waren der bisherige Höhepunkt einer national und international organisierten Protestbewegung, die seit den militanten Massendemonstrationen gegen die Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) vom 30. November 1999 in Seattle zunehmend an Brisanz gewann. Dabei handelt es sich um ein Konglomerat von Organisationen, Gruppierungen und Netzwerken unterschiedlicher politischer Ausrichtung, das keineswegs per se als extremistisch eingestuft werden kann. Gemeinsamer Nenner ist die Gegnerschaft zur "Globalisierung" und zum "Neoliberalismus". Die Motivationsbandbreite reicht dabei von diffusen Ängsten und Ablehnung solcher Phänomene über die Entwicklung von Reformierungsvorstellungen bis hin zum Ziel, solche "kapitalistischen" Strukturen zu überwinden und die grenzüberschreitende Macht des "Kapitals" zu bekämpfen. Für Linksextremisten sind die beiden Schlüsselbegriffe "Globalisierung" und "Neoliberalismus" nichts anderes als Synonyme für die weltweite Ausbeutung und menschenverachtende Verwertungsideologie des verhassten Kapitalismus. Die Antiglobalisierungsbewegung besteht demzufolge aus einer bunten Mischung von Vertretern dogmatischer linksextremistischer - darunter vor allem trotzkistischer - Parteien und sonstigen Vereinigungen, anarchistisch-autonomen Zusammenhängen, aber zu großen Teilen auch aus Vertretern nichtextremistischer Organisationen. Nach den Vorstellungen der linksextremistischen Szene sollte in Genua "die größte antikapitalistische Protestmobilisierung der letzten Jahre in Europa" mit einer erwarteten 45 "Koraktor" (Freiburg) vom November 2001, S. 6, Fehler im Original. 46 Ebd., Fehler im Original. 89 Teilnehmerzahl von bis zu 200.000 Personen erfolgen. Bereits Wochen vor dem Großereignis waren die geplanten Proteste im gesamten linksextremistischen Spektrum in Veranstaltungen und Publikationen thematisiert worden. Vertreter der italienischen linksextremistischen Gruppierungen "Ya Basta!" und "Tute Bianche" führten zudem bereits Anfang Juni 2001 Informationsveranstaltungen u.a. in Ludwigsburg, Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg durch. Hoffnungen, auch in Baden-Württemberg ein nennenswertes Protestpotenzial ansammeln zu können, haben sich jedoch nicht erfüllt. Anlässlich des deutsch-französischen Gipfeltreffens in Freiburg am 12. Juni 2001 mobilisierte die linksextremistische beziehungsweise linksextremistisch beeinflusste regionale Szene u.a. mit einem "Aufruf zu einem bunten und vielfältigen PROTEST gegen ein Europa der Gewalt und Unterdrückung." In demselben Aufruf hieß es abschließend: "'Gegen alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist', setzen wir die Utopie einer klassenund staatenlosen Weltgesellschaft. Auch jenseits von Seattle und Prag gilt es, den Herrschenden klarzumachen, dass sie mit unserem Widerstand rechnen müssen. Reißen wir die Mauern ein, thematisieren wir den Rassismus des herrschenden Europas! Macht Protest zum Widerstand!" Allerdings blieb die erhoffte Resonanz weitestgehend aus. Im Rahmen eines für den 19. bis 22. Juli 2001 ausgerufenen "Global Action Day" im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel in Genua kam es in Baden-Württemberg landesweit neben regionalen Kundgebungen, Spontandemonstrationen und Mahnwachen insbesondere als Reaktion auf den Tod des italienischen Gewalttäters Carlo Giuliani auch zu erheblichen Straftaten mit insgesamt hohem Sachschaden. Dadurch, dass der Demonstrant im Verlauf massiver Ausschreitungen von der Polizei erschossen worden sei, ist aus Sicht der linksextremistischen Szene durch die Polizei eine neue Stufe der Eskalation ausgelöst worden. Unter Autonomen, so klang es in einem Nachbereitungstreffen zu den Ereignissen im Büro der PDS in Berlin-Kreuzberg an, gab es offenbar spontan Überlegungen, den bisherigen Konsens zu revidieren, beim Angriff auf Polizisten diese nicht zu töten oder schwer zu verletzen. Am 20. August, einem weiteren, im Gedenken an den in Genua getöteten Demonstranten ausgerufenen "globalen Aktionstag" kam es ebenfalls zu Sachbeschädigungen. An einem Stuttgarter Polizeirevier wurden neun geparkte Polizeifahrzeuge mit Acrylfar90 be beschädigt. In dem Bekennerschreiben eines "Kommandos Carlo Giuliani" hieß es dazu u.a.: "Der Anschlag ist eine von vielen Aktionen, die am vierwöchigen Todestag des von Bullen ermordeten Carlo bewiesen haben, dass sich unser Widerstand nicht niederknüppeln oder abknallen lässt. ... Die rote Farbe symbolisiert das Blut der Menschen, die an eine andere Welt glauben und dafür in Genua, Goeteburg und auf der ganzen Welt von Bullen und Militär unter pseudo-demokratischem, kapitalistischem Diktat ermordet und gefoltert wurden und werden."47 In der Auseinandersetzung der autonomen Szene mit den Ereignissen in Genua wurde deutlich, dass es sich bei den gewalttätigen Ausschreitungen keineswegs etwa um eine unpolitische Randale handelte. Vielmehr definiert sich die gewaltbereite Szene als Teil der Antiglobalisierungsbewegung, die Gewalt durchaus planmäßig und gezielt praktiziert. Die Stellungnahme etwa des autonomen Spektrums Stuttgart dazu war eindeutig: "So sind brennende Barrikaden und fliegende Steine kein 'Partyfeiern' durchtickender Jugendlicher, sondern absolut logische Konsequenz im Kampf gegen den Kapitalismus auf der Straße. Und dieser Kampf gegen den Kapitalismus, wenn er bis jetzt auch hauptsächlich auf der Straße, bei bestimmten Anlässen, wie irgendwelchen Weltbanktreffen, stattfindet, ist nötig für eine linke Perspektive. Eine Perspektive einer menschlicheren Gesellschaft und einer Alternative zum Kapitalismus."48 5.4 "Antifaschismus" Vor allem in der ersten Jahreshälfte 2001 war der "antifaschistische Kampf" erneut das primäre Aktionsfeld von Linksextremisten. Es blieb selbst bei zeitweiser Überlagerung durch neue Schwerpunkte wie den Terroranschlägen in den USA oder der "AntiGlobalisierung" weiterhin virulent. Den Höhepunkt bildete die Landtagswahl in BadenWürttemberg vom 25. März 2001. Während des Wahlkampfs stand vor allem die Agitation gegen die erneut kandidierenden rechtsextremistischen Parteien "Die Republikaner" (REP) sowie die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) im Vordergrund. Es kam zu zahlreichen linksextremistischen Protesten gegen Wahlkampfveranstaltungen, aber auch zu Drohschreiben an Gaststättenbetreiber, um sie zu veranlassen, ihre 47 Fehler im Original. 48 "aha! - Zentralorgan für bösartige Propaganda" Nr. 13 vom Sommer 2001, Fehler im Original. 91 Räumlichkeiten diesen Parteien nicht zur Verfügung zu stellen. Gegen den am 13. Januar 2001 in Mössingen-Talheim/Krs. Tübingen durchgeführten NPD-Landesparteitag demonstrierten ca. 300 Personen, darunter etwa 60-70 Angehörige der autonomen Szene Tübingen und Stuttgart. Parteitagsdelegierte wurden auf dem Weg zum Tagungsort mit Steinen, Pferdemist und Eiern beworfen sowie zwei PKW von Parteitagsteilnehmern beschädigt. In Ludwigsburg wurden im Zusammenhang mit Wahlveranstaltungen der REP an insgesamt fünf Gebäuden Sachbeschädigungen begangen mit einem Gesamtschaden von ca. 36.000 Euro (70.000 DM). Ein Bekennerschreiben forderte: "Keine Stimme - keine Räume für Republikaner - gemeinsam kämpfen auf allen Ebenen, mit allen Mitteln." Erneut wurde, wie in Heidelberg, das Thema Burschenschaften aufgegriffen oder gegen rechtsextremistische Verlage vorgegangen, so am 3. November 2001 gegen den Grabert-Verlag in Tübingen. Auch die Veranstaltungen zum 1. Mai standen vordringlich unter der Devise "gegen Faschismus und für einen roten 1. Mai" und damit im Zeichen der Gegenwehr gegen eine "Vereinnahmung" dieses traditionell "linken" Feiertags durch Rechtsextremisten. Nicht minder heftig beklagt wurde der "Themenund Parolenklau" durch den politischen Gegner wie im Falle der NPD, die ebenfalls mit dem Themenfeld "Antiimperialismus" agitierte. Linksextremistischer "Antifaschismus" richtete sich aber auch gegen einen angeblichen staatlichen "Rassismus", d.h. gegen "gnadenlose staatliche Ausgrenzungspolitik und Abschiebungen von Flüchtlingen" beziehungsweise gegen eine Ausländerpolitik der "Abschreckung, Kriminalisierung, Abschiebung". Um für das Bleiberecht einer kurdischen Familie und gleichzeitig gegen "Abschiebeterror" und "Staatsrassismus" zu demonstrieren, ketteten sich am 29. Oktober 2001 drei Angehörige der linksextremistisch beeinflussten Initiative "Kein Mensch ist illegal" am Gebäude des badenwürttembergischen Innenministeriums in Stuttgart an. In Flugblättern wurden der baden-württembergische Innenminister und der Ministerpräsident als "Rassisten alter Schule" angeprangert. Beim Versuch, "Nazi-Aufmärsche" zu verhindern, konnten linksextremistische "Antifaschisten" nur wenige Erfolge verbuchen. Unter den von Linksextremisten (mit)getragenen Gegendemonstrationen, die sich im weiteren Verlauf des Jahres wie92 derum in erster Linie gegen die NPD und die "Jungen Nationaldemokraten" (JN) richteten und die erneut teilweise von gewaltsamen Ausschreitungen sowohl gegen tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten als auch gegen Polizeikräfte begleitet waren, wurde etwa die Mannheimer 1. Mai-Demonstration als Erfolg gefeiert. Dort war es Autonomen gelungen, die NPD-Demonstration durch eine Blockade zu stoppen. Die Vielzahl staatlich geförderter und initiierter Programme und Projekte gegen Rechtsextremismus empfinden die linksextremistischen Antifaschisten als "staatlichen Antifaschismus". Dieser drohe, den linksextremistisch unterlegten "Antifaschismus", der als Ansatzpunkt zur Vermittlung antikapitalistischer Positionen dient, zunehmend zu überlagern und abzulösen. In der Menge der aktivierten "bürgerlichen Antifaschisten" stellten Linksextremisten zahlenmäßig eine klare Minderheit dar und sahen sich in den vielerorts entstandenen umfassenden Bündnissen kaum mehr in der Lage, eigene politische Inhalte zu transportieren. Insbesondere autonome Gruppen hatten sich zudem mit dem Widerspruch auseinander zu setzen, dass die Beteiligung an der aktiven Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in vielen Fällen implizierte, mit eben diesem Staat, den man eigentlich ablehnt und bekämpft, gegen "rechts" faktisch "gemeinsame Sache" zu machen. Dessen ungeachtet behielt hingegen als Ausfluss der kommunistischen Bündnisstrategie für linksextremistische Parteien und Organisationen die Beteiligung an Bündnissen oberste Priorität. Im Interesse einer langfristig angestrebten politischen Einflussnahme sind Linksextremisten durchaus bereit, weitreichende Kompromisse einzugehen und die eigenen Zielsetzungen zunächst zurückzustellen. 5.5 Proteste gegen CASTOR-Transporte Erstmals seit der Aufhebung des Beförderungsstopps für CASTORen kam es vom 26. bis 29. März 2001 zu einem Transport abgebrannter Brennelemente von der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague u.a. auch über Baden-Württemberg in das niedersächsische Zwischenlager Gorleben. Wie bei dem letzten Transport von 1998 waren an den Anti-CASTOR-Protesten erneut auch Linksextremisten, besonders aus dem anarchistischen und autonomen Spektrum, beteiligt. 93 Welche Perspektive Linksextremisten mit den Protesten verbinden, wurde erneut deutlich formuliert: "Es geht hier nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um Glück und Befreiung und das entschlossene Nein gegen die herrschenden Verhältnisse."49 Dass es aus dieser Sichtweise heraus gleichzeitig um eine Instrumentalisierung der Bewegung ging, beweisen Aussagen wie: "Auch wenn das Thema Atompolitik kaum die wichtigen sozialen Probleme berührt, ... ist die Anti-Castor-Bewegung doch zur Zeit die einzige größere Mobilisierung, bei der wir - gewaltfrei oder militant - direkt etwas bewirken können, und bei der strategische Erfolge erzielt werden können."50 Versuche, den "Widerstand" auch in den Wochen und Monaten vor dem eigentlichen Transporttermin in der Öffentlichkeit wahrnehmbar aufrecht zu erhalten, waren von bescheidenem Erfolg gekrönt. Es zeigte sich, dass nur von einem unmittelbar bevorstehenden Transport die nötige Mobilisierungswirkung ausgeht, wobei wiederum die erwünschte massenhafte Beteiligung ausschließlich bei Transporten nach Gorleben erreichbar ist. Eine der Region Gorleben vergleichbare, über lange Jahre gewachsene "Widerstandskultur" gibt es in Baden-Württemberg nicht. Es gelang zwar, den von Frankreich kommenden Zug - erstmals im Zusammenwirken auch mit französischen Kernkraftgegnern - durch Blockaden und Ankettaktionen im grenznahen Bereich um mehrere Stunden zu verzögern. Schwerpunkt war indes aber wieder der Raum Gorleben, wo es neben vielerlei Blockadeaktionen auch zu gewaltsamen Aktionsformen kam. Weitere, im Lauf des Jahres durchgeführte Transporte abgebrannter Brennelemente von deutschen Kernkraftwerken zu den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague/Frankreich und Sellafield/Großbritannien vermochten die CASTOR-Gegner nur in geringem Maße zu aktivieren. Um so dringlicher wurden deshalb die Appelle, dem zweiten Gorle49 "Interim" Nr. 521 vom 8. März 2001. 50 "anti atom-aktuell" Nr. 121 vom Juli 2001. 94 zweiten Gorleben-Transport des Jahres massiven Widerstand entgegenzusetzen. Beim CASTOR-Transport - so war auf einem Flugblatt zu lesen - lasse der Staat "seine demokratische Maske fallen". An den Aktivitäten gegen den Transport vom 11. bis 14. November 2001 von La Hague nach Gorleben beteiligten sich schließlich weitaus weniger Personen als erhofft. Die CASTORen gelangten ohne größere Störungen zum Ziel. Im Vorfeld dieses Transports kam es zu mehreren Anschlägen im niedersächsischen Wendland und im Großraum Berlin. Am 13. November 2001, einem der Transporttage, wurde allerdings auf die Bahnlinie zwischen Bad Säckingen und Wehr ein Anschlag verübt, bei dem unbekannte Täter mehrere schwere Betonplatten auf die Schienen legten. Ein durchfahrender Regionalzug wurde dadurch beschädigt. Ein Selbstbezichtigungsschreiben wies auf den Tatzusammenhang mit CASTOR hin. Die verhaltene Beteiligung an den Protesten gegen den Gorleben-Transport im November 2001 könnte auf ein allmähliches Abflauen der "Anti-CASTOR"-Aktivitäten hindeuten. Auch Versuche, diese mit der "Friedens"und der "Antiglobalisierungsbewegung" zusammenzuführen, haben bislang nicht zu einer Verbreiterung des Aktivistenpotenzials geführt. 5.6 "Politische Gefangene" Zusammen mit anderen Organisationen rief die "Rote Hilfe e.V." auch 2001 erneut unter dem Motto "Raus auf die Straße - Für die Freiheit der politischen Gefangenen" zum bundesweiten Aktionstag "18.3. Freiheit für alle politischen Gefangenen" auf. In diesem Zusammenhang fanden am 17. März 2001 in der Stuttgarter Innenstadt eine Demonstration mit Kundgebung sowie eine weitere Kundgebung vor der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim statt. Die im Vergleich zu früheren Jahren höhere Teilnehmerzahl war allerdings kaum auf ein gestiegenes Interesse, sondern auf die verstärkte Teilnahme türkischer beziehungsweise kurdischer "Genossen" zurückzuführen. Thematisiert wurde zusätzlich die Aufstandsund Hungerstreikbewegung türkischer linksextremistischer Häftlinge anlässlich der von der türkischen Regierung geplanten Einführung neuer Zellen ("F-Typ") und damit verbunden die Verlegung von Inhaftierten von großen in Kleinstgruppenoder Einzelzellen, aber auch die "Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in der BRD" und das Schicksal des in den USA inhaftierten und 95 MigrantInnen in der BRD" und das Schicksal des in den USA inhaftierten und wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilten farbigen Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL. Um eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn zu forcieren, kam es vom 11. bis 13. Mai 2001 im Rahmen "Internationaler Aktionstage" erneut zu Demonstrationen. Am 17. August 2001, dem Tag der gerichtlichen Anhörung ABU-JAMALs, kam es in Deutschland - u.a. in Heidelberg - sowie in anderen europäischen Ländern und den USA zu Solidaritätsaktionen. Für den 8. Dezember 2001 als dem zwanzigsten Jahrestag der Verhaftung ABU-JAMALs wurde ein weiteres Mal zu einem "Internationalen Aktionstag" aufgerufen.51 6. Nutzung moderner Informationstechnik durch Linksextremisten Die Entwicklung linksextremistischer Webseiten im Internet stand dem Bereich des Rechtsextremismus kaum nach. Ende 2001 konnten rund 1.200 linksextremistische Angebote festgestellt werden. Diese unterschieden sich augenfällig von rechtsextremistischen Webseiten durch den weitgehenden Verzicht auf optische und akustische Effekte. Vielmehr konzentrierten sich die Betreiber auf die Bereitstellung von Informationen zur Vernetzung und Kommunikation ihrer Mitglieder und Anhänger untereinander. Bemerkenswert rasch setzten Linksextremisten Neuentwicklungen der Internettechnik um. Insbesondere der Einsatz von Datenbanktechniken führte neben einer zunehmend komfortableren, schnelleren und umfangreicheren Betreuung und Nutzung dieser Webseiten auch zu ihrer vereinfachten und damit schnelleren Aktualisierung. Neue Programmiertechniken ermöglichten die Gestaltung von Webseiten und ihrer Aktualisierung ohne zusätzliche Programme von jedem mit dem Internet verbundenen Rechner aus. Diese neuen, so genannten Content Management Systeme setzen mittlerweile fast keine Spezialkenntnisse mehr voraus. Somit vermag jede Person, die über die notwendigen technischen Voraussetzungen und die entsprechenden Zugangsberechtigungen verfügt, von jedem beliebigen Internet-Rechner aus Informationen in die Datenbank einzustellen. Mittlerweile sind einige der bedeutendsten Webseiten der linksextremistischen Szene - wie beispielsweise die Seiten des linksextremistischen NADIR-Projekts aus Hamburg 51 Am 19. Dezember 2001 hob ein US-Bundesrichter in Philadelphia das Todesurteil, nicht aber den Schuldspruch wegen Mordes an einem Polizisten auf. 96 oder das PARTISAN.net ("Projekte Archive Radikaler Theorie Info System Alternativer Nachrichten") aus Berlin - schon über Jahre hinweg im Internet präsent. Es wurden eigene, zum Teil europaweite Netzwerke geschaffen, die im Verbund mit anderen europäischen Linksextremisten betreut werden. Auf diesen Webseiten erreichen Termine, Diskussionen und Berichte eine bundesund europaweite Verbreitung. Durch die Beteiligung zahlreicher Gruppierungen und Einzelpersonen an den InternetProjekten entstehen aktuelle Nachrichtenzentralen für die linksextremistische Szene. Eine logische Konsequenz dieser Entwicklung ist der parallele Aufbau großer elektronischer Archive. In ihnen werden die Termine, Diskussionen und Berichte, aber auch Tondokumente und Videosequenzen gespeichert und über einen längeren Zeitraum hinweg für die Szene verfügbar gehalten. Diese Archive bieten Linksextremisten eine professionelle Recherchemöglichkeit für ihre politische Agitation. Die Einrichtung von Online-Kommunikationsmöglichkeiten wie Diskussionsforen und Chat-Räume ermöglichen einen Informationsaustausch innerhalb der Szene in kürzester Zeit und über beliebige Distanzen. Besonders deutlich wurde dies nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington vom 11. September 2001. Bereits wenige Stunden später wurden in dem Forum der bundesweit bedeutenden "Linken Seite" Diskussionen über die Auswirkungen des Terrors und das weitere politische Agieren geführt. Das linksextremistische Spektrum nutzt zunehmend das Internet nicht nur zur szeneinternen Kommunikation, sondern auch für politische Agitation und Aktion gegen die "herrschenden Verhältnisse" und würdigt es entsprechend: "Das Internet ist ein öffentlicher Raum. So wie in allen öffentlichen Räumen wird auch im Internet Politik gemacht. Digitale Politik. Jeder öffentliche Raum hat seine Kulturen und immer gibt es Repression und Unterdrückung, HERRschende und Menschen, die sich nicht beHERRschen lassen wollen. Im realen öffentlichen Raum gibt es BürgerInnenbefreiungskriege, gleichgeschaltete Medien und Globale Protestbewegungen gegen die rassistische, kapitalistische und patriarchale Weltordnung, im virtuellen öffentlichen Raum finden Online-DemOS, Infowar und Cyberterrorismus statt. 97 Alternative und radikale Informationsund Vernetzungsstrukturen sind in der realen Welt vorhanden, Widerstand gegen die HERRschenden Verhältnisse ist tägliche Praxis. Das Netz wird jedoch von der ,konservativen-revolutionären' Linken nur langsam als Agitationsund Aktionsfeld wahrgenommen und genutzt. Doch Widerstand ist nicht nur global sondern auch digital und interaktiv notwendig."52 Parallel zu der eher langfristig angelegten, kontinuierlichen Arbeit an den zentralen Internet-Projekten und Archiven erstellten Linksextremisten Webseiten auch kurzfristig, für einen festgelegten Zeitraum und einen bestimmten Anlass. Diese dienten einerseits zur Mobilisierung und zur Verbreitung aktueller Informationen über einzelne Aktionen, andererseits als Aktionsbasis. Im Vorfeld des Treffens der Regierungschefs aus Deutschland und Frankreich am 12. Juni 2001 in Freiburg erstellten Angehörige der lokalen linksextremistischen Szene beispielsweise eine speziell für Aktionen gegen diesen Regierungsgipfel vorgesehene Webseite. "Aufruf zu einem bunten und vielfältigen PROTEST gegen ein Europa der Gewalt und Unterdrückung... Diesen Sommer werden europaweit Tausende ihren Widerstand gegen die kapitalistische Verwertung und deren Auswirkungen auf die Straße tragen: neben Freiburg in Göteborg gegen den EU-Gipfel (14. Juni), die Weltbank-Tagung in Barcelona (24. Juni) und den G8-Gipfel in Genua (20. Juli). Spucken wir den Herrschenden in die Suppe! Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben!... Gegen alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, setzen wir die Utopie einer klassenund staatenlosen Weltgesellschaft. Auch jenseits von Seattle und Prag gilt es, den Herrschenden klarzumachen, dass sie mit unserem Widerstand rechnen müssen. Reißen wir die Mauern ein, thematisieren wir den Rassismus des herrschenden Europa! Macht Protest zum Widerstand!"53 Die Betreiber dieser Webseite stammen aus dem Umfeld des Freiburger Szeneobjekts "Kulturtreff in Selbstverwaltung" (KTS). Sie veröffentlichten auf diese Weise Texte lokaler linksextremistischer Gruppierungen, einen Aktionsstadtplan und eigene Veranstal52 Internetseite der "Netzguerilla", Fehler im Original. 53 Fehler im Original. 98 tungshinweise sowie den detaillierten Programmablauf des Gipfels und nach dessen Ende erste Informationen und Bilder.54 In einem weitaus umfangreicheren Maßstab wurde das Internet als Informationsund Kommunikationsplattform bei Aktionen gegen die im Jahr 2001 stattgefundenen europäischen Gipfelveranstaltungen genutzt. Insbesondere der G7/G8 Gipfel vom 20. - 22. Juli 2001 in Genua zeigte anschaulich die neuartigen Möglichkeiten des Internets. Bereits im Vorfeld wurde über einschlägige Webseiten europaweit über die Aktionen gegen die Gipfelveranstaltung informiert und zur Teilnahme mobilisiert. Sogar die gemeinsame Anreise von Teilen der Demonstranten mit Bussen wurde partiell über das Internet organisiert. Während des Gipfels in Genua erfolgte auf den Webseiten eine kontinuierliche Berichterstattung über den zum Teil gewalttätigen Verlauf der Demonstrationen vor Ort. In einem so genannten Medienzentrum wurden dann die direkt von dort eingegangenen Informationen in das Internet eingestellt. Die Geschwindigkeit, mit der die Informationen einer breiten Öffentlichkeit weltweit zur Verfügung gestellt wurden, übertraf teilweise sogar die der anwesenden Medienvertreter. Neben der Nutzung der schnellen und ortsungebundenen Kommunikation, die das Internet bietet, eröffnet es den Linksextremisten darüber hinaus neuartige virtuelle Aktionsund Demonstrationsformen. Diese Möglichkeit des "Online-Protests" wurde in größerem Umfang in Deutschland erstmalig bei der "online-demonstration against deportation" gegen die Deutsche Lufthansa AG durchgeführt. Der Initiator der "OnlineDemonstration" - es handelt sich um die aus der autonomen bzw. antiimperialistischen Szene stammende Initiative "Libertad" aus Frankfurt am Main - wollte zeitgleich mit dem Beginn ihrer Hauptversammlung am 20. Juni 2001 die Webseiten der Deutschen Lufthansa AG angreifen. Ab 10.00 Uhr sollte der Zugriff auf das Internetportal des Konzerns in Form einer "virtuellen Demonstration" durch das massenhafte Aufrufen der Internetseiten der Deutschen Lufthansa AG mittels eines eigens für diesen Zweck programmierten Hilfsprogramms verhindert oder zumindest erschwert werden. Das Hilfsprogramm selbst konnte man auf der Webseite herunterladen. "Einer Online-Demonstration kann man verschiedene Gestalt geben. Diese hier kann als eine Sitzblockade auf dem Datenhighway oder noch besser als virtuelle Übersetzung ei54 Zwischenzeitlich wurde die Seite wieder gelöscht und die Internetadresse zurückgegeben. 99 nes Go-ins verstanden werden: Die Demonstration wird öffentlich angekündigt, Anlass und Ziel werden erklärt. Zu gegebenem Zeitpunkt greifen die DemonstrantInnen massenhaft und zeitgleich auf websites der Lufthansa AG und die dortigen Angebote zu... Die Online-Demonstration soll den öffentlichen Druck auf die Lufthansa-AG erhöhen, um den Konzern zur Aufgabe der Abschiebeflüge55 zu bewegen... Wie kann ich an der Online-Demo teilnehmen? Ganz einfach. Alles was Du dazu brauchst, ist ein Computer mit Internetanschluss. Die Protest-Software kannst du von unserer website herunterladen und auf deinem Computer installieren..."56 Die erstmals in diesem Umfang durchgeführte "Online-Demonstration" zeigte jedoch nicht die von den Initiatoren erwünschte direkte Wirkung. Durch vorbeugende Maßnahmen der Deutschen Lufthansa AG konnte der Betrieb der Seiten im Wesentlichen aufrechterhalten werden. Die indirekten Wirkungen der "Online-Demonstration" waren indes durchaus bemerkenswert. So fanden sich in vielen überregionalen Tageszeitungen Berichte über geplante und durchgeführte Störaktionen, die ohne die angekündigte "Online-Demonstration" wohl kaum in diesem Umfang erfolgt wären. Daneben eröffnet das Internet Linksextremisten weitere Möglichkeiten der offensiven politischen Agitation. Mittlerweile gibt es mehrere Gruppierungen, die sich zumindest theoretisch mit dem Thema "Hacking" auseinandersetzen. Auf mehreren linksextremistischen Webseiten können Bezüge in die Hacker-Szene nachvollzogen werden. So gibt es im Internet eine Webseite, auf der z.B. tatsächliche oder vermeintlich rechtsextremistische Webseiten und E-Mail-Adressen einer "Netzguerilla Hacktivism" gemeldet werden können. In Baden-Württemberg betreibt mittlerweile fast jede linksextremistische Gruppierung ihre eigene Webseite. Alle im Internet vertretenen linksextremistischen Gruppierungen nutzen das Medium zur Selbstdarstellung, zur Ankündigung und Mobilisierung von Veranstaltungen, zur internen Kommunikation und zur politischen Agitation. 55 Der Protest gegen die staatliche Abschiebung nicht anerkannter Flüchtlinge in ihre Heimat ist seit längerem ein Agitationsschwerpunkt von Linksextremisten. 56 Fehler im Original. 100 Eine bundesweit herausragende Stellung nimmt die "Linke Seite" aus Tübingen ein. Neben einem bundesweiten Terminkalender, einer Linkliste von über 1.000 szenetypischen Links sowie einem eigenen Diskussionsforum werden Texte zu allen Schwerpunktthemen der linksextremistischen Szene archiviert. Unterorganisationen der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) betreiben in Baden-Württemberg 13 Webseiten, darunter der Landesverband der PDS, verschiedene Hochschulund regionale Gruppen, die "Arbeitsgemeinschaft Junger GenossInnen in und bei der PDS" (AGJG) sowie die "Kommunistische Plattform in und bei der PDS Baden-Württemberg". Nahezu jede linksextremistische Antifa-Gruppe aus Baden-Württemberg ist inzwischen im Internet präsent. Die "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm" hebt sich durch eine optisch ansprechende und inhaltlich aktuelle Präsentation unter den anderen AntifaSeiten hervor, die mehr den Charakter einer elektronischen Visitenkarte haben. Im linksextremistischen Spektrum wird weiterhin das Mailboxsystem "CL-Netz" ("Computernetzwerk Linksysteme") betrieben, allerdings verliert dieses Kommunikationsmedium immer mehr an Bedeutung. 101 E. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Organisationen von Ausländern werden als extremistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Hierzu zählen vor allem die islamistischen Gruppierungen, die verstärkt die Durchsetzung ihrer Weltanschauung in Deutschland anstreben und damit wesentliche Grundsätze unserer Verfassung außer Kraft setzen wollen. Der gesetzlichen Beobachtung unterliegen außerdem Bestrebungen, die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschlands gefährden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatland angestrebt wird. In Baden-Württemberg waren von den rund 1,255 Millionen57 gemeldeten Ausländern 8.790 (2000: 8.730) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder terroristischer Zielsetzung aktiv. Einschneidende Änderungen innerhalb oder Verschiebungen zwischen den einzelnen politischen Lagern ergaben sich im Lauf des Jahres 2001 nicht. 57 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Stand 31. Dezember 2001. 102 Die Gesamtzahl der von Mitgliedern extremistischer Ausländerorganisationen verübten Straftaten betrug 2001 bundesweit 511.58 Davon sind 84 den Gewalttaten zuzurechnen. In Baden-Württemberg wurden insgesamt 143 von Ausländern begangene Straftaten mit extremistischem Hintergrund gezählt, darunter 18 Gewaltdelikte.59 Ein großer Teil der Vergehen wurde als Reaktion auf die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 (z.B. in Form von Bombendrohungen) begangen. Die Verstöße im Zusammenhang mit der so genannten Identitätskampagne der PKK sind in diesen Zahlen nicht enthalten, sondern wurden gesondert erfasst. Im Zusammenhang mit den auch im Jahr 2001 anhaltenden Protesten gegen die Einführung eines neuen Gefängnistyps in der Türkei sind in Baden-Württemberg nur wenige Straftaten registriert worden. 2. Organisationen aus dem arabischen Raum 2.1 Arabische Islamisten Die furchtbaren Anschläge vom 11. September 2001 haben der ganzen Welt vor Augen geführt, dass Islamisten und ihre Organisationen den Islam zu einer aggressiven politischen Ideologie mit Universalund Absolutheitsanspruch erhoben haben, nach dem je58 Quelle: Bundeskriminalamt, Stand: 2. April 2002. 59 Quelle: Landeskriminalamt Baden-Württemberg, Stand: 15. Januar 2002, zu den Erfassungsmodalitäten der Straftaten mit extremistischem Hintergrund vgl. Teil B. 103 des staatliche Handeln islamischen Gesetzen unterworfen werden soll. Ihr Ziel, das sie mit fanatischem Eifer verfolgen, ist die Errichtung eines "Gottesstaats". Gesellschaftssysteme der westlichen Welt lehnen sie in prinzipiellen Bereichen ab. Die in Deutschland agierenden islamistischen Organisationen versuchen zumeist, die in ihren Augen zu sehr vom "Westen" abhängigen Regierungssysteme in ihren jeweiligen Heimatländern durch ein auf der Scharia60 basierendes islamistisches Staatsgefüge zu ersetzen. Zum Teil streben sie offen die Weltherrschaft des Islam an. Inzwischen existieren aber auch Organisationen, die nicht mehr ausschließlich oder vorrangig auf gesellschaftspolitische Veränderungen im Herkunftsland ihrer Mitglieder und Anhänger zielen, sondern die zunehmend versuchen, islamistische Positionen zumindest am Rand des gesellschaftlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen. Das bedeutet: Die islamistische Szene in Deutschland ist keineswegs homogen. Organisationsformen, Betätigungsfelder und Aktionsverhalten dieser Gruppierungen sind vielmehr breit gefächert und entsprechend schwierig zu überschauen. Viele dieser islamistischen Organisationen, die auch in Baden-Württemberg mit Stützpunkten und Aktivisten vertreten sind, haben ihren Ursprung in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Teilweise haben islamistische Aktivisten die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt. Andere sichern gelegentlich ihr Aufenthaltsrecht über eine Ehe mit einer deutschen Frau ab. Dieses wird noch verstärkt, wenn ein gemeinsames Kind aus der Ehe hervorgeht. Außerdem erlangen sie auf diesem Weg die uneingeschränkte Reisefreiheit, die für mögliche extremistische oder gar terroristische Aktionen unerlässlich ist. So gab der mutmaßliche Finanzchef der von Osama Bin LADIN geführten Organisation Al Qa'ida nach seiner 1998 bei München erfolgten Festnahme an, er suche dringend eine deutsche Frau, obwohl er in Khartoum/Sudan bereits verheiratet war. Die bedeutendste islamistische Organisation in Deutschland ist die seit 1960 bestehende "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), die in Stuttgart eine Zweigstelle unterhält. Auch zu einer Moschee in Karlsruhe bestehen Kontakte. Ihre ideologische Heimat hat die IGD bei der 1928 in Ägypten gegründeten, international tätigen "Muslimbruderschaft" (MB), die in Baden-Württemberg ungefähr über 190 Mitglieder (2000: ca. 190) verfügt. Sie verfolgt ihre Interessen in der deutschen Ge60 Islamisches Rechtssystem. 104 sellschaft offensiv über einen als "unabhängig" bezeichneten Dachverband, den "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) mit Sitz in Köln, oder über regionale Verbände wie den "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg e.V." mit Sitz in Stuttgart, der mit der IGMG zusammenarbeitet. Der "Islamische Bund Palästinas e.V." (IBP) vertritt die Interessen der militanten palästinensischen "HAMAS" ("Bewegung des islamischen Widerstands") in Deutschland. Auch diese Organisation ist ein nationaler Zweig der "Muslimbruderschaft". Die "HAMAS" nimmt beim Widerstand gegen Israel eine herausragende Rolle ein und lehnt jegliche israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen ab. Sie bekannte sich zu einer Vielzahl von Anschlägen in Israel und setzt eindeutig auf ein Weiterdrehen der Gewaltspirale. Eine der "HAMAS" nahe stehende humanitäre Hilfsorganisation, die "AL-AQSA e.V." mit Sitz in Aachen, pflegt ebenfalls Verbindungen nach Baden-Württemberg. Bundesweit führt sie Spendengeldsammlungen in Moscheen und bei Veranstaltungen islamischer Einrichtungen durch. Die "Islamische Heilsfront" (FIS) und ihr bewaffneter Arm "Islamische Armee der Errettung"61 (AIS) zählen ebenso zu den Vertretern algerischer Islamisten wie die in der Vergangenheit wegen ihrer unkontrollierten brutalen Gewalt in Erscheinung getretene und selbst im islamistischen Lager umstrittene "Islamische Bewaffnete Gruppe" (GIA). Die "Hizb at-Tahrir" macht in Baden-Württemberg vor allem mit Flugblattaktionen auf sich aufmerksam. Damit wie mit ihren Beiträgen im Internet macht sie deutlich, dass die "westlichen" Konzepte von Demokratie und Menschenrechten mit ihr nicht zu realisieren seien. So heißt es in einem Flugblatt, dass es die Pflicht eines jeden Muslim sei, am "Djihad"62 zur Befreiung Palästinas vom "Schmutz" der Juden teilzunehmen und jede Aussöhnung mit dem "Gebilde der Juden" Sünde sei. In der arabischsprachigen Zeitung "AL-Wa'i" (Das Bewusstsein), die von einem Verlag namens "Al-Khilafa" herausgegeben wird, hinter dem sich die "Hizb at-Tahrir" verbirgt, werden neben den Hauptfeinden USA 61 Wird auch als "Islamische Armee des Heils" bezeichnet. 62 Vgl. S. 111. 105 und Großbritannien noch weitere Staaten - unter anderem auch Deutschland - zu den Feinden der islamischen Umma63 gezählt. Nur sporadisch und durch Einzelpersonen vertreten sind die tunesische "An-Nahda" ("Die Wiedergeburt/Erneuerung") sowie die ägyptische "Djama'a al-islamiya" ("Islamische Gruppen"). Stand in der Vergangenheit vorrangig der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern im Mittelpunkt der Agitation dieser Gruppierungen, ist seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Kampf gegen den "verderbten Westen" zu einem der zentralen Themen geworden. Organisationen wie die "Al Qa'ida" von Osama Bin LADIN, die hinter den Anschlägen vermutet wird, treten für die gewaltsame Bekämpfung der westlichen Länder, insbesondere der USA, ein. Dass New York und das World Trade Center bereits vor den Anschlägen - zum wiederholten Male - als Ziel eines Anschlags im Gespräch war, lässt ein Artikel in der arabischsprachigen Publikation "Al-Muharrir AlArabi"64 (Der arabische Befreier) vermuten. In einem doppelseitigen Beitrag über Afghanistan und die Taliban heißt es u.a., der Westen nähere sich seinem Ende, Großbritannien werde aussterben, die USA allerdings würden "etwas länger leben". New York sei Sinnbild des "Iram mit dem Pfeiler" in der Koran-Sure 89, 7. Aus der Sure wird ersichtlich, dass "Iram" in einer Reihe steht mit Personen wie "Pharao", die "maßlos waren in den Ländern und über die die Strafe des Herrn erging." In derselben Sure wird die Strafe in geradezu endzeitlicher Manier geschildert: "Die Erde wird zerschlagen zu Staub um Staub... und es wird an diesem Tag die Hölle herangebracht". Unter der Überschrift "Die Herausforderung der Wolkenkratzer" war in diesem Beitrag Ende April 2001 zu lesen: "Wartet! Die Taliban werden früher oder später diese Stadt erreichen. Der Mullah Ismail, einer der religiösen Führer der Taliban, betrachtet die hohen Wolkenkratzer als eine Herausforderung des Himmels, die gezwungen werden müssen, sich dem Schöpfer zu beugen. Und wie? Indem man sie in ihren Fundamenten sprengt....." 63 Nation oder Gemeinschaft der Gläubigen. 64 Ausgabe Nr. 27, 27. April - 3. Mai 2001. 106 In ersten Reaktionen auf die Anschläge wurde deutlich, welcher emotionale Bezug die islamistischen Gruppierungen trotz der unterschiedlichen Herkunft eint. Nicht nur Palästinenser in den Autonomiegebieten gingen auf die Straße und feierten die Anschläge als "Sieg" der unterdrückten Palästinenser und Muslime über den "selbst ernannten Weltpolizisten" USA, der den Erzfeind Israel unterstützt. Auch die militärischen Vergeltungsmaßnahmen der USA gegen das Taliban-Regime in Afghanistan blieben hierzulande nicht ohne Reaktionen. Spalteten die Anschläge die Besucher der islamistischen Zentren Baden-Württembergs noch in zwei Lager, wurden die Vergeltungsmaßnahmen der USA einhellig verurteilt. Wie bei der "Unterdrückung der Palästinenser durch Israel" glaubte man hier an einen Feldzug, der sich nicht nur gegen die Taliban und Bin LADIN, sondern gegen alle Muslime richtet. Es ist davon auszugehen, dass Bin LADIN mit seiner Al Qa'ida ein weltumspannendes Beziehungsgeflecht "multinationaler Mudjahedin" unterhält. Als solche werden panislamisch orientierte "Kämpfer auf dem Wege Gottes" bezeichnet, die an kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan oder Bosnien-Herzegowina, in Tschetschenien oder in Kaschmir teilgenommen und dazu religiös-ideologische, vor allem jedoch paramilitärische beziehungsweise terroristische Unterweisungen in afghanischen, sudanesischen oder pakistanischen Ausbildungslagern erhalten haben. Ein überwiegender Teil dieser Mudjahedin65 stammt aus arabischen Ländern. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan waren dort mit amerikanischer Unterstützung Ausbildungsund Rekrutierungslager mit dem Ziel eingerichtet worden, Kämpfer gegen die sowjetische Besatzungsmacht auszubilden. Engagierte Muslime, darunter Angehörige nahezu aller einschlägig bekannten regional wie auch international operierenden Islamistengruppen, durchliefen solche Ausbildungslager. Mit einiger Sicherheit wurde während der Kämpfe in Bosnien dort ebenfalls ein solches Trainingslager für "Glaubenskämpfer" eingerichtet, das gleichzeitig als Basis für militärische Operationen diente. Nach bislang nicht verifizierbaren Hinweisen soll Usama Bin LADIN Kontakt auch in dieses Trainingslager gehabt haben. Einigermaßen zuverlässige Angaben über die Zahl der dort ausgebildeten Personen gibt es nicht. Nach Schätzungen auf der Basis der Zahl und Größe bisher bekannt geworde65 Arabische Schreibweise, vgl. S. 144. 107 ner Ausbildungseinrichtungen in verschiedenen Krisengebieten könnten es mehrere Zehntausend gewesen sein. Auch die Zahl der mit einer entsprechenden Ausbildung nach Deutschland eingereisten oder zurückgekehrten Mudjahedin kann bisher nur grob geschätzt werden. Sie dürfte mehr als hundert betragen. Die persönlichen Kontakte, auf denen das inzwischen nahezu globale Netzwerk der "multinationalen Mudjahedin" beruht, wurden vor allem in der Ausbildungszeit und immer wiederkehrenden Aufenthalten in den Ausbildungseinrichtungen geknüpft. Auch nach Baden-Württemberg führen einzelne Verbindungen. Es handelt sich hierbei um Personen, die nicht nur als Sympathisanten, sondern als (frühere) Aktivisten das Netzwerk der Mudjahedin logistisch - sei es durch Beherbergung, Sammlung von Geldern oder vorübergehende Hilfe für rekonvaleszente Kämpfer - unterstützen. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den zeitweise hier lebenden männlichen Angehörigen des Netzwerks zumeist um Veteranen handelt, also um Mudjahedin mit Kampferfahrung, die sich jetzt auf andere Weise für ihre gleich gebliebenen Ziele einsetzen. Im Rahmen der Berichterstattung zu den Anschlägen in den USA und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ergaben sich Hinweise zu einer Organisation in der Schweiz namens "al-Taqwa" beziehungsweise "Nada Management Organisation". Einer der Verantwortlichen ist Ghaleb HIMMAT, der im internationalen Netzwerk der Islamisten eine Schlüsselrolle spielt. Er gilt überdies als eine wichtige Persönlichkeit innerhalb der IGD. Im Vorstand der "Taqwa" soll auch ein Schweizer Muslim namens Ahmad HUBER66 vertreten sein. Er war in der Vergangenheit schon als Redner in Baden-Württemberg aufgetreten und ist für seine Nähe zu rechtsextremistischen und antijüdischen Positionen bekannt. Im Jahr 2000 hatte er auf einer Veranstaltung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) seine diesbezüglichen Thesen vorgetragen. Sein Einsatz richtet sich "gegen die Zionisten" und den "gottlosen American Way of Life". Das World Trade Center galt für ihn als die "Türme des Antichrist". Über einen Sitz im Verwaltungsrat der Genfer Filiale der "International Islamic Charitable Organization" (IICO) mit Hauptsitz in Kuwait sollen Verbindungen in den Staat am Golf bestehen. Auch im finanziellen Bereich der IICO sollen Spendengelder u.a. über die Dubai Islamic Bank geflossen sein. Sie wurde bereits 1999 vom amerikanischen Außenminis66 Vgl. Teil C Kap. 5., S. 46 f. 108 terium mit Geldwäsche und mit Usama Bin LADINs Terrorgruppe in Verbindung gebracht. Für Aufsehen sorgte auch eine Gruppe von Islamisten algerischer Abstammung, die im Dezember 2000 in Frankfurt festgenommen wurde. Diese Personen werden verdächtigt, in der Adventszeit 2000 einen Anschlag auf das Straßburger Münster oder den davor liegenden Weihnachtsmarkt geplant zu haben. Neben Waffenfunden, Handbüchern und Materialien zur Sprengstoffherstellung gab es weitere Anhaltpunkte, die diese Annahme stützten. So wurde ein Video beschlagnahmt, auf dem der Weg von Baden-Baden, wo bereits Zimmer für diese Gruppe reserviert waren, nach Straßburg aufgezeichnet ist. Der Kopf der Gruppe, der sich vor seiner Festnahme kurzfristig auch in Stuttgart aufgehalten hatte, wurde Mitte des Jahres 2001 in Alicante/Spanien festgenommen. Überdies sollen einige Mitglieder der so genannten "MELIANI-Gruppe" Lehrgänge in Ausbildungslagern Afghanistans absolviert haben. Dass es dort Kontakte zum Umfeld des Bin LADIN gab, erscheint als naheliegend. Die "MELIANI-Gruppe" steht der "Groupe Salafiste pour la predication et le combat" (GSPC) ideologisch nahe, einer Splittergruppe der algerischen "Islamischen Bewaffneten Gruppe" (GIA), deren terroristische Aktionen sich bislang auf Algerien und - wegen der historisch bedingten engen Beziehungen - auf Frankreich wegen dessen Unterstützung der algerischen Regierung beschränkten. Die Nutzung des Internets gehört inzwischen für viele Mitglieder islamistischer Organisationen zum Alltag. Die Mehrzahl der bekannten Gruppierungen und zahlreiche Einzelaktivisten unterhalten inzwischen eine eigene Homepage oder sind durch Links miteinander verbunden. Dadurch können Termine oder Spendenaufrufe jederzeit abgerufen werden. Das immer häufiger genutzte Medium ermöglicht somit auch eine kurzfristige Mobilisierung der Anhänger und versorgt diese nahezu ohne Zeitverlust mit Informationen über die Situation im Heimatland. Mit der immer wieder eingeblendeten Darstellung äußerst grausamer Szenen, die zumeist den Einsätzen des israelischen Militärs zugerechnet werden, sollen nicht nur die Hilfsbereitschaft der Sympathisanten, sondern auch Abneigung, ja Hass gegen Israel geschürt werden. Ergänzt werden die Internetseiten durch ein umfangreiches Angebot an einschlägiger Literatur. Darüber hinaus bieten Multiplikatoren ihre Dienste an, indem sie Beiträge, u.a. zu politischen Themen, über ein E-Mail-Netz verbreiten. 109 Intensiv widmen sich islamistische Aktivisten der Geldbeschaffung. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sie sich hierbei auch Vereinigungen mit humanitärem Charakter bedienen. Ohne Zweifel wird in sozialer Absicht für Notleidende oder für Hinterbliebene von "Djihad-Kämpfern", beispielsweise in Tschetschenien, gesammelt, desgleichen auch für "politische Gefangene" in Israel. Ob allerdings die Gesamtheit der Spenden ausschließlich in dem behaupteten humanitären Sinne verwendet wird, entzieht sich letztendlich jeglicher Nachprüfung. Von aktuellen Ereignissen unabhängig ist die generelle Ablehnung westlicher Prinzipien und Werte beziehungsweise ihre Relativierung durch den Vorbehalt der Gültigkeit islamischer Rechtsund Moralvorstellungen. Zwar bekennen sich häufig auch hier lebende arabische Islamisten öffentlich zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, sie bieten jedoch zugleich weiterhin Schriften wichtiger radikaler Denker wie des pakistanischen Aktivisten Abul A'la MAWDUDI zum Verkauf an, für den Demokratie und Islam unvereinbar sind. Auch die Schriften und Lehren von Professor Dr. Yusuf AL-QUARADAWI werden in den Zirkeln von Muslimbrüdern gelesen und geschätzt. Dieser hatte sich im Mai 2001 - anlässlich einer Debatte zu Selbstmordanschlägen in Israel - wie folgt geäußert: "Diese Operationen sind die höchste Form des Djihad nach dem Willen Gottes und ein Typus des Terrorismus, der gemäß der shari'a erlaubt ist." Mit einem Koranvers versucht er, seinen Kommentar zu belegen und führt weiter aus, dass man Vorbereitungen treffen müsse, um "Furcht unter seinen Feinden und den Feinden Gottes zu verbreiten". Überdies sei der Begriff "Selbstmordanschläge" unkorrekt, statt dessen müsse man von "heldenhaften Unternehmungen zum Martyrium" sprechen. Der Gründer und Vordenker der "Muslimbruderschaft" (MB), Hasan Al-Banna67, findet immer noch starke Beachtung als "großer Reformer". Es sei "das Recht der zeitgenössischen Muslim-Generation, Zugang zu den Schriften" zu haben. Dieser Zugang "zeigt uns [d.h. den Muslimen]", dass letztlich "nur der Islam die Menschheit vor sich selbst 67 Al-Banna hat kein ausformuliertes Werk hinterlassen, nach seinem Tod wurden jedoch Sammlungen und Zusammenfassungen seiner Ausführungen veröffentlicht. 110 retten" könne. Das Konzept des Djihad, des "Einsatzes auf dem Wege Gottes", fehlt in dem Gedankengebäude Bannas nicht. Folgt man seinen Deutungen, ist der "Djihad eine Pflicht für jeden Muslim, die nicht ignoriert oder umgangen werden kann... Gott hat besonders die Kämpfer [auf dem Wege Gottes] mit außerordentlichen Fähigkeiten bedacht, sowohl spiritueller als auch praktischer Art, um sie in dieser und der nächsten Welt zu segnen. Ihr reines Blut ist ein Symbol des Sieges in dieser Welt und das Kennzeichen des Erfolgs und des Glücks im Jenseits... Der Islam befasst sich mit der Frage des Djihad und der Aufstellung und Mobilisation der gesamten Gemeinschaft der Muslime in einem Körper, um die wahre Sache zu verteidigen... So fordern die Verse von Qur'an und der Sunna [d.h. der Überlieferung des Propheten] die Menschen im Allgemeinen auf, sich einzusetzen, in den bewaffneten Streitkräften und zu allen Mitteln des Kampfes zu Lande und zur See." Dieser Kampf, definiert als "Bekämpfung der Ungläubigen, die alle möglichen Anstrengungen beinhaltet, um die Feinde des Islam ihrer Macht zu berauben, indem sie bekriegt werden, man ihre Reichtümer plündert, ihre Gebetsstätten und ihre Götzen zerstört", sei so lange erlaubt, bis sich folgender Vers des Koran erfüllt habe: "Wir werden ihnen unsere Zeichen am Universum zeigen und in ihnen selbst, bis es ihnen deutlich ist, dass diese [Botschaft des Koran] die Wahrheit ist."68 Wenn bei Al-Banna das endgültige Ziel "islamischer" Hegemonie nur mittelbar zu erschließen ist, werden Autoren der "Hizb at-Tahrir", die aus der MB hervorgegangen ist, deutlicher: Pflicht jedes Muslim sei es, sich an der Befreiung Andalusiens, Tschetscheniens sowie aller muslimischen Länder zu beteiligen, die von "Ungläubigen" geraubt wurden: "Teure Muslime, wir rufen Euch zum Djihad auf. Räumt jeden Staatsführer aus dem Weg, der mit den Ungläubigen sympathisiert, mit Ungläubigkeit regiert und den Djihad verbietet." Mag die "Hizb at-Tahrir" auch eine relativ kleine Gruppe sein, so sprechen einige Indizien dafür, dass sie nicht ohne Bedeutung ist. Denn ihre Schriften zirkulieren - nicht nur 68 Sure 41, Vers 53. 111 in arabischer Sprache - insbesondere in universitären Kreisen. Außerdem bringt sie Druckerzeugnisse wie die Zeitschrift "explizit" (Untertitel: "Das politische Magazin für ein islamisches Bewusstsein") in deutscher Sprache heraus. Deren Inhalte lassen keinen Zweifel an der Demokratiefeindlichkeit der Verantwortlichen offen. Islamistischen Rechtsvorstellungen ist die pakistanische Strömung "Pasban-e Khatm-e Nabuwwat" (PKN) verpflichtet, die auch in Baden-Württemberg tätig ist. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine angeblich vom "wahren Glauben abweichende" Gruppierung namens "Ahmadiyya Muslim Djama'at", die ihrem Selbstverständnis zufolge islamisch ist, durch massive Propaganda am Praktizieren ihrer Form des Islam zu hindern. Allerdings hat sich der Stützpunkt der PKN in Heilbronn aufgelöst, nachdem der dortige Funktionär mit dem Gesetz in Konflikt geraten war und die Organisation die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich gezogen hatte. 2.2 Organisationen aus dem schiitischen Bereich In Deutschland sind seit Jahren auch Organisationen aus dem Bereich des schiitischen Islam aktiv. Zu nennen sind hier als Vertreter des politischen Islam insbesondere die "Gruppen des libanesischen Widerstands" (Amal) und die "Hizb Allah" ("Partei Gottes"). Beide Organisationen spielen eine nennenswerte Rolle in der libanesischen Politik, wobei insbesondere die bedeutendere "Hizb Allah" darauf verweist, mit ihrem militärischen Arm "Al-muqawama al-islamiya" ("Islamischer Widerstand") die wichtigste politische und militärische Kraft im Süden Libanons zu sein. Seit einigen Jahren sucht die Organisation ihre politischen Ziele auf differenzierte Weise zu erreichen. Ein starkes soziales Engagement in der schiitischen Bevölkerung soll die Akzeptanz und die Basis der Anhängerschaft erweitern. Der gleichzeitig geführte bewaffnete Kampf wird bisher ausdrücklich auf das Heimatland beschränkt, während man im Ausland die auch parlamentarisch wirkende Partei vom Geruch der "Terrororganisation" zu befreien sucht. Nach Auffassung des religiösen Führers der "Hizb Allah", Muhammad Husayn FADLALLAH, sind die terroristischen Angriffe in den USA mit der Scharia, der islamischen Glaubensund Lebensordnung, nicht vereinbar. Die "Ursache für Untaten" seien vielmehr in persönlichen Motiven, nicht in religiösen Überzeugungen, die Täter vorgäben, zu suchen. Ob die feinen Unterscheidungen des Vordenkers bei Anhängern nachvollzogen werden, ist fraglich, wenn andererseits der politische Führer der "Hizb Allah", Hasan 112 NASRALLAH, bei einer Konferenz zur Intifada im April 2001 in Teheran in die Aufrufe zum gewaltsamen Widerstand einstimmte und mit "weiteren Attentaten" in Israel drohte. Auch das Organ der "Hizb Allah", "Al-'Ahd" (Die Verpflichtung), zeigt deutlich, wie religiöse Überzeugungen zur Wegbereitung aggressiven Handelns benutzt werden. Die Selbstmordattentäter werden als "Märtyrer" geradezu verehrt - in ihnen sollten "Freiheitskämpfer" und nicht "Terroristen" gesehen werden. Mit Genugtuung wird konstatiert, dass es "junge Leute mit Universitätslaufbahn oder Schulbildung sind, die durch Anlegen von Sprengkörpern um den eigenen Körper... die einzige Form des wahren Widerstands... verfolgen".69 Überdies besitze die Selbstmordbereitschaft "eine hohe moralische Wirkung" innerhalb der Umma. Mit einiger Genugtuung, der es an Zynismus nicht mangelt, werden die Reaktionen geschildert, die derartige Attentate in Israel auslösen. Furcht und Schrecken, die innerhalb der Bewohner Israels um sich greifen, werden als "zionistische Hysterie" abgetan. Am 8. Dezember 2001 wurde auch in Berlin der "Quds-Tag" begangen, eine "traditionelle Demonstration zur Solidarität mit dem palästinensischen Volk in seinem Befreiungskampf gegen die zionistische Besatzungsmacht". Dort wurde ein Transparent gezeigt, auf dem zu lesen war: "Schlimmer als Hitler sind die Zionisten." Die Schwerpunkte der "Hizb Allah" in Baden-Württemberg befinden sich unverändert im Einzugsbereich der Städte Freiburg, Mannheim und Stuttgart. Im Land sind ihr ungefähr 90 Personen zuzurechnen. 2.3 Palästinensische Aktivisten Die in Baden-Württemberg vertretenen revolutionär-marxistischen palästinensischen Widerstandsorganisationen wie die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) und die "Demokratische Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) haben ihre frühere Bedeutung weitgehend eingebüßt. Auch mit öffentlichen Aktivitäten halten sie sich weitgehend zurück. Soweit es zu solchen Anstrengungen kam, blieben sie ohne nennenswerte Resonanz. Die Aktivisten bemühten sich vorrangig um die Betreuung ihrer Mitglieder und Sympathisanten sowie deren ideologische Schulung. Im Zentrum der internen Aktivitäten stand die Kritik an der Haltung Israels und der Politik des Vorsitzenden der palästi69 "Al-'Ahd" vom 15. Juni 2001. 113 nensischen Verwaltung Yasir Arafat. Hauptgesprächsthema war die moralische und finanzielle Unterstützung der Intifada in Israel. Die PFLP bekannte sich zu verschiedenen Anschlägen, so zuletzt zu dem Mordanschlag vom 17. November 2001 auf den israelischen Tourismusminister. Diese Tat erfolgte als Reaktion auf die Tötung des PFLPFührers Abu Ali Mustafa. In der Zeitschrift der Organisation, "Al-Hadaf"70 (Das Ziel), ließ diese verlauten: "Das ist der Krieg... Scharon." Die DFLP vertritt unverändert den Standpunkt, dass "alle Mittel des Widerstands gegen die Besatzer, solange diese sich auf palästinensischem Boden befinden, legitim" seien. Verhandlungen seien abzulehnen, um den "Abgang der Scharon-Regierung" zu beschleunigen. Hinsichtlich der palästinensischen Bevölkerung schwebt der DFLP "zur Abwendung der Aggression" eine allgemeine Mobilmachung vor, die Durchführung eines umfassenden Programms für "Selbstverteidigungsgruppen" und deren Bewaffnung; Kollaborateure seien zu verfolgen. In der Diaspora solle für ideelle und materielle Unterstützung geworben werden. 3. Türkische Vereinigungen (ohne kurdische) 3.1 Islamistische Vereinigungen 3.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT), 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG). Sitz: Bonn / Köln Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (2000: ca.3.600) ca. 27.000 Bund (2000: ca. 27.000) 70 Ausgabe vom 3. November 2001. 114 Publikation: "Milli Görüs & Perspektive" (in türkischer Sprache, vereinzelte Artikel in Deutsch), als Sprachrohr dient auch die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" In Baden-Württemberg wie in der gesamten Bundesrepublik Deutschland ist die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) die zahlenmäßig größte und bedeutendste Vertreterin des türkischen politischen Islamismus. In Baden-Württemberg sind in 60 IGMG-Vereinen, die in vier regionale Verbände - Stuttgart, Freiburg, Schwaben (hierzu gehören auch bayerische Ortsvereine) und Rhein-Saar (erstreckt sich bis nach Rheinland-Pfalz) - eingegliedert sind, rund 3.600 Mitglieder organisiert. Hinter ihnen steht ein Mehrfaches an Anhängern. Die Organisation verfügt über erhebliche finanzielle Mittel. Eigenen Angaben zufolge beträgt ihr Jahresumsatz 230 Millionen Euro (450 Millionen DM). Für die Verwaltung des beträchtlichen Immobilienbesitzes ist seit 1995 die "Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft e.V." (EMUG) zuständig. Die IGMG ist in enger Verbindung mit verschiedenen islamistischen Parteien des ehemaligen Ministerpräsidenten Professor Necmettin ERBAKAN zu sehen, die in der Türkei seit Jahren politisch eine bedeutende Rolle spielen. Das Ziel dieser Parteien ist die Abschaffung der auf die säkularen Reformen Kemal Atatürks zurückgehenden Staatsform in der Türkei. Allerdings erlitten diese Bestrebungen mit dem vom türkischen Verfassungsgericht am 22. Juni 2001 beschlossenen Verbot der "Fazilet-Partisi" (FP, "Tugendpartei") einen neuerlichen Rückschlag. Wie flexibel jedoch die IGMG hier in Deutschland ist, um im Vorfeld eines drohenden Verbots ihrer Mutterorganisation in der Türkei auf einschneidende Veränderungen zu reagieren, wurde bereits während einer Veranstaltung der IGMG anlässlich des Opferfests Anfang März 2001 in Ulm deutlich. Dort ging ein ehemaliger Minister der Türkei auch auf die schwierige Situation der FP ein. Da die Partei in der Türkei von einem Verbot bedroht sei, solle man - so seine Argumentation - vorerst kein Geld mehr in die Türkei schicken. Bei einem Verbot würde nämlich das Vermögen der FP vom türkischen Staat beschlagnahmt. Die Gelder, die bisher aus Sicherheitsgründen durch mehrere Personen überbracht worden seien, würden derzeit bei Privatpersonen sicher verwahrt. Die Zuhörer sollten aber keine Angst um ihre Partei haben, denn erginge ein Verbot der FP, würde sofort eine neue Partei gegründet. Dass es sich hierbei nicht nur um ein Lippenbekenntnis handeln sollte, wurde deutlich, als bereits am 20. Juli 2001 - also weniger als ein Monat nach dem Verbot der 115 FP - die "Saadet-Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") neu gegründet wurde. Diese vertritt weiterhin die Linie der "Milli-Görüs"-Strömung von Necmetin ERBAKAN und ist als Zusammenschluss der "Traditionalisten" anzusehen. Die "Erneuererfraktion" der FP gründete Mitte August 2001 unter der Führung des früheren Bürgermeisters Recep Tayyip ERDOGAN die "AK-Partisi" (AKP, "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei"). Vorsitzender der IGMG ist seit April 2001 Dr. Mehmet Sabri ERBAKAN aus Köln, der zuvor langjähriger Generalsekretär der Organisation war und ein Neffe von Necmettin ERBAKAN ist. Jener löste den bislang kommissarischen Vorsitzenden und Geschäftsführer der "Milli Gazete", Dr. Yusuf ISIK, ab. Anlässlich der Amtseinsetzung des neuen Vorsitzenden erklärte der ehemalige türkische Justizminister Sevket KAZAN bei der Hauptversammlung in Hagen, dass die Milli Görüs als Organisation nicht nur der Stolz der Türkei sei, sondern der Stolz der "islamischen Welt mit ihren 3 Milliarden Menschen". Sehr anschaulich machte er damit deutlich, dass die von Verteidigern und Befürwortern behauptete Ausrichtung der IGMG auf einen "integrativen europäischen Islam", der unabhängig von den politischen Tendenzen der Heimatländer sei, als Propagandaparole aufzufassen ist, die aus taktischen Gründen von Funktionären der Organisation für deutsche Ansprechpartner formuliert wurde. Auf die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 reagierte die IGMG offiziell mit Bedauern und Distanzierung vom Terrorismus. Gleichzeitig war festzustellen, dass die Internetangebote der Organisation von belastenden Seiten und Links "bereinigt" wurden, um unverfänglichen Themen Platz zu machen.71 Im Gegensatz zu den offiziellen Erklärungen der Organisationsspitze zeichneten die Reaktionen zu den Terroranschlägen in dem Sprachrohr der Organisation "Milli Gazete" und in der ebenfalls in IGMG-Kreisen verbreiteten "Akit" freilich ein anderes Bild. Dort wurden die Anschläge in den USA als "Ernte" für die Politik Amerikas dargestellt. Die Überschriften in der "Milli Gazete" lauteten z.B. "Wer Sturm sät, wird Orkan ernten" und "Teure Heimzahlung", in der "Akit" hieß es unverhohlen trotz des Massenmords "Wer anzündet, wird verbrennen". Presse und Medien, die die USA als "Unschuldslamm" darstellten, sollten sich schämen. Ein weiterer Beitrag prangerte die Unterstützung der USA durch den Vatikan im Zusammenhang mit den Angriffen auf Afghanistan an und stellte die 71 Vgl. zu den früheren Inhalten: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2000, Seite 147 ff. 116 antichristliche Tendenz mit einem zur Swastika72 entstellten Kreuz deutlich zur Schau. Die "Milli Gazete" hoffte, dass "die Amerikaner die erforderliche Lehre aus den Anschlägen ziehen". Erst wenn die Amerikaner nicht mehr "Handlanger des Zionismus" seien, sondern sich für die Gründung einer weltweiten "Adil Düzen"73 einsetzten, seien sie "eine Supermacht". Die Welt müsse einsehen, dass sie mit der Stärkung der von den Zionisten kontrollierten Waffenindustrie auf dem falschen Weg sei. Insgesamt ist nicht zu übersehen, dass hinter der Fassade offizieller Distanzierung vom Terrorismus die gegen die USA gerichteten Aktionen von den türkisch islamistischen Kreisen als Konsequenz aus dem Verhalten der Vereinigten Staaten als "Weltpolizei" gerechtfertigt werden. Noch akzentuierter fiel die Kritik beim IGMG Ortsverband Mannheim aus. Auf der neuen Internetseite - die vorhergehende zeigte vor allem Bilder mit Leichen aus den Kämpfen in Tschetschenien - wird zwar demonstrativ "Terror" als unreligiös abgelehnt, gleichzeitig jedoch unter der Überschrift "Wem nutzt es" eine Erklärung abgegeben, die sich in Teilen auf die Deutungen eines englischen Esoterikers stützen, der für seine faschistoiden und antijüdischen Verschwörungstheorien bekannt ist. Die von diesen IGMGPropagandisten angebotene Deutung lautet, dass die Anschläge von den USA selbst inszeniert worden seien. Indessen gibt es bei der IGMG nicht erst seit dem 11. September 2001 Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen. So wurde beispielsweise die Absage eines für Ende März 2001 geplanten internationalen Kongresses revisionistischer Historiker durch die libanesische Regierung nicht nur von den bekannten Revisionisten74 Ernst ZÜNDEL und Robert FAURISSON, sondern auch vom IGMG-Sprachrohr "Milli Gazete"75 kritisiert. Deren Autor bedauerte, dass "die libanesische Regierung dem Druck der westlichen Institutionen, die dem Zionismus dienen, nicht standhalten" konnte, sondern sich hinter einem Aufruf "arabischer Intellektueller", die das Verbot der Konferenz gefordert hatten, "versteckte" und den revisionistischen Historikern "die rote Karte" gezeigt habe. Ein Thema der Konferenz, so der Verfasser, sei die Zahl der von den Nazis ermordeten Juden gewesen. Obwohl es genügend Belege dafür gäbe, dass die Zahl von sechs Millio72 Hakenkreuz. 73 So genannte gerechte Ordnung, die sich gegen eine vom "Weltzionismus" gelenkte kapitalistische Wirtschaftsform richtet. 74 Vgl. S. 59 f. 75 Internetausgabe vom 6. April 2001. 117 nen viel zu hoch sei, würde man an dieser "goldenen Zahl" festhalten. Auf der Konferenz habe man klären wollen, "wem" diese Zahl zugute käme. Ebenfalls hätten die Teilnehmer die Zusammenarbeit von Zionisten und Nazis dokumentieren wollen. Letzteres wurde schon von dem in IGMG-Kreisen geförderten Autor und unter dem Pseudonym publizierenden Harun YAHYA in seinem Buch "Soykirim Yalani" (Holocaust-Lüge) beschrieben, in dem er die Ermordung europäischer Juden durch das nationalsozialistische Deutschland in Frage stellte und auch nicht davor zurückschreckte, Zeugnisse der Zeit wie das Tagebuch der Anne Frank zu verunglimpfen. In einer weiteren Kolumne der "Milli Gazete"76 wurden "Die Protokolle der Weisen von Zion" angepriesen.77 Vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage in der Türkei erwähnte die Verfasserin diese in Deutschland verbotenen "Protokolle" und zitierte daraus Passagen, die sich mit Staatsverschuldung und Kreditwesen befassen. Dem Leser wurde "der Jude" als "Sündenbock" für die derzeitige desolate Wirtschaftslage präsentiert. Die Kolumnistin Afet ILGAZ, die als "einzige Frau mit Kopftuch"78 für die FP in den Stadtrat von Istanbul gewählt wurde, kündigte an, auf die Geschichte der "Protokolle" zu einem späteren Zeitpunkt näher einzugehen. Sie unterließ es nicht, auf den türkischen Kamer-Verlag hinzuweisen, über den die "Protokolle" erhältlich sind. Derselbe Verlag gibt auch "Mein Kampf" in türkischer Übersetzung heraus. Revisionistische Thesen zur Ermordung europäischer Juden während der Zeit des Nationalsozialismus werden in der "Milli Gazete" ebenfalls aufgenommen. So wurden in geradezu herausfordernder Weise und in unverkennbarer Anspielung auf die Terroranschläge vom 11. September den Lesern "die wahren Terroristen" vorgestellt: "Diese Zionisten sind nicht davor zurückgeschreckt, die Welt zweimal in Brand zu setzen. Der zweite Weltkrieg wurde mit diesem Vorhaben geführt. Die Lüge von der Verbrennung mehrerer zehntausend Juden durch Hitler (Diese Lügen wurden mit Beweismitteln der ganzen Welt durch Roger Garaudy widerlegt) diente als Propagandamittel, um einen zionistischen Staat zu gründen... Die Zionisten, die den Befehl der Kabba76 Internetausgabe vom 16. Februar 2001. 77 Die "Protokolle der Weisen von Zion" wurden nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland verbreitet. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg spielte dabei eine erstrangige Rolle. Rosenberg (1893-1946) entwickelte Vorstellungen von einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung und verbreitete antisemitische Hetzschriften wie "Unmoral im Talmud" oder "Die Spur der Juden im Wandel der Zeit". Adolf Hitler zitierte sie in "Mein Kampf" zustimmend und als Beweis für seine rassistischen Anschauungen über jeglichen Ausdruck jüdischen Lebens. 78 Internetausgabe der "Hürriyet" vom 14. Mai 1999. 118 la79 ,Saugt das Blut der gesamten Menschheit' als absoluten Befehl erachten, bringen die Menschheit im Rahmen dieses Planes jeden Tag näher an den Abgrund.80 Innerhalb der IGMG hatte man auch keine Bedenken, Referentinnen wie Emine SENLIKOGLU für Veranstaltungen (wie am 8. Juli 2001 in Walldorf) zu gewinnen, die bereits als Buchautorin ihre extreme Haltung offengelegt hatte. So agitierte sie in einer Schrift 81 insbesondere gegen "Halbmuslime" ("yarimuslüman"), also Menschen islamischen Glaubens, die an Reformen mitwirken wollen. Für die Autorin sind solche Personen gefährlicher als Kommunisten, Juden, Freimaurer, Atheisten und Nichtgläubige. Sie zögert nicht, die von ihr als "Feinde des Islam" eingestuften Menschen als "giftige Schlangen" zu bezeichnen. Letztendlich sieht sie kein Problem darin, die Todesstrafe für Kritiker ihrer Islaminterpretationen zu billigen, ja zu fordern.82 Der wahre Mensch existiert für diese Autorin nur, wenn er absolut "an den Islam" glaube. Konsequenterweise verhehlt sie nicht ihre totale Verachtung von Christentum, Judentum oder auch Buddhismus. Die Jugendarbeit stellt für die IGMG weiterhin ein zentrales Thema dar. Dies verdeutlicht ein Artikel in dem Publikationsorgan "Yeni Dünya" ("Neue Welt"), das fast ausschließlich Berichte enthält, die für IGMG-Anhänger relevant sind. In diesem wandte sich der IGMG-Jugendverband Schwaben "An die islamischen Jugendlichen". Zunächst setzte er die von Allah bestimmten Aufgaben der Jugend fest: "1. Ihr müsst die von Allah an den Propheten Mohammed gesandten Bestimmungen auf Erden in die Tat umsetzen und dafür sorgen, dass diese auch eingehalten werden. 2. Ihr müsst die Untertanen von Untertanen83 befreien und dafür sorgen, dass diese nur Allah dienen. 79 Hebräisch: Überlieferung. Jüdische Mystik und Geheimlehre seit dem 12. Jahrhundert. 80 Internetausgabe der "Milli Gazete" vom 5. Dezember 2001. Roger GARAUDY ist ein französischer Philosoph; ursprünglich Marxist, Katholik, jetzt Muslim, als Revisionist in Frankreich verurteilt. 81 "Gencligin Imanini Sorularla Caldilar" ("Man hat die Jugendlichen durch Fragen ihres Glaubens beraubt"). 82 Ebd. S. 213-214. 83 Mit diesen Untertanen sind die Regierenden gemeint, die als Untertanen des höchsten Souveräns, nämlich Gott, betrachtet werden. 119 3. Ihr müsst euch von falschen84, unsinnigen Religionen und allen schlechten Dingen fernhalten und euch davor schützen. Junge Mudjahedin! Habt ihr schon einmal daran gedacht, wie ihr diese heiligen Aufgaben erfüllt?" Auf die Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei, erteilte der Funktionär selbst die Antwort: "1. Mit einem festen und stahlharten Glauben. 2. Mit lauterer Gesinnung. 3. Mit einem unerschütterlichen Willen, der keine Ängste kennt. 4. Mit unermüdlichem und wohldurchdachtem Arbeitseifer. 5. Keinen anderen Weg einschlagen außer dem der Aufopferung und des Märtyrertums um Allahs Willen." Der Autor erinnerte daran, dass es die "tapferen Jugendlichen" gewesen seien, die unter Arkam Ibn Abi Arkam (Gefährte des Propheten Mohammed) die Muslime aus seinem Haus, das in ein Militärlager verwandelt worden sei, zum Sieg geführt hätten. Die Jugendlichen hätten den Islam verbreitet, eine islamische Regierung gebildet und die Imperien Persien und Byzanz besiegt. Folterungen und Misshandlungen hätten sie über sich ergehen lassen und sie hätten eine "grenzenlose Opferbereitschaft" gezeigt. Dadurch seien sie zu "Macht und Autorität" gelangt und "Führer der Welt" ("cihanda lider") geworden. Die Beschreibung dieses islamischen Imperiums gipfelt in den Gebietserwerbungen des Osmanischen Reiches, das die "Gerechtigkeit des Islam" in diesen Ländern habe walten lassen. Zweifellos wird damit ein nationalistisch bestimmtes Weltbild tradiert, wobei den Jugendlichen die Begriffe "Vorherrschaft", "Macht" und eine militante Terminologie als positiv vermittelt werden. Opfer, Leidensbereitschaft sowie das Martyrium für die Sache werden als unumgänglich, aber im Sinne der Nation beziehungsweise der islamischen Gemeinschaft und deren Hegemonie als wertvolle Tugenden dargestellt. Mit diesen, bei oberflächlicher Betrachtung positiven Angeboten wird aber ein Ziel verfolgt, das weit über die "Sozialarbeit" hinausgeht. Es gilt, die Jugendlichen für die politische Ideologie zu gewinnen, sie von der Vorrangstellung der "Gemeinschaft" vor indivi84 Die Begriffe "batil" ("unbedingt Falsches") und "haqq" ("das unbedingt Richtige") gelten nach Necmettin ERBAKAN als grundlegend für eine gerechte Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Die westliche Zivilisation, d.h. auch die Deutschlands, sind als "batil" einzustufen. Das "Milli Gazete"-Motto "Hak Geldi Batil Zail Oldu" beziehungsweise "Gekommen ist die Wahrheit - Verschwunden ist das Unrecht" weist auf diese immer noch gültige Deutung hin. 120 duellen Belangen zu überzeugen. Bei der damit einhergehenden Vermittlung einer besonderen "islamischen Identität" werden die Probleme einer aus ihrer Sicht abzulehnenden "Angleichung" an die "Nichtmuslime" ("Kafir", d.h. "Ungläubige") hervorgehoben. Es sei "der Islam", der das Leben der Jugendlichen "beherrschen" müsse.85 Hier ist der Islam nicht allein als religiöse Leitlinie für das Individuum gemeint, sondern als umfassendes Regelwerk für das gesellschaftliche Leben, hinter das die Regeln eines demokratischen Rechtsstaats zurücktreten müssten. Aber auch das am Osmanentum orientierte nationalistische Gedankengut wird weitergegeben, indem das Bewusstsein gepflegt 86 wird, "Nachkommen von Eroberern" zu sein. Dies entspricht den programmatischen Vorstellungen, die Necmettin ERBAKAN zu "Milli Görüs" als politische Idee entwickelt hat: "Der Glaube, den Sultan Fatih bei der Eroberung Istanbuls in seinem Herzen hatte, ist Milli Görüs selbst. Unsere Nation hat tausend Jahre die Welt beherrscht. Milli Görüs ist das Medikament [für] alle unsere Probleme.87 Bei einer solchen Betonung des Zwecks des politischen und sozialen Handelns der IGMG zeigt sich, dass die in islamistischen Kreisen verbreitete Vorstellung von der liberalen Gesellschaft als einem die Gemeinschaft bedrohenden Element immer noch gepflegt wird. Dem Christentum, mit dem angeblich ein Dialog unterhalten wird, will man als gefestigt und stark begegnen, um nicht selbst beeinflusst zu werden, sondern um seinerseits beeinflussen zu können. Wie konkret die Vorstellungen im Zusammenhang mit einer Einflussnahme sind, bewiesen IGMG-Funktionäre bei einer Veranstaltung am 4. Juni 2001 in Neu-UIm mit über 1000 Teilnehmern, darunter viele aus Baden-Württemberg. Im Mittelpunkt der Erörterung stand die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft. In fünf Jahren, so ein IGMGFunktionär, gebe es 11 Millionen Muslime in Deutschland und in weiteren fünf Jahren habe man bereits die Einwohnerzahl der ehemaligen DDR erreicht. Wenn man drei Millionen Erwachsene für die IGMG gewinnen könne, sei es kein Problem, eine Partei zu gründen und ins Parlament in Berlin einzuziehen. Voraussetzung hierfür sei aber die deutsche Staatsbürgerschaft. Die hier geltenden Gesetze böten mehr Freiraum als die 85 "Milli Gazete" vom 17. November 2000. 86 "Milli Gazete" vom 16. November 2000. 87 Aus der Homepage von Necmettin ERBAKAN (Stand: 16. Januar 2001). 121 türkischen. Das müsse man ausnutzen. Man werde bereits "von vielen Linksparteien" und deutschen Politikern unterstützt. Es werde noch fünf bis zehn Jahre dauern, aber dann würde man auch das erreichen, was man "wirklich wolle". In Europa führe man die Auseinandersetzung mit anderen Mitteln. Hier sei Wissen und Bildung Macht, aber man könne auch anders kämpfen, sollte man nichts erreichen. Daran denke man aber im Moment nicht. Die Bedenken, dass man mit Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft die türkische verliere, zerstreute der Redner mit dem Hinweis, man könne sich derzeit nach Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft auch die türkische wieder ausstellen lassen, es müsse aber schnell gehandelt werden. Dies wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf das "Rechtsverständnis" der Organisation. Die Politikerin Merve KAVAKCI, die im türkischen Parlament vor Jahren mit ihrem Kopftuch für Schlagzeilen gesorgt hatte, hob auf dieser Veranstaltung ebenfalls die Bedeutung der deutschen Staatsbürgerschaft im Blick auf politische Einflussnahme hervor. Wichtig aber sei der Glaube, für den man kämpfen müsse. Für sie gelte ihr Kopftuch in ihrem Kampf als "ihre Fahne". Damit unterstrich sie ihr Verständnis des Kopftuches als politisches Symbol. Auch der Vorsitzende der IGMG, Mehmet Sabri ERBAKAN, stellte auf der Veranstaltung die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft zum Erreichen des "gemeinsamen Ziels" vor. Er rügte seine Zuhörer, die Zeit untätig verschlafen zu haben. Als deutsche Staatsbürger sollten sie Türken aus der Türkei heiraten. Dies sei mit geringem Aufwand möglich. Dadurch würden die Ehepartner und Kinder ebenfalls Deutsche; man stärke damit die Gemeinschaft und bringe diese ihrem Ziel in fünf Jahren näher. Die Zuhörer wurden während der Veranstaltung von "Einpeitschern" animiert. Einblendungen von Necmettin ERBAKAN wurden frenetisch gefeiert. Man bejubelte ihn mit Sprechchören wie "Hoca, wenn du sagst, wir sollen kämpfen, dann kämpfen wir. Wenn du sagst, wir sollen töten, dann töten wir!". Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch massiv für die "Milli Gazete" geworben. So hob der für die Öffentlichkeitsarbeit der Zeitung zuständige Funktionär hervor, dass jede Partei eine Zeitung habe und dass die "Milli Gazete" von der "Refah-Partisi" (RP, "Wohlfahrtspartei") und deren inzwischen in der Türkei ebenfalls verbotenen Nachfolgerin FP stärker gefördert würde als die auch dem islamischen Spektrum zuzuordnende Tages122 zeitung "Akit". IGMG-Mitglieder und Sympathisanten müssten die "Milli Gazete" abonnieren.88 Auf der Veranstaltung wurde weiter deutlich, dass die von der IGMG gestartete Staatsangehörigkeitskampagne nicht wie behauptet auf Integration abzielt, sondern auf die möglichst effiziente Verfolgung ihrer Ziele, wobei es darum geht, zunächst den türkischstämmigen Bevölkerungsanteil in Deutschland auszuweiten. Diese Ziele sind keineswegs nur unter religiösen Aspekten zu betrachten, stehen aber in engem Zusammenhang mit der Bekämpfung der säkularen Gesellschaftsform, welche die IGMG für die Türkei und die eigene Gemeinschaft türkisch-islamistischer Migranten in Europa ablehnt. Bezeichnenderweise beschrieb keiner der aufgetretenen Referenten genau, was unter den Zielen, die sie "wirklich wollen", zu verstehen sei. Indirekt wurde jedoch deutlich gemacht, dass die islamistische Bewusstseinsbildung bei Muslimen in Deutschland fortgeführt werden müsse. Arbeitslose islamistische Professoren und Prediger, die in der Türkei die Ziele der "Milli Görüs" befördert hätten und deshalb ihre Ämter hätten aufgeben müssen, sollten nach Vorstellungen eines ebenfalls in Neu-Ulm aufgetretenen IGMG-Funktionärs in Deutschland arbeiten. 300 dieser Personen hielten sich bereits hier als Gäste der IGMG auf. 300 weitere hätten in Österreich eine Beschäftigung gefunden. Es ist naturgemäß nicht davon auszugehen, dass diese Lehrkräfte innerhalb Europas ihre ideologische Ausrichtung mäßigen werden. Ganz im Gegenteil wird man ihnen, wie den Hörern in Neu-Ulm auch, vermitteln, dass die "hier geltenden Gesetze... genügend Freiraum" böten, um im Sinne der "Milli Görüs" zu arbeiten. 88 Von IGMG-Funktionären wird indes behauptet, dass die IGMG mit den Äußerungen der "Milli Gazete" nicht in Verbindung zu bringen sei (Presseerklärung der IGMG vom 5. Dezember 2001). 123 3.1.2 "Der Kalifatsstaat" (Hilafet Devleti), früher "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V." (ICCB) Gründung: 1985 als Abspaltung aus der "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) hervorgegangen Sitz: Köln Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (2000: ca. 300) ca. 1.100 Bund (2000: ca. 1.100) Publikationen: "Ümmet-i Muhammed" (Die Gemeinde Mohammeds, in türkischer Sprache) Die kompromissloseste islamistische Vereinigung auf deutschem Boden war der am 12. Dezember 2001 vom Bundesminister des Innern verbotene "Kalifatsstaat". Die Organisation war mit ca. 300 Anhängern auch in Baden-Württemberg vergleichsweise stark vertreten, befand sich aber dennoch in einem relativ zerrütteten Zustand. Der verbliebene "harte Kern" von Anhängern war dazu übergegangen, sich innerhalb informeller Zirkel zu bewegen, die - zumindest nach außen - ihre Verbindung zum "Kalifatsstaat" verschleierten. Der "Kalifatsstaat" richtete sich in kämpferisch-aggressiver Weise gegen die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere gegen das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip unseres Grundgesetzes und verstieß durch seine Hetze u.a. gegenüber der Türkei und Israel gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Seine politische Betätigung zielte - nicht zuletzt wegen der besonderen Aggressivität des Auftretens - auf die Beseitigung wesentlicher Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Namentlich seine auf Umsturz der bestehenden türkischen Staatsordnung gerichtete Zielsetzung gefährdete schließlich auch außenpolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland. Das Verbot des "Kalifatsstaats" wurde durch die Streichung des so genannten Religionsprivilegs89 im Vereinsgesetz möglich, die am 8. Dezember 2001 in Kraft getreten war. 89 Bis zu seiner Abschaffung schützte das Religionsprivileg im Vereinsgesetz Religionsgemeinschaften generell vor einem Verbot - auch dann, wenn sie von Extremisten gesteuert oder maßgeblich beeinflusst wurden. 124 Der selbsternannte "Kalif"90 des "Kalifatsstaats", Metin KAPLAN, war bereits am 15. November 2000 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass KAPLAN zur Tötung des "Gegenkalifen", Dr. Ibrahim Sofu, aufgerufen hatte, der 1997 in Berlin erschossen worden war. Der "Kalif" rechnete zwar zunächst für Weihnachten 2001 mit seiner vorzeitigen Freilassung, zog dann aber unter dem Eindruck einer eventuellen Abschiebung in die Türkei seinen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung zurück. Die scheinbar deutliche Verurteilung der Terrorangriffe in den USA vom 11. September 2001 durch den "Kalifatsstaat" muss als vorrangig taktisch bedingt gewertet werden. Der Verband musste nämlich nach diesen Anschlägen einräumen, dass sich eine "Verbandsdelegation" bereits 1997 in Afghanistan "zufällig" mit Bin LADIN getroffen hatte. Dieses Eingeständnis zeigt, dass die Zweifel an der vor dem Verbot demonstrativ betonten friedlichen Haltung des Verbands berechtigt waren. Seine absurde Wertung, wonach hinter den Anschlägen nicht Osama Bin LADIN, sondern eher ein westlicher Geheimdienst zu vermuten sei, stützt solche Zweifel. Im Übrigen galten für die Anhänger des "Kalifen" die Taliban in Afghanistan und der Iran als Vorbilder für die Gründung eines islamischen Staates. So wurde im Verbandsorgan "Ümmet-i Muhammed" vom 29. März 2001 darauf hingewiesen, dass bei der Machtübernahme Chomeinis im Iran Schah-Darstellungen "auf die Müllhalde der Geschichte" geworfen worden seien. Nachdem die Taliban in Afghanistan die Buddhas zerstört hätten, seien demnächst die Atatürk-Symbole in der Türkei an der Reihe. In der "Ümmet-i Muhammed" vom 22. Februar 2001 wurde die Interpretation einer Koransure durch den verstorbenen Gründer des "Kalifatsstaats", Cemaleddin Kaplan, veröffentlicht. Dieser Text zeigt, dass alle Handlungen, die als "unislamisch" etikettiert werden, nach dem Verständnis des Verfassers Sanktionen nach sich ziehen sollten - bis über das Grab hinaus. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Regelungen sogar Dinge des Alltags betreffen, wobei die Forderung nach "Säuberung" des "islamisch" zu haltenden Umfelds absurde Züge annimmt. So wird dazu aufgefordert, die islamische Zeitrechnung anzuerkennen, "die Kalender der Götzendiener"91 auf den Müll zu werfen und "sich 90 Im Sinne von "Nachfolger des Propheten" und damit spirituelles und weltliches Oberhaupt. 91 Gemeint sind die "Nicht-Muslime". 125 einen Kalender der Scharia, von dem unsere Gemeinde genügend Exemplare hergestellt hat", zu besorgen. Weiter wird postuliert, dass politische, religiöse und weltliche Angelegenheiten untrennbar seien. Alle, die dies nicht beachteten, seien als "Feinde" zu betrachten, selbst wenn es sich um nächste Familienangehörige handle. Das einzige System der Muslime sei die Scharia: "Welchem System entsprechend muss der Staat geführt und die Politik betrieben werden? Natürlich der Scharia entsprechend! Warum? Weil dieses System das wahre und das gerechte System ist und weil die Scharia ein von Allah hinabgesandtes und von dem Propheten Mohammed verkündetes und eingeprägtes System ist." Faschismus, Kapitalismus, Laizismus und Demokratie seien - so die Auslegung weiter - "Götzen" und würden vom Koran nicht anerkannt. Zwischen den "Götzensystemen" und der Scharia stehe eine unüberwindbare Trennlinie. Keine der Glaubensrichtungen habe auf dem Gebiet der anderen etwas zu suchen. Die Demokratie, so Cemaleddin Kaplan, sei als "Teilnahme an Wahlen" zu definieren. Dies sei "Götzendienst". Wähler seien vom Islam abgefallene "Götzendiener". An ihrem Sarg dürfe nicht gebetet werden. Für solche "Abtrünnige" gebe es nur eine Rettung, den sofortigen "Frontwechsel" und ein Leben nach den Gesetzen der Scharia. Hinsichtlich der so genannten "Ungläubigen" wird kein Zweifel offen gelassen, dass diese zu bekämpfen seien: "Es ist eine kanonische Pflicht, gegen die Ungläubigen den Jihad zu führen... selbst wenn nicht die Ungläubigen es sind, die den Krieg begonnen haben."92 Dass der "Kalifatsstaat" unter "Djihad" keineswegs nur ein friedliches Vorgehen versteht, wurde in der Sendung vom 15. April 2001 des verbandseigenen Fernsehsenders "HakkTV" deutlich, in der das Marschlied "Allah ist erhaben - der Prophet ist der Wegweiser" den Abschluss bildete. So hieß es dort: 92 "Ümmet-i Muhammed" vom 15. März 2001. 126 "Die Jihad-Zeit ist gekommen, nimm deine Waffe in die Hand. Binde Dir die Munition um die Taille, schnell, schnell zur Front... Die Tür des Märtyrertums ist vollkommen geöffnet, der Weg zum Paradies beginnt an dieser Tür..." Laut der Verbandspublikation hätten der Kalif und der islamische Staat die Aufgabe, "einen Krieg zu führen gegen diejenigen, die trotz Aufforderung nicht zum Islam übergetreten sind. Dieser Krieg muss fortgesetzt werden, bis diese Menschen zum Islam übertreten oder sich mit der Entrichtung einer Kopfsteuer93 einverstanden erklären."94 "Hauptfeind" des Kalifatsstaats bleibe "der Jude". So heißt es in der "Ümmet-i Muhammed" vom 17. Mai 2001: "Die Juden sind ein Volk, das überall versucht, die bestehende Ordnung zu zerstören. Dieses Volk hat einen Drang, Ruhe und Ordnung zu zerstören, gleichgültig wo auch immer in der Welt diese Ruhe und Ordnung herrschen. Die Juden finden keine Ruhe, bevor sie die besagte Ordnung zerstört haben. Dieses Volk fühlt sich quasi gezwungen, die bestehende Ordnung zu zerstören, um daraus seinen Vorteil zu ziehen... Der Jude genießt es, wenn in der Welt jeder jeden abschlachtet." Dass dieses Zitat keinen Einzelfall darstellt, beweist die Tatsache, dass noch am Tag des Verbots in Vereinsräumlichkeiten des "Kalifatsstaats" antijüdische Flugblätter in deutscher Sprache zur Verbreitung bereitgelegt waren, wie folgendes Beispiel zeigt: "Es gibt die Hauptfeinde des Islam: Kommunismus, Kemalismus und Demokratie! Diese drei Feinde, geführt durch die gleiche Zentrale, d.h. die zionistische Zentrale, starteten in drei Fronten einen Angriff auf die Religion und die Moral... Jawohl! Der Jude hat systematisch versucht, durch diese Diktatoren die gläubigen Muslime zu unterdrücken, ihre Glaubensgefühle absterben zu lassen." Vor diesem Hintergrund dürfte auch die Warnung des "Kalifatsstaats" an die eigenen Mitglieder zu sehen sein, ihr Geld in türkische Holdinggesellschaften zu investieren, da diese vor allem das dortige System stützten. In einem Artikel in der "Ümmet-i Muham93 Arab. "djizya", eine Steuer speziell für anerkannte Nichtmuslime wie Juden und Christen, heute zumeist als Ausgleichszahlung für nicht geleisteten Wehrdienst interpretiert. 94 "Ümmet-i Muhammed" vom 29. März 2001. 127 med" vom 15. Februar 2001 ging der Verfasser davon aus, dass man die westliche Demokratie nur über die Wirtschaft stürzen könne. Die Stütze der Demokratie, ein fehlerhaftes "menschliches System", sei die starke Wirtschaft. Eine solche fehle bezeichnenderweise in der Türkei, da dort das Gebiet der Muslime (wobei nur die "wahren Muslime", also Anhänger des "Kalifatsstaats" gemeint sind) besetzt worden sei. Ein terroristisches System wie das gegenwärtige türkische stelle eben keinen Staat dar. Den "Menschen aus Anatolien" wurde deshalb nahegelegt, ihr Geld künftig beim "Kalifatsstaat" einzusetzen. Dessen Stärkung sollte dann der "Gleichheit und Zufriedenheit der gesamten Menschheit" dienen. Dazu sei es erforderlich, die wirtschaftlichen Möglichkeiten "der Ungläubigen"95 einzuschränken. Schon der Prophet Mohammed habe derartige Maßnahmen ergriffen. Die Gläubigen müssten sich selbst stärken, um als Sieger hervorzugehen. Ungläubige hätten "niemals das Recht", in Freiheit zu leben: "Sie müssen immer mit gebeugtem Nacken gehen und Gefangene sein... dafür muss mit Hilfe aller nach dem Islam erlaubten Mittel solange der Kampf gegen diese fortgeführt werden, bis sie sich beugen und in einen verfluchten Kreislauf der Würdelosigkeit und des Elends ihr Leben fortführen." Die Holdinggesellschaften würden wie die "kapitalistischen jüdischen Finanziers arbeiten" und das Geld auf betrügerische Weise verschleudern. Zum Schluss appellierte der Autor noch einmal an die "wahren Muslime", alle Kontakte zu den Gesellschaften abzubrechen und sich nicht als "Futter" für diese, "einer Fledermaus96 ähnelnden Unternehmen" gebrauchen zu lassen. Die rund 300 Anhänger des Kalifen in Baden-Württemberg zeigten nach außen wenig Aktivitäten. Allerdings ist das umfangreiche propagandistische Material wie Bücher, Flugblätter, Videos und Kassetten, das beim Vollzug des Verbots festgestellt wurde, ein Beleg dafür, dass die Anhänger des "Kalifatsstaats" gewillt waren - und mit einiger Wahrscheinlichkeit es auch nach dem Verbot noch sind - das umzusetzen, was sie als ihre "Mission" für "den islamischen Staat" erachten. Schwerpunkte der Organisation in Baden-Württemberg waren Blumberg/Schwarzwald-Baar-Kreis, Esslingen, Tübingen und Winnenden/Rems-Murr-Kreis. 95 Mit "Ungläubigen" meint der Verfasser in diesem Zusammenhang zunächst alle Muslime - Türken oder solche türkischer Herkunft -, die nicht zum "Kalifatsstaat" gehören. 96 Mit dem Bild der "Fledermaus" soll für den Leser die Vorstellung des "Blutsaugers" hervorgerufen werden. 128 3.2 Extrem-nationalistische Organisationen "Föderation der TürkischDemokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF)/"Deutsche Türk Föderation" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 Baden-Württemberg (2000: ca. 2.100) ca. 7.800 Bund (1999: ca. 7.500) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" (türkisch) Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) ist ein Sammelbecken der extrem-nationalistischen Türken in Deutschland. Sie ist der breiten Öffentlichkeit vor allem unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" bekannt. In Baden-Württemberg existieren über 40 Ortsvereine, die in drei Regionalverbänden organisiert sind. Die wichtigsten Vereine mit bis zu 100 Mitgliedern befinden sich in Stuttgart, Ulm und Mannheim. Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland waren die Funktionäre in den letzten Jahren bemüht, sich vom Image der wegen ihrer Gewalttätigkeit einst berüchtigten "Grauen Wölfe" zu lösen. Allerdings gibt es Anhaltspunkte, wonach dieses defensive Verhalten weitgehend auf kurzfristige taktische Erwägungen zurückzuführen ist. Auf lange Sicht gesehen bleibt die Frage der Militanz offen. Dies könnte insbesondere dann relevant werden, wenn die Mutterorganisation "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) als türkische Regierungspartei für ihre Arbeit in der Koalition, insbesondere wegen ihres Taktierens in der Frage der Todesstrafe für den Vorsitzenden der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), Abdullah ÖCALAN, von unzufriedenen Wählern abgestraft werden sollte. Eigentlich dürften innerhalb der ADÜTDF keine islamistischen Tendenzen existieren. Denn sowohl sie als auch die MHP pflegen den Islam lediglich als "Trittbrettfahrer" zu benutzen, soweit er als politische Bewegung verstanden wird. Die seit einiger Zeit deutlicher gewordene islamische "Orientierung" beschränkt sich freilich auf die Umsetzung der so genannten türkisch-islamischen Synthese, wobei die nationalistische Komponen129 te eindeutig dominiert. Deshalb steht sie im Hinblick auf Sympathisanten in Konkurrenz mit den Islamisten. Diese Rivalität schlug sich in wechselseitiger Polemik nieder. Das Festhalten an pantürkischen und rechtsextremistischen Ideen war nach wie vor unverkennbar, genauso wie die kompromisslose Gegnerschaft zu "Linken" beziehungsweise Minderheiten. So wird etwa auf der Internet-Homepage des ADÜTDF-Vereins in Göppingen die Sprache der "Idealisten" deutlicher: ",Türkei den Türken!' Wir, die idealistische Jugend, schwören auf den Koran, Allah, Vaterland, Nation, Fahne, Basbug97 und die Waffe, dass wir den Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und jede Art von Imperialismus bis zum letzten Atemzug, Blutstropfen und dem letzten Mann bekämpfen werden. Dabei werden wir alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Unser Ziel ist eine nationalistische Türkei und Turanismus98. Wir werden siegen." Selbst wenn die ADÜTDF ihre Attraktivität bei den Anhängern mit kulturellen Veranstaltungen zu steigern suchte, waren ideologische Momente mit volksverhetzendem Charakter zumeist nicht zu übersehen. So zeigten in jüngster Zeit vertriebene Musikaufnahmen, dass es Liedgut gibt, welches ausschließlich zur Diffamierung etwa von Andersdenkenden und "Separatisten" dient: "Meiner Meinung nach ist die Kommunismus-Pest noch nicht ausgerottet, und sie wird nicht so schnell ausgerottet werden... Vor allem in der Türkei, im heiligen Land, nennen sie sich Avantgardisten und Intellektuelle. Diese muss man finden und alle vernichten... Weder ausländische noch inländische Journalisten dürfen in das Gebiet [Südosten der Türkei] hinein. Ganz leise muss man alle beseitigen." 99 In diesem Zusammenhang wird auch "der Westen", den die Sympathisanten der ADÜTDF insbesondere im deutschen Staat wahrnehmen, für seine Haltung gegenüber der Türkei kritisiert: 97 Alparslan Türkes, verstorbener Führer der "Idealisten" beziehungsweise der MHP. 98 Vereinigung aller Turkvölker unter der Führerschaft der "Idealisten". 99 Hier und im Folgenden: Aus der Musikcassette des in MHP-Kreisen sehr bekannten Arif SEN alias Ozan Arif mit dem Titel "Kime Biraktin?" ("Wem hast Du es überlassen?"). 130 "Aber der Westen würde es nicht akzeptieren, heißt es immer. Hört endlich damit auf, auf diese Schweine zu hören. Das Land geht verloren, zum Teufel mit dem Westen." Weiter wird den staatlichen türkischen Stellen im Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt Tatenlosigkeit vorgeworfen und bei den hier lebenden türkischen Mitbürgern Fremdenfeindlichkeit geschürt: "Entweder Ihr stoppt dieses Blutvergießen oder wir werden es tun. Amerika und Europa sind es, die es schüren. Iran, Irak, Syrien sind alle dasselbe Übel, der muslimische Türke hat eben keinen Freund." Die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 wurden zwar innerhalb der Organisation verurteilt und die Opfer bedauert, trotzdem konnten einzelne ADÜTDFAngehörige eine gewisse Genugtuung nicht verhehlen, zumindest was den Anschlag auf das Pentagon betraf. 3.3 Linksextremisten 3.3.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP/-C) Gründung: 1994 in Damaskus (Syrien) nach Spaltung der 1978 in der Türkei gegründeten, 1983 in Deutschland verbotenen "Devrimci Sol" (Dev Sol-Revolutionäre Linke) Leitung: Dursun KARATAS Mitglieder: unter 150 in Baden-Württemberg (2000: ca. 150) ca. 900 Bund (2000: ca. 900) Publikationen: "DEVRIMCI SOL" "KURTULUS" "VATAN" Die DHKP/-C und die überwiegend im norddeutschen Raum agierende "Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C) 100 sehen sich jeweils als die wahre Nachfolgeorganisation der aus der linken Studentenbewegung hervorge100 In Baden-Württemberg ist die THKP/-C inaktiv. 131 gangenen, 1978 in der Türkei gegründeten "Devrimci Sol" (Dev Sol-Revolutionäre Linke). Diese wurde dort bereits zwei Jahre später, in der Bundesrepublik Deutschland am 9. Februar 1983 verboten101, da ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlief. Jahrelange innerorganisatorische Streitigkeiten und nicht zuletzt interne persönliche Zerwürfnisse leitender Parteifunktionäre führten schließlich Ende 1992 zur Spaltung in zwei rivalisierende Fraktionen. Die endgültige Trennung erfolgte mit dem am 30. März 1994 in Damaskus durchgeführten "Parteigründungskongress", bei dem sich der nach dem jetzigen Generalsekretär Dursun KARATAS benannte Flügel die Bezeichnung "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP/-C) gab. Seit Mitte des gleichen Jahres führt die gegnerische Anhängerschaft des ehemaligen, im März 1993 von türkischen Sicherheitskräften erschossenen Führungsfunktionärs Bedri YAGAN die Bezeichnung "Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C). Obwohl beide marxistisch-leninistisch orientierte Fraktionen bis heute die gleichen ideologischen Grundlagen und politischen Ziele haben, nämlich den bewaffneten Kampf gegen die "faschistische Herrschaft der Türkei" uneingeschränkt fortzusetzen, eine "revolutionäre Volksmacht" unter der "Hegemonie des Proletariats aller Volkskräfte" in der Türkei zu verwirklichen und folglich eine "Weltrevolution" anzustreben, sind die DHKP/-C und die THKP/-C weiterhin äußerst zerstritten. In der Vergangenheit wurden diese Flügelkämpfe zwischen den Anhängern der beiden Organisationen auch im Bundesgebiet mit brutaler Gewalt bis hin zum Mord ausgetragen. 2001 hingegen kam es lediglich in der Türkei zu einigen Gewaltauswüchsen dieser Art. Am 13. August 1998 erließ der Bundesminister des Innern - auch wegen der damals erfolgten massiven Anschläge gegen staatliche und insbesondere gegen private türkische Einrichtungen - gegen die THKP/-C ein Betätigungsverbot. Gleichzeitig stufte er die DHKP/-C als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" ein und bezog sie in das frühere Verbot mit ein; die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage wurde am 1. Februar 2000 letztinstanzlich abgewiesen.102 Aufgrund der konsequenten Maßnahmen der deutschen Sicherheitsbehörden setzte sich die Schwächung beider Lager zusehends fort: Eine Vielzahl hochrangiger Füh101 In Deutschland ist das Verbot seit 1989 bestandskräftig. 102 Entscheidung des BVerwG, Az: 1 A 4/98. 132 rungsfunktionäre ist zwischenzeitlich zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, weiteren steht der Prozess bevor oder sie werden mit Haftbefehl gesucht. Zu einer raschen Rekrutierung neuer, qualifizierter Führungskräfte sind weder der KARATASnoch der YAGAN-Flügel derzeit in der Lage. Die DHKP/-C versteht es als ihre "heilige Pflicht", sich gegen "die Tyrannei und Ausbeutung" in der Türkei zu erheben und zu kämpfen. Neben ihrem Hauptfeind Türkei werden "zuallererst der US-Imperialismus" und dessen NATO-Verbündeter, die Bundesrepublik Deutschland, genannt. Deutschland stellt somit in Europa das wichtigste Betätigungsfeld der DHKP-C dar. Ihre hier äußerst konspirativ geschaffenen, festgefügten Organisationsstrukturen hält die DHKP/-C für "einen Teil der Befreiungsbewegung auf der Welt und der internationalen Solidarität". Diese "Hinterfront" habe die Aufgabe, "die Kampffront zu stärken". Als eigene Zielvorgabe formuliert die DHKP/-C "eine Hinterlandstätigkeit, die den revolutionären Volksbefreiungskampf logistisch und propagandistisch und in jeder Hinsicht unterstützt...". Der von Generalsekretär Dursun KARATAS am 12. Februar 1999 für Westeuropa verfügte Gewaltverzicht seiner Organisation hat zumindest in Deutschland bewirkt, dass hier seit dieser Zeit keine gewaltsamen Aktionen mehr festzustellen sind. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele verübte die DHKP/-C in der Türkei allerdings weiterhin Terroranschläge. So starben drei Menschen, als eine DHKP/-C-Angehörige sich am 10. September 2001 vor einem Istanbuler Polizeigebäude in die Luft sprengte. Auf das Konto der DHKP/-C gingen weitere Anschläge auf Polizeibusse und -wachen in der Türkei. Der Versuch, am 21. März 2001 in Kooperation mit anderen türkischen linksextremistischen Gruppierungen ein Attentat auf einen Generalmajor der türkischen Streitkräfte in Ankara durchzuführen, schlug fehl. In Baden-Württemberg gehören der DHKP/-C noch knapp 150 Personen an, die in den Ballungsräumen Stuttgart, Ulm und Mannheim aktiv sind. Versammlungen und Zusammenkünfte werden äußerst konspirativ, zum Teil auch in Räumlichkeiten unverfänglicher Vereine, abgehalten. Zentralveranstaltungen werden zumeist als Folkloreoder Musikdarbietungen getarnt, wobei mit der Organisation sympathisierende türkische Musikgruppen als Anziehungsmagnet dienen. Bei überregionalen Versammlungen im benachbarten Ausland kann die DHKP/-C einige Hundert Besucher mobilisieren. 133 Auch im Jahr 2001 führte die DHKP/-C mit ihrer Vorfeldorganisation "Komitee gegen Isolationshaft" (IKM) landesweit vielfältige Protestund Hungerstreikaktionen durch. Diese standen mit der Gefängnisreform in der Türkei und der damit verbundenen Verlegung politischer Gefangener von den bisherigen Großraumunterkünften in Kleinstgruppenoder Einzelzellen in Zusammenhang. Der am 20. Oktober 2000 begonnene "unbefristete Hungerstreik" wurde wenige Wochen später zum "Todesfasten" gesteigert, das mittlerweile insbesondere innerhalb der DHKP/-C-Anhängerschaft zu zahlreichen Toten geführt hat. Diese sich zuspitzende Entwicklung in der Türkei mündete zunehmend auch in Aktionen der DHKP/-C und des ihr nahe stehenden IKM in Deutschland und im benachbarten Ausland, führte anders als in früheren Jahren aber nicht zu den befürchteten Ausschreitungen, sondern nur zu gemäßigten, störungsfreien Protestmaßnahmen. Allerdings starb ein DHKP/-C-Angehöriger, der sich am 20. April 2001 in Regensburg aus Protest gegen "das Massensterben in den türkischen Gefängnissen" selbst entzündet hatte, an den Folgen seiner Brandverletzungen. Daneben reagierte die DHKP/-C vereinzelt auf aktuelle politische und militärische Vorgänge in der Türkei, auf relevante weltweite Ereignisse und auf sonstige Begebenheiten: So polemisierte sie in ihrem Zentralorgan "VATAN" gegen den vom 20. bis 22. Juli 2001 stattfindenden Weltwirtschaftsgipfel in Genua/Italien und rief zur Teilnahme an den Protestaktionen auf. Wenige Tage später verbreitete sie im Internet eine Erklärung mit dem Titel "Gegen den Kapitalismus, für den Sozialismus" und propagierte hierbei die weltweite Revolution. Ebenso kritisierte die DHKP/-C den vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal aus ihrer Sicht zu Unrecht stattfindenden Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan MILOSEVIC, der sich angeblich für 1,5 Milliarden Dollar von den Imperialisten habe kaufen lassen, um so deren Macht in der "neuen Weltordnung" zu sichern. Der deutschen Bevölkerung riet sie ferner auf Flugblättern, den Urlaub nicht im "Massaker-Land Türkei" zu verbringen. In Flugschriften und Solidaritätsbekundungen agitierte die DHKP/-C gegen die beabsichtigte Verurteilung ihrer "Genossin" Fehriye ERDAL vor einem belgischen Gericht wegen der ihr vorgeworfenen, in der Türkei begangenen Verbrechen. Schließlich verbreitete die DHKP/-C im Internet eine Erklärung zu den "Angriffen" der USA in Afghanistan, die sie als "offene Terrorattacke gegen die Völker dieser Welt" verurteilte. 134 3.3.2 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 360 Baden-Württemberg (2000: ca. 360) ca. 1.600 Bund (2000: ca. 1.800) Militärische Teil"Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO); Organisation: verübt auf dem Gebiet der Türkei Guerillaaktionen Publikationen: "Özgür Gelecek" (Freie Zukunft), seit Januar 2001 in der Türkei verboten; "Isci Köylü" (Arbeiter und Bauer auf dem Weg zur Revolution); Folgepublikation von "Özgür Gelecek" seit Januar 2001: "Partizan" (Der Partisan) "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 (in der Türkei) Mitglieder: ca. 250 Baden-Württemberg (2000: ca. 250) ca. 600 Bund (2000: ca. 600) Publikation: "Politikada Atilim" (Der politische Angriff) Die türkischen Linksextremisten präsentierten sich auch im Jahr 2001 in eine Vielzahl von Organisationen und Gruppierungen zersplittert. Ungeachtet ideologischer und persönlicher Differenzen gab es zu Beginn des Jahres Anzeichen für ein gemeinsames Vorgehen zu dem alles überlagernden Thema "Hungerstreik" beziehungsweise "Todesfasten" politischer Gefangener in türkischen Haftanstalten. Türkischen Medienberichten zufolge handelte es sich um den bisher längsten Hungerstreik in der Geschichte der Türkei. Anlass für den am 20. Oktober 2000 begonnenen und über das Jahresende 2001 hinaus fortdauernden Hungerstreik, in dessen Verlauf bis dahin über 40 Personen an den Folgen des "Todesfastens" gestorben sein sollen, war die von der türkischen Regierung geplante Verlegung politischer Gefangener in die unter der Bezeichnung "F-Typ" bekannt gewordenen neuen Gefängnisse. Mit der Schlagzeile "Der Widerstand wird fortgesetzt, die Angriffe werden zurückgeschlagen" veröffentlichten 13 linksextre135 mistische und kurdische Organisationen, darunter auch die PKK, im Januar 2001 eine gemeinsame Erklärung im Internet. Wörtlich hieß es: "Wir können diesen totalen Angriff nur mit gemeinsamem, einheitlichem Widerstand zurückschlagen. ...Zehntausende sind fest entschlossen, mit ihrer schmerzlichen Wut, mit festem Schritt und den Fäusten die Isolationszellen des Typs F zu zersprengen. ...Wir werden uns mit der aktiven Kampfkraft der Gefangenen solidarisch erklären und sie unterstützen, weil der faschistische Staat gegen die politischen Gefangenen immer noch das Blutvergießen und die Ermordungen auf bestialische Art und Weise fortführt." Am 27. Januar 2001 führten die im Vorjahr gegründeten Aktionsbündnisse DETUDAK103, ÖZTUDAK104 und IKM105 gemeinsam mit der PKK in Köln eine Demonstration unter dem Motto "Hungerstreik in der Türkei, Einmarsch türkischer Truppen im Nordirak, Situation ÖCALANs" durch. Daran nahmen ca. 16.000 Personen aus Deutschland und dem benachbarten europäischen Ausland teil. Ein für die Zeit vom 20. Februar bis 3. März 2001 gemeinsam in Straßburg geplanter Solidaritätshungerstreik wurde wegen Streitigkeiten unter den beteiligten Organisationen vorzeitig abgebrochen. Damit war das koordinierte Vorgehen aller beteiligten Organisationen beendet. Die anfängliche Euphorie darüber, gemeinsam zu handeln, wurde somit nach wenigen Monaten Opfer der Auseinandersetzungen innerhalb des türkischen linksextremistischen Spektrums. Diese Zerrissenheit fand auch Niederschlag in verschiedenen Internetbeiträgen der am Hungerstreik beteiligten Organisationen einschließlich ihrer Vorfeldund Basisorganisationen. So war beispielsweise die DHKP/-C nicht mehr als Unterzeichner auf den von dem DETUDAK verbreiteten Erklärungen aufgeführt. Entsprechende Auswirkungen zeigten sich auch bei Solidaritätsaktionen wie Mahnwachen, Hungerstreiks, Demonstrationen mit Kundgebungen bis hin zu Besetzungen von privaten und öffentlichen Gebäuden. Hatten zu Beginn des Jahres noch mehrere Hundert Aktivisten und Sympathisanten aus Deutschland und dem benachbarten europäischen Ausland an Demonstrationen teilgenommen, war bereits wenige Monate später der Unterstützerkreis erheblich zurückgegangen. 103 "Solidaritätskomitee mit den revolutionären Gefangenen". 104 "Solidaritätskomitee mit den freien Gefangenen in der Türkei und Kurdistan". 105 "Komitee gegen Isolationshaft". 136 In Baden-Württemberg führten die mitgliederstärksten Organisationen wie die beiden Flügel106 der TKP/ML mit ihren Dachverbänden107 ATIF108, ATIK109, ADHF110 und ADHK111 sowie die MLKP mit ihrer Basisorganisation AGIF112 friedlich verlaufene Protestaktionen schwerpunktmäßig in den Städten Stuttgart, Ulm und Freiburg durch. Lediglich die Besetzung eines Büros der SPD-Landesgeschäftsstelle in Stuttgart am 20. April 2001 sorgte kurzzeitig für Aufregung im Unterstützerbereich. Eine Gruppe von sieben Personen, die überwiegend dem Stuttgarter Umfeld der beiden TKP/ML-Flügel und der MLKP zuzurechnen sind, drang mit einem Benzinkanister in die Räume ein. Die anschließend in beschleunigten Verfahren verhängten Geldund Freiheitsstrafen dürften wesentlich mit zu der seither in Baden-Württemberg festgestellten Verminderung von Protestaktionen beigetragen haben. Weiter nutzten die Anhänger und Sympathisanten der TKP/ML und der MLKP Themen wie G-8 - Gipfel in Genua, "Antikriegstag 2001", "Freiheit für das palästinensische Volk" und "Nein zu Terror, Krieg und Rassismus" zur Agitation. Die terroristischen Anschläge in den USA sowie der Krieg in Afghanistan führten allerdings nicht zu einer Mobilisierung. Festzustellen war lediglich eine in diesem Zusammenhang verstärkte Nutzung des Internets zu Propagandazwecken. 4. "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Gründung: 1978 (in der Türkei) Betätigungsverbot in Deutschland seit 26. November 1993 Sitz: Nord-Irak Vorsitzender: Abdullah ÖCALAN, seit seiner Festnahme am 15. Februar 1999 wird die Organisation vom Präsidialrat geleitet. Mitglieder: ca. 900 Baden-Württemberg (2000: ca. 900) ca. 12.000 Bund (2000: ca. 12.000) Publikationen: u.a. "Serxwebun" (Unabhängigkeit); Sprachrohr: Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) 106 Seit 1994 ist die TKP/ML aufgrund innerparteilicher Streitigkeiten in die beiden Lager "Partizan" und "Ostanatolisches Gebietskomitee" gespalten. 107 Organisationen, die auf Veranlassung der Parteiführung gegründet wurden. Bei ihnen soll der politisch prägende Einfluss durch die Kernorganisation gegenüber der Öffentlichkeit verschleiert werden. 108 "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V.". 109 "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa". 110 "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland". 111 "Konföderation für demokratische Rechte in Europa". 112 "Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e.V.". 137 Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), jetzt "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK)113 genannt, definiert sich als die einzig legitime Vertreterin der vor allem aus der Türkei stammenden Kurden. Unter den Kurdenorganisationen ist sie die einflussreichste und mitgliederstärkste. Ursprüngliches Ziel der straff hierarchisch organisierten Kaderpartei war die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan". Deshalb begann sie 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. In Deutschland versuchte die PKK in der Vergangenheit, sowohl durch politische als auch durch gewalttätige Aktionen den Kampf im Heimatland zu unterstützen. Deswegen wurde der PKK und ihrer Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet verboten. Nach der Verhaftung des Vorsitzenden Abdullah ÖCALAN am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und den sich hieran anschließenden Gewaltphasen verkündete die PKK im September 1999 ihre so genannte Friedensstrategie, deren konkrete Ziele auf dem 7. Parteikongress im Januar 2000 beschlossen wurden. Nach eigenem Bekunden fordert sie nun auf politischem Weg und ohne Gewalt die Anerkennung der kurdischen I- dentität und kulturelle Autonomie in der Türkei. Dennoch bleibt die PKK so lange eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands, bis innerhalb der Organisation tatsächlich - wie von der Parteiführung angekündigt - demokratische und gewaltfrei funktionierende Strukturen gebildet werden. Bisher hat sich an der strikt hierarchischen Struktur und an der autoritären Führung der Organisation substanziell nichts geändert. Eine Mobilisierung der Mitglieder und Anhänger auch für gewalttätige Aktionen ist nach wie vor selbst kurzfristig möglich. Demonstrative und politische Aktionen und Konzepte Um die neue politische und friedliche Ausrichtung der PKK auch nach außen zu dokumentieren, wurden bereits im Jahr 2000 mehrere organisationsinterne Veränderungen durchgeführt. So hat die PKK die Parteisatzung in Teilen geändert, ein neues Emblem 113 Auf dem im April 2002 durchgeführten 8. Parteikongress der PKK wurde beschlossen, alle Aktivitäten im Namen der PKK einzustellen. Anschließend gründete man den KADEK. 138 eingeführt und neue Programme erstellt. Außerdem wurden mehrere Teilorganisationen formal aufgelöst und dann unter neuem Namen wieder gegründet beziehungsweise umbenannt: So wird die ehemalige Propagandaorganisation ERNK nun als "Kurdische Demokratische Volksunion" (YDK) fortgeführt, der militärische Arm ARGK heißt jetzt "Volksverteidigungskräfte" (HPG). Schwerpunkt des Jahres 2001 waren verschiedene, zum Teil europaweite demonstrative Aktionen, um die Öffentlichkeit auf den "neuen Kurs" aufmerksam zu machen. Die PKK verstand ihr (jetzt) friedliches Verhalten als Vorleistung, an das sie bestimmte Erwartungen knüpfte. Insbesondere sollten vor allem die europäischen Länder Druck auf die türkische Regierung im Sinne der PKK ausüben. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollte auch die Europäische Union ihren Einfluss zu Gunsten der kurdischen Minderheit wirken lassen. Von Deutschland forderte die PKK speziell mit dem Argument, dass sie nun keine terroristische Organisation mehr sei und der "Friedenskurs" seit über zwei Jahren andauere, das Betätigungsverbot endlich wieder aufzuheben. Den Beginn der demonstrativen Aktionen markierte die im Zusammenhang mit dem 2. Jahrestag der Verhaftung ÖCALANs veröffentlichte Erklärung114 des PKK-Präsidialrats, des derzeit höchsten Entscheidungsgremiums der Partei. Darin wird auf die aus Sicht der Organisation negative Situation der Kurden in der Türkei aufmerksam gemacht und zum Widerstand in Form von demonstrativen Massenaktionen115 aufgerufen. Seitdem wurden zahlreiche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen unter diesem Motto durchgeführt. Eine zentrale Rolle spielte die von zahllosen dezentralen Veranstaltungen begleitete europaweite so genannte Identitätskampagne, die von der PKK im Mai 2001 als Schwerpunkt der "2. Friedensphase" begonnen wurde. Wesentliche Forderungen waren die "Anerkennung der nationalen und politischen Identität der Kurdinnen und Kurden" sowie die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots in Deutschland und Großbritannien. Die Selbstbezichtigung aller Kurden "Ich bin ein PKK'ler" unter Angabe von Name und Adresse war Kern dieser Aktion. Mit diesem Bekenntnis gegenüber Gerichten und Be114 Erklärung vom 3. Februar 2001. 115 So genannter Serhildan: Volksaufstand im Sinne von politischem Kampf beziehungsweise Widerstand. 139 hörden nahm die PKK bewusst in Kauf, dass sich ihre Anhänger der Strafverfolgung aussetzten. Nach Angaben der "Özgür Politika" unterschrieben bis zum 20. Juli 2001 europaweit 83.929 Personen das "Bekenntnis", davon 30.752 in Deutschland. Aus Baden-Württemberg nahmen nach Polizeiangaben insgesamt ca. 2.200 Personen an der Kampagne teil. 116 Zeitlich verzögert führte der PKK-nahe Dachverband "Konföderation kurdischer Vereine in Europa" (KON-KURD) ebenfalls eine Unterschriftensammlung durch. Hier erklärten die Unterzeichner u.a. lediglich, dass sie der Forderung nach Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots zustimmten, ohne sich ausdrücklich zur PKK zu bekennen. Auch die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland" (YEK-KOM) engagierte sich im Rahmen der 2. Friedensinitiative, indem sie Erklärungen zur "Identitätskampagne" abgab und eine Umfrage im Internet initiierte, mittels der insbesondere angebliche Menschenrechtsverletzungen an Kurden in Deutschland aufgedeckt werden sollten. Ein weiterer propagandistischer Schwerpunkt in 2001 war das Verfahren ÖCALANs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gegen die türkische Regierung. ÖCALAN beabsichtigt nach Medienmeldungen nicht nur seine Person, seine als "internationales Komplott" bezeichnete Verhaftung sowie das Verfahren vor den türkischen Gerichten, das zu seinem Todesurteil führte, zum Gegenstand des Prozesses zu machen. Vielmehr beabsichtigt er auch das so genannte Kurdenproblem, das die gesamte "Identität" (Geschichte, Traditionen, Sprache, Lebensumstände u.ä.) der Kurden umfasst, in das Verfahren mit einzubeziehen. Neben öffentlichkeitswirksamen friedlichen Aktionen betonten Funktionäre immer wieder, dass die PKK trotz des "Friedenskurses" ein Recht auf Selbstverteidigung habe. Damit rechtfertigten sie hauptsächlich die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nordirak, die aus ihrer Sicht von den Kämpfern der dort aktiven kurdischen Partei "Patriotische Union Kurdistans" (PUK) auf Veranlassung und unter Mitwirkung des türkischen Militärs ausgegangen sein sollen. 116 Stand: April 2002. In Baden-Württemberg leiteten Polizei und Staatsanwaltschaften in vielen Fällen Ermittlungen ein. 140 Veranstaltungen Die PKK nutzte im Jahr 2001 jeden parteibezogenen Anlass, um friedlich mit dezentralen und zentralen Aktionen und Veranstaltungen die deutsche Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. In Baden-Württemberg fanden vor allem in Stuttgart, Freiburg, Mannheim, Ulm und Heilbronn örtliche Kundgebungen statt. Überregionale Großveranstaltungen scheiterten häufig daran, dass es den Organisatoren nicht gelang, geeignete Hallen anzumieten. In Baden-Württemberg, das flächenmäßig im Wesentlichen in die fünf so genannten PKK-Gebiete Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg, Heilbronn und Bodensee eingeteilt ist, gehören ca. 900 Personen zu dem Mitgliederkreis, der sich regelmäßig aktiv für die PKK beziehungsweise für die ihr nahe stehenden Organisationen engagiert. Das mobilisierbare Potenzial umfasst jedoch mehrere tausend Kurden. Die Mobilisierung erfolgt überwiegend über die der PKK nahe stehenden Vereine, die der Partei nach wie vor eine Plattform für ihre Arbeit geben. Die erste große Demonstration des Jahres 2001 fand am 27. Januar in Köln statt. An ihr nahmen nach Polizeiangaben 16.000 Personen aus dem Inund Ausland teil.117 Allein in Baden-Württemberg waren über 40 Busse für die Veranstaltung angemietet worden. Die PKK verknüpfte mit dieser Demonstration ihre Anliegen - Lösung des Kurdenproblems und die Verbesserung der Haftbedingungen ÖCALANs - mit dem für die linksextremistischen türkischen Organisationen wichtigen Thema der Einführung eines neuen Gefängnistyps118 in der Türkei, ein Anliegen, das bis dahin in PKK-Kreisen so gut wie keine Rolle gespielt hatte. Die Demonstration und eine themenbezogene Erklärung waren freilich nahezu die einzigen gemeinsamen Aktionen mit den linksextremistischen Türken. Dies lag vor allem an dem "Friedenskurs" der PKK, der von den anderen Gruppierungen vehement abgelehnt wird, weil diese ihn als Verrat an den bisherigen gemeinsamen Zielen empfinden. Ein Mitglied des PKK-Präsidialrats kündigte im Zusammenhang mit einer Demonstration am 12. Mai 2001 in Dortmund, an der nach Polizeiangaben rund 35.000 Kurden aus 117 Die "Özgür Politika" berichtete dagegen von 60.000 Demonstranten. 118 "F-Typ": Überwiegend Einzelzellen statt der bisher üblichen Gemeinschaftsräume. 141 dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland teilnahmen, die "2. Friedensoffensive" an. Mehrere der PKK nahe stehende Organisationen eröffneten dann am 31. Mai 2001 in Berlin mit einer "gemeinsamen Erklärung der Veranstalter" auf einer "Pressekonferenz" die "2. Friedensinitiative" und die "Identitätskampagne". Danach fanden europaweit Aktionen statt, die jedoch in Deutschland von örtlichen Behörden wegen Bezügen zur PKK teilweise verboten wurden. Im gleichen Zusammenhang stand ein "Friedensmarsch", der in Mannheim am 29. Juni 2001 begann und über Heidelberg, Heilbronn, Stuttgart und Pforzheim nach Karlsruhe führte, wo er am 11. Juli 2001 beendet wurde. An dem friedlichen - aber relativ wenig beachteten - Marsch unter dem Motto "Für Anerkennung der politischen und kulturellen Rechte der Kurden - für Demokratie in der Türkei" nahmen rund 120 überwiegend der PKK-Jugendorganisation "Union der Jugendlichen aus Kurdistan" (YCK) zuzurechnende Personen teil, von denen viele mit weißen Überziehwesten mit dem Bild ÖCALANS auf der Brustseite und Fotos von "Märtyrern" auf der Rückseite bekleidet waren. In Stuttgart fand anlässlich der Friedensinitiative am 6. Juli 2001 eine vom Verwaltungsgericht unter Auflagen gestattete Kundgebung statt, an der sich ca. 210 Personen beteiligten. Am 1. September 2001 wurde schließlich das traditionelle "9. Internationale Kurdistan Festival" durchgeführt. Zu der Großveranstaltung, die maßgeblich von der YEK-KOM organisiert wurde und unter dem Motto "Lasst uns gemeinsam den Frieden säen!/Freiheit für ÖCALAN! Unsere Identität ist unsere Ehre!" stand, waren nach offiziellen Angeben aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland über 45.000 Kurden (davon mindestens 3.000 aus Baden-Württemberg) nach Köln gereist. Die meisten Redner gingen auf den "Friedenskurs" der PKK ein und plädierten für dessen Fortsetzung. Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA Die PKK-Führung verurteilte die Anschläge in den USA. Der Vorsitzende des PKKdominierten "Kurdischen Nationalkongresses" (KNK) sprach laut "Özgür Politika" im 142 Namen aller Kurden dem amerikanischen Volk das Beileid aus. Aus Sicht der PKK liegt die Ursache für die Anschläge allerdings im überheblichen Verhalten der USA gegenüber anderen Völkern und deren Wertvorstellungen. Als Folge der Anschläge befürchtete die Organisationsführung, dass die Türkei den internationalen Kampf gegen terroristische Organisationen nutzen könnte, um wieder verstärkt militärisch gegen die PKK vorzugehen. Vor allem die Guerilla-Kämpfer, die sich im Spätsommer 1999 nach der Verkündung des "Friedenskurses" aus der Türkei zurückgezogen hatten und sich seitdem im Nordirak aufhielten, wurden als mögliches Ziel der türkischen Aktionen angesehen. Finanzierung In der Vergangenheit benötigte die PKK beträchtliche finanzielle Mittel für die Durchführung militärischer Aktionen. Jetzt werden Gelder überwiegend für den Parteiapparat sowie die europaweite Propagandatätigkeit benötigt. Die Finanzierung all dieser Aktivitäten erfolgt zum einen über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und Gewinne aus Großveranstaltungen. Zum anderen sollen die angesprochenen Landsleute bei der jährlichen Spendenkampagne einen Betrag in Höhe der monatlichen Einnahmen abliefern. Im Rahmen der letzten beiden Spendenkampagnen entrichteten viele Kurden den geforderten Betrag jedoch entweder gar nicht oder nur zum Teil. Als Begründung wiesen sie darauf hin, dass der bewaffnete Kampf beendet sei und somit keine Gelder mehr benötigt würden. Trotz des "Friedenskurses" wurden jedoch auch bei der jüngsten Spendenkampagne bundesweit wieder einige Fälle von Disziplinierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit den Geldeintreibungen bekannt. Prognose Laut "Özgür Politika" soll die PKK auf ihrer im August 2001 "in den Bergen Südkurdistans" durchgeführten 6. Nationalkonferenz rund 100 Beschlüsse zur "neuen Periode des politischen Kampfes" gefasst haben, die den Namen "3. Friedensinitiative" tragen soll. Von da an häuften sich die Meldungen, dass innerhalb der PKK diskutiert werde, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, wenn die Türkei den "Friedenskurs" der PKK nicht akzeptiere und nicht endlich deren Forderungen nach mehr Rechten für die Kurden nachkomme. Damit bezweckt die Organisation wohl eine Erhöhung des Drucks auf die türkische und andere Regierungen. Weiter will sie damit die eigene Anhängerschaft 143 wieder enger an sich binden. Diese hat den "Friedenskurs" zwar nach anfänglichen Protesten und Unmutsäußerungen weitgehend akzeptiert, lässt sich aber nicht mehr so leicht wie früher zur Teilnahme an Aktionen bewegen oder zur Zahlung von hohen Spendengeldern veranlassen. Des Weiteren gab es immer wieder Meldungen über die Bildung von Oppositionsgruppen. Eine ernstzunehmende Gegenbewegung konnte sich bisher jedoch noch nicht bilden. Sollte tatsächlich im Rahmen der internationalen Terrorismusbekämpfung auch gegen die PKK vorgegangen werden, wird deren Führung sehr wahrscheinlich ihre Strategie ändern. Mit welchen Aktionen die PKK reagieren wird und ob sie auch in Deutschland wieder gewalttätige Handlungen durchführen lässt, die entweder von der Organisation direkt gesteuert oder deren "spontane" Ausführung durch Anhänger geduldet oder gar gefördert werden, dürfte vorrangig vom Verhalten der türkischen Regierung abhängig sein. 5. Iranische Gruppen Die aktivste Gruppe der iranischen Opposition außerhalb Irans ist der "Nationale Widerstandsrat Iran" (NWRI). Seiner Selbstdarstellung zum Trotz, die eine pluralistische Zusammensetzung vorspiegelt, wird der "Widerstandsrat" von der "Organisation von Volksmodjahedin119 Iran" (PMOI) beherrscht. Unbestrittene Führungspersönlichkeiten sind Masoud und Maryam RADJAWI, die ihren Anspruch auf die Führungsrolle im Iran in einer Zeit nach dem "Mullah-Regime" immer noch nicht aufgegeben haben. Köln ist Sitz der NWRI-Deutschlandzentrale und gilt als eine der bedeutendsten Basen in Westeuropa. Anfang 2001 wurden die Volksmodjahedin in Großbritannien als terroristische Vereinigung verboten. Die Gruppierung versucht immer wieder, mit größeren - teilweise spektakulären - Aktionen auf sich und ihre Ziele aufmerksam zu machen. So fand am 10. Februar 2001 in Karlsruhe eine Veranstaltung zum Gedenken an "Märtyrer" des NWRI statt, an der 300 Personen teilnahmen. In Genua/Italien versammelten sich am 19. Juli 2001 am Rande des G8-Gipfeltreffens auf dem Tammaseo-Platz mehrere tausend Iraner zu einer Großkundgebung. Die Teilnehmer reisten aus Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden an. Die Demonstranten forderten auf ihren Plakaten die Teilnehmer des G8119 Persische Schreibweise, vgl. S. 107. 144 Gipfels namens des "iranischen Volkes" auf, die ständige Verletzung der Menschenrechte und den Terror des islamischen Regimes zu verurteilen. Eine weitere Forderung war, über das "Mullah-Regime" ein totales Embargo zu verhängen. Während der Kundgebung wurden Szenen aus der iranischen Gerichtsbarkeit beziehungsweise dem dortigen Strafvollzug nachgestellt: Todesstrafe durch Erhängen, Steinigungen, Peitschen, Abhacken von Händen sollten die Unmenschlichkeit der vom NWRI als "PfaffenRegime" bezeichneten iranischen Regierung plastisch vor Augen führen. Der "bewaffnete Arm" der PMOI, die "Nationale Befreiungsarmee" (NLA) führt seit Jahren auf iranischem Boden einen Guerilla-Kampf gegen das "Mullah-Regime" mit dem Ziel, das Regime zu stürzen. Angriffsziele waren in der Vergangenheit Kasernen der Armee und der Revolutionsgarden, Polizeistationen, Geheimdienstzentralen und sonstige staatliche Einrichtungen. Verübte Morde wurden als "Bestrafungsaktionen" wegen von diesen Personen begangener Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt. Die NLAAnschläge hatten militärische Abwehrmaßnahmen der iranischen Streitkräfte in Form von Luftoder Raketenangriffen auf Lager der NLA im Irak zur Folge. Der NWRI versteht es seit langem, das Thema "Menschenrechte" für seine Belange zu instrumentalisieren. Einem Aufruf der "Justizkommission" des NWRI folgend versammelten sich Anhänger der Vereinigung in Den Haag, Paris, Nürnberg, Stockholm, London, Washington und Los Angeles, um dort "Gerichtshöfe des iranischen Volkes" zur Sammlung von Beweismaterial für die Verbrechen der Mullahs gegen die Menschlichkeit zu bilden. Diese Beweise über Hinrichtungen, Folter, religiöse und ethnische Unterdrückung, systematische Vergewaltigungen von Frauen in den Gefängnissen sowie terroristische Angriffe im Ausland waren zur Übermittlung an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorgesehen. Die "Gerichtshöfe" hielten Sitzungen zur Zeugenanhörung ab. Die Aussagen der Zeugen wurden protokolliert und Videoaufnahmen gefertigt. Solche "Gerichtsverhandlungen" fanden auch mehrfach in Baden-Württemberg statt. Der NWRI befindet sich gegenwärtig in einer schweren finanziellen Krise. In deutschen Städten und Gemeinden erhielt der NWRI nämlich nur noch selten die Erlaubnis, öffentliche Spendensammlungen durchzuführen, die jedoch zur Aufrechterhaltung seiner Strukturen auch im Irak unverzichtbar sind. 145 6. Volksgruppen aus dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien Im Mittelpunkt des politischen Interesses der in Baden-Württemberg120 lebenden Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien, hauptsächlich aber bei den Serben und den Kosovo-Albanern, standen im Jahr 2001 folgende Ereignisse: Die Festnahme des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan MILOSEVIC am 31. März 2001 und seine Überstellung an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. Der "Befreiungskampf" der im "Ostkosovo"121 agierenden "Befreiungsarmee von Presevo, Medvedja und Bujanovac" (UCPMB), die für die Angliederung dieses Territoriums an das Kosovo kämpfte. Der Konflikt konnte durch internationale Intervention weitgehend befriedet werden. Die zumindest vorläufig u.a. durch die Intervention der westlichen Staatengemeinschaft abgeflauten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der mazedonischen "Nationalen Befreiungsarmee" (UCK)122 und der mazedonischen Armee. Aufgrund der finanziellen, personellen und logistischen Unterstützung der mazedonischen UCK durch ehemalige UCK-Kommandeure und Funktionäre der linksextremistischen "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) sowie weiteren "Befreiungsgruppierungen" im Kosovo verhängten unter anderem die "Europäische Union" (EU), die Schweiz und die USA im Sommer 2001 ein vorläufiges Einreiseverbot gegen mehr als 20 Unterstützer. Darüber hinaus wurde das Auslandsvermögen von fünf im Kosovo/Mazedonien agierenden extremistischen gewaltbereiten Organisationen eingefroren. Die Stimmung zwischen den in Baden-Württemberg lebenden Serben und KosovoAlbanern hat sich weitgehend beruhigt. Teilweise kommunizieren die beiden einst ver120 Insgesamt leben in Baden-Württemberg 257.791 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien, Montenegro). Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Stand 31. Dezember 2000. 121 Dieses Gebiet gehört zu Südserbien und ist überwiegend "albanisch" besiedelt und wird von Kosovo-Albanern auch als "Kosovo Lindore" (Ostkosovo) bezeichnet. 122 Diese ist jedoch nicht mit der bekannteren "Befreiungsarmee Kosovos" (UCK) identisch. In Mazedonien steht "K" für das albanische "kombetar", das so viel wie national bedeutet. Ziel dieser Gruppierung waren weitgehende Autonomierechte für die albanische Minderheit in Mazedonien. 146 feindeten Bevölkerungsgruppen wieder miteinander. Für beide Seiten steht die Achtung des ihnen gewährten Gastrechts im Vordergrund. Anlässlich des 2. Jahrestags der NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien sowie auf serbische Einrichtungen im Kosovo organisierten Serben Mahnwachen am 24. März 2001 in Stuttgart sowie zusammen mit deutschen linksextremistischen Gruppierungen in Heidelberg, Mannheim und Tübingen, an denen jeweils bis zu 50 Personen teilnahmen. Befürchtete Demonstrationen von Serben anlässlich der Auslieferung von MILOSEVIC an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag blieben aus. Lediglich in internen Kreisen wurde diese Thematik diskutiert. Funktionäre der linksextremistischen kosovo-albanischen Emigrantenorganisation "Volksbewegung für Kosovo" (LPK) versuchten, die hier lebenden Landsleute für die Unterstützung der von ihr personell, vor allem aber finanziell unterstützten "Befreiungsarmeen" in Südserbien und in Mazedonien zu gewinnen. Spendenaufrufe und "Informationsveranstaltungen" wurden auch in Baden-Württemberg zu Gunsten der von der LPK initiierten mehr oder weniger humanitären Fonds durchgeführt. Der Fonds "Zeri i Atheut" (Stimme der Heimat) diente zur Unterstützung der UCPMB in Südserbien und war nach deren Auflösung Ende Mai 2001 nicht mehr aktiv. Die Leitung des ebenfalls bereits weitgehend eingestellten Fonds "Lirija Kombetare" (Nationale Freiheit) befand sich in der Schweiz. Dieser Anfang März 2001 in Mazedonien eingerichtete Fonds diente der Unterstützung der UCK in Mazedonien. Der inzwischen eingestellte LPK-Fonds "Vendlindja Therret" (Das Vaterland ruft) war wegen Unregelmäßigkeiten bei der Spendenverteilung in Verruf geraten. In der bewaffneten Phase der militärischen Auseinandersetzungen konnten in Süddeutschland mehrere Stützpunkte dieses Fonds lokalisiert werden. Bei "Informationsveranstaltungen" beispielsweise in Göppingen wurden die Teilnehmer auf ihre moralische Pflicht hingewiesen, für die im jeweiligen Krisengebiet lebenden Landsleute und die dort operierenden "Befreiungskräfte" zu spenden. Die bei diesen Sammelaktionen gespendeten Gelder wurden per Kurier oder durch Mittelsmänner albanischer Reisebü147 ros in das Heimatland transferiert. In den Monaten März bis Ende August 2001 konnten in Süddeutschland mehrere Hunderttausend Mark gesammelt werden. Nach Beendigung der NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien, Montenegro) im Juni 1999 hatte eine Vielzahl von Kosovo-Albanern Deutschland zumindest vorläufig verlassen, um sich in der Heimat aktiv am Wiederaufbau zu beteiligen. Unter den Rückkehrern befand sich auch eine nicht unbedeutende Zahl von Mitgliedern beziehungsweise Anhängern der extrem-nationalistischen "Nationaldemokratischen Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.), Sitz Donzdorf/Krs. Göppingen (in BadenWürttemberg ca. 30 Mitglieder, bundesweit ca. 100) und der "Volksbewegung von Kosovo" (LPK), Sitz Pristina/Kosovo (in Baden-Württemberg ca. 40 Mitglieder, bundesweit ca. 200). In Baden-Württemberg existieren auf Grund dieser Entwicklung lediglich noch Reststrukturen beider Organisationen. Die Ortsgruppen (Volksräte) der LPK haben vorerst ihre Arbeit eingestellt. Die noch hier lebenden Funktionäre verhalten sich abwartend, da ihrer Meinung nach Impulse zur Reaktivierung der Parteiarbeit vom stärksten Exilverband der Organisation aus der Schweiz kommen müssten. Öffentlichkeitswirksame Aktionen kosovo-albanischer Organisationen in BadenWürttemberg wurden nur im Zusammenhang mit dem traditionellen Besuch der Gräber von drei Exil-Albanern am 20. Januar 2001 auf dem Steinhaldenfriedhof123 in StuttgartBad-Cannstatt bekannt. Diese Veranstaltung wurde von der LPK und der "Demokratischen Partei Kosovos" (PDK)124 organisiert. Im Anschluss an die Gedenkfeier fand in der Festhalle in Ostfildern-Kemnat/Krs. Esslingen eine Informationsveranstaltung statt, an der etwa 300 Personen teilnahmen, darunter auch Vertreter verschiedener kosovo-albanischer Organisationen beziehungsweise Vereine aus dem Inund Ausland. Ein führender Funktionär der PDK nutzte die Zusammenkunft, um in einer Propagandarede über die zurückliegenden kriegerischen Auseinandersetzungen zu referieren. Er hob insbesondere darauf ab, dass nur die PDK125 das Recht habe, sich auf die UCK und somit auf die Befreiung der Heimat zu berufen. 123 Dort befinden sich die Grabstätten von drei am 17. Januar 1982 in Untergruppenbach/Krs. Heilbronn vermutlich von Angehörigen des damaligen jugoslawischen Geheimdienstes erschossenen Exiljugoslawen albanischer Volkszugehörigkeit. Die Getöteten waren Mitbegründer der "Volksbewegung von Kosovo" (LPK), die damals noch als "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ) firmierte. 124 Bei der PDK handelt sich im weiteren Sinne um eine Nachfolgeorganisation der LPK. 125 Der Vorsitzende der PDK im Kosovo, Hasim THAQI, ehemaliger Führer der "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK) sowie weitere Funktionäre der Partei im Ausland propagierten in der Vergangenheit mehrfach, dass nur die PDK und somit die UCK allein das Recht habe, die Befreiung des Kosovos für sich zu beanspruchen. Die PDK ist kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 148 Auch die politische Arbeit der B.K.D.SH. war auf Grund der Abwanderungstendenzen ihrer Mitglieder stark beeinträchtigt. Sie trat in 2001 nicht durch öffentlichkeitswirksame Aktionen in Erscheinung, sondern führte lediglich interne Veranstaltungen zur allgemeinen politischen Entwicklung im Kosovo durch. Die Terroranschläge vom 11.September 2001 in New York wurden sowohl in Kreisen beider Emigrantenvereinigungen als auch bei den übrigen Volksgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien auf das Schärfste verurteilt. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass bereits im Bosnienkrieg, aber auch auf Seiten der UCK im Kosovo, Mudjahedin als Kämpfer wie als Ausbilder gedient hatten. 7. Sikh-Organisationen "Babbar Khalsa International" (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz: Merzenich/Kreis Düren Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (2000: 30) ca. 200 Bund (2000: 200) "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main 1997 Anmeldung einer Teilorganisation der ISYF als Ausländerverein in Tübingen Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2000: 80) ca. 600 Bund (2000: 600) Publikation: "Des Pardes" 149 Die weltweite Bekämpfung des Terrorismus hat auch für die im nordindischen Bundesstaat Pandschab126 agierenden extremistischen Sikh-Organisationen sowie deren Auslandsabteilungen weitreichende Konsequenzen nach sich gezogen. Bereits im Februar 2001 verabschiedete die britische Regierung ein "Anti-Terror-Gesetz"127, nach dem sowohl die "International Sikh Youth Federation" (ISYF) als auch die "Babbar Khalsa International" (BK)128 in Großbritannien als terroristische Gruppierungen eingestuft wurden. Die dadurch unter Zugzwang stehende indische Regierung verkündete daraufhin im Oktober 2001 eine "Anordnung zur Verhütung von Terrorismus". In diesem "Erlass" wurden die ISYF und die BK129 auch in Indien mit einem Organisationsverbot belegt. Reaktionen von im Ausland agierenden extremistischen Sikh-Gruppierungen sind bisher nicht bekannt geworden. In Deutschland130 zählen die in mehrere Flügel gespaltene ISYF und die BK mit insgesamt 800 Mitgliedern zu den bedeutendsten extremistischen Sikh-Gruppierungen.131 In Baden-Württemberg haben sich beispielsweise in Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und im südbadischen Raum ca. 110 Anhänger in losen Zirkeln etabliert. Die Organisationen verzichten seit Jahren unter dem Druck politisch neutraler Sikhs auf aggressive, aufsehenerregende Aktionen132, um nicht dem Ansehen ihrer Volksgruppe nachhaltig zu schaden. Die Aktivisten sind vielmehr bestrebt, die Öffentlichkeit durch friedliche Aktivitäten auf die problematische Situation der Sikhs im Heimatland aufmerksam zu machen. Treffpunkte von Sikhs sind die Tempel ("Gurdwaras"), in denen hauptsächlich religiöse und kulturelle, aber auch politische Veranstaltungen und Spendensammlungen durchgeführt werden. Im Rahmen dieser Veranstaltungen wird regelmäßig das Ziel aller extremistischen Organisationen, nämlich die Schaffung eines unabhängigen Staates "Khalistan" (Land der Reinen) propagiert. Die wichtigsten Aktionsschwerpunkte für die politisch extremistischen Betätigungen der Sikhs sind die Tempel in Frankfurt/Main und 126 "Land der fünf Flüsse", wird von den Sikhs als "homeland" betrachtet. 127 Die britische Regierung stufte insgesamt 21 Organisationen als terroristische Vereinigungen ein. 128 Diese Bezeichnung wird von der "Babbar Khalsa" für ihre Auslandsorganisation verwendet. 129 Die BK war in Indien bereits verboten. Durch das neuerliche Verbot wollte die indische Regierung die besondere Gewaltbereitschaft der Organisation unterstreichen. 130 Weitere bedeutende Exilländer der extremistischen Sikh-Organisationen sind die USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich. 131 Die weniger bedeutende "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) hat sich, nachdem sie erst 1997 gegründet worden ist, bereits wieder aufgelöst. Hauptgrund hierfür waren persönliche und ideologische Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Mitgliedern. 132 Höhepunkte der Gewalt, zu der sich extremistische Sikhs bekannt hatten, waren u.a. die Ermordung eines mutmaßlichen Kollaborateurs der ISYF in Frankfurt/Main im Mai 1991 und der missglückte Mordanschlag auf den indischen Botschafter in Bukarest/Rumänien im August 1991. 150 Köln. Weitere befinden sich unter anderem in Duisburg, Leipzig, Mannheim, Stuttgart und neuerdings auch in Iserlohn (Nordrhein-Westfalen). Die Aktivitäten der extremistischen Gruppierungen in Deutschland konzentrierten sich im Wesentlichen darauf, ihre im Heimatland agierenden Mutterorganisationen zu unterstützen. So wurden "Märtyrer"-Gedenktage regelmäßig zur finanziellen Abschöpfung der hier lebenden Landsleute genutzt. Daneben dienten auch religiöse Feierlichkeiten Führungsfunktionären als Plattform für ihre politische Agitation. Kennzeichnend für eine Intensivierung der politischen Propagandaarbeit war die Europa-Rundreise eines hochrangigen indischen Sikh-Politikers. In seinen Ansprachen appellierte er an die nationale Verbundenheit der im Ausland lebenden Sikhs und versuchte, seine Landsleute von der Notwendigkeit der Unterstützung des "Freiheitskampfs" zu überzeugen. Vor allem forderte er alle Sikh-Gruppierungen in Deutschland auf, sich im Interesse des gemeinsamen Ziels zu solidarisieren, um bei den bevorstehenden Parlamentswahlen133 den größtmöglichen Erfolg erringen zu können. Ein weiteres Betätigungsfeld waren die Organisation und Durchführung von Protestdemonstrationen. Anlässlich des Jahrestags der Erstürmung des "Heiligen Tempels" in Amritsar134 demonstrierten annähernd 300 Sikhs am 9. Juni 2001 in Frankfurt/Main. Im Rahmen dieser Aktion stellten sie u.a. folgende Forderungen: "Alle politischen gefangenen Sikhs sofort freilassen, allen Minderheiten Freiheit gewährleisten, Menschenrechte achten und die Tötung in Polizeigewahrsam, Vergewaltigung von Frauen in Gefängnissen sofort stoppen... Das Land Khalistan ohne Blut zu vergießen freigeben." Am 18. August 2001 initiierten die ISYF und die BK anlässlich des indischen Unabhängigkeitstages (15. August) in Frankfurt/Main eine Demonstration, bei der etwa 250 Sikhs ihr Selbstbestimmungsrecht und einen unabhängigen Staat "Khalistan" forderten. Die Demonstranten skandierten Parolen wie beispielsweise "Wir brauchen Freiheit", "Wir kämpfen für unsere Rechte" und "Die indische Regierung ist schlimmer als es die briti133 Die Parlamentswahlen im Pandschab werden voraussichtlich im Frühjahr 2002 durchgeführt. 134 Dieses religiöse Zentrum/Heiligtum der Sikhs im indischen Bundesstaat Pandschab wurde am 6. Juni 1984 durch einen Angriff indischer Truppen (Operation "Blue Star") erheblich beschädigt. Bei den Kämpfen verloren mehr als 1.500 Aufständische ihr Leben (darunter auch der heute als "Märtyrer" glorifizierte Anführer Bhindranwale). 151 sche Regierung war". In Flugschriften wurde die indische Regierung der Verletzung von Menschenrechten bezichtigt. An die deutsche Regierung wurde darüber hinaus appelliert, sich verstärkt für die Interessen der Sikhs einzusetzen. 8. "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Mönchengladbach (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (2000: 80) ca. 750 Bund (2000: 750) Der seit 1983 andauernde Kampf der sich an marxistisch-leninistischen Grundsätzen orientierenden "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) gegen die überwiegend singhalesischen Regierungstruppen Sri Lankas wurde auch in 2001 mit unverminderter Härte fortgeführt. Ziel der "Befreiungstiger" ist die Schaffung eines autonomen, sozialistisch geprägten Staats "Tamil Eelam".135 Zahlreiche terroristische Anschläge belegen die Entschlossenheit, mit der die LTTE eine Destabilisierung der Region herbeiführen wollen. Die spektakulärste Terroraktion in 2001 war der von Selbstmordattentätern verübte Anschlag auf den internationalen Flughafen in Colombo/Sri Lanka am 24. Juli. 136 Die LTTE zählen zu den weltweit am besten ausgebildeten und aktivsten terroristischen Gruppierungen. In den vergangenen 20 Jahren hat die Organisation mehr als 160 Guerillaaktionen durchgeführt. Deshalb wurde sie in den USA bereits im Herbst 1997 auf eine Liste der dreißig gefährlichsten internationalen Terrororganisationen gesetzt. Am 26. Januar 1998 erfolgte das formelle Verbot durch die sri-lankische Regierung. Auch in Großbritannien wurde den "Befreiungstigern" auf Grund eines Anfang 2001 von der britischen Regierung verabschiedeten "Anti-Terror-Gesetzes" jegliches Agieren verboten. 135 Nach den Vorstellungen der LTTE soll der zukünftige Tamilenstaat gemäß einer bereits im Sommer 2000 veröffentlichten Internetseite letztendlich die ganze Insel Sri Lanka und sogar den indischen Bundesstaat Tamil Nadu umfassen. 136 Insgesamt kamen bei dem Anschlag ca. 20 Menschen ums Leben. Ausländische Touristen wurden nicht verletzt. Mehrere Zivilund Kampfflugzeuge wurden zerstört. Der Sachschaden wurde nach Regierungsangaben auf rund 350 Mio. US-Dollar beziffert. 152 Innerhalb des Bundesgebiets sind die nach hierarchischem Prinzip gegliederten LTTE stets bestrebt, auf alle Lebensbereiche der hier lebenden Tamilen Einfluss zu nehmen. Bereits in den Unterkünften für Asylbewerber wird die Möglichkeit genutzt, eine hohe Anzahl von tamilischen Volkszugehörigen direkt anzusprechen. Zur Wahrung der landsmannschaftlichen Interessen dient ein von den LTTE geschaffenes, breitgefächertes Netz von Klubs und Vereinen. Diese haben die Aufgabe, die hier lebenden Tamilen kulturell, sportlich und sozial in ihr Vereinsleben einzubinden und tamilische Identität zu stiften. Der deutschen LTTE-Sektion gehören etwa 750 Personen an. In Baden-Württemberg können ca. 80 Personen dem engeren LTTE-Umfeld zugerechnet werden. Stützpunkte existieren hauptsächlich in den Regionen Bad Friedrichshall/Krs. Heilbronn, Heilbronn, Ludwigsburg und Stuttgart. Die finanzielle Abschöpfung der in Deutschland lebenden Tamilen bildete nach wie vor einen Arbeitsschwerpunkt der deutschen LTTE-Sektion. So boten z.B. die von den Tarnbeziehungsweise Nebenorganisationen137 der LTTE initiierten Kultur-, Sportund Gedenkveranstaltungen eine nicht unerhebliche Einnahmequelle, u.a. durch den Verkauf von Propagandaartikeln. Am 20. Januar 2001 führte die "Kultur Vereinigung der Tamilen e.V." in StuttgartDegerloch eine "Kulturveranstaltung" durch, bei der es sich in Wirklichkeit um eine "Heldengedenkfeier" zu Ehren eines ehemaligen LTTE-Funktionärs138 handelte. An dieser Veranstaltung nahmen 700 Personen teil. Am 17. Juni 2001 fand in Sindelfingen/Krs. Böblingen unter dem Motto "Tamilisches Erweckungsfest 2001" eine Veranstaltung mit ca. 2.500 Teilnehmern statt. Auf dem Einladungsplakat war der LTTE-Führer Velupillai PIRABAKARAN abgebildet. 137 Hierzu zählen die "World Tamil Movement e.V." (WTM), die "Tamil Rehabilitation Organisation e.V." (T.R.O.) und der "Tamilische Studentenverein Deutschland e.V." (T.S.O.) 138 Sathasivam Krishnakumar, genannt "KITTU", wurde im Januar 1993 zusammen mit anderen LTTE-Soldaten an Bord eines Kriegsschiffes der LTTE von einem Patrouillenboot der indischen Marine aufgebracht. Um sich der drohenden Festnahme zu entziehen, beging er durch Einnahme einer Zyankalikapsel Selbstmord. 153 Des Weiteren nutzte die Organisation neben diversen Publikationen auch das Internet und einen Nachrichtensender zu Propagandazwecken, um die hier lebenden Tamilen über aktuelle Ereignisse in ihrem Heimatland zu informieren. 154 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, erste Niederlassung in Deutschland 1970, erste Niederlassung in Baden-Württemberg 1972 Gründer: Lafayette Ronald Hubbard (1911 - 1986) Sitz: Los Angeles ("Church of Scientology International", CSI) Mitglieder: ca. 1.200 Baden-Württemberg (2000: ca. 1.200) ca. 5.000 - 6.000 Bund (2000: ca. 5.000 - 6.000) Publikationen: "Dianetik-Post", "Freiheit", "Impact", "International Scientology News", "Source", "The Auditor", "Prosperity", "Frontline" u.a. Hilfsund Unter-Organisationen: "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM), "Applied Scholastics" (ApS), "Criminon", "Narconon", "I HELP", "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE), "International Association of Scientologists" (IAS) 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Organisationsstruktur in Baden-Württemberg Die SO verfügt hierzulande mit etwa 1.200 Anhängern weiterhin über einen relativ festen Mitgliederstamm. Die finanzielle Basis konnte offenkundig stabilisiert werden. Baden-Württemberg ist damit neben Bayern und dem Raum Hamburg einer der regionalen Schwerpunkte der SO in Deutschland. Neben einer "Class V Org"139 in Stuttgart befinden sich in Baden-Württemberg "Missionen" in Ulm, Karlsruhe, Göppingen, Heilbronn und Reutlingen. Die Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) verfügt über Vereine in Stuttgart und Karlsruhe. Über den KVPM-Verein in Freiburg/Breisgau wurden seit geraumer Zeit keine Aktivitäten mehr bekannt. Die SO versucht, Niederlassungen aus ungünstigen städtischen Randlagen in die Stadtzentren zu verlagern, um u.a. Straßenwerbung effektiver betreiben zu können. 139 Die einer "Mission" (SO-Basisorganisation) übergeordnete Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 155 Der scientologische Wirtschaftsverband "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE), dessen erklärtes Ziel es ist, Hubbards administrative Richtlinien "in breiter Weise in jedem Geschäft, jeder Organisation und Nation"140 einzuführen, verfügt in BadenWürttemberg laut Eigenangaben über rund 20 WISE-Mitglieder. Tatsächlich dürfte die Zahl der WISE-Mitglieder im Land, die häufig in der Managementberatungs-, Finanzdienstleistungs-, Immobilienoder IT-Branche tätig sind, weiterhin etwa zweibis dreimal so hoch sein. Offenbar will eine ganze Reihe von WISE-Mitgliedern aus taktischen Gründen nicht mehr in offen zugänglichen SO-Publikationen genannt werden. In Göppingen befindet sich ein "WISE Charter Committee" (WCC) zur Durchsetzung scientologischer "Justiz" im WISE-Bereich. 1.2 Verfassungsfeindliche Bestrebungen Die Verhaltensweisen der SO folgen der politischen Zielsetzung, unsere Staatsund Gesellschaftsordnung durch ein rein nach scientologischen Grundsätzen funktionierendes totalitäres System zu ersetzen, in dem wesentliche Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie der Schutz der Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Gleichheitsgrundsatz und die Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt würden. "Bürgerrechte" sollen nur Scientologen zustehen. Kritiker, Gegner und Aussteiger werden verächtlich gemacht und rechtlos gestellt. Die SO legt die während der Anfangsphase der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden gezeigte Zurückhaltung zunehmend ab. Sie verbreitet umfassende Neuauflagen von Hubbard-Richtlinien, die nach scientologischem Verständnis von besonderer Bedeutung sind und die teilweise erstmals in deutscher Sprache herausgegeben werden. Diese Schriften enthalten zentrale Elemente der verfassungsfeindlichen Lehre der SO. Sie bekräftigt damit ihre gegen die Demokratie gerichtete Programmatik, wobei zahlreiche Schriften und ihre Propaganda auf eine aggressive Grundhaltung hindeuten. Die taktisch begründeten Versuche der SO etwa bei rechtlichen Auseinandersetzungen, die Bedeutung von Hubbards Schriften zu relativieren oder mit der fortwährenden Behauptung angeblicher Fehlinterpretationen in Abrede zu stellen, widersprechen nicht nur den eigenen, verbindlichen Bekundungen und Richtlinien, sondern auch 140 "WISE International Business Directory 2001", S. 3 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 156 dem keine Gegenposition duldenden Selbstverständnis der SO, das von ideologischem Rigorismus gekennzeichnet ist. Kernstück der Managementlehre ("Admin-Tech"141) nach Hubbard ist ein totalitäres Befehlsund Kontrollsystem, das die SO für Unternehmen, politische Organisationen und Staaten als angeblich optimales Führungskonzept bis auf die Ebene der Regierung verbreiten will. Die scientologische Programmatik enthält zahlreiche tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen und für das Ziel der Errichtung einer totalitären Staatsordnung, in der zentrale Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung außer Kraft gesetzt wären. So weisen die Schriften der SO zur Durchsetzung ihrer "Justiz" oder zur Schaffung innerer Sicherheit auf eine Willkürherrschaft hin: "Diese Gruppe [die SO] glaubt, dass ehrliche Menschen Rechte haben und dass unehrliche Menschen ihre Rechte durch den Umstand, dass sie unehrlich sind, verwirkt haben. Die Definition von Unehrlichkeit ist, ob jemand versucht, seine Mitmenschen durch boshaftes Gerede, versteckte Handlungen und Ungerechtigkeit oder offene Verbrechen zu verletzen oder nicht... Diese Gruppe behält sich das Recht vor, die Ehrlichkeit ihrer Mitglieder zu prüfen".142 Die in der SO gelehrten Sozialund administrativen Techniken, die nach ihrem Verständnis Vorbild für die Gesellschaft sind, zielen vor allem darauf ab, Befehle kompromisslos durchzusetzen, Widerstand aus dem Weg zu räumen und Feindbilder zu erzeugen. Kritik und die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen - Grundvoraussetzungen für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens -, sind nicht erwünscht. Viele Scientologen an der Basis sind zwar nicht im engeren Sinne politisiert, gehorchen aber in aller Regel kritiklos der Lehre Hubbards, den Vorgaben des Managements und ordnen sich dem totalitären System Scientology unter. 1.3 Öffentlichkeitswirksame Werbeaktivitäten Im Rahmen einer europaweiten Werbekampagne führte die SO im Frühjahr und im Herbst 2001 in Stuttgart zwei aufwändige Ausstellungen mit dem Titel "Was ist Sciento141 Die "Admin Tech" wird hauptsächlich in zahlreichen Richtlinienbriefen Hubbards geregelt, die für Scientologen verbindlich sind. 142 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Mitarbeiter, die keine Scientologen sind" in: "Der Organisationsführungskurs", Band 0, Kopenhagen, 1999, Seite 646 ff. 157 logy" durch und betrieb dazwischen in den Ausstellungsräumen ein "Informationszentrum". Während der ersten Ausstellung fielen Werber (so genannte "Body Router") wiederholt durch aggressive Straßenwerbung auf. Sie versuchten auch Kinder und Jugendliche für Scientology zu interessieren. Ein bereits früher sporadisch aufgetretenes "Aktionskomitee Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben" wurde in Stuttgart neu aktiviert. Die SO behauptet, erfolgreich Drogenrehabilitation mittels Psychotechniken nach Hubbard betreiben zu können, und will so größere Akzeptanz erreichen. Die Hilfsorganisation "Criminon" will HubbardTechniken im Bereich des Strafvollzuges einführen. Tatsächlich dürften hinter derartigen "Komitees" in der Regel nur einzelne Scientologen stehen. Daneben wurden Aktivitäten von Feldauditoren143 bekannt. Mit einer Flugblattaktion in Stuttgart versuchte die SO im Sommer 2001 gegen ein auf so genannte Sekten und Psychogruppen abzielendes Gesetz des französischen Parlaments Stimmung zu machen. Sie wollte den Eindruck erwecken, die Menschenrechte in Frankreich seien in Gefahr und religiöse Gruppen würden rechtlos gestellt. 1.4 Mitgliederorientierte Werbeaktivitäten Intern wirbt die SO intensiv für Kurse zur ideologischen Indoktrination und zur aktiven Unterstützung der Expansionsziele der SO. Die WISE-Europazentrale in Kopenhagen versandte im Frühjahr 2001 Rundschreiben, in denen zur Durchsetzung der Lehre Hubbards aufgerufen wurde, um einen "endgültigen Sieg über jede unterdrückerische Gruppe oder Gesellschaft"144 zu erringen. In Großbritannien veranstaltete die Organisation ein spezielles Seminar unter dem Schlagwort "Wir werden Deutschland klären". Die "Sea Org", eine paramilitärische, uniformierte Kadertruppe, die sich als die Elite der SO versteht, versuchte, auch unter Scientologen in Baden-Württemberg neue Mitglieder zu rekrutieren. 143 Personen, die scientologische Verfahren zur Persönlichkeitsveränderung ("Auditing") außerhalb der "Org" anwenden. 144 Rundschreiben von WISE Europe vom 11. Februar 2001 mit beigefügtem Richtlinienbrief vom 1. Dezember 1979, neu herausgegeben am 11. Dezember 2000 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 158 1.5 "Kreuzzug für eine neue Zivilisation" Die SO-Mitgliederorganisation "International Association of Scientologists" (IAS) strebt die Errichtung einer "neuen Zivilisation" an. Hierfür proklamierte sie auch im Jahr 2001 wieder einen "Kreuzzug" und versuchte, die Mitglieder bei regionalen Veranstaltungen zu erheblichen Spenden für die "Kriegskasse" ("war chest") der IAS zu bewegen. Die finanzielle Opferbereitschaft zahlreicher Scientologen in Baden-Württemberg war relativ hoch145. Während einer solchen IAS-Veranstaltung in Stuttgart Ende August 2001 erklärte ein hoher Repräsentant der IAS in einer emotional aufgeheizten Stimmung, dass Scientology mehr denn je auf dem Vormarsch sei und alle Menschen irgendwann in einer neuen scientologischen Weltordnung leben würden. Auch der Verfassungsschutz, der bei SO-Veranstaltungen immer anwesend sei, müsse sich dann der neuen Weltordnung unterordnen. 1.6 Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 Der weltweit ranghöchste SO-Manager, David MISCAVIGE, formulierte in einer Stellungnahme nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 einen politischen Alleinvertretungsanspruch und behauptete, nur die Scientologen könnten den "wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch" aufhalten. In einem eindringlichen Appell mit apokalyptischen Andeutungen forderte er die Scientologen zur weltweiten Expansion auf. Gleichzeitig schob er der Psychiatrie als erklärtem "Hauptfeind" der SO die eigentliche Verantwortung für Kriege und für die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu: "... Das wird gemacht, indem man sie [die Attentäter] unter Drogen setzt, sie hypnotisiert... das alles ist das Rüstzeug der Psychiater. Das sind keine Mutmaßungen. Das sind Fakten. Und wenn Sie immer noch Zweifel haben, dann schauen Sie sich die Tatsache an, dass die rechte Hand des Hauptverdächtigen - Osama bin Laden - Psychiater ist..."146 Nach den Terroranschlägen steigerte die Organisation sprunghaft die Zahl ihrer Rundschreiben und den Druck auf die eigenen Mitglieder, neue Anhänger zu rekrutieren. Da145 Die IAS vergibt den Ehrentitel "Patron" für eine Spende von mindestens 40.000 US-$. Von den aktuell in der Zeitschrift "Impact" veröffentlichten 138 Namen deutscher "Patrons" stammen rund 40 aus Baden-Württemberg. 146 David Miscavige, "Besondere Botschaft an alle Scientologen vom Vorsitzenden des Religious Technology Center", 11. September 2001, S. 2. 159 bei versandte die SO Briefe wie diesen: "Verbreitung mit Hilfe von ,Come-On'147 verstärkt das Interesse und zieht die Person buchstäblich herein... Aufgrund der Weltlage ist es besonders wichtig, dass Du jetzt Scientology verbreitest!". Beigefügt waren Richtlinien über "Provisionen für Feldmitarbeiter"148. Diese versprechen: "Im Übrigen ist das Programm ein Bombenerfolg. Selektierungszettel149 und Leute strömen herein, und nun werden Provisionen hinausströmen..." In Stuttgart gestaltete die SO zeitnah zu den Attentaten ihr Werbematerial neu, das teilweise mit einer "Friedenstaube" und dem Motto "Eine Welt ohne Krieg - unmöglich oder machbar?" versehen wurde. 1.7 "Zerschlagung von Unterdrückung" als Schwerpunktthema Während die SO gegenüber der Öffentlichkeit den Eindruck einer friedliebenden Organisation zu erwecken versucht, fordert sie ihre Mitglieder unter dem Slogan "Unterdrückung zerschlagen und die LRH-Technologie in die Gesellschaft einfließen lassen" zu einer harten und kämpferischen Einstellung gegenüber jeder Kritik auf. Die SO hat im Jahr 2001 den "PTS/SP"150-Indoktrinationskurs als für jeden Scientologen verbindlich erklärt. Die Methodik dieses Kurses führt den Absolventen in ein rigides Freund-FeindDenken: Nach scientologischem Verständnis ist Hubbards Lehre gleichbedeutend mit einer nicht anzuzweifelnden "Wahrheit". Die demokratisch verfasste Gesellschaft wird dagegen als "unterdrückerisch" gebrandmarkt, Kritiker und "politische Gegner" werden dämonisiert und gelten als "Unterdrücker" beziehungsweise "antisoziale Persönlichkeiten". "Es gibt zwei Klassen von Gegnern, die erfolglos versuchen, Scientology zu bekämpfen. Die erste Klasse ist der persönliche Widersacher; die zweite ist der politische Widersacher (...) Kriminelle, Kommunisten, ebenso wie pervertierte religiöse Eiferer kamen in Scharen, um einen "neuen Betrug", einen "Schwindel", eine brandneue Methode, um Geld von Menschen zu erpressen und sie zu versklaven, zu unterstützen. (...) Die versteckten Motive einer Gruppe, die die Versklavung eines Volkes versucht, werden von einem Scientologen zu leicht durchschaut. (...) 147 Die SO versteht darunter scheinbar preisgünstige Kurse beziehungsweise "Lockvogelangebote". 148 Auch "Field Staff Members" (FSM) genannt; ein Scientologe, der zum FSM ernannt ist, soll eine Provision von 10% beziehungsweise 15% der Gebühren der von ihm verkauften Kurse erhalten. 149 Einschreibeformular für Kursteilnehmer beziehungsweise neue Scientologen. 150 PTS ("Potential Trouble Source"): Als "Potenzielle Störungsquellen" werden in der SO diejenigen bezeichnet, die Kontakt zu Kritikern ("Unterdrücker" beziehungsweise "Supressive Persons" - SP) haben. 160 DER POLITISCHE GEGNER (...) Subversive Politik, die auf die Zerstörung des Lebens und des Besitzes eines Volkes abzielt, ist für ihren Profit auf Geheimhaltung angewiesen. (...) Pervertierte religiöse Eiferer, die versuchen, durch Lügen und Terror Leute zu versklaven und zu erpressen, können nicht im hellen Sonnenschein der Wahrheit leben. Also hassen sie die Vorboten von Wahrheit und größerer Freiheit und wagen es manchmal sogar, sie zu bekämpfen. Um ein neues Leben zu beginnen, müssen die Bosheiten des alten Lebens sterben. (...) Nehmen Sie sich vor der Person oder Gruppe, die Scientology bekämpft, in Acht, denn solch eine Person bekämpft Wahrheit (...)"151 Derartige Vorstellungen - auch die von David MISCAVIGE hinsichtlich der angeblichen Rolle der Psychiatrie bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 - basieren auf dem von L. Ron Hubbard entworfenen Weltbild. Darin beschreibt er eine weltweite, geheime Verschwörung, deren Ziel die Zerstörung der Gesellschaft sein soll. 2. Das scientologische Weltbild: Eine Verschwörungstheorie Nach Ansicht der Scientologen verbirgt sich hinter dem sichtbaren Alltagsgeschehen eine von einer manipulierten Bevölkerung nicht wahrgenommene Wirklichkeit, die dadurch bestimmt ist, dass eine kleine, machtvolle Gruppe die Geschicke der Welt bestimmt. Nur eine kleine Elite besitzt das Geheimwissen und die Fähigkeit, politische Manipulation zu durchbrechen und die Welt zu befreien. 2.1 Das Feindbild von Scientology "Wir in der Dianetik und Scientology haben es mit einer totalitären Verschwörung zu tun gehabt, die 'geistige Gesundheit' dazu verwendete, Bevölkerungen unter Kontrolle zu halten. (...) Es begann mit Krieg, wobei der Gegner alle Pressemedien und Regierungen kontrollierte. (...) Unsere 'Öffentlichkeit' versteht das nicht. Sie ist an aalglatte, unbehelligte Firmen gewöhnt, die ihnen 'Wunderspeise, das Frühstück für Idioten' verkaufen, (...) 151 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Warum einige Scientology bekämpfen" in: "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs", Kopenhagen, 2001, S. 56 ff. 161 Der Gegner hat sich aller verfügbaren PRO152und Geheimdiensttechniken bedient, um uns aufzuhalten, (...)"153 Auch die Ideologie Hubbards enthält wesentliche Elemente einer Verschwörungstheorie. Die SO bezeichnet sich als "Elite des Planeten Erde"154 und stilisiert die Psychiatrie zum Feind der Menschheit. Nach Hubbard befindet sich die Menschheit in einem dramatischen politischen und gesellschaftlichen Niedergang. Die "unter Drogen stehende" und durch "kontrollierte Massenmedien"155 angeblich manipulierte Gesellschaft der westlichen Welt befinde sich in einem paralysierten Zustand: Eine in Kontinuität der NS-Zeit stehende Psychiatrie habe mit "Mind-control"-Techniken und gestapoähnlichen Methoden eine "Schreckensherrschaft" errichtet; hinter Psychiatriekliniken würden sich staatlich geduldete Vernichtungslager verbergen, die Hubbard mit Auschwitz vergleicht156: "Eine vom Staat finanzierte Geheimpolizei nimmt jeden fest, den sie157 nicht mögen. Der Staat finanziert ihre Todeslager für Andersdenkende. (...) Deutschland und andere Länder haben sich bereits gebeugt und benutzen sie vollends, um ganze Bevölkerungen zu kontrollieren."158 2.2 Verunglimpfung der Demokratie Regierungen, auch demokratisch legitimierte, seien nach Hubbard "politische Marionetten"159 der wahren Machthaber, die durch Erpressung und Bestechung eine umfassende Kontrolle der Politik erlangt hätten und Wahlen und die Gesetzgebung beeinflussen würden160. Die SO versucht, das demokratische System im Rahmen dieses Verschwörungsgedankens mit totalitären Systemen gleichzusetzen und als systemimmanent korrupt zu denunzieren: 152 Kürzel für Public Relations beziehungsweise Propaganda. 153 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Das Image der Org" in: "Die Management-Serien", Band 3, Kopenhagen, 2001, S. 23. 154 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Organisatorische Haltung" in: Unterlagensammlung "Wir sind die einzige Chance der Menschheit", 2001. 155 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Eine Ursache der Gewalt" in: "Technical Bulletins Vol. IX, Kopenhagen", 1991, S. 37 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 156 Z.B. bei L. Ron Hubbard, Aufsatz "Patriotismus" in: "Ron. Der Menschenfreund. Freiheitskämpfer", 1997, S. 15 oder bei L. Ron Hubbard, Aufsatz "The Enemies of Scientology" in: "The Technical Bulletins Vol. IX", Kopenhagen, 1991, S. 48 ff. 157 Gemeint sind die Psychiater. 158 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Die geplante Revolution" in: "Ron. Der Menschenfreund. Freiheitskämpfer", 1997, S. 69. 159 Ebenda. 160 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Die Ruchlosen halten zusammen" in: "Ron. Der Menschenfreund, Freiheitskämpfer", 1997, S. 86 ff. 162 "Das System, das Establishment, die Regierung - nennen Sie es, wie Sie wollen - ist etwas, das die ganze eigennützige Selbstgerechtigkeit von Jahrzehnten in sich angesammelt hat. (...) Die Besitztümer und Ressourcen des Staates werden in einer ,Demokratie', die von Parteien gelenkt wird, zu einer Prämie, die in festgesetzten Zeitabständen bei einer Wahl gewonnen wird. Politischer Sieg bietet die Gelegenheit, sich über einen festgesetzten Zeitraum der materiellen Vorteile zu erfreuen. Das System ist eine Hure, deren Gunstbezeugung von einem neuen Amtsinhaber durch Volkswahlen gewonnen wird. (...) Ob man eine Monarchie oder eine Aristokratie, eine Oligarchie, eine Republik oder eine Militärdiktatur hat, das Muster bleibt dasselbe."161 Gerechtigkeit kann laut Hubbard nicht erwartet werden, denn die staatliche Justiz sei selbst zum "Krebsgeschwür" geworden, "die Polizei und die Gerichtssysteme" würden sich "daher hauptsächlich aus heruntergekommenen Leuten" zusammensetzen. Gleichzeitig forderte Hubbard: "In der Zwischenzeit müssen wir mit dem gesellschaftlichen Morast, in dem wir uns befinden, fertig werden und uns darüber erheben, (...)"162 Zu diesem "geheimen weltweiten Netzwerk"163 gehören angeblich "Rüstungskartelle", Pharmakonzerne, Drogenhandel und Geheimdienste, die für die "Verschwörer" arbeiten sollen. Im Hintergrund dieses Szenarios wirkt nach Hubbard jedoch nur eine kleine Gruppe aus "hohen Finanzkreisen" 164, die auch die Psychiatrie steuere und die Fäden der Macht halte. Es gelte, die "Tyrannei der Regierung, unterdrückerische Wirtschaftssysteme, unzulängliches Recht und den um sich greifenden Terror der Psychiatrie" zu überwinden. Die Beseitigung dieses vermeintlichen Zustands beschreibt die SO als "den eigentlichen Kreuzzug von Scientologen auf der ganzen Welt"165. Die SO offenbart damit, dass sie Verfahren wie Auditing166 bei weitem nicht als nur einen individuell-therapeutischen An161 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Starke Stimmen im Land" in: "Ron. Der Menschenfreund. Freiheitskämpfer", 1997, S. 8. 162 L. Ron Hubbard, "Einführung in die Ethik der Scientology", Kopenhagen, 1998, S. 429 ff. 163 L. Ron Hubbard, Aufsatz "Die Ruchlosen halten zusammen" in: "Ron. Der Menschenfreund. Freiheitskämpfer", 1997, S. 86. 164 L. Ron Hubbard, "Rons Journal 67", Deutsche Übersetzung der Bandabschrift, Kopenhagen, 1986, S.3. Die fortwährende Aktualität dieses Kurses zeigt u.a. ein an deutsche Scientologen gerichtetes Rundschreiben eines Funktionärs der SO-Unterorganisation "New World Corps" aus dem Jahr 2001 auf, der sich auf "Rons Journal 67" berief und daraus zitierte. 165 L. Ron Hubbard Library (Hg.), "Eine Einführung" in: "Ron. Der Menschenfreund. Freiheitskämpfer", 1997, S. 4 ff. 166 Auditing ist die zentrale Methode der SO zur ideologischen Umerziehung, mit der sie beansprucht, unerwünschte Empfindungen, Ängste und psychosomatische Leiden des Menschen beseitigen und dessen Leistungsfähigkeit steigern zu können. So soll nach scientologischer Vorstellung eine perfekte Gesellschaft, der "geklärte Staat", mit nahezu perfekt funktionierenden Menschen, so genannten "Clears", aufgebaut werden. 163 satz zur geistigen "Befreiung" des Einzelnen betrachtet, wie sie dies gegenüber der Öffentlichkeit behauptet. Das SO-Management sieht sich vielmehr in einer politischen Mission und benutzt Auditing als ein gesellschaftspolitisches Mittel zur Befreiung einer angeblich versklavten Bevölkerung. Diese Weltsicht entlarvt auch die Doppelbödigkeit ihrer Argumentation, wenn die SO behauptet, Hubbard befürworte die Demokratie: Der Scientology-Gründer verwirft das Demokratieund Mehrheitsprinzip und erhebt gleichzeitig den anmaßenden Anspruch, nur Scientology könne eine "wirkliche Demokratie"167 schaffen: "Demokratie ist nur in einer Nation von Clears168 möglich - und selbst sie können Fehler machen. Wenn die Mehrheit herrscht, leidet die Minderheit. Die besten sind immer eine Minderheit."169 2.3 Politik aus dem Blickwinkel von Scientologen Die SO offenbart sich hinsichtlich der Themen Psychiatrie und Staat als ein starres System, in dem Tagesereignisse oder politische Entwicklungen nur nach dem scientologischen Raster bewertet werden. Dabei zeigt sich, dass sowohl hochrangige Funktionäre als auch Scientologen an der Basis die Vorstellungen Hubbards unkritisch übernehmen. Ein hochrangiger Repräsentant der "Church of Scientology International" glaubte die "wahren Hintergründe" des Kosovo-Konflikts aufgedeckt zu haben, als er in einer Rede behauptete, die "kriminellen Psychiater" seien bereits 1941 die wahren "Anstifter" der Besetzung Jugoslawiens durch Hitler-Deutschland gewesen. Der danach folgende Massenmord auf dem Balkan sei "nach psychiatrischen Rassetheorien" erfolgt. Der jüngste Kosovo-Krieg sei nur eine Neuauflage psychiatrischer Indoktrination170. Der SOFunktionär betreibt damit den Versuch einer Bedeutungsveränderung bei der Bewertung nationalsozialistischer Verbrechen: Es ist von "psychiatrischen Rassetheorien" die Rede, nicht von NS-Rassetheorien. Er benutzt dabei die Taktik der "Umdefinierung" von Worten: "Eine langfristige Propagandatechnik, die von Sozialisten (Kommunisten und Nazis gleichermaßen) benutzt wurde, ist für PR-Leute von Interesse. (...) Der Trick ist: WÖRTER WERDEN UMDEFINIERT, UM ZUGUNSTEN DES PROPAGANDISTEN EI167 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Politik" in: "Der Organisationsführungskurs", Kopenhagen, 1999, S. 652. 168 Das Ziel von Hubbards "Dianetik" ist es, durch Auditing "clear" (geklärt) zu werden, d.h. total befreit zu sein - frei von Störungen und Krankheiten, die angeblich durch den "reaktiven Verstand" verursacht werden. 169 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Die Theorie von Scientology-Organisationen" in: "Die Management-Serien", Band 1, Kopenhagen, 2001, S. 41 (Fehler im Original). 170 Zeitschrift "Impact" Nr. 87/2000, S. 17. 164 NE ANDERE BEDEUTUNG ZU ERHALTEN. (...) Sie sind sorgfältig geplante und betriebene Veränderungen durch Propaganda, (...) Wenn die neue Definition oft genug wiederholt wird, kann die öffentliche Meinung durch die Veränderung der Bedeutung eines Wortes geändert werden. (...) Die Umdefinierung von Wörtern wird durchgeführt, indem man andere Emotionen und Symbole, als beabsichtigt war, mit dem Wort assoziiert. (...) die Scientologen definieren 'Arzt', 'Psychiatrie' und 'Psychologie' neu, im Sinne von 'unerwünschten antisozialen Elementen', (...)".171 Ein in Baden-Württemberg aktiver Scientologe unterhält im Internet eine Website unter dem Titel "Psychopolitik". In diesem Forum entwickelt er gemäß Hubbards Ideologie die Vorstellung eines geistig versklavten Deutschlands. In Publikationen mit dem gleichen Titel greift er unter dem Pseudonym "Michael KENT" diese Verschwörungstheorien auf, indem er den demokratischen Rechtsstaat als Diktatur verunglimpft. Gleichzeitig enthält "Psychopolitik" in Teilen auch eine rechtsextremistische, antisemitische und revisionistische Ausrichtung172. Der Scientologe, der nach offizieller Darstellung der SO in einer Feldauditorengruppe tätig ist, hat daneben Kontakte zu Personen aus dem rechtsextremen Milieu aufgebaut, wo er sich in auffälliger Weise exponiert, indem er z.B. die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) und deren ehemaligen Vorsitzenden öffentlich in Schutz nimmt. Gleichzeitig wirbt er jedoch auch für die SO. In seine breitgefächerten Aktivitäten im Internet, bei Zusammenkünften oder in Broschüren sind eine ganze Reihe von Scientologen, darunter Repräsentanten der Hilfsorganisationen KVPM und "Criminon", eingebunden. Dabei entsteht der Eindruck einer systematischen Zusammenarbeit. Auch das "Office of Special Affairs" (OSA) machte sich diese Aktivitäten bereits zunutze. So warb ein OSA-Mitarbeiter in KENTs Broschüren für eine "Aktion Transparente Verwaltung" (vgl. Kap. 3). In einer weiteren Ausgabe wurde auszugsweise die Presserklärung einer mutmaßlichen OSA-Angehörigen als Vertreterin eines "LRH173 Presseund Informationsbüros" in Niedersachsen veröffentlicht. Darin warb sie vor dem Hintergrund der Problematik von Psychopharmaka für Positionen Hubbards. 171 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief "Propaganda durch Umdefinierung von Worten" in: "Die Management-Serien", Band 3, Kopenhagen, 2001, S. 90 ff., Hervorhebung im Original. 172 Diese Vermischung mit Scientology-fremden Elementen widerspricht der "reinen Lehre" Hubbards und ist in der SO als so genanntes "Squirreln" eigentlich verboten. 173 LRH: Kürzel für L. Ron Hubbard. 165 Zwar kann derzeit weder von direkten Verbindungen der SO in das rechtsextreme Milieu noch von Kontakten rechtsgerichteter Organisationen zur SO gesprochen werden - bislang nutzten andere Scientologen diese Kontaktforen - soweit bekannt - nur für eigene Zwecke oder zugunsten der SO -, jedoch agiert der unter Pseudonym auftretende Scientologe KENT nicht isoliert. Die SO hat in Folge der Vernetzung zwischen den handelnden Scientologen und des ausgedehnten Berichtswesens in der Organisation174 sowie auch aufgrund kritischer Medienberichte mit großer Wahrscheinlichkeit Kenntnis von KENTs Aktivitäten. Im Moment kann noch nicht endgültig bewertet werden, ob die SO aus Expansionsgründen bereit ist, im Einzelfall aus taktischen Gründen Verbindungen zu anderen Extremismusbereichen zu dulden. Ein derartiger Schluss liegt nahe, da die SO bereits 1997 versuchte, mit dem der islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) eng verbundenen "Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland" eine Zusammenarbeit zu erreichen. 3. Kampagnen und verdeckte Aktivitäten des "Office of Special Affairs" (OSA) "Schwarze Propaganda ist eine verdeckte Verbreitung falscher Daten, die beabsichtigt, die Aktivitäten oder das Leben einer anderen Person, Gruppe oder Nation zu verletzen, zu verhindern oder zu zerstören, (...) Sie wird schwerpunktmäßig in der ,psychologischen Kriegsführung' verwendet.(...) Unsere Propaganda ist dreckig, aber sie ist nicht schwarz, weil sie wahr ist. Schwarze Propaganda ist grundlegend falsch. (...) Wir werden keine schwarze Kampagne durchführen, weil wir uns mit der Wahrheit befassen. (...) Wir führen einfach Propaganda-Feldzüge."175 Der scientologische Nachrichtendienst OSA, zu dessen Aufgabenbereich derartige Kampagnen gehören, rechtfertigt demnach "schmutzige" Aktionen damit, dass man im Besitz der Wahrheit und somit immer im Recht sei. Tatsächlich ist die Agitation der SO immer wieder von großer diffamierender Härte geprägt. Sie betreibt seit Jahren eine planmäßige Verunglimpfung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer führenden Repräsentanten. So hält das dem OSA zuzurechnende "Deutsche Büro für Menschenrechte" in Mün174 Die SO fordert zu so genannten "Wissensberichten" bei von der scientologischen Norm abweichendem Verhalten anderer Mitglieder auf. Mittlerweile bietet die SO die Möglichkeit an, diese "Wissensberichte" online in die USA zu versenden. 175 L. Ron Hubbard, "Schwarze Propaganda". OSA-Network Order 15 vom 18. Februar 1988, The Office of Special Affairs Investigations Section, 1991 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz, Hervorhebung im Original). 166 chen im Internet seit Jahren Behauptungen aufrecht, in denen rechtmäßige Maßnahmen wie etwa die Ausgestaltung schulischer Lehrpläne als "religiöse Apartheid" oder als "ethnische Säuberung in Deutschland" verunglimpft werden176. Aufgabe des OSA ist auch die Bekämpfung von Kritikern und deren Ausforschung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Im Berichtszeitraum führte die SO eine Kampagne gegen die "Interministerielle Arbeitsgruppe für so genannte Sekten und Psychogruppen beim Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg" (IMA-SuP) durch. Diese erfolgte über das Internet, mittels Flugblattaktionen, durch Kundgebungen in Stuttgart und die Streuung einer Sonderausgabe der SO-Kampfschrift "Freiheit" sowie durch einschlägige Pressemitteilungen. Bei diesen offenkundig OSA-gesteuerten Aktionen forderte man die Auflösung der Arbeitsgruppe und die Entlassung ihres Leiters. Mittels einer Petition an den Landtag von Baden-Württemberg177 versuchte die SO, den Druck zu erhöhen. Dabei unterstellte man in polemischer und demagogischer Weise eine "in 'Sektenfragen' gleichgeschaltete Landesregierung". Die Wortwahl sollte offensichtlich die geistige Nähe eines Verfassungsorgans zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft suggerieren. Der Petition wurde durch das Landesparlament nicht abgeholfen178. Der Ausforschung staatlicher Stellen dient offenkundig eine "Aktion Transparente Verwaltung" (ATV) mit Anlaufstellen in München und Hamburg, hinter der u.a. ein aus Baden-Württemberg stammender OSA-Angehöriger steht. Angeblich zur Bekämpfung von Korruption sucht die ATV Unterstützung zur Schaffung bundesweiter Gesetze für ein weitgehendes Akteneinsichtsrecht bei staatlichen Stellen. Der Erfahrung in Brandenburg und Schleswig-Holstein mit den dortigen Informationsfreiheitsgesetzen zufolge dient dieses Ansinnen vor allem dem Bestreben, den Kenntnisstand staatlicher Stellen über die SO möglichst effektiv ausforschen zu können. Das Landesamt für Verfassungsschutz erlangte im Berichtszeitraum Kenntnis von Dokumenten aus dem OSA-Bereich, welche Einblicke in die Vorgehensweise des SONachrichtendienstes geben: 176 Internetauswertung: Homepage des "Deutschen Büros für Menschenrechte", Stand im Oktober 2001. 177 Petition Nr 12/08051. 178 Landtagsdrucksache 13/70 vom 19. Juli 2001. 167 Die OSA-Zentrale in den USA kann eigene "Sec Checker"179 entsenden, um OSAPersonal in Deutschland am "E-Meter" - einer Art einfachen Lügendetektor - so genannten "Sicherheitsüberprüfungen" zu unterwerfen. OSA-Mitarbeiter treten auch unter Legende auf. Ein OSA-Mitarbeiter bestätigte, im Einzelfall im Rahmen von Recherchen einschüchternd aufgetreten zu sein. Es erfolgte auch eine Erklärung, sich bei Ermittlungen fallweise unbefugt Zutritt zu staatlichen Stellen verschafft zu haben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe man über Nacht in Privaträumen eines OSAAngehörigen "Investfiles" untergebracht, weil man eine polizeiliche Durchsuchung der OSA-Räume befürchtete. "Investfiles" bedeutet Ermittlungsakten; damit sind offenkundig die Dossiers gemeint, die das OSA über Kritiker und Gegner führt. 4. Ausblick "Glauben die wirklich, dass eine Gesellschaft in diesem Zustand Scientology eine öffentliche Anerkennung genehmigen wird? Zum Teufel, nein! Und zum Teufel mit dieser Gesellschaft! Wir machen eine neue."180 Die SO, welche die langfristige Strategie verfolgt, mittels Geld Macht zu erlangen, verfügt über eine enorme finanzielle Schlagkraft. Eine Hochrechung anhand der von der Organisation veröffentlichten Spendenlisten für eine geplante neue SO-Service-Zentrale in Clearwater/USA ergab, dass die Organisation in den letzten Jahren allein hierfür weltweit Spenden in Höhe von etwa 60 Millionen US-$ gesammelt hat. Scientology offenbart sich als "Parallelsystem" innerhalb unserer Gesellschaft mit eigenen Bildungsanstalten, Gesetzen, scientologischer "Justiz" und eigenem Nachrichtendienst. Sie will dieses System und die Ideologie Hubbards erklärtermaßen auf die Gesellschaft übertragen. Die SO zielt darauf ab, ihr totalitäres Gesamtkonzept in dem Umfang umsetzen, in dem sie hierfür Freiräume zu erkennen glaubt. Bislang gelingt ihr dies in Deutschland weitgehend nur im Innenverhältnis. In anderen Staaten, insbesondere in osteuropäischen Ländern, in denen die SO teilweise offener und ungestörter auftreten kann, offenbaren sich die Gefahrenpotenziale deutlicher. Laut Medienberichten, aber 179 Person, die "Security Checks" (Sicherheitsüberprüfungen) vornimmt. 180 L. Ron Hubbard, Richtlinienbrief Nr. 2 der Serie "Die Funktionsfähigkeit der Scientology erhalten" in: "Der Organisationsführungskurs", Band 0, Kopenhagen, 1999, S. 90. 168 auch nach Eigenangaben der SO, gelang es ihr in Osteuropa, Politiker für sich zu gewinnen und Einfluss auf große Unternehmen zu erlangen, darunter Rüstungsbetriebe, die mit geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen umgehen. Der Anspruch der SO, Staat und Gesellschaft auch in Deutschland nach der Lehre Hubbards zu verändern, besteht unverändert fort. Vertrauliches Telefon Im Rahmen der Beobachtung der Scientology-Organisation ist der Verfassungsschutz weiterhin auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie uns an: 0711/ 9561994. 169 G. SPIONAGEABWEHR, GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 1. Allgemeiner Überblick Die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 mit ihrer völlig neuen Bedrohungsqualität haben nicht nur den Nutzen verdeckter Informationsgewinnung und die Notwendigkeit des Schutzes sensibler Informationen in besonderer Weise bestätigt, sondern auch den Stellenwert des über längere Zeit hinweg in den Hintergrund getretenen Sabotageschutzes schlagartig ansteigen lassen. Auch wenn es gegenwärtig keine direkten Anhaltspunkte für die Beteiligung ausländischer Nachrichtendienste an der Vorbereitung dieser Anschläge gibt, ist zu erwarten, dass die Ereignisse spürbare Auswirkungen auch auf die Spionageabwehr haben werden. Aus Gründen der nationalen Sicherheit oder strategisch-politischer Zielsetzungen dürfte das Informationsinteresse fremder Staaten - etwa im Hinblick auf neue Waffensysteme, politische Entwicklungen oder die Wirksamkeit von Embargomaßnahmen - in der Zukunft anwachsen. Gleichzeitig ist eine Zunahme der Proliferationsbestrebungen181 zu erwarten. Biologische und chemische Waffen dürften hierbei die zentralen Probleme der Zukunft darstellen. Im Jahr 2001 hat sich die Spionageabwehr überwiegend mit proliferationsrelevanten Vorgängen und Sachverhalten mit Bezug zur Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage befassen müssen. Speziell Krisenländer182 wie Iran, Irak und Libyen bemühen sich auch weiterhin nachhaltig um das notwendige Know-how zur Herstellung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen und der dazu erforderlichen Trägersysteme sowie um die Beschaffung dafür einschlägiger Technologien und Güter. Auch die Aktivitäten von Einzelpersonen und/oder Organisationen aus dem islamistischterroristischen Umfeld werden künftig verstärkt vor diesem Hintergrund zu betrachten sein. Der weltweit anhaltende wirtschaftliche Konkurrenzkampf einerseits und die zunehmende strategische Bedeutung des "Rohstoffs" Information und der Möglichkeiten moderner Informationsverarbeitung andererseits werden auch weiterhin fremde Staaten zu dem Mittel der Spionage greifen lassen, um sich durch den Einsatz ihrer Nachrichtendienste einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Besondere Aktivitäten in Baden181 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen beziehungsweise der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 182 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. 170 Württemberg haben die Russische Föderation, die Volksrepublik China und der Iran entfaltet. Demgegenüber gibt es für die in den letzten Jahren wiederholt in der Öffentlichkeit auch gegen verbündete Staaten erhobenen Vorwürfe keine konkreten, nachrichtendienstlich gesicherten Belege. Ein Fallkomplex aus dem Bereich Proliferation, bei dem nachrichtendienstlich gesteuerte Beschaffungseinrichtungen des Iran und des Irak eine entscheidende Rolle spielen, wurde an den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof abgegeben. Im Rahmen der daraufhin eingeleiteten Exekutivmaßnahmen wurden mehrere Tatverdächtige vorläufig festgenommen. Auch 2001 sind in mehreren Fällen Verknüpfungen zwischen Nachrichtendiensten und der Organisierten Kriminalität (OK) offenkundig geworden, die nach Aufklärungsmaßnahmen des Landesamts für Verfassungsschutz im Vorfeld zuständigkeitshalber an die Ermittlungsbehörden abgegeben wurden. Zu unterscheiden ist zwischen der nachrichtendienstlich gesteuerten Wirtschaftsspionage und der Konkurrenzspionage. Für die Bekämpfung der Konkurrenzspionage hat der Verfassungsschutz keine Zuständigkeit. In der Praxis sind die Übergänge indes oftmals fließend, zumal nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden kann, dass vermeintliche Konkurrenzspionage in Wirklichkeit von ausländischen staatlichen Stellen initiiert, gesteuert oder koordiniert wird. Im vergangenen Jahr wurden vom Landesamt für Verfassungsschutz erneut erhebliche Anstrengungen unternommen, die speziell in kleineren und mittleren Unternehmen zuweilen fehlende Sensibilität für die Gefahren der Wirtschaftsspionage zu steigern und das seit dem Ende des Kalten Krieges ständig rückläufige Informationsaufkommen zu verbessern. Mit einer Anzeigenserie in einschlägigen Printmedien wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, über ein "Vertrauliches Telefon" Verbindung zur Spionageabwehr des Landesamts aufzunehmen. Durch den Kontakt zu externen Fachleuten unterschiedlichster Bereiche und die Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden sowie mit teilweise international agierenden wissenschaftlichen Einrichtungen und Beratungsfirmen konnte das Netzwerk zur Bekämpfung der Wirtschaftsspionage gestärkt werden. 171 Unser Gemeinwesen ist in zunehmendem Maße von der Informationsund Kommunikationstechnik abhängig. Der mit Hilfe dieser Technologien möglichen Effizienzverbesserung steht jedoch eine deutlich gesteigerte Verletzlichkeit sensibler und zugleich besonders wichtiger Infrastrukturen (z. B. Informationsund Kommunikationsnetze, Wasserund Energieversorgung, militärische Einrichtungen, Banken) gegenüber. So weist auch der "Nichtständige Ausschuss über das Abhörsystem ECHELON" des Europäischen Parlaments in seinem Abschlussbericht vom 11. Juli 2001183 eindringlich auf die Verwundbarkeit der modernen Kommunikationssysteme hin. Neben der individuellen Privatsphäre des einzelnen Bürgers wird vor allem die Informationssicherheit von Wirtschaftsunternehmen als gefährdet betrachtet. Als Konsequenz aus den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde in Bund und Ländern eine Reihe von Sofortmaßnahmen getroffen. Das Landesamt für Verfassungsschutz war im Rahmen seiner Mitwirkungsaufgaben an Sondermaßnahmen zur Identifizierung von potenziellen islamistischen Terroristen, durch konzeptionelle Überlegungen und durch konkrete Personenüberprüfungen an Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sowie risikobehafteter Einrichtungen und Unternehmen vor Sabotageaktivitäten beteiligt. Dieser Aufgabenbereich wird auch in Zukunft einen zusätzlichen Arbeitsschwerpunkt bilden. 2. Aktuelle Lage - Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Ausforschungsbemühungen fremder Staaten 2.1.1 Nachrichtendienste der Russischen Föderation und anderer Länder der GUS Unverändert aktiv sind die Geheimdienste der Russischen Föderation und anderer GUS-Länder. Besonders die Aufklärungsdienste SWR184 und GRU185 sowie der Inlandsabwehrdienst FSB186 - mit erheblicher Auslandsaufklärungskomponente - sammeln 183 Bericht über die Existenz eines globalen Abhörsystems für private und wirtschaftliche Kommunikation (Abhörsystem ECHELON) vom 11. Juli 2001 (www.europarl.eu.int/temp.com/echelon/pdf/rapport_echelon_de.pdf). 184 "Slushba Wneschnej Raswedki"; Zivile Aufklärung. 185 "Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije"; Militärische Aufklärung. 186 "Federalnaja Slushba Besopasnosti", Föderaler Sicherheitsdienst. 172 Informationen durch offene Beschaffung und konspirative Aufklärung. Im Vordergrund stehen nach wie vor die Bereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Genutzt werden alle Möglichkeiten der Verschleierung der wahren Absichten, z.B. die Tarnung als angebliche Geschäftsreisende, Journalisten und Diplomaten. Russische Firmen in der Bundesrepublik Deutschland und deutsch-russische Joint-Ventures dienen als unverfängliche Anlaufstellen für nachrichtendienstliches Personal. Die Einbindung aktiver beziehungsweise ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter - hauptsächlich der Russischen Föderation, Weißrusslands und der Ukraine - in Strukturen der OK wird immer deutlicher. Die Beteiligung an beziehungsweise die Steuerung von OK-Aktivitäten wie Schleusungen, Menschenhandel und Geldwäsche aus Legalresidenturen (Konsulate, Botschaften) dieser Staaten durch erkannte Nachrichtendienstangehörige stellen eine neue und beachtliche Herausforderung für die deutschen Sicherheitsbehörden dar. Der Korruptionsaspekt spielt im Rahmen dieser Vernetzungen eine nicht unwesentliche Rolle. 173 2.1.2 Volksrepublik China In der Volksrepublik China ist eine rasante wirtschaftliche und technologische Entwicklung zu beobachten. China wird mehr und mehr zum bevorzugten Geschäftspartner westlicher Staaten und Unternehmen. Um weiter zügig Anschluss an die technologische Entwicklung der modernen Industriestaaten zu gewinnen und um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, sind auch die Nachrichtendienste in die Beschaffung der benötigten Informationen und Produkte eingebunden. Die Koordinierung der Technologiebeschaffung durch diese Geheimdienste erfolgt über den staatlichen Ausschuss für Wissenschaft und Technik. In die illegale Beschaffung sind insbesondere die beiden wichtigsten Nachrichtendienste MSS187 und MID188 eingebunden. Um die gesteckten Ziele zu erreichen und zu verwirklichen, bedienen sich die chinesischen Dienste verschiedenster Arbeitsweisen und Beschaffungsmethoden. Im Einzelnen sind beispielhaft anzuführen: 187 "Ministry of State Security", Ministerium für Staatssicherheit; zivile Aufklärung. 188 "Military Intelligence Department", Militärischer Nachrichtendienst. 174 Platzierung und Einsatz qualifizierter Praktikanten, Studenten, Doktoranden und Wissenschaftler in Forschungsund Entwicklungseinrichtungen von Universitäten, Instituten und Industriebetrieben in der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Zusammenhang ist in letzter Zeit in China ein deutlicher Anstieg der Zahl halbstaatlicher und staatlicher Personalvermittlungsbüros festzustellen. Sie bieten nicht nur die Möglichkeit, nachrichtendienstlich relevante Personen unauffällig "punktgenau" zu platzieren, sondern bilden mit ihren horrenden Gebühren auch eine ergiebige Einnahmequelle. Ausbau eines flächendeckenden Netzes chinesischer Vereine und Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Mittlerweile werden neben Politik und Kultur auch zahlreiche andere Lebensbereiche abgedeckt, so dass ein möglichst großer potenzieller Interessentenkreis angesprochen werden kann. Nutzung chinesischer Dolmetscher/Übersetzer zur Informationsbeschaffung aus allen interessierenden Bereichen (z. B. Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei, Ausländerund Gewerbeämter). Überwachung von Landsleuten, die sich als Asylbewerber beziehungsweise Dissidenten im Bundesgebiet aufhalten. Speziell Miglieder der Falun-Gong189 Organisation unterliegen derzeit der besonderen Beobachtung und werden teilweise sogar offensiv bekämpft. Geschäftsreisende müssen in China immer noch damit rechnen, überwacht, abgehört oder nachrichtendienstlich angesprochen zu werden. Ein deutscher Wissenschaftler traf sich 2001 in einem Hotel in Peking in seinem Zimmer mit einem indischen Hotelgast. Während des Treffens ging ein Anruf der Rezeption für den indischen Geschäftspartner ein. Der Aufenthalt des Inders im Zimmer des Deutschen war jedoch lediglich den beiden Beteiligten bekannt. Die Rezeption konnte den Aufenthaltsort des Inders nur durch Raumoder Telefonüberwachung festgestellt haben. Nach seiner Rückkehr aus China teilte der Wis189 Internationale Bewegung chinesischen Ursprungs, die eine aus dem Buddhismus entwickelte spezielle Meditationsmethode praktiziert. 175 senschaftler diesen Sachverhalt umgehend dem Landesamt für Verfassungsschutz mit. Dieses Vorkommnis belegt bisherige Hinweise auf Überwachungsmaßnahmen in Hotelzimmern und Konferenzräumen in China. Eine chinesische Handelsdelegation besuchte ein benachbartes Bundesland. Im Rahmen einer Werksbesichtigung nutzte ein Delegationsmitglied die kurzzeitige Abwesenheit des deutschen Gesprächspartners dazu, auf dem Schreibtisch liegende firmeninterne Unterlagen an sich zu nehmen. Durch Zufall wurde der Verlust zu einem Zeitpunkt festgestellt, als sich die Besuchergruppe noch auf dem Firmengelände befand. Die Chinesen gaben die Unterlagen postwendend zurück und stellten das Geschehen als Irrtum dar. Der Vorfall macht deutlich, dass Handelsdelegationen in sensiblen Bereichen auch nicht für kürzeste Zeiträume unbeaufsichtigt bleiben sollten. 2.1.3 Krisenländer Die Verhinderung proliferationsrelevanter Aktivitäten stellt nach wie vor einen Schwerpunkt der Abwehrarbeit dar. Die ständige Zunahme entsprechender Verdachtsfälle macht die illegalen und zum Teil sehr offensiven Beschaffungsbemühungen von Krisenländern deutlich. Seit Jahren sind insbesondere Anstrengungen des Iran, Irak und Libyens festzustellen, sich in den Besitz atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen und der zu ihrem Einsatz erforderlichen Trägertechnologie zu bringen. Deshalb wird mit allen Mitteln versucht, notwendiges Wissen, Ausgangsprodukte und Güter illegal zu beschaffen. Zu diesem Zweck bedienen sich diese Staaten ihrer Nachrichtendienste oder anderer Beschaffungseinrichtungen wie etwa Tarnfirmen. Einreisen in die Bundesrepublik erfolgen immer häufiger aufgrund gefälschter oder erzwungener Einladungen. Wirtschaftliche Überlegungen, bloße Gefälligkeit, aber auch ernstzunehmende Drohungen (z.B. Abbruch von Geschäftsbeziehungen) veranlassen deutsche Unternehmen, Einzelpersonen oder Delegationen einzuladen, wohl wissend, dass diese die Firmen nie aufsuchen werden. Dadurch wird den Mitarbeitern der nachrichtendienstlich gesteuerten Beschaffungseinrichtungen die Möglichkeit eröffnet, sich unkontrolliert im Bundesgebiet beziehungsweise im Geltungsbereich des Schengener Abkommens bewegen zu können. 176 Ein baden-württembergisches Unternehmen, das bereits vor einigen Jahren in das Sensibilisierungsprogramm des Landesamts für Verfassungsschutz zum Thema Proliferation einbezogen worden war, reagierte 2001 auf verschiedene Anfragen einschlägig bekannter iranischer Beschaffungsorganisationen trotzdem mit entsprechenden Angeboten. Die Fallbearbeitung zeigte u. a., dass die Verdachtspersonen konspirative Verhaltensweisen an den Tag legten. Um die offensichtlich kurz bevorstehende Ausfuhr genehmigungspflichtiger Güter zu verhindern, wurde auf Initiative des Landesamts für Verfassungsschutz ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Rahmen der Exekutivmaßnahmen wurden mehrere Tatverdächtige vorläufig festgenommen. Die Ermittlungen ergaben, dass zu keinem Zeitpunkt die Absicht bestand, die vorgesehenen Ausfuhren durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) genehmigen zu lassen. Der Geschäftsführer einer libyschen Beschaffungsorganisation, der proliferationsrelevante Verbindungen zu einer von der Organisierten Kriminalität gesteuerten Firma mit Kontakten nach Libyen unterhielt, zog wegen seiner skrupellosen Vorgehensweise die Aufmerksamkeit verschiedener deutscher Unternehmen auf sich. Er erzwang Einladungen für sich und andere Libyer, die mit der einladenden Firma keinen Kontakt hatten, u.a. mit der Drohung, die Geschäftsverbindung zu beenden und dafür zu sorgen, dass die deutschen Unternehmen in Libyen "keinen Fuß mehr auf den Boden bringen" würden. Die von dem libyschen Beschaffer vertretene Firma ist dafür bekannt, dass sie qualitativ minderwertige Produkte mit gefälschten Ursprungszeugnissen renommierter Hersteller versieht und auf dem Weltmarkt anbietet. Dieser Vorgang belegt auch die internationale kriminelle Betätigung von Mitarbeitern nachrichtendienstlich gesteuerter Beschaffungseinrichtungen. Die unterschiedlichen Ausfuhrbedingungen für sensitive Güter in den verschiedenen europäischen Ländern werden rigoros ausgenutzt oder bei Bedarf mit Hilfe deutscher Geschäftspartner umgangen. Ein weiteres Beispiel für so genannte Umgehungslieferungen war der Versuch einer iranischen Beschaffungseinrichtung, bei einer baden-württembergischen Firma Güter zu erwerben, die für das iranische Raketenprogramm verwendet werden können. Aufgrund bestehender Ausfuhrbeschränkungen wurde der Export vom BAFA abgelehnt. Im Jahr 2001 erfolgte von einer Firma in China ein Auftrag über 177 ein vergleichbares Produkt. Das chinesische Unternehmen, das als Beschaffungsfirma beziehungsweise als Zwischenhändler für das iranische Raketenprogramm bekannt ist, schob einen harmlosen zivilen Verwendungszweck vor. Endempfänger sollte allerdings eine als proliferationsrelevant bekannte Einrichtung im Iran sein. Auch dieses Ausfuhrersuchen wurde vom BAFA abgelehnt. 2.1.4 Westliche Staaten Im vergangenen Jahr ist erneut eine Reihe offen zugänglicher Informationen über Absichten und Aktionen westlicher Dienste angefallen. So hat beispielsweise der ECHELON-Abschlussbericht die tatsächliche Existenz des gemeinsam von den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland betriebenen globalen Abhörsystems zwar bestätigt, gleichzeitig aber zum Ausdruck gebracht, dass es für die Behauptung, ECHELON werde auch für Zwecke der Wirtschaftspionage eingesetzt, keine formalen Beweise gebe. Dessen ungeachtet wird in dem Bericht allerdings betont, dass die Vereinigten Staaten mit der Begründung, Bestechungsversuche zu bekämpfen, auch die Kommunikation nichtamerikanischer Firmen bei der Auftragsvergabe abklärten. Bei solch detaillierten Abhörmaßnahmen bestehe aber das Risiko, dass die gewonnenen Informationen an amerikanische Konkurrenzunternehmen weitergegeben würden. 2.2 Verknüpfung von Organisierter Kriminalität (OK) und nachrichtendienstlichen Aktivitäten Zusehends verdichten sich die Hinweise darauf, dass sowohl ehemalige als auch aktive Geheimdienstmitarbeiter aus GUS-Ländern in OK-Aktivitäten involviert sind. Massenschleusungen mit Hilfe gefälschter Einladungen, Geldwäsche sowie Visa-Handel scheinen offensichtlich mit Duldung oder gar Unterstützung ausländischer Regierungen und ihren Nachrichtendiensten zu erfolgen. Organisationen aus dem OK-Bereich nutzen modernste Kommunikationstechnik ebenso wie klassische (nachrichtendienstliche) Tarneinrichtungen, z. B. Imund Exportfirmen, Reisebüros und Speditionen. Die illegalen Gewinne werden "legal" in Restaurants, Hotels, Banken und Immobilien investiert. Ziel der OK ist ferner, auf das öffentliche und das politische Leben Einfluss zu nehmen. Zwischenzeitlich sind kriminelle Netzwerke entstanden, die Busfahrer und Piloten, aber 178 auch legale und illegale Migranten als Kuriere, Schmuggler und sonstige Helfer einsetzen. 2.3 Spionage durch den Einsatz technischer Mittel Die kontinuierliche Weiterentwicklung im Bereich der Kommunikationstechnik eröffnet immer mehr effektive Möglichkeiten, weitgehend unbemerkt auf Informationen des Staates und der Wirtschaft zuzugreifen. Dabei reichen zur erfolgreichen Durchführung ständig komplexer werdender Angriffe immer geringere technische Kenntnisse aus. Entsprechende Tools, nebst "Handbüchern", werden frei im Internet zum Download angeboten. Die notwendige Abhör-Elektronik kann man sich in einschlägigen Spezialgeschäften oder im (Internet-) Versandhandel beschaffen. So können zum Beispiel mit dem zwischen Tastatur und PC angebrachten unscheinbaren und leicht zu installierenden Spionagewerkzeug "Keyghost" bis zu zwei Millionen Tastaturanschläge gespeichert und aus jedem Texteditor heraus an anderer Stelle wieder ausgelesen werden. Die Fülle der - teilweise schlecht geschützten - Informationen, das geringe Entdeckungsrisiko sowie fehlende zeitliche, geographische und sprachliche Barrieren machen es Datenspionen relativ leicht, in die Datenbestände eines Unternehmens einzudringen und sich sozusagen auf Knopfdruck fertig aufbereites Know-how zu beschaffen. 2.4 Nutzung des Internets für nachrichtendienstliche Zwecke Angesichts der rasanten Ausbreitung des Internets und der Möglichkeit weltweiter anonymer Kommunikation kommt auch der nachrichtendienstlichen Nutzung des Internets eine immer größere Bedeutung zu. Online lassen sich beispielsweise über das WorldWideWeb (WWW) aktuelle und nachrichtendienstlich hochwertige Informationen aus weltweit verteilten Quellen zusammentragen. Die Abklärung interessanter Einzelpersonen (Lebenslauf mit Bild, Adresse, Telefonnummern, Aufgabenspektrum, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Hobbies etc.) oder die Erhebung neuester Forschungsberichte via Internet können bis zu einem gewissen Grad riskante Agentenoperationen ersetzen und erfordern zudem einen wesentlich geringeren finanziellen und zeitlichen Aufwand. Die Ergebnisse lassen sich verschlüsselt 179 INTERNET Nachrichtendienstliche Nutzungsmöglichkeiten . . InformationsEl na World-Wide-Web N > Internet-Relay-Chat - 'File-Transfer-Protokoll A, News-Groups. = E-Mail World-Wide-Web Internet-RelayPersonenabklärung Chat Tippgewinnung Info-Austauschin Steganografie Echtzeit File-TransferProtokoll News-Groups Software-Download Informationsund für NachrichtenQuellengewinnung dienstliche E-Mail Zwecke Agentenführung Info-Transfer Nd-Kontaktaufbau Virenund Hacker-Attacken oder mit Hilfe steganographischer Verfahren190 der Führungsstelle übermitteln. Effektivität und Erfolg der nachrichtendienstlichen Verbindung zwischen Agenten und ihren Führungsoffizieren hängen maßgeblich davon ab, wie sicher der Informationsaustausch funktioniert. 2.5 Information Warfare Mehr denn je muss damit gerechnet werden, dass die modernen Kommunikationsmittel und insbesondere das Internet selbst gezielten Angriffen ausgesetzt sind oder für weltweite Attacken genutzt werden. Die darüber geführten Diskussionen sind durch eine Vielfalt von Begriffen gekennzeichnet: Eine zunehmende Bedrohung von Informationsund Kommunikationssystemen sowohl des Staates als auch der Wirtschaft durch - extremistisch motivierte - Hacker, Cyberterroristen oder fremde Regierungen konnte auch nach den tragischen Ereignissen vom 11. September 2001 zunächst nicht festgestellt werden. Gleichwohl haben Hacker spon190 Hierbei werden Mitteilungen in Bildern oder Musikdateien versteckt, die entweder per Mail verschickt oder gänzlich offen über eine Website in das Internet eingestellt werden. Diese Veränderungen sind weder sichtnoch hörbar, ihre Entdeckung bedarf einer komplizierten Software. 181 tan u. a. weltweit zu Angriffen auf muslimische Internet-Web-Seiten aufgerufen und z.B. die offizielle Taliban-Website "gehackt" und durch einen Steckbrief von Osama Bin LADIN ersetzt. Außerdem kursierte im Internet ein E-Mail-Virus namens "vote" mit dem Anhang "WTC.exe", der sich als Friedensbotschaft zwischen den USA und der islamischen Welt tarnt, tatsächlich aber Dateien löscht und sich selbstständig weiterverbreitet. Zudem haben politische wie militärische Auseinandersetzungen der Vergangenheit gezeigt, dass auch auf elektronischem Weg durch Hacker versucht wird, politische oder staatliche Interessen durchzusetzen. Beispielhaft seien hier die so genannten "HackerKriege" zwischen Palästinensern und Israelis, den USA und China sowie China und Taiwan genannt. 3. Prävention Je unübersichtlicher und komplexer sich die Bedrohungslage darstellt, umso mehr wächst die Bedeutung der Prävention. Ihr wesentliches Ziel liegt in der vorsorglichen Absicherung gefährdeter Bereiche mit Hilfe personeller, organisatorischer, technischer und rechtlicher Maßnahmen. Durch ihre vielfältigen Erfahrungen aus der Spionagebekämpfung und ihr besonderes Fachwissen auf dem Gebiet des Geheimschutzes kommt den Verfassungsschutzbehörden eine wichtige Funktion bei der Festlegung vorbeugender Maßnahmen gegen Ausspähung und Sabotage zu. 3.1 "Einfallstore" für Spionage Aufgrund der eingehenden Analyse einer Vielzahl von Verratsfällen aus der Vergangenheit ist davon auszugehen, dass es eine Reihe ganz typischer Risiken gibt - quasi die "Einfallstore" für Spionage und Sabotage. Die fünf wichtigsten Schwachstellen sind: Keine klaren Vorstellungen über Existenz und Wert eigener Betriebsgeheimnisse Keine Erfassung der Sicherheitsbelange in den Unternehmenszielen 182 Keine oder unzureichende Regeln (Richtlinien, Empfehlungen) für den Umgang mit Betriebsgeheimnissen. Unsystematische Prävention (kein ganzheitliches Informationsschutzkonzept) Menschliche Schwächen: Falsches Verhalten in kritischen Situationen aus Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, Bequemlichkeit oder Überforderung Sinn und Zweck der Prävention ist es, durch sorgfältig aufeinander abgestimmte personelle und materielle Schutzmaßnahmen den Eintritt potenzieller Risiken zu verhindern oder wenigstens zu minimieren. Dabei darf sich die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Vereitelung des eigentlichen Spionageoder Sabotageakts richten. Vielmehr gilt es, das - häufig durch menschliche Schwächen begünstigte - "Aushebeln" vorhandener Schutzvorkehrungen abzuwehren und dem damit verbundenen unbemerkten Eindringen in Sicherheitsbereiche vorzubeugen. Das Landesamt für Verfassungsschutz bietet - im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeiten - beispielsweise bei der Erarbeitung von Informationsschutzkonzepten seine Unterstützung an. 3.2 Geheimund Sabotageschutz, Informationsschutz 3.2.1 Personelle Schutzmaßnahmen Dem Landesamt für Verfassungsschutz obliegt gemäß SS 3 Abs. 3 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) die Mitwirkung bei der Sicherheitsüberprüfung im Sinne des Geheimschutzes und bei verschiedenen anderen Personenüberprüfungen. Das Ende der Ost-West-Konfrontation und die Intention des im Jahre 1996 in Kraft getretenen Landessicherheitsüberprüfungsgesetzes, den Kreis der staatlichen Geheimnisträger auf den notwendigen Kernbestand zu reduzieren, hatten zur Folge, dass das Antragsaufkommen bei den Sicherheitsüberprüfungen im Laufe der letzten Jahre zurückgegangen ist. Dagegen haben die anderen Überprüfungsarten deutlich zugenommen. Dies betrifft speziell Einbürgerungsverfahren sowie den Zugang zu kerntechnischen Anlagen und zu 183 sicherheitskritischen Bereichen von Flughäfen. Auch wenn sich die Zuständigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz bei diesen Überprüfungsverfahren auf die Abfrage der verfassungsschutzinternen Dateien beschränkt, verursacht allein schon die Vielzahl der Vorgänge einen immensen Aufwand. Die Eingangszahlen sind infolge von Sondermaßnahmen nach den Ereignissen vom 11. September 2001 noch weiter angestiegen. 3.2.2 Materielle Schutzmaßnahmen Gemäß SS 3 Abs. 3 Nr. 3 LVSG wirkt das Landesamt für Verfassungsschutz mit bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte. Die damit verbundene Beratungsund Informationspflicht umfasst das gesamte Spektrum baulicher, mechanischer, elektronischer und organisatorischer Sicherheitsvorkehrungen. Immer häufiger geht es aber nicht mehr allein um die Sicherheit "klassischer" Verschlusssachen, sondern allgemein um den Schutz sensibler Behördeninformationen oder von Betriebsgeheimnissen aus der Wirtschaft. Von zentraler Bedeutung ist dabei regelmäßig die Fragestellung, inwieweit entsprechende Daten im Rahmen des Bearbeitungsprozesses in der EDV geschützt werden können. Die Erarbeitung erfolgreicher und praktikabler Präventionskonzepte setzt allerdings voraus, dass technische Spionageangriffe von den Betroffenen überhaupt bemerkt und die Erkenntnisse darüber an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden. Insofern müssen im Zusammenwirken zwischen Staat, Behörden und Wirtschaft Wege gefunden werden, die es erlauben, Ziele, Methoden und Wirkung technischer Attacken frühzeitig zu erkennen und den Informationsaustausch zu verbessern. Durch die zunehmende Abhängigkeit von sicherheitskritischen Infrastrukturen haben sich die Anforderungen erheblich erweitert. Es müssen daher fortlaufend Lagebilder und Präventionskonzepte entwickelt werden, die geeignet sind, virtuelle Angriffe, physische Schädigungen von Informationsund Kommunikationssystemen, aber auch gezielte Manipulationen von Informationen zur psychologischen Beeinflussung von Einzelpersonen, bestimmten Zielgruppen oder der gesamten Bevölkerung (z.B. durch Desinformation) frühzeitig zu erkennen, um entsprechende Abwehrmaßnahmen zu ermöglichen. 184 Die Beratung durch das Landesamt für Verfassungsschutz zum Schutz von Telekommunikationsund ITSystemen orientiert sich sowohl an den Erkenntnissen der Spionageabwehr als auch anderer Sicherheitsbehörden. Dabei steht die Wahrung von Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit, Authentizität und Rechtsverbindlichkeit der Daten und Systeme im Vordergrund. 3.3 Öffentlichkeitsarbeit der Spionageabwehr Neben der individuellen Festlegung personeller und materieller Schutzmaßnahmen bildet die Aufklärung der Öffentlichkeit über Vorgehensweisen und Absichten fremder Nachrichtendienste eine weitere Säule der Prävention. Vornehmlich durch Fachvorträge, Informationsund Beratungsgespräche, Diskussionsrunden und Interviews in Funk, Fernsehen und Printmedien werden aktuelles Wissen und Standpunkt des Landesamts für Verfassungsschutz einem großen Kreis der potenziell von Spionage Betroffenen zugänglich gemacht. Insgesamt wurden von Angehörigen der Spionageabwehr im Jahr 2001 ca. 30 Vorträge gehalten, ca. 30 Medienkontakte wahrgenommen und ca. 190 Behördenund Firmenberatungen durchgeführt. Konkret bietet das Landesamt für Verfassungsschutz die Zusammenarbeit bei der Aufklärung von Spionagefällen oder Sicherheitsvorkommnissen, Beratungen, Broschüren, Vorträge sowie Informationen im Internet (http://www.baden-wuerttemberg.de/ verfassungsschutz) an. 3.4 Anzeigenkampagne "Vertrauliches Telefon der Spionageabwehr" Mit der Anzeigenkampagne "Vertrauliches Telefon der Spionageabwehr" soll die Möglichkeit der diskreten Telefonverbindung zur Spionageabwehr des Landesamts für Verfassungsschutz verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden. Unter den Rufnummern Telefon 0711/9 54 76 26 und Fax 0711/9 54 76 27 185 stehen erfahrene Mitarbeiter bereit, Hinweise auf einschlägige Sachverhalte aufzunehmen oder Anrufer in persönlichen Konfliktsituationen sachkundig zu beraten. Mit Unterstützung der Mitteilungsorgane der Industrieund Handelskammern, von SicherheitsFachzeitschriften und sonstigen Printmedien konnte mit einer groß angelegten Anzeigenserie auf die Zuständigkeiten des Verfassungsschutzes als kompetente Abwehrbehörde aufmerksam gemacht und gleichzeitig auf aktuelle Spionagerisiken hingewiesen werden. 3.5 "Sicherheitsforum Baden-Württemberg - die Wirtschaft schützt ihr Wissen" Das Landesamt für Verfassungsschutz engagierte sich auch 2001 aktiv in dem 1999 ins Leben gerufenen Gremium. Gemeinsam mit Firmen, Forschungseinrichtungen, Verbänden, Kammern und Behörden wurden im Rahmen regelmäßiger Sitzungen Entscheidungen für einen besseren Schutz der Wirtschaft vor Spionage und Know-how-Verlust herbeigeführt. Das Forum versteht sich als Bindeglied zwischen Wirtschaft, Forschungseinrichtungen und Behörden und will mit einem Bündel sicherheitsbezogener Maßnahmen dazu beitragen, den Technologievorsprung der Wirtschaft des Landes vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs zu erhalten beziehungsweise weiter auszubauen. Im Internet sind unter www.sicherheitsforum-bw.de weitere Informationen zum Thema Wirtschaftsspionage abrufbar. 186