A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Der politische Extremismus ist eine ständige Herausforderung für unsere Demokratie, die sich im Bewusstsein der Lehren aus den Jahren der Weimarer Republik und der leidvollen Erfahrungen aus der Nazidiktatur als "wehrhafte Demokratie" versteht. Neben anderen "Sicherheitsmechanismen" zum Schutz unseres demokratischen Gemeinwesens erwähnt das Grundgesetz auch den Verfassungsschutz (Artikel 73 Nr. 10 GG). Seine Aufgabe ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Bund und die 16 Länder unterhalten eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das badenwürttembergische Landesamt für Verfassungsschutz hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich in fünf Abteilungen und wird von einem Präsidenten geleitet. Sein Personalbestand ist im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem Amt für das Jahr 2000 insgesamt 341 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter zugewiesen (1999: 343). Personalausgaben waren in Höhe von etwa 24,23 Millionen (1999: 23,8 Millionen) DM und Sachausgaben in Höhe von rund 4,25 Millionen (1999: 5,0 Millionen) DM veranschlagt. 1 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz ist immer dann gefordert, wenn den obersten Werten und Prinzipien des Grundgesetzes Gefahr droht. So hat das Landesamt nach SS 3 Abs. 1 und 2 des Landesverfassungsschutzgesetzes (LVSG) die Aufgabe, Informationen über solche Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder auch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind. Unter dem Begriff der Bestrebungen versteht man dabei eine "politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweise", die auf eine Beeinträchtigung der verfassungsmäßigen Ordnung abzielt (vgl. SS 4 Abs. 1 LVSG). Deshalb schaut der Verfassungsschutz überall dort genauer hin, wo Bestrebungen erkennbar sind, unsere Staatsordnung durch ein linksextremistisches, rechtsextremistisches oder sonstiges undemokratisches Staatsgebilde zu ersetzen oder durch terroristische Gewalt zu beseitigen. Er ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksund rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch unseren Staat möglicherweise in außenpolitische Konflikte und Zwangssituationen bringen. Außerdem gehört die Spionageabwehr zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes. Hier geht es darum, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und auszuleuchten. Aus dem Beobachtungsauftrag folgt die - ebenfalls gesetzlich bestimmte - Verpflichtung des Verfassungsschutzes, die für die Gefahrenabwehr zuständigen Stellen über seine Erkenntnisse zu informieren, damit dort die gebotenen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Schließlich erfüllt das Landesamt für Verfassungsschutz eine Mitwirkungsaufgabe im Bereich des vorbeugenden personellen und materiellen Geheimschutzes. Es unterstützt hierbei Behörden und außerbehördliche Stellen bei der Überprüfung von Geheimnisträgern und anderen Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig sind. Es bietet dabei auch Beratung an, wie geheimhaltungsbedürftige Vorgänge durch technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden können. 2 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Verfassungsschutz und Polizei sind in der Bundesrepublik Deutschland streng voneinander getrennt. Dies gilt sowohl organisatorisch als auch hinsichtlich der spezifischen Befugnisse. Diese mit dem Begriff "Trennungsgebot" umschriebene Kompetenzverteilung wurzelt in der nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnenen Einsicht, dass sich die leidvollen Erfahrungen mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) niemals wiederholen dürfen. Durch das Trennungsgebot wird sichergestellt, dass dem Verfassungsschutz keine polizeilichen Befugnisse zustehen. Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz dürfen also keinerlei Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund von Informationen, die dem Verfassungsschutz vorliegen, ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der Informationen, die das Landesamt für Verfassungsschutz braucht, um seinen Auftrag zu erfüllen, beschafft es auf offenem, jedermann zugänglichem Weg. So werten die Mitarbeiter der Behörde Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter, Programme, Broschüren und sonstiges allgemein verfügbares Material extremistischer Organisationen aus und besuchen immer wieder auch deren öffentliche Veranstaltungen. Allerdings kann das Landesamt für Verfassungsschutz seine Informationen auch verdeckt beschaffen und die dafür im LVSG vorgesehenen Methoden und Techniken anwenden bzw. einsetzen. Gerade solche, durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnenen hochwertigen Erkenntnisse, ermöglichen im Grundsatz erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. Beispiele für nachrichtendienstliche Mittel sind der Einsatz von Vertrauensleuten (V-Leuten) die Observation verdächtiger Personen geheimes Fotografieren sowie Tarnmaßnahmen, mit denen verdeckt werden soll, dass der Verfassungsschutz Beobachtungen vornimmt . 3 Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses - G 10 -). 4. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Innerbehördliche Maßnahmen wie z.B. Kontrollen durch den internen Datenschutzbeauftragten stellen ebenso wie die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium, aber auch Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 16 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Ihm berichtet das Innenministerium zweimal im Jahr sowie auf Verlangen des Ausschusses und aus besonderem Anlass über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Für die Wahrnehmung der spezifischen parlamentarischen Kontrolle über die Durchführung des "Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses" (G 10) ist ein Gremium bestellt, das sich aus fünf Abgeordneten des Landtags zusammensetzt. Über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen entscheidet eine unabhängige Kommission, die aus drei vom Landtag bestellten Persönlichkeiten, die nicht notwendigerweise Abgeordnete sein müssen, besteht. 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann dauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Eine ganze Palette von Informationsmöglichkeiten steht dabei zur 4 Auswahl. So können derzeit 14 Broschüren zu den verschiedensten Themen des Verfassungsschutzes angefordert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz stellt auch gerne Referenten für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung und beantwortet Anfragen von Medienvertretern so umfassend wie möglich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahre 2000 rund 70 Vorträge gehalten. Etwa 13.700 Verfassungsschutzberichte 1999 und 16.000 Broschüren wurden auf Anforderung verteilt. Derzeit sind folgende Informationsschriften verfügbar: Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg - Aufbau und Arbeitsweise (Broschüre - Januar 1999) Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - Mai 1998; Neuauflage Mitte 2001 geplant) Die Partei "Die Republikaner" (REP) - konservativ oder rechtsextremistisch? (Broschüre - August 2000) Rechtsextremistische Skinheads (Broschüre - Neuauflage Frühjahr 2001) Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - September 1999) Antifaschismus als Agitationsfeld von Linksextremisten (Broschüre - November 1998) 5 Die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) - Auf dem Weg in die Demokratie? (Broschüre - August 2000) Erscheinungsformen des Ausländerextremismus (Broschüre - Neuauflage Frühjahr 2001) Islamistische Extremisten (Broschüre - Juli 1999) Arbeiterpartei Kurdistans - Organisationsaufbau (Broschüre - Juli 1998) Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz (Broschüre - August 1997) Die Scientology-Organisation (Broschüre - Juni 1999) Schutz vor Spionage - Ein praktischer Leitfaden für die gewerbliche Wirtschaft (Broschüre - Juni 1999) Wirtschaftsspionage - Die gewerbliche Wirtschaft im Visier fremder Nachrichtendienste (Broschüre - Oktober 1998) Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg seit Oktober 1997 mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Extremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Alle zu diesen Themenbereichen sowie zur Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Landesamts für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüren können heruntergeladen werden. Außerdem berichtet das Landesamt für Verfassungs- 6 schutz auf seiner Homepage über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse und bietet hierzu Hintergrundinformationen an. Abbildungen, Schaubilder, Tabellen und Grafiken, Literaturhinweise und Erläuterungen von Fachbegriffen zum Thema Verfassungsschutz runden das Angebot ab. Von der Homepage gelangt man zur E-Mail-Adresse, über die Fragen, Anregungen, Kritik und Bestellungen von Publikationen direkt an das Landesamt für Verfassungsschutz gesandt werden können. Daneben besteht die Möglichkeit, die Anschriften aller Verfassungsschutzbehörden im Bundesgebiet sowie eine Übersicht über ihre Informationsschriften abzurufen und über einen Link direkt zur jeweiligen Homepage - soweit vorhanden - zu wechseln. Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 50 07 00 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/95 44 181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/95 44 444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.baden-wuerttemberg.de/verfassungsschutz eMail: lfv-bw@t-online.de Vertrauliches Telefon zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 Vertrauliches Telefon zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 7 B. VERGLEICH DER STRAFTATENUND GEWALTTATEN MIT ERWIESENER ODER ZU VERMUTENDER RECHTS-, LINKSUND AUSLÄNDEREXTREMISTISCHER 1 MOTIVATION IN BADEN-WÜRTTEMBERG IM ZEITRAUM 1998 - 2000 Grafik: LfV BW 1 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 8 C. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklung und Tendenzen 1.1 Überblick Der Rechtsextremismus stand auch im Jahr 2000 im Mittelpunkt der Beobachtung durch das Landesamt für Verfassungsschutz. Die Mitgliederentwicklung bei den rechtsextremistischen Parteien war in den letzten Jahren rückläufig, während die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten angestiegen ist. Ab Mitte des Jahres 2000 waren ein Ausbruch von Gewalt und eine erhebliche Zunahme der Straftaten zu verzeichnen. Auslöser dieser Ereignisse war u.a. ein bislang ungeklärter Sprengstoffanschlag am 27. Juli 2000 in Düsseldorf, bei dem mehrere Personen - zumeist jüdische Aussiedler aus Osteuropa - erheblich verletzt wurden. 9 In Zusammenhang mit einer massiv aufbrandenden öffentlichen Diskussion über den Rechtsextremismus wurde die Forderung nach einem Verbot der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) laut. Die NPD wird für die Zunahme von Gewalt verantwortlich gemacht, weil sie sich offen für Neonazis und gewaltbereite Rechtsextremisten zeigt. Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag beschlossen daher, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD zu stellen. Daneben beschlossen Bund und Länder ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Hierzu gehören neben repressiven und präventiven Bekämpfungsstrategien die Intensivierung der Jugendsozialarbeit und des Jugendmedienschutzes sowie der Öffentlichkeitsarbeit. Zur Aufklärung und Unterrichtung über rechtsextremistische Bestrebungen und die davon ausgehenden Gefahren leistete auch das Landesamt für Verfassungsschutz - seinem gesetzlichen Auftrag folgend - seinen Beitrag durch zahlreiche Vorträge und Informationsveranstaltungen, Interviews in den Medien sowie durch die Herausgabe verschiedener Broschüren und die Mitwirkung an einem Dokumentarfilm für Jugendliche und Pädagogen über das Thema Rechtsextremismus im Internet. 1.2 Ideologie Nationalismus und Rassismus sind die wesentlichen Grundlagen des Rechtsextremismus. Danach bestimmt sich der Wert eines Menschen nach seiner ethnischen Zugehörigkeit zu einer Nation oder Rasse. Die Nation gilt als höchstes Gut, dem sich alle anderen Werte und Interessen unterzuordnen haben. Daraus ergibt sich sowohl die angebliche Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen Staaten als auch die kollektivistische Unterdrückung der zur eigenen Nation gehörenden Individuen und die Missachtung ihrer Individualgrundrechte. Da die Nation rassisch begründet wird, führt dies zwangsläufig zur Ausgrenzung und Abwertung derjenigen, die nicht der gleichen ethnischen Gruppe angehören. 10 Rechtsextremisten propagieren ein autoritäres politisches System basierend auf der Ideologie der Volksgemeinschaft und dem Führerprinzip. Da Volkswille und Führerhandeln, bedingt durch die gleiche ethnische Herkunft, eins sind, machen sie - nach rechtsextremistischer Auffassung - die Kontrollmechanismen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung überflüssig und die Abschaffung des demokratischen Verfassungsstaates zu einer zwangsläufigen Folge. 1.3 Gewalt Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten ist im Jahr 2000 drastisch gestiegen, was insbesondere auf die Entwicklung im 2. Halbjahr zurückzuführen ist. Wurden in Baden-Württemberg im Jahr 1999 bereits 61 Gewalttaten verübt, sind im Jahr 2000 107, darunter drei versuchte Tötungsdelikte, festgestellt worden. Ähnlich sieht es auf Bundesebene aus: die Zahl der Gewalttaten stieg von 746 im Jahr 1999 auf nunmehr 998. Auch das gewaltbereite Personenpotenzial nimmt weiter zu: in BadenWürttemberg von 670 (1999) auf rund 800 und auf Bundesebene von 9.000 (1999) auf 9.700 im Jahr 2000; der Schwerpunkt bezogen auf die Einwohnerzahl liegt mit rund 50 Prozent des Gesamtpotenzials weiterhin in Ostdeutschland. 11 Entwicklungen der Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 1987 - 20002 1600 1485 1400 1322 1200 998 1000 849 785 790 800 746 708 612 624 600 Vergleichszahlen für BW für 1987-1990 liegen nicht vor 400 195 173 178 200 139 129 122 107 58 64 36 63 50 61 28 0 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 Bund Land Grafik: LfV BW Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten in Deutschland und Baden-Württemberg im Jahr 20003 2 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 3 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 12 1.4 Neonazismus Die Zahl der Neonazis ist auf Landesebene geringfügig zurückgegangen (1999: 300; 2000: 280) und stagniert im Bundesgebiet (1999:2.200; 2000:2.200). Der organisierte Neonazismus spielt in Deutschland keine bedeutende Rolle mehr. Zwischen gewaltbereiten Skinheads und neonazistischem Spektrum ist jedoch eine zunehmende Annäherung zu beobachten. Die Grenzen sind inzwischen fließend. Auch im Jahr 2000 gelang es der Szene nicht, eine zentrale "Heß-Gedenkveranstaltung" mit bundesweiter Bedeutung zu veranstalten. 1.5 Parteien Die nach wie vor mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei, die "Deutsche Volksunion" (DVU), ist zwar in drei Länderparlamenten (Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Bremen) vertreten, spielt jedoch weder in Baden-Württemberg noch auf Bundesebene eine besondere Rolle. Die NPD steigerte ihre Mitgliederzahl bundesweit auf rund 6.500 Personen (1999: 6.000). Die große öffentliche Aufmerksamkeit um ein mögliches Verbot dieser Partei und ein dadurch bedingter Mitleidseffekt bescherten ihr diesen leichten Aufschwung. Gleichzeitig geriet die NPD in interne Auseinandersetzungen über den künftigen Kurs. Derzeit prägt nach außen demonstrierte Zurückhaltung ihre aktuelle Situation. Die Klagen der Partei "Die Republikaner" (REP) auf Unterlassung der nachrichtendienstlichen Beobachtung wurden sowohl vom Verwaltungsgericht Stuttgart als auch von den Oberverwaltungsgerichten Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen. Außerdem musste die Partei bundesweit einen weiteren Mitgliederrückgang (1999: ca. 14.000; 2000: ca. 13.000) hinnehmen. 13 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Zielrichtung rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten stieg in Baden-Württemberg im Jahr 2000 deutlich um 75 Prozent auf 107 Delikte an (Vorjahr: 61). Auffällig ist dabei, dass sich das Deliktsaufkommen bis August etwa auf dem Niveau des Vorjahres bewegte, jedoch nach dem bislang ungeklärten Sprengstoffanschlag am 27. Juli 2000 in einem S-Bahnhof in Düsseldorf, bei dem aufgrund der Tatumstände ein rechtsextremistischer Hintergrund vermutet wurde, schlagartig angestiegen ist. Allein im September wuchs in Baden-Württemberg im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten auf das Dreifache von fünf auf 15 an. Mitursächlich dafür dürfte sein, dass die öffentliche Diskussion über die Gefahren des Rechtsextremismus und die Publizität der Ereignisse auch Nachahmungstaten nach sich zogen - ein Phänomen, das bereits Anfang der 90er Jahre beobachtet werden konnte. Dementsprechend nahmen im Jahr 2000 Übergriffe gegen Ausländer wieder zu, während sich im Vorjahr fremdenfeindlich und sonstige rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte in etwa die Waage gehalten hatten. Von den 107 Delikten wiesen 64 eine fremdenfeindliche Motivation auf; das bedeutet eine Verdoppelung gegenüber 1999. Erstmals wurden rund 55 Prozent aller Gewalttaten von Angehörigen der rechtsextremistischen Skinheadszene verübt. In den Vorjahren lag ihr Anteil jeweils bei ca. 50 Prozent. Bundesweit stieg die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewaltdelikte von 746 auf 998 Taten, von denen rund 64 Prozent fremdenfeindlich motiviert waren. 14 Die Gewalttaten im Bund-/ Ländervergleich4 Gewalttaten Baden-Württemberg Bund 2000 1999 2000 1999 Tötungsdelikte 0 0 2 1 Versuchte Tötungsdelikte 3 0 15 13 Brandstiftungen 1 1 41 35 Landfriedensbruch 1 1 59 65 Körperverletzungen 94 56 874 630 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, keine keine 0 1 Luft-, Schiffsund Straßenverkehr separaten separaten Raub/ Erpressung 2 2 Angaben Angaben Herbeiführung einer 0 0 7 2 Sprengstoffexplosion Widerstand gegen keine keine keine 6 Vollstreckungsbeamte Angaben Angaben Angaben Gesamt: 107 61 998 746 Erschreckend ist die Zunahme der Brutalität und Skrupellosigkeit bei den Gewalttaten. Im Land überwogen wie im Vorjahr die Körperverletzungsdelikte, darüber hinaus wurden drei versuchte Tötungsdelikte, eine Brandstiftung und ein Landfriedensbruch erfasst. Beispiele: Am Abend des 11. Februar 2000 warf ein 23jähriger Skinhead drei Molotowcocktails gegen ein Wohnhaus in Owingen/Krs. Friedrichshafen. Als Motiv für seine Tat gab er an, er habe einen der Hausbewohner "abstrafen" wollen, da der ihn nicht mehr mit dem "Hitler-Gruß" gegrüßt und an einem türkischen Kebab-Stand gegessen habe. Die Staatsanwaltschaft Konstanz hat am 20. Dezember 2000 u.a. wegen versuchten Mordes und schwerer Brandstiftung Anklage erhoben, da er bei seiner Tatausführung ausdrücklich in Kauf genommen habe, dass die Bewohner des Hauses zu Schaden oder gar zu Tode hätten kommen können. Am Abend des 10. April 2000 schlugen drei Skinheads im Alter von 16 bis 18 Jahren am 4 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 15 Bahnhof in Ditzingen/Krs. Ludwigsburg einen aus Sri Lanka stammenden Asylbewerber zusammen, verletzten ihn mit einer abgebrochenen Bierflasche, warfen ihn auf die Gleise und ließen ihn dort hilflos liegen. Kurz vor einer einfahrenden S-Bahn konnte der stark alkoholisierte Mann von den Gleisen gerettet werden. Am 27. Oktober 2000 verurteilte das Landgericht Stuttgart die Jugendlichen (zwei Jungen und ein Mädchen) wegen versuchten Totschlags und Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen dreieinhalb und vier Jahren ohne Bewährung und stellte fest, sie hätten den Tod des Mannes zwar nicht gewollt, aber billigend in Kauf genommen. In der Urteilsbegründung heißt es "auf dem Hintergrund ihrer von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus geprägten Einstellung" sei ihr Verhalten aber auch durch einen Fluchtreflex und das Erschrecken über die Folgen ihres gewalttätigen Angriffs motiviert gewesen. Deshalb könnten Ausländerfeindlichkeit und Rassismus nicht sicher als vorrangige Motive festgestellt werden. Das Urteil ist nur zum Teil rechtskräftig; zwei Verurteilte legten Revision ein. Am Rande des Seenachtsfestes in Konstanz griffen am 12. August 2000 fünf Skinheads zwei türkische Jugendliche an. Sie schlugen und traten ihre Opfer und warfen eines in den Bodensee. Die Große Jugendkammer des Konstanzer Landgerichts verurteilte laut Pressemeldung den 26-jährigen Haupttäter zu einer 16-monatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Drei Mitangeklagte wurden zu zwölf beziehungsweise 16 Monaten auf drei Jahre Bewährung und der fünfte Angeklagte zu einer Geldstrafe in Höhe von 2.700 DM verurteilt. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Am 30. August 2000 verübten drei Skinheads im Alter zwischen 18 und 21 Jahren einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Waiblingen. Sie tränkten ein zum Trocknen vor dem Haus aufgehängtes Betttuch mit Spiritus, steckten es in den Verteilerkasten des Gebäudes und entzündeten es. Ein Hausbewohner konnte den Brand löschen. Bei ihrer Festnahme gaben die Jugendlichen an, schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht zu haben. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart beantragte am 6. Dezember 2000 die Eröffnung des Hauptverfahrens. Sie wirft den Skinheads vor, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt und dabei den Tod von 54 Menschen billigend in Kauf genommen zu haben. Ausdrücklich wird in der Anklageschrift auf den bei allen drei Beschuldigten vorhandenen Ausländerhass als Motiv eingegangen. 16 Am Abend des 2. Oktober 2000 trafen sich sieben Skinheads zwischen 15 und 20 Jahren aus den Räumen Schwäbisch Hall und Nürnberg in einer Gaststätte in Schwäbisch Hall, wo sie durch das Absingen rechtsextremistischer Lieder auffielen und schließlich des Lokals verwiesen wurden. Vor der Gaststätte trafen sie auf einen zufällig vorbeifahrenden Jugendlichen, den sie als "Jude" bezeichneten und unvermittelt schlugen. Die Sonderkommission der Polizei erstattete gegen die sieben Skinheads Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall wegen gefährlicher Körperverletzung. In derselben Nacht wurden auf dem jüdischen Friedhof in Schwäbisch Hall Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Täter der Friedhofsschändung konnten bislang nicht ermittelt werden. In der Nacht zum 5. November 2000 warf ein 16-jähriger Schüler einen Molotowcocktail gegen ein u.a. von einer türkischen Familie bewohntes Haus in Friesenheim/ Ortenaukreis. Bei der Vernehmung durch die Polizei räumte er die Tat ein und gestand, auch Verfasser mehrerer Drohschreiben gegenüber dieser Familie gewesen zu sein. Als Motiv gab er Ausländerhass an, der durch wiederholte Auseinandersetzungen mit türkischen Jugendlichen entstanden sei. Eine Tötungsabsicht bestritt er jedoch. Täteranalyse Gewalt und Fremdenfeindlichkeit sind keine spezifischen Jugendprobleme und keineswegs kennzeichnend für die Einstellungen und Verhaltensweisen "der Jugend" insgesamt. Dennoch lag der Anteil der Tatverdächtigen rechtsextremistisch motivierter Gewaltdelikte im Alter von 16 bis 20 Jahren im Jahr 2000 wieder bei rund 60 Prozent und der Anteil der 21 bis 25-Jährigen bei 25 Prozent. In den seltensten Fällen sind Mädchen und Frauen an Gewaltdelikten beteiligt. Ihr Anteil an den für das Jahr 2000 ermittelten Tatverdächtigen liegt lediglich bei 5,5 Prozent. Herauszuheben ist dabei ein Vorfall vom 14. Oktober 2000, als drei weibliche Angehörige der Skinheadszene in der Innenstadt von Karlsruhe einen ausländischen Jugendlichen als "Scheiß-Neger" beleidigten, ihm sein Handy entwendeten, ihn schlugen und traten. 17 Gerade junge Menschen in der Orientierungsphase, vor allem wenn sie Misserfolge erlebt haben, sind für die vermeintlich einfachen Lösungen des Rechtsextremismus, für seine Strukturen und ritualisierten Verhaltensweisen anfällig, die ihnen Akzeptanz, Identitätserlebnisse, Geborgenheit oder gar Machtgefühle vermitteln. Die Überzeugung, "auf der richtigen Seite zu stehen", verleiht den Rechtsextremisten ein Überlegenheitsgefühl, das Hemmschwellen abbaut und die Bereitschaft erhöht, dem "Anderen, Nicht-Dazugehörenden" seine Missachtung, ja Verachtung zu zeigen, was auch immer wieder in Gewaltanwendungen mündet. Umso mehr gilt es, die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit dieser Einstellung mit allen geeigneten Mitteln zu entlarven und durch anhaltende gesellschaftliche Ächtung und konsequente Verfolgung der verschiedenen Erscheinungsformen von Extremismus und Gewalt deutliche Zeichen zu setzen. Maßnahmen der Landesregierung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus Die Landesregierung Baden-Württemberg ist bisher schon konsequent und frühzeitig gegen extremistische Straftaten und Aktivitäten vorgegangen und hat entschlossen alle rechtlichen Möglichkeiten sowohl bei der vorbeugenden Bekämpfung als auch bei der Strafverfolgung ausgeschöpft. Der breite Ansatz von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Jugendhilfe, Schulen und Kommunen hat sich bewährt. Der hohe Kontrollund Verfolgungsdruck führt erkennbar zu einer Eindämmung, aber auch zu einer teilweisen Verdrängung rechtsextremistischer Aktivitäten. Die bisherige Strategie zur Bekämpfung rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten und Aktivitäten wird durch ein neues Konzept noch intensiviert, zu dem vor allem folgende Maßnahmen gehören: - Verstärkte Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei mit den Schulen: Schüler, Lehrer und Eltern sollen über die Ursachen von Rechtsextremismus und Gewalt besser aufgeklärt, Grundpfeiler für gegenseitiges Verständnis, Toleranz und friedliches Miteinander geschaffen werden. - Verstärkte Jugendsozialarbeit: Durch den direkten Kontakt mit sozialauffälligen Jugendlichen soll Vertrauen aufgebaut und der Weg in die Erwachsenenund Berufswelt erleichtert werden. 18 - Weitere Projekte der Kommunalen Kriminalprävention: Präventionsmaßnahmen sollen sich zum einen an die gesamte Gesellschaft richten, um Einflüssen rechten Gedankenguts vorzubeugen; zum anderen müssen gezielte Präventionsmaßnahmen bei Problemgruppen ansetzen, die bereits einschlägig in Erscheinung getreten sind, um sie wieder in die demokratische Gesellschaft zurückzuholen. Dabei sollen die Maßnahmen an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und nach Möglichkeit örtliche Verantwortungsträger eingebunden werden. - Verstärkte Anwendung des beschleunigten Verfahrens im Strafprozess: Strafverfolgungsbehörden sollen für eine schnelle und konsequente Ahndung Sorge tragen nach dem Motto: "Die Strafe folgt auf dem Fuß." - Datei "Gewaltbereite Rechtsextremisten": Diese bundesweit nutzbare Datei soll bei Demonstrationen, rechtsextremistischen Skinheadkonzerten und sonstigen rechtsextremistischen Veranstaltungen entsprechende polizeiliche Maßnahmen schon im Vorfeld ermöglichen. 2.2 Rechtsextremistische Skinheads Das Potential rechtsextremistischer Skinheads schwankte in Baden-Württemberg in den letzten fünf Jahren zwischen 500 und 700 Personen. Im Jahr 2000 stieg die Zahl auf rund 750 Szeneangehörige an, von denen etwa 85 Prozent männliche Jugendliche sind. Bundesweit beläuft sich die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten, deren größter Teil der rechtsextremistischen Skinheadszene zuzurechnen ist, auf ca. 9.700 (1999: 9.000). 19 Altersstruktur der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg im Jahr 2000 > 30 Jahre 16 und 17 Jahre 25 - 30 Jahre 4% 9% 16% 18 - 20 Jahre 35% 21 - 24 Jahre 36% Grafik: LfV BW Räumliche Schwerpunkte Die räumlichen Schwerpunkte richten sich zunächst nach der Zahl der in bestimmten Regionen wohnhaften Szeneangehörigen. Die Wohnorte sind aber in der Regel nicht gleichzusetzen mit den Orten, an denen Skinhead-Cliquen ihre Aktivitäten entfalten. Vielmehr zeichnet sich die Szene durch große Mobilität und Flexibilität aus, so dass Zusammenkünfte auch etliche Kilometer von den Wohnorten entfernt stattfinden und Konzerte sowie Demonstrationen in anderen Bundesländern besucht werden. Wie in den letzten Jahren bestehen besonders intensive Kontakte aus den Grenzgebieten Rhein-Neckar-Kreis und Bodenseeraum in die angrenzenden Bundesländer Rheinland-Pfalz und Bayern, wo sich Szeneangehörige zur "Kameradschaftspflege" treffen. Der Bodenseeraum ist in Baden-Württemberg neben dem Bereich Biberach eine der Regionen, in der sich die Kreisverbände der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) und ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) teilweise aus der Skinheadszene rekrutieren. 20 Schwerpunkte der Skinheadszene in Baden-Württemberg nach Wohnorten Grafik: LfV BW Strukturierungsansätze in der Skinheadszene Der in den letzten Jahren zu beobachtende Ausbau der Vernetzung auf internationaler Ebene konnte in Deutschland gestoppt werden. Am 14. September 2000 verbot das Bundesministerium des Innern die deutsche Division der international agierenden rechtsextremistischen Skinheadvereinigung "Blood & Honour" und ihre Jugendorganisation "White Youth". Die Polizei durchsuchte die Wohnund Geschäftsräume von 39 Mitgliedern und Funktionären in 21 zahlreichen Bundesländern sowie das Clubhaus von "Blood & Honour" in Berlin. Computer, interner Schriftverkehr, Propagandamaterial und Sparbücher mit Beträgen in fünfstelliger Höhe wurden sichergestellt. Von der Durchsuchungsmaßnahme war auch ein Mitglied in Karlsruhe betroffen. Die 1987 von Ian Stuart Donaldson, dem 1993 verstorbenen Sänger der rechtsextremistischen britischen Skinhead-Band "Skrewdriver", in Großbritannien gegründete Organisation verfügte seit 1994 auch in Deutschland über bundesweite Strukturen. Im Mittelpunkt ihrer Ideologie stand die Vorstellung von der Höherwertigkeit der weißen "Rasse" und der Kampf gegen "Linke", Juden und Ausländer. Die deutsche "Blood & Honour"-Division, die wie die Gesamtorganisation ihren Zweck darin sah, nationalsozialistisches Gedankengut über die Veranstaltung von Skinhead-Konzerten und in Szenemagazinen zu verbreiten, umfasste zuletzt etwa 200 Mitglieder in 15 Sektionen. Da sie eine Vielzahl von bedeutenden Aktivisten aus dem Skinheadund Neonazi-Spektrum an sich zu binden vermochte, war die Organisation zur wichtigsten und einflussreichsten bundesweiten Gruppierung innerhalb der rechtsextremistischen Skinhead-Szene herangewachsen. Konspirativ organisierte Konzerte zogen bis zu 2.000 Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet und dem angrenzenden Ausland an. Das von "Blood & Honour" herausgegebene gleichnamige Fanzine, das in der rechtsextremistischen Skinheadszene großen Zuspruch fand, erschien in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren. Der Mitgliederbestand hatte zuletzt jedoch aufgrund anhaltender interner Auseinandersetzungen abgenommen. Auch die "Sektion Württemberg" hatte sich gegen Ende des Jahres 1999 aufgelöst. Die "Sektion Baden" hatte im Jahr 1999 bereits zwei Konzerte mit jeweils mehreren hundert Besuchern unter äußerst konspirativen Umständen in Baden-Württemberg organisiert und war an der Vorbereitung von zwei Veranstaltungen im Elsass beteiligt. Im Jahr 2000 veranstaltete sie vor dem Verbot noch ein weiteres Konzert am 20. Mai in KarlsruheDurlach unter Beteiligung von rund 500 Szeneangehörigen. Versuche der 1986 in den USA gegründeten "Hammerskins", in Baden-Württemberg Fuß zu fassen, sind weiterhin nur vereinzelt erkennbar und beschränken sich auf Einzelkontakte. Ziel dieser Gruppierung ist die Vereinigung aller "weißen, nationalen Kräfte". 22 Publikationen Ein bislang wichtiges Kommunikationsmittel innerhalb der rechtsextremistischen Skinheadszene verliert in Baden-Württemberg offenbar an Bedeutung. Die Anzahl der im Land hergestellten Fanzines (szeneinterne Informationshefte, die zumeist in Eigenarbeit erstellt werden und Konzertbesprechungen, CDbzw. Plattenkritiken, aktuelle Szeneberichte, Interviews mit Skinbands, Besprechungen anderer Fanzines sowie juristische Tipps enthalten) hat im Jahr 2000 deutlich abgenommen. Es wurden nur drei (1999: acht) der ausschließlich über den einschlägigen Versandhandel oder bei Skinheadveranstaltungen erhältlichen Publikationen veröffentlicht: die 2. Ausgabe der Publikation "Der Germane" aus Calw, die 4. Ausgabe des Fanzines "KdF" aus Stutensee und das Fanzine "Fegefeuer" aus Freiburg. Dies dürfte ein Anzeichen dafür sein, dass einerseits der Kommunikationsbedarf offenbar immer häufiger auf Skinheadtreffen und -konzerten abgedeckt wird, andererseits aber auch die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden Wirkung zeigen. Die in BadenWürttemberg herausgegebenen Fanzines wiesen im Jahr 1999 eine Tendenz zu vermehrten ausländerfeindlichen, gewaltverherrlichenden, rassistischen und antisemitischen Texten und Illustrationen auf und waren deshalb häufig Gegenstand von Ermittlungsverfahren. Gegen die beiden Herausgeber der Zeitschrift "Der Feldzug" erhob am 9. August 2000 die Staatsanwaltschaft Mannheim Anklage. Ihnen wird vorgeworfen, mit Passagen in zwei Ausgaben des Jahres 1999 sowie in dem Fanzine-Projekt "Der Rippenbrecher" den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt zu haben. 3. Rechtsextremistische Musikszene Skinkonzerte Seit 1997 ist die rechtsextremistische Musikszene in Baden-Württemberg im Aufschwung. Die Zahl der durchgeführten Konzerte unter Beteiligung rechtsextremistischer Skinheadbands stieg von zwei im Jahr 1997 über fünf 1998 auf zehn im vergangenen Jahr an. Auch in der ersten Jahreshälfte 2000 schien sich dieser Trend fortzusetzen. Im Zeitraum Januar bis Juli hatten bereits sieben Skinkonzerte 23 stattgefunden, doch nach Beginn der öffentlich geführten Diskussion über Bekämpfungsansätze gegen den Rechtsextremismus in Deutschland und dem Verbot der Skinheadorganisation "Blood & Honour" wurde lediglich noch ein Skinkonzert im Dezember in Baden-Württemberg durchgeführt. Bundesweit wurden im Jahr 2000 rund 80 rechtsextremistische Musikveranstaltungen durchgeführt. Skinheadkonzerte werden in der Regel von einzelnen Angehörigen der jeweiligen ortsansässigen Szene organisiert. Am 8. April 2000 gelang es dabei Skinheads aus dem Raum Reutlingen, zu ihrem Konzert in Dettingen/Erms rund 1.000 Szeneangehörige zu mobilisieren. Die Mobilisierung verläuft in den meisten Fällen über Telefonketten, per SMS über Handy, über Mailinglisten im Internet und Mund-zu-Mund-Propaganda. Die Teilnehmer erfahren in aller Regel nur einen Treffpunkt, von dem aus sie dann zum eigentlichen Veranstaltungsort weitergeleitet werden. Auch kurzfristig ist es möglich, einen großen Personenkreis zu mobilisieren. Skinkonzerte 2000 Grafik: LfV BW 24 Auch wenn bei derartigen Veranstaltungen eine Gemengelage aus aggressiver rechtsextremistischer Musik, hohem Alkoholkonsum und erhöhter Gewaltbereitschaft des Publikums entsteht, von der eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausgeht, so sind in den letzten Jahren anlässlich der in Baden-Württemberg abgehaltenen Konzerte - anders als in anderen Bundesländern - keine gewalttätigen Übergriffe bekannt geworden. Bundesweit kam es jedoch auch nach dem "Blood & Honour"-Verbot zu weiteren 22 Konzerten, bei denen es zum Teil zu massiven Widerstandshandlungen kam. Am 23. September 2000 löste die Polizei in Kaarssen-Laave/Niedersachsen ein von rund 500 Personen besuchtes Skinkonzert auf. Mitglieder der erst neun Tage zuvor verbotenen Organisation hatten die Veranstaltung gegenüber dem Gaststättenbetreiber als Geburtstagsfeier deklariert. Die Konzertteilnehmer versuchten, die Räumung des Veranstaltungslokales zu verhindern und griffen die Polizeikräfte mit Steinen, Flaschen sowie Tränenund Rauchgas an. 32 Personen wurden wegen Landfriedensbruchs vorläufig festgenommen. Skinhead-Musikgruppen Der noch Ende 1999 konstatierte rückläufige Trend bei der Produktion von Tonträgern in der baden-württembergischen Skinheadszene setzte sich 2000 nicht fort. Vielmehr wurden sechs neue Skinhead-Musikgruppen in Baden-Württemberg bekannt, von denen drei einen Tonträger produzierten; weitere erschienen von etablierten Skinbands. Nach vier Jahren Pause gab auch die Stuttgarter Skinband "Noie Werte" wieder eine CD heraus. Sie trägt den Titel "Am Puls der Zeit" und stellt mit ihren Texten nach Meinung der Publikation "Hamburger Sturm"5 eine "klare Kampfansage an das herrschende System und seine Handlanger" dar. 5 Das Redaktionskollektiv "Hamburger Sturm" wurde am 10. August 2000 durch die Behörde für Inneres in Hamburg verboten. 25 Auszug aus dem Lied "Freiheit": "was bildet ihr euch ein wenn ihr über uns hetzt kann es denn sünde sein wenn man auf wahrheit setzt ihr wart auch schon mal besser mit euren lügen uns hält nicht scheiße auf das gute das wird siegen und wollt ihr es nicht hören schlagt mit knüppeln auf uns ein verbietet unsere lieder und buchtet uns ein" (CD-Cover "Am Puls der Zeit", Fehler im Original) Die Skinbands "Keltensturm" aus dem Bereich Tuttlingen und "White Voice" aus dem Raum Villingen-Schwenningen traten beide bei einem Konzert am 27. Mai 2000 in Marbach/Schwarzwald-Baar-Kreis zum ersten Mal auf. Ebenfalls erste Auftritte hatten im Jahr 2000 "Blutrausch" aus Wehr und "Kommando Skin" aus dem Raum Schwäbisch Gmünd. Die in Haslach/Kinzigtal beheimatete Skinband namens "Crop No. 1", die nach eigenen Angaben seit April 1997 drei öffentliche Auftritte hatte, brachte im Jahr 2000 ihren ersten Tonträger heraus. Einen neuen Weg wollen die Mitglieder der nach eigenen Angaben bereits im Januar 1999 im Raum Esslingen gegründeten Skinband "Carpe Diem" einschlagen. Mit einem eigenen Label unter dem Namen "Identität durch Musik" (IDM) versuchen sie, "festgefahrene Denkschablonen in Frage zu stellen und 'soweit wie möglich' einen Anlaufpunkt für Bands und ihre Anhänger zu schaffen, die zwar mit nationalen Ansichten, aber nicht unbedingt mit 'der Szene' etwas anfangen können". Bislang erschien unter dem Label IDM lediglich die CD "Frei geboren" von "Carpe Diem" selbst. Dieser Tonträger thematisiert Verschwörungstheorien über Freimaurerlogen und Geheimbünde und kritisiert mit den Liedern "Feinde unter uns" und "Staatsschutz-Ska" die angebliche Vorgehensweise von Verfassungsschutz und Staatsschutz. Auf ihrer Homepage erklärt die Band dazu, dass sie sich sowohl an "rechte" als auch an "linke" Gruppen wendet, dass "nicht 'rechts' gegen 'links', sondern 'unten' gegen 'oben'" gelte. Insgesamt waren Ende 2000 in Baden-Württemberg zwölf Skinhead-Bands bekannt (Bund: 100), deren Texte die Weltanschauung und das Selbstverständnis der Skinheadszene thematisieren, gegen szenetypische Feindbilder wie Ausländer, Juden, 26 Homosexuelle, Dealer und Obdachlose hetzen und dabei auch immer wieder zur Gewaltanwendung aufrufen. Aus taktischen Gründen wird versucht, Verstöße gegen die einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen zu vermeiden. Strafrechtlich relevante Tonträger werden in der Regel im Ausland produziert und aufgrund des hohen exekutiven Verfolgungsdrucks meist nur am Rande von Konzerten verkauft, nicht aber über den Versandhandel angeboten. Bei Konzertveranstaltungen dagegen werden auch Lieder mit volksverhetzenden Passagen gespielt. Auf Seiten des Publikums kommt es dabei häufig zu Straftaten, insbesondere zu so genannten Propagandadelikten wie dem Zeigen des Hitler-Grußes bzw. "Sieg Heil"-Rufen. Die Staatsanwaltschaft Mannheim erhob am 30. Juni 2000 Anklage gegen die Mitglieder der Skinband "Bosheit" aus dem Rhein-Neckar-Raum wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Die Band soll bei Auftritten im September und Oktober 1999 das Lied "Blut" der ehemaligen Skinband "Tonstörung" gespielt und damit die Menschenwürde anderer angegriffen, Teile der Bevölkerung beschimpft sowie böswillig verächtlich gemacht haben. Am 5. März 2001 hat das Mannheimer Amtsgericht vier Mitglieder und den Manager der Gruppe wegen gemeinschaftlicher Volksverhetzung zu Jugendund Freiheitsstrafen zwischen 9 und 18 Monaten verurteilt. Sonstige rechtsextremistische Musik In der rechtsextremistischen Musikszene kommt - neben der Skinhead-Musik - auch den Liedermachern eine wichtige Bedeutung zu. Hier ist besonders Frank RENNICKE, Ehningen/Krs. Böblingen, zu nennen, der wegen seiner vielfältigen bundesweiten Kontakte und Auftritte bei Veranstaltungen verschiedenster Parteien und Organisationen eine wichtige Integrationsfigur innerhalb der gesamten rechtsextremistischen Szene ist. Bei einem Konzert am 6. Oktober 2000 in Stuttgart-Wangen wurde er in Einladungen der NPD und JN als "JN-Ehrenmitglied" angekündigt. Sein rechtsextremistisches Gedankengut verbreitet RENNICKE darüber hinaus auch über seinen Versandhandel und im Internet. 27 Bei seinen Auftritten versucht er sich zudem - wegen verschiedener gegen ihn anhängiger Ermittlungsverfahren - als "Systemverfolgter" und "Märtyrer" darzustellen. Am 22. November 2000 wurde RENNICKE vom Amtsgericht Böblingen wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Gericht zog darüber hinaus die im Verfahren beschlagnahmten 70.450 DM ein. Sowohl die Vertreter der Anklage als auch der Verteidigung kündigten Berufung gegen das Urteil an. 4. Neonazismus 4.1 Aktivitäten mit überregionaler Bedeutung 4.1.1 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 70 Baden Württemberg (1999: ca. 70) ca. 500 Bund (1999: ca. 500) Publikation: "Nachrichten der HNG" Mittlerweile ist die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) nicht nur die mitgliederstärkste Gruppierung des neonazistischen Spektrums, sondern auch die einzige bundesweit aktive Organisation. Seit 1991 wird sie von Ursula MÜLLER, Mainz-Gonsenheim, geleitet. Obwohl die HNG mangels eigener politischer Aktivitäten nach außen kaum in Erscheinung tritt, kommt ihr jedoch als Bindeglied zwischen den verschiedenen rechtsextremistischen Gruppierungen eine integrierende Bedeutung zu. Vereinsziel ist die Betreuung von "nationalen politischen Gefangenen" und deren Angehörigen. Die finanzielle und moralische Unterstützung soll die inhaftierten Gesinnungsgenossen weiter an die rechtsextremistische Szene binden. Durch die monatlich erscheinenden "Nachrichten der HNG", die neben Leserbriefen und Hinweisen auf bestehende 28 "Nationale Info-Telefone" (NIT) auch eine "Gefangenenliste" beinhalten, werden Kontakte zu Inhaftierten vermittelt. Darüber hinaus ist die HNG bemüht, "... die Eingriffe des BRD-Regimes in die politischen Grundfreiheiten nationaldenkender Menschen möglichst lückenlos zu dokumentieren ..." und fordert deshalb alle Leser auf, die HNG-Schriftleitung umfassend über entsprechende Sachverhalte zu informieren. Dies sei notwendig, "... um die Verantwortlichen später einmal zur Rechenschaft ziehen zu können. ... Dazu gehören auch die Namen von Staatsanwälten, Einsatzleitern der Polizei oder Richtern ..." (Regelmäßig wiederkehrender Hinweis auf Seite 2 der HNG-Nachrichten). Am "2. Tag des nationalen Widerstandes" am 27. Mai 2000 in Passau (vgl. Kap. 5.3) wurde die HNG-Vorsitzende Ursula MÜLLER mit dem "Nationalen Solidaritätspreis" für ihre 20-jährige HNG-Arbeit ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede, die auszugsweise in den HNG-Nachrichten Nr. 234 vom Juli 2000 abgedruckt war, heißt es: "...Wichtigstes Ziel sei demnach, die Inhaftierten ideell und materiell zu unterstützen, ,um die Folgen jenen Unrechts zu lindern, das mittels Besatzerrecht aus Angehörigen unseres Volkes Politkriminelle macht'. Dazu zählte Ursula MÜLLER auch jene, ,die mittels zurechtgefälschter Zeugenaussagen zu Gewalttätern hingelogen werden'. ..." 4.1.2 Kommunikationsmittel Die 1998 erstmals erschienene Zeitschrift "Zentralorgan" hat sich als neonazistisches Periodikum etabliert, das auch in Baden-Württemberg seine Leserschaft findet. Die von Hamburg nach Ludwigslust/Mecklenburg-Vorpommern gewechselte Redaktion ist maßgeblich von bundesweit führenden Neonazis aus der Hansestadt geprägt, die im norddeutschen Raum unter der Bezeichnung "Freie Nationalisten" versuchen, ein rechtsextremistisches "Netzwerk" aufzubauen. Das vierteljährlich erscheinende Heft, das auszugsweise auch im Internet abrufbar ist, enthält neben sogenannten Aktionsberichten zu rechtsextremistischen Demonstrationen auch Beiträge zum aktuellen politischen Zeitgeschehen, welches in populistischer Art und Weise kommentiert wird. Glorifizierend werden Themen und Personen aus der Zeit des Dritten Reiches in Erinnerung gerufen. 29 Zusätzlich wirbt das "Zentralorgan" für zahlreiche rechtsextremistische Organisationen und Gruppierungen, Verlage und Versandhandel sowie "Nationale Info-Telefone" (NIT) und Internetadressen. "Nationale Info-Telefone" (NIT) in Deutschland Grafik: LfV BW Ende 2000 waren 13 parteiunabhängige rechtsextremistische "Info-Telefone" in der Bundesrepublik Deutschland aktiv. Die verschiedenen Betreiber konkurrieren zum Teil nicht nur um Einfluss und Reichweite ihres Mediums, sie stehen auch für unterschiedliche ideologische Ausrichtungen. Die "Info-Telefone" sind zudem ein 30 äußerst kostengünstiges Medium. Auf Anrufbeantworter gesprochene Ansagetexte informieren über szenerelevante Nachrichten und Veranstaltungstermine. Beispielhafter Auszug (phonetisch) aus der Ansage des "NIT Karlsruhe" vom 26. Oktober 2000: "... Nun ist es amtlich, was alle schon wussten. Der Verbotsantrag gegen die NPD wird bis vors Bundesverfassungsgericht durchgeboxt. ... Uns ist es scheißegal. Ideologien, Personen und deutsche Rudel lassen sich nicht durch demokratische Beschlüsse vom Tisch fegen. ..." 4.1.3 "Rudolf Heß-Gedenkaktionen 2000" Der Verlauf der letztjährigen Aktionen zeigte bereits, dass der ehemalige HitlerStellvertreter Rudolf Heß als Integrationsfigur der Neonaziszene, zumindest aber als attraktives Thema für eine zentrale Kundgebung seine mobilisierende Wirkung verloren hat. Führenden Neonazis fehlte die Bereitschaft, organisatorische Verantwortung zu übernehmen, sie empfahlen stattdessen "fantasievolle Aktionen". So kam es bundesweit lediglich zu Propagandaaktionen wie dem Anbringen von Plakaten, Aufklebern - überwiegend mit veraltetem Material - und Transparenten mit altbekannten HeßParolen. Eine zentrale Veranstaltung mit bundesweiter Bedeutung gab es auch 2000 nicht. Regionale Versuche, Kundgebungen durchzuführen, unterband die Polizei zumeist schon im Ansatz. Bundesweit wurden lediglich zwölf (1999: 25) Veranstaltungen mit Heß-Bezug angemeldet, die alle verboten wurden. In Baden-Württemberg reduzierte sich die Thematisierung des Heß-Todestages auf das Anbringen von Spruchbändern und Plakaten, die jedoch ohne nennenswerte Resonanz blieben. Das "Nationale Info-Telefon" (NIT) Karlsruhe forderte erst am Todestag in einer Ansage: "Kameraden, am 17. August jährt sich der Todestag von Rudolf Heß zum 13. Mal. Ausführliche Erklärung bedarf dieses Anlasses nicht. Handelt frei nach eurem Gewissen." (Fehler im Original). Szeneangehörige aus dem Raum Karlsruhe versuchten daraufhin, beim Regionalligaspiel des Karlsruher SC am 19. August 2000 im Wildparkstadion ein Transparent mit dem Bild von Heß und der Aufschrift "Rudolf Heß - es war Mord - wir 31 klagen an - Nationaler Widerstand" aufzuhängen. Polizeibeamte entfernten das Transparent und nahmen neun Personen in Gewahrsam. Nicht zuletzt durch das konsequente Vorgehen der Sicherheitsbehörden verlieren "Rudolf Heß-Gedenkaktionen" zunehmend an Bedeutung. Gleichwohl dürfte es auch künftig kleinere örtliche oder regionale Aktionen durch Neonazis geben, die sich in der Szene profilieren oder einen Namen machen wollen. 4.2 Neonazistische Personenzusammenschlüsse in Baden-Württemberg Das Gesamtpotenzial des neonazistischen Spektrums in Baden-Württemberg hat sich weiter verringert. Die Organisationsverbote der 90er Jahre führten zwar letztlich nicht zu einer starken Reduzierung des neonazistischen Personenpotenzials, dennoch haben sie das Erscheinungsbild der Szene sowohl auf Bundesebene als auch im Land nachhaltig verändert. In Baden-Württemberg existieren keine nennenswerten neonazistischen Organisationen mehr. Dafür haben sich einige lose strukturierte Personenzusammenschlüsse, so genannte Kameradschaften, Neonazioder Freundeskreise etabliert. Unter dem Motto "Organisierung ohne Organisation" wurden Strukturen entwickelt, die exekutiven staatlichen Maßnahmen keine Angriffsfläche mehr bieten sollen. Gleichzeitig wollte man sicherstellen, dass die "Kameradschaften" durch ihre Einbindung in einen gemeinschaftlich agierenden Verbund jederzeit mobilisierungsfähig sind. Diese in Baden-Württemberg frühzeitig und phasenweise recht erfolgreich umgesetzte Strategie findet jedoch immer weniger Resonanz. Eine Entwicklung hin zu Aktionsoder Kameradschaftsbündnissen, wie sie in anderen Regionen Deutschlands erkennbar ist, lässt sich im Land derzeit nicht feststellen. Konnten sich die Kameradschaften im Vorjahr noch durch das Engagement ihrer aktiven Angehörigen sowie durch einige attraktive Veranstaltungen profilieren, gab es 2000 in Baden-Württemberg nur noch wenige von Neonazis organisierte Treffen oder Busfahrten zu Demonstrationen. Auch die Zahl der Teilnehmer ist rückläufig. Zum einen ist der Szene nach dem Ende der Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" ein wichtiges, integratives Agitationsthema weggebrochen, zum 32 anderen ist bei einigen "Kameradschaftsführern" ein nachlassender Einsatz unübersehbar. Der dadurch bedingte Rückgang der Aktivitäten konnte nicht kompensiert werden. So hatte beispielsweise ein Wechsel der Führungspersonen im Raum VillingenSchwenningen im Frühjahr 2000 zur Folge, dass neben zurückgehenden öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten auch die bis dahin einzige von badenwürttembergischen Neonazis im Internet betriebene Homepage nicht mehr aktualisiert wurde. Die baden-württembergische Neonaziszene führte daher im Jahr 2000 ziemlich unbeachtet "Kameradschaftsabende", Rechtsschulungen, Sonnwendund Erntedankfeiern sowie vereinzelt "Hitlergeburtstagsfeiern" durch. Dabei konnten einzelne Kameradschaften mitunter weitaus mehr Teilnehmer mobilisieren, als sich bei den internen "Kameradschaftstreffen" normalerweise einfinden. Hier zeigt sich, dass über das Internet, E-Mail, "Nationale Info-Telefone" (NIT) und mit Hilfe von Handys, insbesondere auch SMS-Nachrichten, Veranstaltungen von wenigen Personen konspirativ organisiert werden können und es sogar möglich ist, den Veranstaltungsort bis kurz vor Veranstaltungsbeginn geheim zu halten. Insgesamt haben jedoch Attraktivität und Bindungskraft der Kameradschaften deutlich nachgelassen. Disziplinlosigkeit und mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Aufgaben machen der Szene zunehmend zu schaffen; immer häufiger sieht man sich in einer Konkurrenzsituation zur Skinheadszene. Erstmals gelang es dieser sogar, Angehörige aus dem Neonazibereich abzuwerben - ein Vorgang, der bislang immer nur in umgekehrter Richtung erfolgte. Der aktivste Neonazizirkel im Land ist weiterhin die "Kameradschaft Karlsruhe", wenngleich auch deren Aktivitäten rückläufig sind. Lediglich zwei Vortragsveranstaltungen von Bedeutung wurden 2000 durchgeführt. Die nach außen sichtbaren, zum Teil auf reges Medieninteresse stoßenden Aktivitäten kaschieren jedoch den tatsächlichen Zustand der Kameradschaft, der geprägt ist von internen Auseinandersetzungen, Nachwuchsproblemen und Querelen mit der Skinheadszene. Offen zum Ausbruch kamen diese Spannungen bei der von der "Kameradschaft Karlsruhe" organisierten Veranstaltung am 1. April 2000 in Karlsruhe-Knielingen. Vor ca. 150 Besuchern, in der Mehrheit jugendliche Skins, trat neben dem seit Jahrzehnten 33 aktiven Rechtsextremisten Manfred ROEDER, Schwarzenborn/Hessen, auch "Stigger", der ehemalige Sänger der in der Szene besonders verehrten englischen Skinband "Skrewdriver", auf. Auf Druck der Skinheads mussten zwei langjährige Aktivisten der "Kameradschaft Karlsruhe", darunter auch der "Kameradschaftsführer", die bereits seit einiger Zeit interner Kritik ausgesetzt waren, die Veranstaltung vor Beginn verlassen. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 "Die Republikaner" (REP) Gründung: 1983 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 1.700 Baden-Württemberg (1999 : 1.800) ca. 13.000 Bund (1999 : 14.000) Publikation: "DER REPUBLIKANER" Organisation Obwohl die Partei in allen Bundesländern mit Landesverbänden vertreten ist, kommt nur wenigen Untergliederungen eine ähnliche innerparteiliche Bedeutung zu wie dem Landesverband Baden-Württemberg. Insbesondere in den neuen Bundesländern konnte die seit Jahren unverändert am Boden liegende Parteiarbeit auch im Jahr 2000 kaum entscheidend verbessert werden. Vor diesem Hintergrund bedurfte es für den Landesverband Baden-Württemberg keiner besonderen Anstrengung, seine bundesweite Vormachtstellung zu behaupten, die vornehmlich durch eine Reihe von führenden, in Baden-Württemberg ansässigen Parteifunktionären zum Ausdruck kommt. Die Vorstandswahlen auf dem Bundesparteitag am 18./19. November 2000 in Winnenden/Rems-Murr-Kreis ergaben eine wesentliche Änderung in der Zusammensetzung des Bundesvorstands. Die Delegierten bestätigten zwar den bisherigen Vorsitzenden Dr. Rolf SCHLIERER, der sich gegen seinen hessischen Gegenkandidaten Hans HIRZEL deutlich durchsetzen konnte, zum wiederholten Mal in seinem Amt. Der baden-württembergische Landesvorsitzende Christian KÄS trat 34 dagegen bei der Wahl um den stellvertretenden Bundesvorsitz überraschend nicht wieder an. KÄS gehört jedoch kraft seines Amtes als Landesvorsitzender weiterhin dem Bundesvorstand an. Von der bundesweit rückläufigen Mitgliederentwicklung blieb auch der Landesverband Baden-Württemberg nicht verschont. Der organisatorische Ausbau der Partei stagnierte ebenfalls. Die "Republikanische Jugend" (RJ) konnte die 1999 aufgrund ihrer neuen Führungsstruktur geweckten Erwartungen hinsichtlich einer breiteren organisatorischen Verankerung und einer Erhöhung ihrer Aktivitäten im Jahr 2000 nicht erfüllen. Von anderen Untergliederungen wie dem "Republikanischen Hochschulverband" (RHV), dem "Republikanischen Bund der Frauen" (RBF) und dem "Republikanischen Bund der Öffentlich Bediensteten" (RepBB) gingen kaum nennenswerte Aktivitäten aus. Neben dem monatlich erscheinenden offiziellen Parteiorgan "DER REPUBLIKANER" baute die Partei ihre Präsenz im Internet weiter aus. Die RJ Baden-Württemberg gab die Publikation "Der Junge Patriot" heraus und nutzt ebenfalls das Internet als Medium für die Vermittlung ihrer politischen Vorstellungen. Politischer Kurs Charakteristisch für die Agitation und öffentliche Selbstdarstellung der REP ist eine offensichtliche Doppelgesichtigkeit. Neben Bekenntnissen zur parlamentarischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit finden sich bei der Partei ausländerfeindliche Parolen und pauschale Diffamierungen von Repräsentanten des demokratischen Rechtsstaats. Auch artikuliert sie sich zum Teil in einer Wortwahl, die Zweifel an einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit aufkommen lassen. Solche für eine rechtsextremistische Partei typischen Denkmuster können insbesondere in Reden von Parteifunktionären, Flugblättern und sonstigen Stellungnahmen ausgemacht werden. Insgesamt dominiert ein Positionsbild, das sich besonders durch verbale Angriffe gegen in Deutschland lebende Ausländer und Asylbewerber auszeichnet. Kennzeichnend dabei ist die Einseitigkeit in der Darstellung. Die fremdenfeindliche Agitation der REP wird häufig unter dem Gesichtspunkt einer drohenden Gefahr für das deutsche Volk geführt. So wird die Zuwanderung undifferenziert als Wurzel gesellschaftlicher Konflikte 35 dargestellt, die das friedliche Zusammenleben zwischen Ausländern und Deutschen verhindert. "... Es geht um die Rettung unserer in Jahrhunderten gewachsenen Kultur und Zivilisation im Herzen Europas, die es gegen reale Bedrohungen wie den Vormarsch des Islam, den Verlust der deutschen Sprache oder die Durchdringung Europas mit einer amerikanischen Mc-Donald-Kultur zu verteidigen gilt. ..." (Dr. Hartmut JERICKE, Stuttgart; in "DER REPUBLIKANER" Nr. 7-8/2000) "...Die Verantwortlichen in Bund und Ländern betreiben durch ihre multikulturelle Gesellschaftspolitik eine Politik gegen unser Volk. Investieren wir in die Zukunft der Deutschen und verhindern wir dadurch einen drohenden Krieg der Kulturen auf unserem Boden. ... (Einladung zu einer Infoveranstaltung auf dem Marktplatz in Biberach am 16. September 2000) Auch durch die Herstellung von Parallelen zwischen der Zuwanderung und der Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg sollen Ressentiments gegen ausländische Mitbürger geweckt und Ängste in der Bevölkerung geschürt werden. "Leichtere Landnahme durch neues Recht ... Die Überfremdung Deutschlands durch Ausländer ... wird nach jahrzehntelangem Leugnen nun sogar öffentlich und amtlich bestätigt. ... Die verbliebene deutsche Bevölkerung wird sich in einer vorwiegend orientalisch geprägten Umwelt wiederfinden, ihre 'zweite Vertreibung' ist besiegelt. ..." ("DER REPUBLIKANER" Nr. 5/2000) Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des demokratischen Verfassungsstaats überschreiten die REP - auch nach Meinung mehrerer Verwaltungsgerichte - die Grenze der legitimen Kritik einer Oppositionspartei. Ihre Agitation ist geprägt von den für sie typischen, pauschalen Diffamierungsund Verunglimpfungsversuchen, mit denen die Partei beabsichtigt, das Vertrauen der Bürger in den demokratischen Rechtsstaat als Ganzes zu erschüttern. 36 Gegenüber den Vorjahren ist weder ein Nachlassen in Intensität noch im Umfang der Vorwürfe festzustellen. Repräsentanten unseres Rechtsstaats pauschal kriminelle Machenschaften zu unterstellen, ist keine sachliche Kritik, sondern nur darauf ausgerichtet, deren Ansehen zu schmälern und das Zutrauen in die Werteordnung des Grundgesetzes zu schwächen. "...Die Zeit der langhaarigen und schmuddeligen Weicheier und Gutmenschen ist endlich vorbei. Diese Zeitenwende bei deutschen Jugendlichen ist kein Wunder: an den Schulen werden sie immer öfter von Ausländern bedroht, ... Jetzt kommen sie verstärkt zu den REPUBLIKANERN; die Partei erlebt in den letzten Monaten einen starken Zulauf an unmanipulierten und noch nicht umerzogenen jungen Menschen, ... Das herrschende System verhöhnt täglich das eigene Volk: unfähig, korrupt und kriminell kann man sein, Hauptsache, man ernennt sich zum Demokraten und ist kein deutscher Patriot! ... Wir kämpfen gegen ein korruptes Parteiensystem, dass sich diesen Staat zur Beute gemacht hat, wir kämpfen für ein wirklich freies und demokratisches Deutschland, wie es im Grundgesetz vorgegeben ist. ..." ("AmperRechts", Publikation des Kreisverbands der Republikaner Dachau - Fürstenfeldbruck, Ausgabe 1/00) Anderen Repräsentanten und Institutionen der Bundesrepublik Deutschland wurde sogar in ungeheuerlicher Weise vorgeworfen, es bestünde eine Nähe zum Nationalsozialismus. ...Die Gewerkschaft, Lambsdorff, Eppelmann und Beck sprechen die menschenverachtende Sprache des Dritten Reiches. ..." (Presseinformation der REP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg vom 23. Juni 2000) Auch das Thema der Entschädigung der Zwangsarbeiter im Dritten Reich griff die Partei im Jahr 2000 auf. Die von den REP in diesem Zusammenhang verwendete Wortwahl gab dabei eindeutig Auskunft über ihre diesbezügliche Haltung, die über eine bloße Ablehnung weit hinaus ging. Die Berechtigung der Entschädigung der Zwangsarbeiter wird in Zweifel gezogen und als "Erpressung" und somit als unrechtmäßig dargestellt. 37 "...SCHLIERER bezeichnete es als verhängnisvolle Fehlkonstruktion, dass die gestern unterzeichnete Vereinbarung keinen Rechtsschutz vor weiteren Erpressungen enthalte. Es gebe keine Versicherung dagegen, dass die Reparationskeule bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder ausgepackt werde. ..." (Pressemitteilung Nr. 45/00 der REP-Fraktion im Landtag von BadenWürttemberg vom 24. März 2000) "Die große Erpressung Zehn Milliarden für NS-Zwangsarbeiter - oder für wen? ... Der Hintergrund der Aktion ist die von den USA mit Hilfe von Sammelklagen und von rechtswidrigen Drohungen ausgehende Erpressung, einer Schutzgelderpressung nicht unähnlich. Es geht doch nur darum, die von den USA ausgehende Nötigung abzuwehren. Dieses aber ist aussichtslos, denn auf eine Nötigung folgt stets die nächste. ..." (MdL Wolfram KRISCH in "DER REPUBLIKANER" 4/2000) Beobachtung Die REP werden sowohl vom Bundesamt für Verfassungsschutz als auch von den Verfassungsschutzbehörden der Länder beobachtet. Nachdem in Baden-Württemberg 1994 dieses Vorgehen auf Initiative der Partei hin im Eilverfahren gerichtlich überprüft und bestätigt wurde, erhob der baden-württembergische Landesverband der REP im November 1998 - nach mehrjähriger Ankündigung - Klage gegen die nachrichtendienstliche Beobachtung in der Hauptsache. Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies am 26. Mai 2000 die Klage ab. Nach dieser Entscheidung ist die Beobachtung der REP durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg nicht zu beanstanden. Aus der Fülle des vorliegenden Materials ergaben sich, wie das Gericht ausführte, hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die parlamentarische Demokratie, die Prinzipien der Volkssouveränität sowie das Mehrparteiensystem. Diese Angriffe stünden darüber hinaus in engem Zusammenhang mit einer mangelnden Distanzierung zum Nationalsozialismus. 38 Gewichtige Anhaltspunkte sah das Gericht außerdem im ungeklärten Verhältnis der REP zu verfassungsfeindlichen Gruppierungen und stellte fest, dass sich nunmehr auch die Parteispitze vom so genannten Abgrenzungsbeschluss des "Ruhstorfer Parteitags"6 abgewendet habe. Regelmäßig seien es gerade die pointierten Äußerungen und die sich aus der Masse abhebenden Verhaltensweisen insbesondere von Funktionären, die das Gesamtbild der Partei in diesem Sinne prägten. Parteiausschlussverfahren wegen Verstößen gegen den Abgrenzungsbeschluss würden außerdem entgegen den Behauptungen der REP nicht durchgängig gehandhabt. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart hat der Landesverband Baden-Württemberg der REP Berufung eingelegt. Mit diesem Urteil setzte das Gericht die Verwaltungsrechtsprechung aus jüngster Zeit fort, die mit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (OVG) vom 10. September 1999 begann und vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 7. Dezember 1999 im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt wurde. In Kontinuität damit stehen auch die Entscheidungen des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2000 und des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2000. In den Urteilen der drei Landesobergerichte wird das Vorliegen von Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen, auch in Bezug auf die Missachtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, ausdrücklich bestätigt. Das Urteil des OVG Rheinland-Pfalz ist rechtskräftig. Wegen der Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des OVG Niedersachsen kündigte dagegen der Prozessvertreter der REP an, Beschwerde einzulegen. Wahlen Die REP kandidierten anlässlich der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2000. Dort setzte sich ihre Niederlagenserie bei Landtagswahlen fort. Sie erreichten lediglich 1,1 Prozent der Wählerstimmen. 6 Auf dem Bundesparteitag der REP im Juli 1990 in Ruhstorf wurde ein Beschluss gefasst, wonach "niemand, der in extremistischen und verfassungsfeindlichen Organisationen (z.B. NPD, DVU, FAP, ANF, KNS, Wiking-Jugend etc.) eine aktive Rolle gespielt hat, ... in Zukunft eine Funktion in unserer Partei übernehmen" darf. 39 Zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Februar 2000 waren sie nicht angetreten. Gestützt von positiven Umfrageergebnissen und den Erfolgen bei den letzten beiden baden-württembergischen Landtagswahlen ging die Partei zuversichtlich in den Landtagswahlkampf 2001. Erstmals in der Parteigeschichte der REP wurde eine Werbeagentur, die bereits 1999 den Wahlkampf der "Freiheitlichen Partei Österreichs" (FPÖ) zur Nationalratswahl professionell gestaltet hatte, engagiert. Der Landtagswahlkampf wurde daraufhin gänzlich auf den Bundesvorsitzenden und Vorsitzenden der baden-württembergischen Landtagsfraktion Dr. SCHLIERER zugeschnitten. Letztlich blieben die Anstrengungen ohne Erfolg. Nach zwei Legislaturperioden im baden-württembergischen Landtag in Folge verpassten die REP am 25. März 2001 mit 4,4 Prozent der Stimmen den Wiedereinzug in das Landesparlament. Damit verloren die REP gegenüber der Landtagswahl von 1996 - seinerzeit erreichten sie 9,1 Prozent - mit 4,7 Prozentpunkten mehr als die Hälfte ihrer Anhänger und scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde. Seit dem ist die Partei in keinem Landesparlament mehr vertreten. Entwicklung der Wahlergebnisse der REP in Baden-Württemberg seit 1992: LandtagsBundesEuropaLandtagsBundesLandtagswahl tagswahl wahl wahl tagswahl wahl 1992 1994 1994 1996 1998 2001 10,9 3,1 5,9 9,1 4,0 4,4 Auch bei der zeitgleich stattgefundenen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz schafften die REP nicht den Einzug in den Landtag. Sie verloren gegenüber der letzten Landtagswahl vom 24. März 1996, bei der sie 3,5 Prozent erreichten, weitere 1,1 Prozent und kamen auf ein Ergebnis von 2,4 Prozent. 40 Aktivitäten Umfangreiche Initiativen der REP in Baden-Württemberg blieben 2000 weitgehend aus. Sie reduzierten sich im Wesentlichen auf eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Fraktion vor Ort". Die REP versprachen sich von der Präsenz einzelner Landtagsabgeordneter bei diesen Veranstaltungen ihre Akzeptanz in der Bevölkerung, insbesondere in Regionen, in denen sie nur über wenige Anhänger verfügen, zu erhöhen. Daneben fand der inzwischen regelmäßig am 3. Oktober veranstaltete "Republikanertag" im Jahr 2000 in Stuttgart statt. Er diente den REP als Auftakt ihres Landtagswahlkampfs. Das öffentliche Interesse war jedoch eher gering. An der alljährlich stattfindenden Aschermittwochsveranstaltung vom 8. März 2000 in Geisenhausen/Bayern nahmen rund 800 Personen teil. Sie blieb ohne größere Außenwirkung. Machtkampf Auch im Jahr 2000 war die Existenz zweier Lager innerhalb der REP nicht zu übersehen. Der durch den Bundesvorsitzenden Dr. SCHLIERER repräsentierte Flügel mit seinem Kurs einer taktischen Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsextremisten hat in Baden-Württemberg mit dem Landesvorsitzenden Christian KÄS den einflussreichsten Kontrahenten Dr. SCHLIERERs. KÄS befürwortet den Abgrenzungsbeschluss von 1990 nicht uneingeschränkt und fordert, weniger Berührungsängste gegenüber anderen Rechtsextremisten an den Tag zu legen. Allerdings war seit Beginn des Landtagswahlkampfs in Baden-Württemberg festzustellen, dass sich Dr. SCHLIERER und KÄS in ihrer persönlichen Auseinandersetzung zurücknahmen. Offenbar hat sie das gemeinsame Ziel - der Wiedereinzug in den Landtag von Baden-Württemberg im März 2001 - insoweit geeint, als sie die Wahlchancen nicht durch weitere Auseinandersetzungen beeinträchtigen wollen. 41 Der Bundesparteitag in Winnenden brachte trotz des Verzichts von KÄS auf eine Kandidatur um den stellvertretenden Bundesvorsitz faktisch keine generelle Verschiebung der bisherigen Machtverhältnisse. Dr. SCHLIERERs Gegenkandidat Hans HIRZEL, der die Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsextremisten kritisiert und insoweit wie KÄS eine der Gegenströmungen zum Bundesvorsitzenden personifiziert, unterlag bei der Wahl um den Parteivorsitz deutlich. Die Bestätigung Dr. SCHLIERERs in seinem Amt stellt zwar eine Niederlage seiner parteiinternen Gegner dar, einen Verzicht auf die Durchsetzung ihres politischen Kurses bedeutet dies allerdings nicht. KÄS verfügt als Mitglied des Bundesvorstands - in dem er als baden-württembergischer Landesvorsitzender vertreten ist - weiterhin über maßgeblichen Einfluss in der Partei. Durch den Ausgang des Bundesparteitags sind die innerparteilichen Differenzen um den vermeintlich richtigen Kurs der REP daher keineswegs beigelegt, sondern lediglich vertagt. Das Abstimmungsergebnis hat die Stellung Dr. SCHLIERERs zunächst bestätigt, bei ausbleibenden Wahlerfolgen wird der Richtungsstreit bei den REP allerdings voraussichtlich wieder offen ausbrechen. Kontakte zu anderen Rechtsextremisten Das den REP vom Verwaltungsgericht Stuttgart in seiner Entscheidung vom 26. Mai 2000 testierte ungeklärte Verhältnis zu anderen Rechtsextremisten zeigte sich auf nahezu allen Parteiebenen. Selbst in der Parteispitze waren Tendenzen erkennbar, dass an dem häufig von den REP zitierten Abgrenzungsbeschluss aus dem Jahr 1990 nicht mit der nötigen Konsequenz festgehalten wird. Von bekannt gewordenen Kontakten distanzierte sich die REP-Führung zudem nicht in dem Maße, wie man es für eine Partei, die sich zu Unrecht dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet fühlt, erwarten sollte. Auf den Seiten des "radio-internet", für das der baden-württembergische Landesvorsitzende KÄS verantwortlich zeichnet, fanden sich Kontakte zum ehemaligen REP-Bundesvorsitzenden Franz SCHÖNHUBER. Zwar stellte das "radio-internet" offiziell seinen Betrieb zum 1. Januar 2000 ein, trotzdem wurde noch im gleichen Monat im Rahmen einer Umfrage ein handsigniertes Buch von SCHÖNHUBER als Preis ausgelobt. Unter der Rubrik "Frühere Sendungen" erfolgte ein Hinweis auf "SCHÖNHUBER's neues Buch" und auf ein "Franz SCHÖNHUBER Interview". 42 SCHÖNHUBER steht als ehemaliger Bundesvorsitzender der REP für eine Zusammenarbeit innerhalb der rechtsextremistischen Szene, kritisiert den Abgrenzungsbeschluss der REP und hat keine Berührungsängste zu anderen Rechtsextremisten. Dass REP-Mitglieder Kontakte zu anderen Rechtsextremisten pflegen, belegen folgende Feststellungen: Die Homepage des REP-Kreisverbands Heidelberg/Rhein-Neckar (Stand 25. Juli 1999/19. Mai 2000) enthielt neben Verweisen auf die "Junge Freiheit" (JF) und die "Unabhängigen Nachrichten" (UN) auch Hinweise auf die Website des rechtsextremistischen Liedermachers Frank RENNICKE. Die UN ist eine Monatsschrift, in der gegen die "Umerziehung" nach 1945 polemisiert, antisemitisch und ausländerfeindlich agitiert, die Schuld Deutschlands am zweiten Weltkrieg geleugnet wird und NS-Verbrechen relativiert werden. Sie unterliegt der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die Wochenzeitung "Junge Freiheit" ist in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Mit dem "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e.V." (FHD) - dem eigenem Bekunden nach Mitglieder mehrerer rechtsextremistischer Organisationen angehören - identifizierte sich der REP-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des REP-Kreisverbands Pforzheim Klaus RAPP einem Bericht der "Pforzheimer Zeitung" vom 23. August 2000 zufolge so sehr, dass er die Ausführungen im Verfassungsschutzbericht 1999 über die gemeinsame Liste von REP und dem dort als eindeutig extremistisch bezeichneten FHD anlässlich der Kommunalwahlen von 1999 als einen "Angriff" auf den FHD "und damit auf die Republikaner" wertete. Der so genannte Abgrenzungsbeschluss ist in der Partei nach wie vor umstritten und wird teilweise offen kritisiert. Der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende und derzeitige Beisitzer im hessischen Landesvorstand Hans HIRZEL spricht sich in dem rechtsextremistischen 43 Theorieorgan "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte", Ausgabe 2/2000 unter dem Titel "Zur Zusammenarbeit deutscher Patrioten: 'Tue recht und scheue niemand'" gegen den "Ruhstorfer Abgrenzungsbeschluss" der REP aus. Bereits im März 1999 hatte er in einem Leserbrief an die JF den Abgrenzungskurs der REP kritisiert. Noch am 3. Oktober 2000 redete HIRZEL neben dem Bundesvorsitzenden und dem badenwürttembergischen Landesvorsitzenden auf dem "Republikanertag" in Stuttgart. Am 5. Oktober 2000 waren die Kontakte der REP zu anderen Rechtsextremisten auch Gegenstand einer Debatte im Landtag von Baden-Württemberg. Das Protokoll dieser 95. Sitzung des Landtags ist im Internet7 eingestellt. 5.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 1.500 Baden-Württemberg (1999: ca. 1.800) ca. 17.000 Bund (1999: ca. 17.000) Sprachrohr: "National - Zeitung" - Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) Organisation Schon seit Jahren ist die "Deutsche Volksunion" (DVU) die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei in Deutschland. Gründer und bislang einziger Vorsitzender der in allen Bundesländern mit Landesverbänden vertretenen Partei ist der Verleger Dr. Gerhard FREY. Sein autoritärer Führungsstil sowie seine Finanzkraft dominieren die Partei völlig, so dass sich auf Bundeswie auf Landesebene kein eigenständiges Parteileben entwickeln kann. Die DVU ist in den Landesparlamenten von SachsenAnhalt und Brandenburg sowie in der Bremer Bürgerschaft vertreten. Auf Grund des bedingungslosen Machtanspruchs des Parteivorsitzenden, der eine innerparteiliche demokratische Willensbildung und Kritik an seiner Person nicht duldet, kam es Ende 7 www.landtag-bw.de/Initiativen "Plenarprotokolle"; vgl. ferner Landtagsdrucksache 12/5476 www.landtag-bw.de/Dokumente "Landesinformationssystem". 44 Januar 2000 zur Spaltung der DVU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt und zur Gründung der "Freiheitlichen Deutschen Volkspartei" (FDVP) durch die ehemalige DVU-Fraktionsvorsitzende. Die abtrünnigen DVU-Mitglieder wurden aus der Partei ausgeschlossen. Der Landesverband Baden-Württemberg ist nach offiziellen Angaben einer der mitgliederstärksten, die Kreisverbände in Stuttgart, Böblingen/Tübingen, Schwäbisch Hall, Rottweil/Freudenstadt, Konstanz, Mannheim/Heidelberg/Rhein-Neckar, Sigmaringen/Zollernalb, Heidenheim/Ostalb und Karlsruhe existieren jedoch praktisch nur auf dem Papier und entwickeln kaum Aktivitäten. Politischer Kurs In dem von einem übersteigerten völkischen Nationalismus geprägten Weltbild der DVU stehen "Deutschland" und "deutsche Interessen" absolut im Vordergrund. Hinzu kommen die typischen rechtsextremistischen Agitationsfelder "Fremdenfeindlichkeit", "Antisemitismus" sowie "Revisionismus", die das Erscheinungsbild der Partei in der Öffentlichkeit maßgeblich bestimmen.Trotz des gebetsmühlenhaften Bekenntnisses der Partei zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung sprechen die aggressiven und reißerischen Schlagzeilen der NZ, in denen "Ausländer" und "Juden" als Gefahr für Deutschland dargestellt werden, eine andere Sprache: "Ersetzen Ausländer die Deutschen? Wie unser Volk beseitigt werden soll" (NZ, Nr. 13/2000) "Kollektivverantwortung für immer - Der Dank des jüdischen Weltkongresses für 10 Milliarden Mark neuer Tribute" ( NZ, Nr. 1/2000) "Wie viele Ostjuden kommen noch? - Was uns Kohl eingebrockt hat" (NZ, Nr. 4/2000) Die Diskussion um ein Verbot der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) nahm die DVU zum Anlass, sich von dieser zu distanzieren und die eigene 45 Gesetzestreue hervorzuheben: "Wenn man von allen politischen oder sonstigen gesellschaftlichen Gruppen, egal ob rechts, Mitte oder links, sagen könnte, dass sie sich so streng an die Gesetze halten, wie die DVU - Deutschland könnte sich glücklich schätzen!"8 Aktivitäten Die Aktivitäten der Partei konzentrierten sich im Wesentlichen auf zwei Großveranstaltungen. Am 12. Februar 2000 fand in München der Bundesparteitag statt. Erwartungsgemäß wurde Dr. FREY mit 98,9 Prozent der Stimmen als Bundesvorsitzender bestätigt. Der Landesvorsitzende von Baden-Württemberg Peter JÜRGENSEN, Forst, wurde als einer seiner drei Stellvertreter wiedergewählt. Wie jedes Jahr führte die DVU am 23. September 2000 in der Passauer Nibelungenhalle ihre Großkundgebung unter dem Motto "Recht und Freiheit für das deutsche Volk" durch. Trotz hohem Werbeaufwand war die Veranstaltung mit rund 2.200 Teilnehmern nicht wesentlich besser besucht als im Vorjahr. Erneut waren Vertreter des französischen rechtsextremistischen "Front National" (FN) sowie eine Delegation der flämisch-nationalistischen Partei "Vlaams Blok" als Gäste anwesend. Wie in jedem Jahr stand auch diesmal die Rede des Bundesvorsitzenden im Mittelpunkt der Veranstaltung, in der er seit Jahren gleiche Schlagworte und Parolen wiederholte. 5.3 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 480 Baden-Württemberg (1999: 410) ca. 6.500 Bund (1999: 6.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) "Nationale Nachrichten aktuell" (NNaktuell) 8 NZ vom 1. September 2000. 46 Organisation Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) verfügt gegenwärtig in allen Bundesländern über Landesverbände, die sich allerdings in ihrer jeweiligen Bedeutung erheblich voneinander unterscheiden. Mitgliederzuwächse in einzelnen Bundesländern führten zu einer Erhöhung der Gesamtmitgliederzahl. Die Partei begründet die Steigerung mit der seit Anfang August 2000 geführten Verbotsdiskussion. Verfügte die NPD bis zu diesem Zeitpunkt wie in den Vorjahren unverändert über rund 6.000 Mitglieder, so konnte sie schon im September ihren Mitgliederbestand auf etwa 6.500 Personen ausbauen9. Auch im Landesverband Baden-Württemberg mit seinen 16 Kreisverbänden hat sich die Mitgliedersituation zum Vorteil der NPD verändert. Insgesamt gesehen jedoch bewegen sich die Mitgliederzahlen im Land seit Jahren auf niederem Niveau. Land Bund 1994: 600 Mitglieder 4.500 Mitglieder 1995: 550 Mitglieder 4.000 Mitglieder 1996: 440 Mitglieder 3.500 Mitglieder 1997: 400 Mitglieder 4.300 Mitglieder 1998: 430 Mitglieder 6.000 Mitglieder 1999: 410 Mitglieder 6.000 Mitglieder 2000: 480 Mitglieder 6.500 Mitglieder Im Januar 2000 zog die NPD-Bundesgeschäftsstelle von Stuttgart nach Berlin um. Der Erwerb des Anwesens war erst durch die Großspende eines Parteimitglieds aus Stuttgart möglich geworden. Auch die baden-württembergische Landesgeschäftsstelle hat ihren Sitz im - Ende 2000 dann verkauften - parteieigenen Anwesen in Stuttgart verlassen und befindet sich nun in Eningen unter Achalm/Krs. Reutlingen. Dort hatte die NPD 1994 eine Villa geerbt, die ursprünglich zu einer "nationalen Bildungsund Begegnungsstätte" ausgebaut 9 Die NPD gibt 7.000 Mitglieder an. 47 werden sollte. Tatsächlich wird die "NPD-Villa" wenig frequentiert. Von einer kontinuierlichen Nutzung der Immobilie kann, von gelegentlichen Mitgliederversammlungen abgesehen, nicht die Rede sein. Die "Deutsche Stimme Verlagsgesellschaft mbH" (DS-Verlag) ist im März 2000 von Stuttgart nach Riesa/Sachsen umgezogen. In dem Verlag der NPD erscheint das Parteiorgan "Deutsche Stimme" (DS). Ideologische Ausrichtung Spätestens seit der Wahl von Udo VOIGT zum NPD-Bundesvorsitzenden im März 1996 hat sich die Partei zunehmend gegenüber neonazistischen Kreisen, also jenen Rechtsextremisten, die den historischen Nationalsozialismus als Modell für ein heutiges anderes Deutschland wiederbeleben wollen, geöffnet. Inzwischen bietet die NPD auch rechtsextremistischen Skinheads eine parteipolitische Heimat. Die mit der Einbindung der Skinheads verbundene Instrumentalisierung dieser gewaltbereiten Szene sowie die Absicht, diese als "politische Soldaten" einzusetzen, ist mit ein Beleg für die aktivkämpferische Haltung der Partei. Beispielhaft dafür sind zwei von Funktionären des NPD-Kreisverbands Rems-Murr zusammen mit Skinheads begangene Straftaten am 11. November 2000 in Schorndorf/Rems-Murr-Kreis. Dabei wurde zuerst ein Punker gemeinschaftlich niedergeschlagen und im Anschluss an diese Tat ein Grieche beleidigt, zu Boden geworfen und durch Tritte mit Stahlkappenstiefeln erheblich verletzt. Das Verhältnis der NPD zu diesen beiden rechtsextremistischen Spektren lässt sich als ein Zweckbündnis beschreiben. Im Mittelpunkt steht dabei eine von nationalistischen, fremdenfeindlichen und antieuropäischen Ressentiments bestimmte Diskussion über soziale und wirtschaftliche Globalisierungsfolgen für die deutsche Bevölkerung. Verbindendes Element ist ferner das Bestreben, die nationalsozialistische Diktatur im Nachhinein zu rechtfertigen oder deren Verbrechen zu relativieren. Mit dieser Bündnispolitik konnte die NPD einen beachtlichen Reputationsgewinn innerhalb des rechtsextremistischen Lagers verbuchen und punktuell koordinierende 48 und steuernde Funktionen für wesentliche Teile des rechtsextremistischen Potenzials übernehmen. Aktuelle Situation Vor der Verbotsdiskussion Beim Bundesparteitag am 18./19. März 2000 in Mühlhausen/Bayern gab der wiedergewählte NPD-Bundesvorsitzende Udo VOIGT die Prämisse "Das Reich ist unser Ziel, die NPD ist unser Weg" ("Deutsche Stimme" Nr. 4/2000) für die Zukunft aus. In seinem Grundsatzreferat forderte er eine verbesserte Kampagnenfähigkeit der NPD in allen Verbänden. Um ihre Stellung als "Marktführerin im rechten Lager" durchzusetzen, müsse die Partei "aus den Hinterzimmern" heraustreten und "Flagge zeigen auf den Marktplätzen". Diesem Anspruch der Bundesführung genügt die NPD in Baden-Württemberg nicht. Der Landesverband verfügt zwar über eine relativ große Mitgliederzahl, gleichwohl sind höchstens 100-150 Personen - etwa für Demonstrationen - mobilisierbar. Mit der Organisation eigener, öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen ist der Landesverband mit seinem am 16. April 2000 in Ravensburg wiedergewählten Vorsitzenden Michael WENDLAND, Weissach, weitgehend überfordert. Taktische Leitlinie der NPD-Bundesführung war - zumindest bis zum Beginn der Verbotsdiskussion um die Partei - das strategische "Drei-Säulen-Konzept". Umrissen wird damit der offensiv-kämpferische Ansatz in der Parteiarbeit verbunden mit der Anleitung zum Handeln: "Kampf um die Straße, Kampf um die Köpfe, Kampf um die Parlamente". Der Schwerpunkt der politischen Aktivitäten lag beim "Kampf um die Straße". Die Partei wollte mit zahlreichen Kundgebungen Präsenz demonstrieren, der Bevölkerung das Bild einer durchsetzungsfähigen politischen Kraft vermitteln und als organisationsübergreifende "Nationale Außerparlamentarische Opposition" (NAPO) den Boden für einen erfolgversprechenden Kampf um die Macht in Deutschland bereiten. 49 Daher beschlossen Bundesregierung (8. November 2000), Bundesrat (10. November 2000) und Bundestag (8. Dezember 2000) jeweils, einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Seit Beginn der Verbotsdiskussion Noch Anfang August 2000 hatte das Präsidium der NPD gelassen auf die Forderung nach einem Parteiverbot reagiert und gehofft, dass durch den staatlichen Druck ein Solidarisierungseffekt mit der NPD ausgelöst werden könnte. Entgegen der demonstrativen Gelassenheit der NPD-Führung zeigten sich zumindest Teile der Parteibasis von Beginn an durch die Verbotsdiskussion beunruhigt. Mit Blick auf die wachsende Irritation innerhalb der Partei sah sich VOIGT schließlich am 9. August 2000 zu einem Rundschreiben an alle Mitglieder veranlasst, in dem er den politischen Standort der NPD markierte und Reaktionen ankündigte: "...Die NPD lehnt seit ihrer Gründung 1964 Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele strikt ab und hat sich immer eindeutig zum Grundgesetz bekannt..." "...In den letzten Tagen konnte ich den bekannten Rechtsanwalt Horst Mahler10 dazu gewinnen, eine Initiative 'Für Deutschland - Ja zur NPD!' zu gründen und sich hierfür als Sprecher zur Verfügung zu stellen. Ziel dieser Initiative wird es sein, eine wirksame Unterschriftsund Solidaritätskampagne für unsere NPD zu starten und zu erreichen, dass sich weitere Persönlichkeiten gegen ein NPD-Verbot aussprechen..." In der weiteren Folge reagierten VOIGT und der Parteivorstand mit der Absage aller bereits angemeldeter Demonstrationen und dem vorläufigen Verzicht auf weitere Kundgebungen. Zudem trat VOIGT dafür ein, dass NPD und "freie Kameradschaften"11 künftig wieder öfter "getrennte Wege" gehen sollten. Dies wiederum führte dazu, dass sich die bereits bestehenden Spannungen zwischen der neonazistischen Szene und der NPD verstärkten. Die "Freien Nationalisten" kritisierten insbesondere das von der NPD10 Der frühere Linksterrorist Horst MAHLER ist seit dem 12. August 2000 NPD-Mitglied. 11 Neonazistische, lose strukturierte, autonome Personenzusammenschlüsse (vgl. Kap. 4.2). 50 Führung verhängte Demonstrationsverbot. Teile der NPD-Anhängerschaft verstanden diese Maßnahme ebenfalls nicht, so dass es zur Gründung der innerparteilichen Oppositionsgruppe "Revolutionäre Plattform - Aufbruch 2000" unter der Führung des Neonazis und ehemaligen NPD-Funktionärs Steffen HUPKA kam. Um der Verunsicherung der Parteibasis entgegen zu wirken, führte die NPD dann am 2. und 3. September 2000 vier Regionalkonferenzen durch. Im Ergebnis wurden die Beschlüsse des Parteivorstandes vom 14. August 2000 bekräftigt: Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Die für Baden-Württemberg maßgebliche Regionalkonferenz Süd der Landesverbände Bayern und Baden-Württemberg fand am 2. September 2000 in Schwenningen/Bayern statt. In der Gesamtschau der NPD-Positionen, insbesondere ihrer fremdenfeindlichen Aussagen in der Parteizeitung "Deutsche Stimme", erscheinen die in Reaktion auf die Verbotsdiskussion geäußerte Distanzierung von Gewalt gegen Ausländer sowie das Bekenntnis zum Grundgesetz lediglich taktisch motiviert. In der Ausgabe 9/2000 der DS wird die Verbotsdiskussion umfänglich thematisiert und als "politischer Amoklauf", als "Demontage des Rechtsstaates durch die Bundesregierung", als "Pogromstimmung gegen rechts", als "Staatsstreich von oben" und als "etablierte Machtsicherungpolitik" bezeichnet. Auf einer Sitzung des NPD-Parteivorstands am 22. Oktober 2000 wurde das - aus taktischen Gründen - verhängte Demonstrationsverbot wieder aufgehoben. Offenbar erhofft man sich dadurch, oppositionelle Kreise wieder an die Partei zu binden. Am 25. November 2000 fand in Berlin anlässlich des Jahrestages der NPD-Gründung eine bundesweite Demonstration für den Erhalt der Partei statt. Diese sollte Höhepunkt und zugleich Abschluss der Kampagne "Argumente statt Verbote" darstellen. Mit rund 1.400 Teilnehmern konnte die NPD nicht annähernd so viele Anhänger wie vor der Verbotsdiskussion auf die Straße bringen. Die Demonstration wurde vorzeitig von der Polizei aufgelöst, da die öffentliche Sicherheit aufgrund massiver Proteste seitens der rund 1.000 Gegendemonstranten nicht mehr gewährleistet werden konnte. 51 Aktivitäten Die NPD veranstaltete bis zur Verbotsdiskussion eine Vielzahl von Demonstrationen, um einen Aspekt ihrer "Drei-Säulen-Strategie", den "Kampf um die Straße", umzusetzen. Am 1. Mai 2000 führte die NPD bundesweit sechs Veranstaltungen durch, an denen insgesamt rund 3.000 Personen teilnahmen. Die NPD-Landesverbände Baden-Württemberg und Bayern initiierten unter dem Motto "Heraus zum 1. Mai - Arbeit zuerst für Deutsche" in Fürth/Bayern eine Demonstration mit ca. 500 Teilnehmern. Laut einer Pressemitteilung der NPD sprach sich der Landesvorsitzende von Baden-Württemberg für die Einleitung von "Ausländerrückführungsprogrammen" aus: "...Statt Schmarotzertum, solle der Einsatz für die Gemeinschaft entlohnt werden. Eine Volksgemeinschaft sei aber nur mit Angehörigen einer Volksgruppe durchzusetzen, äußerte sich Wendland weiter..." Rund 4.000 - zumeist jüngere -Teilnehmer versammelten sich am 27. Mai 2000 unter dem Motto "Bewegung muss Partei ergreifen" zum "2. Tag des nationalen Widerstandes" in der Passauer Nibelungenhalle. Neben vielen Skinheads und bekannten Neonazis hatten sich auch zahlreiche ausländische Vertreter rechtsextremistischer Organisationen eingefunden. Der NPD gelang es, mit dieser Veranstaltung ein breites rechtsextremistisches Spektrum, vor allem auch Teilnehmer aus dem Neonaziund Skinheadlager - darunter auch etliche aus BadenWürttemberg -, zu mobilisieren. Unter dem Motto "Schützt die Familie! - Keine Gleichstellung der Homo-Ehe!" rief der NPD-Landesverband Baden-Württemberg am 29. Juli 2000 in Stuttgart zu einer Demonstration gegen den örtlichen "Christopher-Street-Day" auf. Rund 150 Personen folgten dem Aufruf, darunter auch einige Neonazis und Skinheads aus BadenWürttemberg. 52 Junge Nationaldemokraten (JN) Gründung: 1969 Sitz: Riesa/Sachsen Mitglieder: ca. 150 Baden-Württemberg (1999: ca. 70) ca. 500 Bund (1999: ca. 350) Organisation Die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), die Jugendorganisation der NPD sind integraler Bestandteil der Mutterpartei und damit ebenfalls von dem Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD beim Bundesverfassungsgericht tangiert. Hierzu bezogen weder der JN-Bundesnoch der Landesverband Baden-Württemberg Stellung. Der JN-Bundesvorsitzende Sascha ROßMÜLLER, Bayern, ehemaliger Vorsitzender des 1993 vom Bayerischen Staatsministerium des Innern verbotenen neonazistischen "Nationalen Blocks" (NB), ist ein Befürworter der Zusammenarbeit mit Neonazis und Skinheads und kraft seines Amtes Mitglied des NPD-Bundesvorstandes. Die Jugendorganisation steigerte nach eigenem Bekunden ihre Mitgliederzahl auf rund 500 Personen. Sie führte diese Steigerung auf die Verbotsdebatte um die Mutterpartei zurück. Auch der Landesverband Baden-Württemberg gewann etwa 80 Neumitglieder hinzu. Zudem deuten Neugründungen in Göppingen, Freiburg, Karlsruhe und Pforzheim sowie die Reaktivierung bereits bestehender Stützpunkte auf eine aktivere Jugendarbeit hin. Insgesamt existieren derzeit acht Stützpunkte im Land. Selbstverständnis der JN Die JN verstehen sich als "eine fest geschlossene, homogene Jugendbewegung, in der Spießbürgertum und Standesdünkel nichts zu suchen haben". Sie wollen ein gemeinschaftliches Miteinander erreichen, das letztendlich in einer "Volksgemeinschaft aller Deutschen" münden soll. 53 Jedoch wollen sie "nicht im Schattendasein" ihrer Mutterpartei ihre Vorstellungen umsetzen, sondern sie "entwickeln vielmehr als revolutionäre Bewegung für junge Nationalisten zwischen 14 und 35 Jahren autonome konzeptionelle Vorstellungen." Sie versuchen sich deshalb als eine "Alternative zum herrschenden System" darzustellen, um "politische Veränderungen in der Zukunft Realität werden" zu lassen. Ausländer werden pauschal für die Probleme der Gesellschaft verantwortlich gemacht, so auch in einem Flugblatt "Stüttgürt? Ohne uns!" des JN-Stützpunktes Stuttgart: "...Fremde beherrschen unser Leben und unser Stadtbild. Deutsche Menschen sind schon zur Minderheit in den Schulklassen, im eigenen Land, in der eigenen Stadt geworden. Osteuropäische Schleuserbanden bringen täglich 'Nachschub'. Sei es in Form von illegalen Ausländern oder Rauschgift. Schlägereien, Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Antifa-Terror gehören schon längst nicht nur auf Stuttgarter Schulhöfen zum Alltag..." Aktuelle Situation Die JN verlieren immer mehr an Autonomie gegenüber der Mutterpartei, da überregionale Veranstaltungen häufig von der NPD organisiert und durchgeführt werden. Mitglieder der Jugendorganisation werden zumeist als Ordner bei Veranstaltungen oder als Helfer in Wahlkampfzeiten eingesetzt. Ein eigenständiges Profil entwickeln die JN auch im Land schon seit Jahren nicht mehr. Die Hauptaktivitäten sind zumeist beschränkt auf Kameradschaftsabende oder Grillfeste und verschleiern lediglich die Unfähigkeit der meisten JN-Funktionäre, die Jugendlichen politisch zu schulen. Als einer von zwei Stellvertretern wurde der JN-Landesvorsitzende von BadenWürttemberg Mike LAYER, Ludwigsburg, am 5. Februar 2000 beim JNBundeskongress in Straßenhaus bei Neuwied/Rheinland-Pfalz in den Bundesvorstand gewählt. Mit der Wahl von zwei weiteren baden-württembergischen Funktionären verfügt der Landesverband - zumindest zahlenmäßig - über einen beachtlichen Einfluss im Bundesvorstand. 54 Unbeachtet von der Öffentlichkeit fand am 28. Oktober 2000 der "7. Europäische Kongress der Jugend" in Dreisen/Rheinland-Pfalz statt. Mit rund 300 Teilnehmern - darunter auch Gäste aus mehreren europäischen Ländern - war die Veranstaltung im Vergleich zu den Vorjahren deutlich schwächer besucht. Am Rande eines internen Sommerfestes des JN-Stützpunktes Rems-Murr am 12. August 2000 in Winterbach/Rems-Murr-Kreis wurden fünf Teilnehmer von mehreren vermummten Personen angegriffen und niedergeschlagen. Eines der Opfer, der JN-Landespressesprecher Janus NOWAK, nutzte diese Gelegenheit, um u.a. demokratische Parteien und gesellschaftliche Gruppen zu diffamieren. Er forderte "'eine sofortige Diskussion über Zusammenhänge linksradikaler Gewalt mit der Partei der Grünen, der SPD, PDS und des DGB'. Eine direkte Verbindung zu 'etablierten Kreisen der Politik, die den Antifa-Terror bezahlen' könne laut Nowak nicht ausgeschlossen werden." (Pressemitteilung des NPD-Landesverbandes Baden-Württemberg vom 13. August 2000). 6. Sonstige rechtsextremistische Organisationen 6.1 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V."(GFP) Der vor 40 Jahren von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen gegründeten "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) gehören rechtsextremistische Publizisten, Schriftsteller und Verleger an. Ziel der in München ansässigen Organisation ist es, "Aufklärungsarbeit" zu leisten und die angeblich verzerrende Darstellung der Zeitgeschichte zu korrigieren. Seit 1992 ist Dr. Rolf KOSIEK, selbst Mitarbeiter im rechtsextremistischen Tübinger "GRABERT-Verlag", Vorsitzender des Vereins. Zu den wenigen Aktivitäten der bundesweit rund 480 Mitglieder (Baden-Württemberg: ca. 40) gehört der jährliche GFP-Kongress, an dem regelmäßig auch prominente Redner aus dem rechtsextremistischen Lager teilnehmen. Im Jahr 2000 wurde die Veranstaltung vom 14. bis 16. April unter dem Motto "National 2000 - Freie Völker statt Globalismus" in Regensburg vor rund 350 Zuhörern durchgeführt. Als Referenten traten 55 unter anderem die Rechtsextremisten Dr. Gert SUDHOLT, Dr. Alfred MECHTERSHEIMER und Harald NEUBAUER auf. 6.2 "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) Die "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) trat in ihrem Gründungsjahr 1991 mit dem erklärten Ziel an, die Sammlungsbewegung der "nationalen Rechten" zu werden. Dafür gab sie 1996 sogar ihren Parteistatus auf. Doch selbst dieser Schritt konnte den Verein seinem Ziel bis heute nicht näherbringen. Die Mitgliederzahl stagniert sowohl bundesweit (ca. 300 Mitglieder) als auch in Baden-Württemberg (ca. 40 Mitglieder). Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten fanden im Jahr 2000 nicht mehr statt. Landesvorsitzender und gleichzeitig einer der drei Bundessprecher der DLVH ist Jürgen SCHÜTZINGER, der 1999 bei den Kommunalwahlen ein Mandat im Gemeinderat der Stadt Villingen-Schwenningen und im Kreistag des Schwarzwald-Baar-Kreises erringen konnte. 6.3 "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e.V." (FHD) Der 1989 ursprünglich als Vorfeldorganisation der NPD gegründete FHD unterhält Kontakte zu fast allen rechtsextremistischen Organisationen Baden-Württembergs und strebt - nach eigenen Aussagen - die Vereinigung aller "rechten" Parteien an. Zu seinen regelmäßigen Aktivitäten zählen Vortragsveranstaltungen, bei denen zum Teil bekannte rechtsextremistische Referenten auftreten. So organisierte der FHD am 11. November 2000 zusammen mit der "Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG) - eine Splittergruppe, die sich 1999 von den JN gelöst hat - eine Veranstaltung in Straubenhardt-Schwann/Krs. Pforzheim. Vor rund 250 Zuhörern aus dem gesamten rechtsextremistischen Spektrum referierten der ehemalige Bundesvorsitzende der Partei "Die Republikaner", Franz SCHÖNHUBER, und der Rechtsanwalt und frühere Angehörige der linksterroristischen "Rote Armee Fraktion", Horst MAHLER. Unter den Anwesenden befanden sich auch Mitglieder und Funktionäre der NPD sowie Angehörige der Partei "Die Republikaner". 56 7. Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage in BadenWürttemberg "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag" Der "GRABERT-Verlag" in Tübingen, heute einer der größten rechtsextremistischen Verlage in Deutschland, wurde 1953 von Dr. Herbert GRABERT unter dem Namen "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" gegründet. Seit 1978 wird das Unternehmen von seinem Sohn Wigbert GRABERT geleitet. Schwerpunkt des Verlagsprogramms bilden revisionistische Bücher und Publikationen. Außerdem erscheinen eigene Schriften wie die Vierteljahreszeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" (DGG) und das Mitteilungsblatt, Eurokurier - Aktuelle Buchund Verlagsnachrichten", in dem aktuelle politische Themen kommentiert werden. In der April-Ausgabe beklagt GRABERT: "...Die wirklichen Probleme in Deutschland - anhaltende Massenarbeitslosigkeit, Überfremdung und Umvolkung - sind aus den Schlagzeilen verschwunden ... Die undemokratischen Einmischungen der EU in die Regierungsbildung in Österreich haben gezeigt, was in Zukunft aus Brüssel zu erwarten ist. ... Dass die bundesdeutsche Regierung diesen unverschämten Kurs gegen das deutsche Österreich mitmacht, ist bezeichnend und zeugt von der völligen Anpassung der Berliner Verantwortlichen an die sich auf diese Weise entlarvende 'westliche Wertegemeinschaft'..." ("Euro-Kurier", 11. Jahrgang, Nr. 2, April 2000) Mehrere Bücher des "GRABERT-Verlags" bzw. seines Tochterunternehmens "Hohenrain-Verlag" wurden in den letzten Jahren beschlagnahmt oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) indiziert. So wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Tübingen vom 12. Juli 2000 - rechtskräftig seit 26. Juli 2000 - das 1993 erschienene Buch "Vorlesungen über Zeitgeschichte - Strittige Fragen im Kreuzverhör" des bekannten Revisionisten Germar SCHEERER geb. RUDOLF12 eingezogen. 12 Vgl. Kap. 9.2. 57 Das Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung gegen SCHEERER und GRABERT wurde wegen Verjährung eingestellt. 8. Internationale Verflechtungen des Rechtsextremismus Nachdem die Präsenz deutscher Rechtsextremisten bei internationalen Treffen in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hatte, stieg erstmals im Jahr 2000 wieder die Zahl der deutschen Teilnehmer am Kameradschaftstreffen in Diksmuide (Belgien). Dort trafen sich am 26. August 2000, dem Vorabend der 73. "Ijzerbedevaart" flämischer Patrioten, rund 250 Rechtsextremisten aus mehreren Ländern, darunter 60 Deutsche. Die Gedenkveranstaltung spanischer Falangisten zum Todestag von General Francisco Franco und Parteigründer Jose Primo de Rivera am 18. und 19. November 2000 fand aufgrund der vorangegangenen Attentate der baskischen Separatistenorganisation ETA unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen statt. Während die Zahl der spanischen Kundgebungsteilnehmer sich mit ca. 2.500 Personen gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelte, nutzten nur etwa 25 Rechtsextremisten aus Deutschland die Gelegenheit, Kontakte zu Gesinnungsgenossen zu knüpfen. Seitdem der amerikanische Neonazi und Leiter der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Aufbauund Auslandsorganisation" (NSDAP/AO), Gary Rex LAUCK, im März 1999 aus deutscher Haft entlassen und in die USA abgeschoben wurde, erscheint die Publikation "NS-Kampfruf" wieder regelmäßig. Darüber hinaus werden auf zwei verschiedenen Internet-Seiten der NSDAP/AO neben rechtsextremistischen Büchern, Publikationen und Nazi-Computerspielen auch die "Nachbildung eines Zyklon B Kanisters in Museumsqualität - Marke Konzentrationslager Auschwitz" angeboten. Die revisionistische Zeitschrift "National Journal" erscheint monatlich im Verlag des britischen Rechtsextremisten Anthony HANCOCK, Uckfield/England. Herausgeber der Nachfolgepublikation des früheren "Deutschland-Reports" bzw. der "Remer-Depesche" ist eine Redaktionsgemeinschaft "Die Freunde im Ausland" (DfiA), deren personelle Zusammensetzung unbekannt ist. In der Schrift wird fast ausschließlich antisemitische und fremdenfeindliche Hetze wie 58 "Putin ist der einzige Staatsmann, der sein Land vor dem menschenverachtenden Sendungsbewußtsein der Juden zu schützen versucht" oder "Der Putsch des BRD-Systems gegen das Grundgesetz - Der Umvolkungsfeldzug gegen Deutschland ist in die Dritte Phase eingetreten: Die Einschleusung fremder Völkerschaften wird forciert!" (Nr. 48/2000, Fehler im Original) verbreitet. Das "National-Journal" ist seit Oktober 1996 mit einer eigenen Homepage im Internet vertreten. 9. Revisionismus 9.1 Allgemeines Kennzeichnend für den Revisionismus sind immer wiederkehrende Versuche, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblicher positiver Leistungen des Dritten Reiches zu rechtfertigen, die Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren, die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu negieren ("Kriegsschuldlüge") und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verschweigen, zu verharmlosen oder zu leugnen. Als "Auschwitz-Lüge" oder "Holocaust-Leugnung" werden Versuche bezeichnet, abweichend von der gesicherten Faktenlage und den anerkannten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung Tatsache und Umfang des millionenfachen Mordes an Juden in der Zeit des Nationalsozialismus zu relativieren, zu vertuschen oder gar zu leugnen. Daneben gibt es Revisionisten, die gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze agitieren und die Herausgabe der ehemaligen deutschen Ostgebiete fordern. 59 9.2 Revisionisten Um der Strafverfolgung in Deutschland zu entgehen, hat der Revisionist Germar SCHEERER13, der als Autor unter verschiedenen Aliasnamen schreibt, seine publizistischen Aktivitäten nach Großbritannien verlegt. Wegen des so genannten "Rudolf-Gutachtens", in dem er die Existenz von Gaskammern im Vernichtungslager Auschwitz leugnet, verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart 1995 zu 14 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Seine pseudowissenschaftlichen Bücher und Texte können über die seit 1985 bestehende belgische Organisation "Vrij Historisch Onderzoek" (V.H.O.), dem zentralen Vertreiber revisionistischer Schriften und Videokassetten in Europa, bezogen werden. Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes sind die belgischen Rechtsextremisten Siegfried und Herbert VERBEKE. Außerdem erscheinen seit 1998 in dem von SCHEERER gegründeten Verlag "Castle Hill Publishers" die "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" (VffG), eine revisionistische Publikation mit internationaler Ausrichtung, die ursprünglich ebenfalls von der V.H.O. herausgegeben wurde. Der Verlag hat sich, wie SCHEERER auf seiner Homepage erklärt, " ... auf die Veröffentlichung und den Vertrieb von wissenschaftlich-historischer Literatur, die wegen der immer weiter um sich greifenden Zensur in Deutschland nicht mehr veröffentlicht werden kann..." spezialisiert. Im Januar 2000 indizierte die BPjS das 1998 im "Castle Hill Publishers"-Verlag erschienene Buch der Holocaustleugner Jürgen GRAF und Carlo MATTOGNO "KL Majdanek. Eine historische technische Studie", in dem behauptet wird, dass es keine Beweise für Massenerschießungen oder den Massenmord durch Gas im Konzentrationslager Majdanek gebe. 13 Germar SCHEERER trat im Jahr 2000 wieder verstärkt unter seinem Geburtsnamen RUDOLF auf. 60 Das Amtsgericht Weinheim hat am 15. September 2000 das Verfahren gegen den britischen Holocaust-Leugner David IRVING wegen Verfolgungsverjährung eingestellt, nachdem ein Auslieferungsersuchen an Großbritannien erfolglos geblieben war. Die Staatsanwaltschaft Mannheim hatte ihn 1995 angeklagt, im Herbst 1990 bei einer Veranstaltung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) in Weinheim den Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden geleugnet zu haben. Erst im April 2000 war von einem Londoner Gericht IRVINGs Klage gegen die amerikanische Historikerin Deborah LIPSTADT abgewiesen worden. Sie hatte IRVING in einem Buch als einen der gefährlichsten Holocaust-Leugner bezeichnet. In dem vier Monate dauernden Prozess belegten zahlreiche renommierte Historiker IRVINGs manipulativen Umgang mit historischen Quellen. Der 1958 nach Toronto/Kanada emigrierte Deutsche Ernst ZÜNDEL gründete 1976 den "Samisdat Publishers Ltd."-Verlag zur Herausgabe rechtsextremistischer Bücher, Zeitschriften und Videos. Der weltweit aktivste Revisionist verbreitet seine antisemitischen und volksverhetzenden Thesen u.a. in den monatlich erscheinenden, deutschsprachigen "Germania-Rundbriefen", die er aus Kanada direkt an Interessenten und unaufgefordert auch an andere Personen verschickt. Die so genannte "ZÜNDELSITE" bietet seit Jahren ein umfangreiches rechtsextremistisches Informationsund Literaturangebot im Internet. 10. Intellektualisierungstendenzen in rechtsextremistischen Kreisen Seit Beginn der 80er Jahre versuchen rechtsextremistische Intellektuelle, unter ihnen auch die Anhänger der "Neuen Rechten"14, ihren Einfluss in der rechtsextremistischen Szene auszubauen, um so eines Tages "im Kampf um die Köpfe" die "Meinungsführerschaft" zu erringen. Rechtsextremistische Publizisten verwischen bewusst die Unterschiede zwischen konservativen Haltungen und extremistischen 14 Eine intellektuelle Strömung bzw. Ideologievariante des Rechtsextremismus, die sich an den im Kern antidemokratischen Ideen der "Konservativen Revolution" zur Zeit der Weimarer Republik (Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Edgar Julius Jung) orientiert. Die Kernpunkte sind die "Einheit rechts von der Mitte", die Ablehnung des politischen Liberalismus und die Forderung nach einer völkisch-national geprägten Staatsform. 61 Positionen. Ziel ist die Gewinnung der kulturellen Hegemonie und die Delegitimation des demokratischen Verfassungsstaats. Ein wichtiges publizistisches Bindeglied zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsextremistischen Spektrum ist dabei die Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF). Dem aufmerksamen Leser stellt sich die JF als Publikation dar, die konstant von Beiträgen durchsetzt ist, die mit grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht in Einklang stehen. Die Redaktion der JF ist dabei bemüht, extremistisches Gedankengut als "national-konservatives" zu verschleiern und bedient sich hierzu immer wieder der Bereitschaft von Politikern und sonstigen Personen zu Interviews. Typisch für die mit intellektuellem Anspruch auftretenden JF-Autoren ist ihr geschicktes Agieren in einer Grauzone von demokratischem Konservatismus, Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Dabei spielt der Rekurs auf die antidemokratische "Konservative Revolution" zur Zeit der Weimarer Republik und auf den Staatsrechtler Carl Schmitt eine tragende Rolle. Daneben wird gezielt gegen Funktionsträger der parlamentarischen Demokratie agitiert. Beispiele: In der Ausgabe 1/2000 wird die rechtsextremistische Zeitschrift "Mensch und Maß", in der u.a. die antiparlamentarischen und rassistischen, insbesondere antisemitischen Ideen der Eheleute Ludendorff verbreitet werden, als lesenswertes "Magazin für den politischen Austausch" angepriesen. Von "niederträchtigen, eigensüchtigen Motiven der etablierten Parteienoligarchie" spricht ein JF-Stammautor in der Ausgabe 5/2000 und behauptet, dass die "Gesinnung beschnüffelt und kriminalisiert" werde. Zum Thema Nationalsozialismus wird in der Ausgabe 13/2000 die ehemalige Reichsreferentin des "Bundes Deutscher Mädel" (BDM) interviewt, die nur Positives über den BDM zu erzählen hat. Eine kritische Analyse durch die JF fehlt. Neben der JF gibt es andere rechtsextremistische Publikationen, die intellektuellen Rechtsextremisten ein Forum geben. Erwähnenswert ist noch die monatlich 62 erscheinende Schrift "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE" (NE), die als das bedeutendste rechtsextremistische Strategieund Theorieorgan gilt und dessen langjährige Zielsetzung die Forderung nach Überwindung der Zersplitterung der rechtsextremistischen Parteien und die Bündelung aller rechtsextremistischen Kräfte ist. 11. Nutzung moderner Informationstechnik durch Rechtsextremisten 11.1 Allgemeines Bei der Nutzung des Internet durch Rechtsextremisten waren erneut hohe Zuwachsraten sowie eine qualitative Verbesserung vieler Angebote zu verzeichnen. Die Anzahl der von deutschen Rechtsextremisten - in den meisten Fällen anonym über amerikanische Internet-Server - betriebenen deutschsprachigen Homepages im World Wide Web (WWW) hat sich auf rund 800 erhöht, davon haben etwa 20 - 30 Prozent strafbare Inhalte. Da es immer schwieriger wird, die zahlenmäßige Entwicklung auf diesem Sektor im Auge zu behalten, hat Ende 2000 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mehrerer Verfassungsschutzbehörden gezielt nach bislang noch unbekannten Homepages gesucht. Dabei wurde eine starke Fluktuation festgestellt. Vergleicht man das Ergebnis von 800 Homepages mit der Entwicklung in den Vorjahren (1996: 32; 1997: 100; 1998: 200; 1999: 330), bestätigt sich die Vermutung, dass sowohl die Anzahl solcher Interneteinstellungen rapide ansteigt, als auch, dass bisher zu Recht von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen worden ist. Eine Zunahme von in englischer Sprache bzw. mehrsprachig abgefassten Homepages deutscher Rechtsextremisten konnte ebenfalls beobachtet werden. Darüber hinaus werden zahlreiche, vornehmlich von US-Amerikanern betriebene englischsprachige Angebote, teilweise mit deutschsprachigen Unterangeboten festgestellt, die rechtsextremistische Inhalte und Musik verbreiten. Nahezu alle in Deutschland aktiven rechtsextremistischen Parteien, Vereinigungen und organisationsunabhängigen Publikationsorgane sind inzwischen mit einem eigenen Angebot im Internet vertreten. Rechtsextremisten nutzen die Möglichkeiten des Internet zur Verbreitung audiovisueller Angebote weitaus stärker als linksextremistische Gruppierungen. 63 Die deutsche Zentralstelle für die Vergabe von Internet-Adressen "Deutsches Network Information Center" (DeNIC)15 wurde außerdem mit dem Phänomen von Domainanmeldungen mit NS-Bezug wie z.B. "Heil-Hitler.de" konfrontiert. In Folge wurden eine Vielzahl von derartigen De-Domainnamen sowie eine Anzahl von Angeboten deutscher Rechtsextremisten bei deutschen Providern gelöscht. Eine nachhaltige Änderung des Angebots extremistischer Gruppierungen wurde dabei nicht erzielt. Vielerorts waren derartige Domains noch gar nicht mit einem Inhalt unterlegt. Gesperrte Angebote wandern in der Regel zu US-amerikanischen Providern ab und sind erfahrungsgemäß in kürzester Zeit wieder online. In den USA existieren inzwischen eigenständige Hostprovider, die selbst von Rechtsextremisten betrieben werden und Speicherplatz anbieten. Derartige, in der Regel kostenlose Angebote werden zunehmend auch von deutschen Rechtsextremisten genutzt. Kostenlose Angebote zur Übermittlung von so genannten SMS16-Mitteilungen im Internet werden inzwischen zunehmend dazu missbraucht, beleidigende, volksverhetzende und rassistische SMS-Botschaften auf die Handys ausländischer Mitbürger zu übermitteln. Links zu kostenlosen SMS-Diensten im Internet finden sich vermehrt auch auf rechtsextremistischen Homepages. 11.2 Beispiele In einem nicht mehr übersehbaren Ausmaß werden Musik-Dateien rechtsextremistischer Bands und andere NS-Audio-Angebote - z.B. historische Aufnahmen aus dem Dritten Reich - im so genannten Mp3-Format über eine große Anzahl von weltweit angesiedelten Internetangeboten verbreitet. Diese Dateien sind einfach herunterzuladen und bieten die Möglichkeit, eigene CDs herzustellen bzw. sind über jeden gängigen Computer oder so genannte Mp3-Player abspielbar. Über kostenlose Tauschbörsen im Internet können Musikdateien weltweit zwischen individuellen Anbietern und Nutzern getauscht werden. Darunter fallen auch indizierte oder beschlagnahmte rechtsextremistische Musiktitel. Durch die weltweite Verbreitung derartiger Mp315 Über DeNIC mit Sitz in Frankfurt/M. werden die deutschen ".de"-Domain-Namen vergeben. 16 "Short Message Service" - Möglichkeit zur Versendung von kurzen Textbotschaften auf die Displays von Handys. 64 Musikdateien werden rechtsextremistische Musikstücke und Texte einem breiten, häufig noch unpolitischen, jugendlichen Interessentenkreis zugänglich gemacht. Zur Zeit sind fünf deutschsprachige Internet-Radioangebote im World Wide Web präsent, die in unregelmäßigen Abständen bis zu 60-minütige Sendungen mit szenespezifischen Musikund Redebeiträgen über das Internet verbreiten. Über "Radio Rastenburg" werden z.B. selbstkomponierte Musikbeiträge durch Hitlerreden untermalt und - als Popmusik abgemischt - angeboten. Im Internet kursieren weiterhin anonym erstellte Listen mit persönlichen Daten bzw. Adressen politischer Gegner, in denen direkt oder indirekt zur Gewalt gegenüber diesen Personen aufgerufen wird. So formuliert eine so genannte "Arische Bruderschaft": "Die Arische Bruderschaft iss eine Weltweite Internet Vereinigung, deren Ziel es ist den TeRRor zu verbreiten, euren HaSS zu schüren und euch Kontakte zu vermitteln!!" (Fehler im Original) Unter der Rubrik "Terror" sind Anleitungen zur Fertigung von Rohrbomben zu finden: "Terror Sektion!! Hier findet ihr Bombenbauanleitungen und andere nette Sachen um eurem Hass mal freien Lauf zu lassen..." (Fehler im Original) Eine so genannte "Todesliste", die in die Rubriken "Politische Gegner im Internet", "Ausländische Bastarde" und "sonstige Volksverräter" unterteilt ist, enthält Namen, persönliche Daten und Wohnorte von vermeintlichen Feinden. Auf der Homepage wird zudem dazu aufgerufen, per E-Mail neue "Verräter" zu melden, um die Liste zu erweitern. Ein konkreter Aufruf zu Straftaten gegenüber den politischen Gegnern erfolgt zwar nicht; Intention der Betreiber dürfte es dennoch sein, die Besucher der Seite zu Gewaltanwendungen gegenüber dem in der "Todesliste" genannten Personenkreis zu verleiten. 65 Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ruft auf ihren Internet-Seiten zu bundesweiten und regionalen Aufmärschen und Aktionen auf und berichtet hierüber. Sie verlor durch Sperrungen im Sommer und Herbst 2000 eine Anzahl von deutschen Domains. Durch Umstrukturierung des Webangebots machte die Partei die meisten Informationen nach einigen Wochen wieder zugänglich und nutzte seitdem ihr Angebot intensiv zu einer Kampagne "Argumente statt Verbote! - Nein zum NPD-Verbotsantrag". Internationale Revisionisten verfügen inzwischen über ein informelles Netzwerk im Internet, indem sie über eine größere Anzahl von Webseiten ihre Inhalte verbreiten und über "Links" aufeinander hinweisen. Auf einer von dem britischen Revisionisten David IRVING unter dem Titel "Real History" organisierten Veranstaltung im September 2000 in Cincinnati/USA trafen sich namhafte Revisionisten aus der ganzen Welt, darunter auch der Deutsche Germar SCHEERER geb. RUDOLF17. Die Redebeiträge der Veranstaltung konnten dabei zeitgleich als Audio-Dateien aus dem World Wide Web heruntergeladen werden. Das Internet-Angebot der rechtsextremistischen belgischen Organisation "Vrij Historisch Onderzoek" (V.H.O, Europäische Stiftung zur Förderung Freier Historischer Forschung) wird von SCHEERER weiterhin zu einem umfassenden Archiv revisionistischer Literatur ausgebaut. 17 Vgl. Kap. 9.2. 66 D. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Wichtigstes Thema für Linksextremisten war vor allem im zweiten Halbjahr 2000 der "Antifaschismus", provoziert durch die aktuelle politische Entwicklung. Im ersten Halbjahr wurden hingegen mehrere Themen problematisiert: Der Bundesregierung wurde vorgeworfen, die Sozialpolitik und angeblich "rassistische" Flüchtlings-, Asylund Abschiebepolitik ihrer Vorgängerin nahtlos fortzusetzen. In diesem Zusammenhang kam es zu Protesten an deutschen Flughäfen, darunter in Stuttgart, aber auch zu gefährlichen Eingriffen in den Bahnverkehr (Berlin) oder einem Anschlag auf das Hamburger Wohnhaus eines Vorstandsmitglieds der Lufthansa AG mit Farbbeuteln. Angeprangert wurde außerdem die staatliche Videoüberwachung von Kriminalitätsbrennpunkten. Diese wurde im Zusammenhang mit dem unverändert aktuellen "Kampf" gegen den angeblich betriebenen Ausbau der Bundesrepublik Deutschland zum "autoritären Polizeiund Überwachungsstaat" als "stetig voranschreitende Entrechtung" und Abschaffung der Privatsphäre des Einzelnen verurteilt. Gleichzeitig stelle sich der Staat vor dem Hintergrund der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft auf soziale Unruhen ein. Angeblich rassistische "Ausgrenzungspolitik, Nationalismus und Militarismus, sinkender Lebensstandard" und "Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung" bereiteten den Nährboden für "Neofaschismus", einer Gefahr, die zu bekämpfen Linksextremisten als vordringlichste Aufgabe für sich selbst betrachten. Aus eigener Sicht haben sie dem aber trotz verstärkter Anstrengungen noch immer zu wenig entgegenzusetzen. Ein Beispiel für die unverändert geringe Mobilisierungsfähigkeit der linksextremistischen Szene ist der eher schwach ausgefallene "Widerstand" gegen die "Expo 2000". Vorbilder für einen angestrebten "wirkungsvollen Protest" waren hier die vorausgegangenen gewaltsamen, gegen die weltweiten Globalisierungstendenzen 67 gerichteten Auseinandersetzungen in London und Seattle vom November 1999. Diese hatten einen Schaden von rund sieben Millionen Dollar verursacht. Seit dem Gewaltverzicht der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) hat auch die Solidarität mit der "kurdischen Befreiungsbewegung" im linksextremistischen Unterstützerspektrum weitgehend an Bedeutung verloren. Neuerliche Anstrengungen wurden hingegen unternommen, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den zum Tode verurteilten ehemaligen "Black-Panther"-Angehörigen Mumia ABU-JAMAL in den USA durchzusetzen. Der zwischen der Bundesregierung und den Kernkraftwerksbetreibern gefundene Konsens über die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke wird von der Anti-AKW-Bewegung als "Etikettenschwindel" abgelehnt. Gegenüber dieser "verlogenen Politik" wird eine Verhinderung weiterer CASTOR-Transporte als der "entscheidende Hebel" gesehen, um den nach wie vor geforderten Sofortausstieg aus der Kernenergie zu erreichen. Nach der Ankündigung der Wiederaufnahme von CASTOR-Transporten begann die Szene in Erwartung eines von Philippsburg, später auch von Neckarwestheim ausgehenden CASTOR-Transports, ihren Schwerpunkt nach Baden-Württemberg zu verlegen. Nachdem der angeblich für den 18. Oktober 2000 anberaumte erste Transport von Philippsburg nach La Hague/Frankreich nicht zustande gekommen war, flauten die Aktivitäten der CASTOR-Gegner wieder deutlich ab. Die Szene erwartet nun den Beginn der neuen Transporte für das Frühjahr 2001. Nach wie vor ein Thema für die linksextremistische Szene blieb der Kosovokrieg. Insbesondere am ersten Jahrestag, dem 24. März 2000, wurde der Kosovokrieg von der linksextremistischen Szene erneut thematisiert. Eine bundesweite, in erster Linie propagandistische Ziele verfolgende Veranstaltung war das "Internationale Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien" vom 2./3. Juni 2000 in Berlin mit mehreren hundert Teilnehmern aus über 20 Ländern. Überragt wurden alle diese Themen jedoch seit der zweiten Jahreshälfte von der neuen Aktualität des "Antifaschismus". Von dem - nach wie vor ungeklärten - "Düsseldorfer 68 Anschlag"18 ging dabei eine Signalwirkung aus, die die wirksame Bekämpfung des Rechtsextremismus durch Staat und politisch-gesellschaftliche Kräfte zum beherrschenden Thema werden ließ. Die zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen sowie sonstige, insbesondere gegen rechtsextremistische Gewalt gerichtete Maßnahmen boten Linksextremisten die Chance, im Rahmen der "antifaschistischen Bündnispolitik" neue Partner gerade auch im "bürgerlichen" Lager zu gewinnen. Zumindest punktuell ist man diesem Ziel näher gekommen. So fühlen sich Linksextremisten vor dem Hintergrund der intensivierten Kampagne gegen Rechtsextremismus in ihrer "Antifaschismusarbeit" bestätigt und ermutigt. Der "rechte" politische Gegner wurde in der Folge mehr denn je zum Hauptadressaten linksextremistisch motivierter Gewaltanwendung. Neu ist die öffentlich erhobene Forderung, "antifaschistisch" tätige Organisationen auch und gerade aus dem linksextremistischen oder linksextremistisch beeinflussten Spektrum nicht länger zu "kriminalisieren", sondern diesen - über politisch-gesellschaftliche Akzeptanz hinausgehend - aktive Unterstützung, nicht zuletzt auch finanzieller Art, zuteil werden zu lassen. 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Das linksextremistische Personenpotenzial in Baden-Württemberg ist im Jahr 2000 annähernd konstant geblieben. Vor dem Hintergrund einer offensiven Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist dies bemerkenswert, da daraus abgeleitet werden kann, dass Linksextremisten die für sie günstige politische Grundkonstellation und damit die in der "Antifaschismusarbeit" liegenden Chancen der Nachwuchsrekrutierung und Mitgliedergewinnung bislang nicht spürbar zu nutzen vermochten. Einige linksextremistische Parteien haben vielmehr mit einem weiteren Rückgang der Mitgliederzahlen zu kämpfen, doch wird dieser Verlust bislang durch Zugewinne in anderen Bereichen in etwa ausgeglichen. 18 Am 27. Juli 2000 explodierte ein Sprengsatz an einer S-Bahn-Haltestelle in Düsseldorf. Die Opfer, zehn zum Teil schwer verletzte Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, sind zumeist jüdischen Glaubens. 69 Von rückläufigen Tendenzen noch nicht erfasst ist die PDS in Baden-Württemberg. Abzuwarten bleibt allerdings, inwieweit der Rückzug populärer Führungsfiguren wie Gregor GYSI oder Lothar BISKY aus der Parteispitze sich auf die weitere Entwicklung insbesondere der PDS im Westen auswirken wird. Verluste im einen Bereich wurden auf der anderen Seite aufgewogen durch weitere Zuwächse etwa bei der "Roten Hilfe e. V.". Zu den wenigen aufstrebenden linksextremistischen Organisationen gehört die kleine trotzkistische Gruppierung "Linksruck", die - mit örtlichem Schwerpunkt in Freiburg - im zurückliegenden Jahr durch reges Engagement zu verschiedenen Themenbereichen auf sich aufmerksam machte. 2.2 Strafund Gewalttaten Die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten ist im Jahr 2000 bundesweit im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. In Baden-Württemberg war sogar ein starker 70 Anstieg von 52 Prozent zu verzeichnen. Zwar ist bereits auf Bundesebene der Anteil der Gewalttaten gegen den politischen Gegner von "rechts" mit 300 der insgesamt 827 Gewalttaten besonders auffällig, noch deutlicher ist dies aber auf Landesebene, wo von 55 Gewalttaten 25 gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten gerichtet waren. Linksextremistische Gewalt steht derzeit somit überwiegend unter dem Signum des "Antifaschismus". Daneben sind nur wenige und zudem auch nur regional bedeutsame Brennpunkte linksextremistischer Gewalt bestehen geblieben, wie etwa die Auseinandersetzung um ein "Autonomes Zentrum" in Heidelberg. Linksextremistische Gewalt geht wesentlich offensiver vor als im umgekehrten Fall "rechte" Gewalt gegen "links". Die Ausübung von Gewalt gegen den politischen Gegner geht in erster Linie von Linksextremisten aus, während sie bei Rechtsextremisten nur eine untergeordnete Rolle spielt. Bundesweit kam es im Jahr 2000 zu 827 Gewalttaten der "linken" Szene (1999: 711), davon gegen "rechts" gerichtet waren 300 (1999: 299). In Baden-Württemberg wurden 55 Gewalttaten (1999: 36) registriert, davon gegen "rechts" 25 (1999: 20). Dem standen bundesweit 998 Gewalttaten der "rechten" Szene (1999: 746), davon gegen "links" gerichtet 43 (1999: 53), gegenüber. In Baden-Württemberg wurden in der gleichen Zeitspanne 107 Gewalttaten gezählt (1999: 61), davon gegen "links" 16 (1999: 18). Linksextremistische Gewalt wird darüber hinaus im allgemeinen planvoll, dosiert und zweckgerichtet ausgeübt und korrespondiert mit bewusst gewählten Strategien. Hier ist der eindeutige Unterschied zu der dumpfen, überwiegend spontanen, meist mit erheblichem Alkoholgenuss verbundenen Vorgehensweise rechtsextremistischer Skinheads. 71 Linksextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten im Jahr 2000 in Baden-Württemberg Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten im Jahr 2000 in Baden-Württemberg 72 Zu den Gewalttaten zählten insbesondere Körperverletzungsdelikte, Landfriedensbruch und Brandanschläge. Unter den sonstigen Straftaten befinden sich auch Sachbeschädigungen mit erheblicher Gewaltanwendung. Die Gewalttaten im Bund-/ Ländervergleich19 Gewalttaten Baden-Württemberg Bund 2000 1999 2000 1999 Tötungsdelikte 0 0 0 0 Versuchte Tötungsdelikte 0 0 4 0 Brandstiftungen 5 4 58 68 Landfriedensbruch 4 5 321 269 Körperverletzungen 32 20 260 215 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, 7 4 44 19 Luft-, Schiffsund Straßenverkehr keine keine Raub/ Erpressung 1 2 separaten separaten Angaben Angaben Herbeiführung einer 0 0 1 0 Sprengstoffexplosion Widerstand gegen 6 1 139 140 Vollstreckungsbeamte Gesamt: 55 36 827 711 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 136 166 1.292 1.246 Nötigung/Bedrohung 15 15 75 73 Andere Straftaten 114 114 979 1.025 Gesamt: 265 295 2.346 2.344 Straftaten insgesamt 320 330 3.173 3.055 Beispiele: - Im Anschluss an die Großdemonstration vom 12. Februar 2000 in Heidelberg "Für ein neues AZ" (Autonomes Zentrum) kam es in der Nacht zu gewalttätigen Ausschreitungen. Dabei wurden Polizeifahrzeuge mit Pflastersteinen beworfen und 19 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 73 an mehreren öffentlichen Gebäuden Scheiben von Fenstern und Türen beschädigt. Insgesamt entstand ein Sachschaden von ca. 55.000 DM. - Unbekannte Täter setzten in der Nacht vom 23. zum 24. April 2000 in AlfdorfBirkhof einen abgestellten Reisebus in Brand. Der Sachschaden betrug ca. 165.000 DM. Zu der Tat bekannten sich "Autonome Antifas". Am 16. August 2000 wurde erneut auf einen Bus desselben Reiseunternehmens ein Brandanschlag verübt. Da die Tat frühzeitig entdeckt wurde, konnte der Sachschaden auf ca. 20.000 DM begrenzt werden. In einem weiteren Bekennerschreiben wurde der Anschlag damit begründet, dass das betroffene Unternehmen in der Vergangenheit wiederholt Rechtsextremisten zu ihren Veranstaltungsorten transportiert habe. - In Karlsruhe-Knielingen wurden am 4. Mai 2000 an einer Gaststätte insgesamt 14 Scheiben und Glastüren mit Pflastersteinen und vermutlich einem Baseballschläger zerstört. Der Sachschaden betrug ca. 30.000 DM. Wenige Tage zuvor hatte in dieser Gaststätte eine Veranstaltung der rechtsextremistischen "Karlsruher Kameradschaft" stattgefunden. - Im Zusammenhang mit einer Demonstration der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) gegen die gleichgeschlechtliche Ehe am 29. Juli 2000 in Stuttgart kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen linksextremistischen Gegendemonstranten und NPD-Angehörigen, in deren Verlauf über 500 Polizisten im Einsatz waren. Dabei wurden 20 Personen festgenommen. Ungeachtet des Risikos, auch Unbeteiligte zu treffen, warfen "Linke" mit Flaschen, Steinen und pyrotechnischen Gegenständen. Neben körperlichen Auseinandersetzungen kam es zu erheblichen Sachbeschädigungen. 74 3. Gewaltbereiter Linksextremismus 3.1 Autonome Auch im Jahr 2000 ist die Zahl der linksextremistischen Autonomen in BadenWürttemberg im Wesentlichen unverändert geblieben. Die etwa 670 dieser Szene zuzuordnenden Personen und ihr wesentlich größeres mobilisierbares Umfeld sind weiterhin hauptsächlich auf die Schwerpunkte Heidelberg, Karlsruhe, Mannheim, Stuttgart, Freiburg und Ulm sowie den Raum Tübingen/Reutlingen konzentriert. Die autonome Szene ist derjenige Teilbereich des Linksextremismus, der grundsätzlich gewaltgeneigt und daher sicherheitspolitisch unverändert von erheblicher Relevanz ist. Ihrem autonomen Selbstverständnis entsprechend handeln diese Militanten weitgehend unabgesprochen und unorganisiert. Diese organisatorische Schwäche und die Möglichkeiten zu ihrer Überwindung werden in der autonomen Szene bereits seit Jahren diskutiert. Die bislang einzigen überregionalen Zusammenschlüsse mit einer gewissen Bestandskraft bilden die "Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO) und das weniger bekannte "Bundesweite Antifa Treffen" (BAT). Inzwischen gibt es auch in BadenWürttemberg einen ernsthaften Ansatz zur Vernetzung. In der Szeneschrift "AARNie", Ausgabe Nr. 39 vom Oktober 2000, erschien die Selbstdarstellung eines "Antifaschistischen Aktionsbündnisses Baden-Württemberg" (AABaWü), zu dem sich insgesamt 18 verschiedene Gruppierungen bekennen, darunter das "Antifaschistische Aktionsbündnis Rhein-Neckar", die "Antifa Offenburg", das "Antifa-Plenum Reutlingen", die "Antifa Ravensburg/Antifaschistisches Aktionsbündnis Bodensee", die "Antifaschistische Aktion" aus Esslingen und Ulm bzw. Neu-Ulm oder die "Autonome Antifaschistische Aktion Stuttgart" (AAAS). Das Bündnis wird als "ein Zusammenschluss verschiedener Antifa-Gruppen mit dem Ziel einer verbindlichen und kontinuierlichen Kooperation" beschrieben. Nach den Vorstellungen der Beteiligten soll "ein möglichst dichtes Antifa-Netzwerk entstehen, das dort aktiv werden kann, wo es vor Ort keine Antifa-Gruppen, aber (organisierte) Nazis gibt". Vorgesehen ist offenbar, dass neben dem "Austausch über lokale Antifa-Aktionen 75 ... auch gemeinsame Demonstrationen, Informationsveranstaltungen, Broschüren, Seminare geplant, organisiert und durchgeführt" werden. Das "Antifaschistische Aktionsbündnis Baden-Württemberg" (AABaWü) trat bereits als verantwortlicher Unterzeichner eines Demonstrationsaufrufs zum 18. November 2000 unter dem Motto "keine ruhe den faschisten! - gegen den rep-parteitag in winnenden vorgehen" auf. Der selbstgewählte Slogan "Kein Antifaschismus ohne revolutionäre Perspektive!" verdeutlicht das Selbstverständnis der sich als "revolutionäre Antifa-Gruppen mit klar antisexistischer, antirassistischer und antikapitalistischer Ausrichtung" definierenden Mitgliedsgruppen. Auch die Aussage "Ein wirkungsvoller Antifaschismus muss sich gegen die Wurzeln des Faschismus richten, die im kapitalistischen System, sowie in gesellschaftlicher und staatlicher, rassistischer und sexistischer Unterdrückung liegen. Der Kampf gegen den Faschismus muss den Kampf gegen alle Unterdrückungsformen und den Kampf für eine klassenlose Gesellschaft bedeuten!" belegt die weitergehende Zielsetzung des "antifaschistischen Kampfes." Neben dem derzeit alles überlagernden Aktionsfeld "Antifaschismus" ist in BadenWürttemberg auch der Kampf um "Autonome Zentren" und damit die Durchsetzung "selbstbestimmter Lebensräume" als ein weiteres relevantes Thema für die autonome Szene bestehen geblieben. 3.2 Sonstige militante Linksextremisten Linksextremistischer Terrorismus spielt in Deutschland derzeit nur noch im Zusammenhang mit seiner juristischen Aufarbeitung eine Rolle. Immerhin wurde im Jahr 2000, maßgeblich initiiert von der linksextremistischen "Roten Hilfe e.V.", eine neuerliche Kampagne für die Freilassung der als "politische Gefangene" bezeichneten, noch in Haft befindlichen Angehörigen der "Roten Armee Fraktion" (RAF) gestartet. Das im September 1999 in Wien festgenommene mutmaßliche RAF-Mitglied Andrea KLUMP ist seit Januar 2000 in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim inhaftiert. Ende Juni 2000 erhob der Generalbundesanwalt Anklage beim Oberlandesgericht 76 Stuttgart wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der RAF von 1984 bis 1998 und der Beteiligung an einem versuchten Sprengstoffanschlag in Rota/Spanien 1988. Der Prozess gegen KLUMP wurde am 28. November 2000 vor dem 5. Strafsenat eröffnet. Am 11. Februar 2000 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Urteils gegen Monika HAAS, die 1998 zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Beteiligung an der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" von Mallorca nach Mogadischu durch das palästinensische "Kommando Martyr Halimeh" im Jahre 1977 verurteilt worden war. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Wiederholt durchgeführte polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen und Festnahmen mutmaßlicher Mitglieder der "Revolutionären Zellen" (RZ) waren für die linksextreme Szene Anlass, erstmals seit Jahren wieder "die Bedingungen und Praxis linksradikaler Politik" im Zuge eines Rückblicks auf die Geschichte der RZ zu diskutieren. Ausgelöst worden waren die Festnahmeund Durchsuchungsaktionen im Dezember 1999 sowie im Januar, April und Mai 2000 durch die Aussagen des Ende November 1999 in Berlin festgenommenen 41jährigen mutmaßlichen RZ-Aktivisten Tarek MOUSLI, der sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hatte. Am 17. Oktober 2000 begann auch der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen RZAngehörigen Hans Joachim KLEIN und Rudolf SCHINDLER vor dem Landgericht in Frankfurt am Main. Beide sind wegen der mutmaßlichen Beteiligung an dem Überfall auf die OPEC-Konferenz am 21. Dezember 1975 in Wien angeklagt. KLEIN wurde am 15. Februar 2001 zu neun Jahren Haft verurteilt, SCHINDLER mangels Beweisen freigesprochen. Die "Revolutionären Zellen" (RZ) sollen seit 1973 insgesamt mindestens 186 Brand-, Sprengstoffund sonstige Anschläge verübt haben, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kamen. Das schon seit Jahren in Befürworter und Gegner des früheren RAF-Kurses zerfallene Lager des "antiimperialistisch" ausgerichteten, früheren Umfelds der heute aufgelösten RAF beteiligte sich auch in Baden-Württemberg an der Kampagne "Freiheit für Mumia ABU-JAMAL", am inzwischen alljährlich stattfindenden bundesweiten Aktionstag am 77 18. März "Freiheit für alle politischen Gefangenen", aber auch an Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus. 4. Parteien und sonstige Organisationen 4.1 "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Gründung: 1989/1990 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 420 Baden-Württemberg (1999: ca. 380) ca. 88.600 Bund (1999: ca. 94.000) Publikationen: "Disput" "PDS-Pressedienst" "PDS Landesinfo Baden-Württemberg" Die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) hat im zurückliegenden Jahr turbulente Zeiten erlebt. Auf ihrer 3. Tagung des 6. Parteitages in Münster vom 7. bis 9. April 2000 - dem ersten in einem westdeutschen Bundesland - erlitt die Parteiführung eine überraschende Niederlage, indem ihr friedenspolitischer Leitantrag, UN-Militäreinsätze von Fall zu Fall zu prüfen, abgelehnt und statt dessen ein Alternativantrag angenommen wurde, der jeglichen Militäreinsätzen mit UN-Mandat seine Zustimmung verweigerte. Die Abstimmungsniederlage des Vorstands offenbarte eine Fehleinschätzung der politischen Stimmung und Befindlichkeiten innerhalb der PDS. Zusätzlich kündigte Lothar BISKY seinen Rückzug vom Parteivorsitz an. Auch Gregor GYSI gab bekannt, nicht erneut für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. Der Parteitag hinterließ nach außen den Eindruck eines Verlustes von Politikund Reformfähigkeit und vermittelte insgesamt das Bild einer tiefen Krise der Partei. Die daraufhin notwendige Neuwahl der Parteispitze war die zentrale Aufgabe der 1. Tagung des 7. Parteitages in Cottbus am 14./15. Oktober 2000. Für den Vorstand hatte auch ein enger Mitarbeiter des baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten Winfried WOLF kandidiert, wenn auch erfolglos. Erneut vertagt wurde - wie schon in Münster - die Programmdebatte. Die Wahl von Sarah WAGENKNECHT auf dem Cottbuser Parteitag als Vertreterin der "Kommunistischen 78 Plattform" in den neuen Parteivorstand zeigt, dass weiterhin von einer Distanzierung der PDS gegenüber ihren offen extremistischen Strömungen nicht die Rede sein kann. Die personelle Zusammensetzung der neuen Parteiführung wie auch der verabschiedete Leitantrag "Den Politikwechsel nachholen! Deutschland braucht mehr sozialistische Politik! Die PDS und die Wahlen 2002" bestätigen allerdings die Fortsetzung des reformpolitischen Kurses sowie die Orientierung hin auf eine "MitteLinks-Option". Auch wenn der Cottbuser Parteitag ohne größere innerparteiliche Kontroversen absolviert wurde, sind die unterschiedlichen politischen Ansätze in der Partei, die in einer Bandbreite linksextremistischer Schattierungen von orthodoxmarxistisch bis reformorientiert rangieren, keineswegs ausdiskutiert. Gerade wegen dieser differierenden Politikauffassungen steht mit der Einigung auf ein neues, von allen mitgetragenes Parteiprogramm die eigentliche "Nagelprobe" für die Partei noch aus. Von der neuen Parteivorsitzenden Gabriele ZIMMER erhofft sich gerade der linke Flügel der PDS eine innerparteilich stärker integrierende Politik. Auf der "Regionalkonferenz Süd" am 24. September 2000 in Mannheim bezeichnete Frau ZIMMER, den der PDS nahestehenden "Kommunalen Berichten" zufolge, vor Vertretern der fünf PDSLandesverbände Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland es als Aufgabe, "zwischen systemkritischer Opposition und Reformansätzen eine Brücke zu schlagen, sich nicht im Kapitalismus einzurichten, sondern Gegenkonzepte zu entwickeln, gemeinsam mit den Betroffenen gegen die Profitdominanz zu kämpfen. Die Zukunft der BRD sei offen, es müsse nicht, aber es könne zur Apokalypse kommen. Auch der Turbokapitalismus werde eines Tages verschwinden. Die Visionen von der sozialistischen Gesellschaft müssten aufrechterhalten werden und nicht nur in Regierungsbeteiligung könne man die Gesellschaft verändern." Solche Äußerungen zeigen, dass Regierungsbeteiligung und Systemopposition von der PDS als zwei Seiten derselben Medaille - nämlich des Ziels der Systemveränderung - betrachtet werden, dass ein Hinarbeiten auf eine Partnerschaft mit der SPD nicht gleichzusetzen ist mit der Wandlung zu einer staatstragenden demokratischen Partei. Eine Regierungsbeteiligung bedeutet lediglich die Chance, über die Erlangung von politischer Macht und Einfluss das eigentliche Ziel anzusteuern. 79 Auf der Mannheimer Regionalkonferenz kam es außerdem zu Auseinandersetzungen mit dem baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten WOLF. Dieser hatte in einem Änderungsantrag den Leitantrag zum Cottbuser Parteitag eingehend kritisiert und dessen Verfassern (BARTSCH, ZIMMER und CLAUS) vorgeworfen, ihr Leitantrag enthalte Versatzstücke einer Gesellschaftssicht und Kapitalismuskritik, wie sie auch von Rechtsextremisten verwandt und die als "völkischer Antikapitalismus" bezeichnet würden. Ähnliche Kritik formulierte auch ein Antrag der "Kommunistischen Plattform" Baden-Württemberg. Bezeichnenderweise wurde auf dieser Regionalkonferenz dem genannten Bericht zufolge auch Kritik an Passagen des Leitantrags geübt, die sich gegen die "Sektierer" in der Partei wenden. Die offenkundigen Dissonanzen auf dieser Regionalkonferenz zwischen der Bundesvorsitzenden und führenden Kräften der PDS aus Baden-Württemberg, namentlich WOLF, dessen öffentliche Kontroversen mit der Parteispitze auch in einschlägigen linksextremistischen Presseorganen nachzulesen sind, bestätigen erneut den oppositionellen Kurs des Landesverbands gegenüber der Bundespartei. Neben der Dominanz der "BWK/VSP-Fraktion"20 im Landesvorstand belegt gerade die Wiederbelebung einer "Kommunistischen Plattform" nicht nur die vorherrschende fundamentaloppositionelle Richtung in der PDS Baden-Württembergs, sondern zugleich auch die Intention, diese Strömung institutionell zu verankern. In einer "Politischen Erklärung" vom 16. Juli 2000 kündigte die "Kommunistische Plattform" an, sich in die anstehende Programmdebatte der Partei und die damit zusammenhängenden strategischen Fragen sowie in die Diskussion um den Sozialismus-Begriff der PDS einmischen zu wollen. So müsse es darum gehen, dass eine der Kernaussagen des derzeit gültigen Parteiprogramms ("Sozialismus ist für uns notwendiges Ziel") erhalten bleibe. Dabei sei es nicht ausreichend, den Sozialismus lediglich "als Wertesystem oder als politisch-geistige Strömung zu betrachten". Entscheidend ist für die "Kommunistische Plattform" vielmehr "die Überwindung der kapitalistischen Vergesellschaftung des Menschen im ganzen unter der abstrakten durch die kapitalistische Produktionsweise bestimmten strukturellen Herrschaft". Ausdrücklich positiv hingegen bezieht sie sich "auf die Teilung Deutschlands durch die Existenz der DDR und die Beharrlichkeit ihrer Staatsführung." In diesem Zusammenhang heißt es weiter: "Dies ermöglichte über 20 Diese setzt sich aus ehemaligen Mitgliedern des früheren "Bundes Westdeutscher Kommunisten" (BWK) und der "Vereinigung für Sozialistische Politik" (VSP) zusammen. 80 Jahrzehnte hinweg die Domestizierung des deutschen Imperialismus und versperrte ihm in seinem Expansionsdrang den Weg nach Osteuropa." Des Weiteren wird ausdrücklich die auf dem Münsteraner Parteitag durchgesetzte generelle Ablehnung von UNKampfeinsätzen begrüßt. Abgelehnt wird hingegen eine Legitimierung oder Duldung von Regierungspolitik oder gar eine Beteiligung der PDS an der Macht. Abschließend heißt es in der Erklärung: "Auf gar keinen Fall sollte man sich der Illusion hingeben, durch Reformen könnten, sozusagen Schritt für Schritt, die Strukturen verändert und schließlich radikal in eine sozialistische Gesellschaft transformiert werden. Das kann nur die Revolution leisten - die Umwandlung von Produktionsbedingungen und Produktionsweise". Mit WOLF als Bundestagsabgeordneten, Mitglied des Landesvorstands und des "Marxistischen Forums" agiert in Baden-Württemberg einer der profiliertesten Vertreter der als "Sektierer" apostrophierten fundamentaloppositionellen Strömung in der Partei. Auf dem Cottbuser Parteitag hatte WOLF bezeichnenderweise die Resolution "Die PDS und der Antifaschismus" kritisiert und gefordert, dass die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) und autonome Antifa-Gruppen ausdrücklich als erwünschte Bündnispartner der PDS im "antifaschistischen Kampf" Erwähnung finden. Dass die baden-württembergische PDS keine Berührungsängste gegenüber militanten Autonomen hat, zeigt die Unterstützung der Forderung Heidelberger Autonomer nach einem neuen "Autonomen Zentrum" (AZ). So zählte die PDS Heidelberg neben zahlreichen weiteren linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen zu den Unterstützern des Aufrufs für eine Demonstration "Ein Jahr Räumung des Autonomen Zentrums Heidelberg: Der Kampf geht weiter! Für eine starke Linke!" am 12. Februar 2000 in Heidelberg. Noch darüber hinausgehend verteidigte die PDS - u.a. mit einem eigenen Flugblatt - die als gewaltbereit hinreichend bekannte autonome Szene in ihrem Kampf um ein neues AZ als harmlose Jugendliche. Zusammen mit der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP), der VVN-BdA und weiteren linksextremistischen bzw. linksextremistisch beeinflussten Organisationen rief die PDS im Februar zu einer Protestaktion in Freiburg zugunsten des in den USA zum 81 Tode verurteilten farbigen Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL auf. In Zusammenarbeit mit der örtlichen VVN-BdA hielt WOLF in Weingarten/Krs. Ravensburg einen Vortrag zum Thema "Kosovo-Krieg - ein Jahr danach", indem er laut Vorankündigung darlegte, dass dieser Krieg nicht aus humanitären Gründen, sondern aus strategischen Interessen und im Dienste des "militärisch-industriellen Komplexes" geführt worden sei. Insbesondere im Rahmen des Kampfes gegen "Rassismus" und "Neofaschismus" beteiligte sich die PDS an Veranstaltungen und Demonstrationsaufrufen, so z.B. an dem Aufruf zum "Aktionstag gegen Naziterror und Rassismus" am 12. August 2000 in Karlsruhe, gemeinsam mit u. a. dem "Antifaschistischen Aktionsbündnis Rhein-Neckar", der "Roten Antifa Karlsruhe", der "Roten Hilfe e. V.", der "Sozialistischen Linken" und der VVN-BdA. Die Zusammensetzung der ca. 420 Mitglieder des PDS-Landesverbands BadenWürttemberg spiegelte auch im Jahr 2000 die verschiedenen politischen Strömungen in der PDS wider: die inzwischen weitgehend politisch unterlegene "reformorientierte" Richtung und die - oben bereits erwähnten - "fundamentaloppositionell" ausgerichteten Kräfte aus dem ehemaligen BWK und der VSP. Die Mitgliedschaft der PDS ist in örtlichen Basisorganisationen (BO), verschiedenen Arbeitsgemeinschaften (AG) und Hochschulgruppen (HSG) organisiert. Die beiden letztgenannten verfügen jedoch nicht über ein größeres personelles Reservoir und werden deshalb oft in Personalunion von PDS-Funktionären anderer Organisationseinheiten geführt. Die "AG Junge GenossInnen" innerhalb des PDS-Landesverbands bestand ungeachtet der Gründung des PDS-nahen Jugendverbands "solid" fort. Als bisher einzige Basisorganisation hat sich Ende des Jahres die BO Stuttgart - eine der größten Organisationseinheiten - in einen Kreisverband umgewandelt. Es kann davon ausgegangen werden, dass einige der mitgliederstärkeren Basisorganisationen bei einem weiteren Mitgliederzuwachs in nächster Zeit diesem Beispiel folgen werden. Trotz des für ihre Verhältnisse durchaus erfolgreichen Kommunalwahlkampfes von 1999 beschloss die PDS auf ihrer Landesmitgliederversammlung am 22. Juli 2000, auf eine 82 Teilnahme an der Landtagswahl am 25. März 2001 zu verzichten. Nicht nur die 5%-Hürde, die eine Mobilisierung der Wähler erschwert, sondern auch die nach wie vor fehlenden personellen Ressourcen wurden vor dem Hintergrund der hohen Anforderungen des baden-württembergischen Wahlrechts als Begründung für diese Entscheidung angeführt. Die Partei beschloss dennoch, sich an dem Wahlkampf zu beteiligen und die Chance zu verstärkter Öffentlichkeitsarbeit und einer stärkeren politischen Profilierung im Land zu nutzen. Damit soll die quantitative und qualitative Entwicklung der PDS im Land, ausgehend von der kommunalpolitischen Ebene, weiter vorangetrieben werden. Die Werbung neuer Mitglieder mit der Perspektive, eine flächendeckende Präsenz in Baden-Württemberg zu erreichen, die Verknüpfung landespolitischer Themen mit der kommunalpolitischen Arbeit sowie die Verstärkung des eigenen Engagements in sozialpolitischen Initiativen wurden als Schwerpunkte der künftigen politischen Arbeit festgelegt. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: unter 500 Baden-Württemberg (1999: ca. 500) über 4.500 Bund (1999: über 5.000) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) bekennt sich in ihrem Statut zum Kommunismus als Gesellschaftsordnung. Auf dem Weg dorthin sei der Sozialismus "die historische Übergangsperiode zur neuen Gesellschaft". Die DKP bezeichnet sich als "marxistische Partei mit revolutionärer Zielsetzung" und beruft sich auf die "Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx, Engels und Lenin". Das Jahr 2000 war für die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) ein weiteres Jahr der Ernüchterung. Der 15. Parteitag vom 2. bis 4. Juni 2000 in Duisburg verlief wie gewöhnlich unspektakulär, insbesondere war in der Programmdiskussion wiederum kein Fortschritt zu verzeichnen. Der verabschiedete Leitantrag "DKP - Partei der Arbeiterklasse - Ihr politischer Platz heute" wurde von Nina HAGER, Stellvertreterin des 83 wiedergewählten Bundesvorsitzenden Heinz STEHR, immerhin als Baustein für ein neues Programm bewertet. Eingeräumt werden musste ein deutlicher Rückgang der Mitgliederzahlen seit dem 14. Parteitag von 1998. Hauptanliegen der DKP ist daher unverändert die Gewinnung neuer Mitglieder, nicht nur, um den Bestand der Partei, sondern gleichzeitig auch die Fortexistenz ihres Presseorgans "Unsere Zeit" (UZ) zu sichern. Für wichtig erachtet wird darüber hinaus eine qualitative Verbesserung der Inhalte des Parteiorgans. Die mit dem Mitgliederrückgang verbundene schwindende Finanzkraft der DKP macht die Werbung neuer Mitglieder und UZ-Abonnenten mehr denn je zu einer "Kernfrage" des "Überlebens" der Partei. Auf dem Duisburger Parteitag schlug der Parteivorstand daher den Start einer neuerlichen Werbekampagne für die UZ vor, die sich über den Zeitraum vom 1. September 2000 ("Antikriegstag") bis zum 12. UZ-Pressefest im Sommer 2001 erstrecken soll. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des direkten Konkurrenzverhältnisses zur PDS muss der DKP an der Herausarbeitung eines klaren Eigenprofils als kommunistische Partei gelegen sein, die sich unverändert als "Partei der Arbeiterklasse" definiert und sich dazu bekennt, die kapitalistische Gesellschaftsordnung überwinden21 zu wollen. Zu der Perspektive, die DKP "als handlungsfähige marxistische Partei der Arbeiterklasse [zu] entwickeln und [zu] stärken" zählt nicht minder, die verloren gegangene Kampagnenfähigkeit der in den letzten zehn Jahren stark geschwächten Partei schrittweise zurückzugewinnen. Örtliche Schwerpunkte der DKP in Baden-Württemberg sind die Städte Heidenheim (hier hat sie einen Sitz im Stadtrat inne), Stuttgart, Tübingen (Mandat eines DKPMitglieds im Kreistag), Mannheim und Karlsruhe. Die DKP-Jugendorganisation "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) veranstaltete traditionell vom 9. bis 12. Juni 2000 ihr alljährliches Pfingstcamp, diesmal in Ahaus. Auf sich aufmerksam machte die SDAJ-Gruppe Karlsruhe auf dem Gladbecker Bundeskongress der SDAJ am 29./30. Januar 2000, indem sie laut einem 21 15. Parteitag der DKP, 2.-4. Juni 2000, Rheinhausenhalle. Heft 3/1: Berichte - Handlungsorientierung, S. 33. 84 Bericht der UZ mit einem Antrag eine Rundumkritik an der Organisation und besonders am Vorstand formulierte und sich damit die Sympathien der Tagungsteilnehmer verscherzte. Aufgrund dieses Eklats wurden offenbar zwei der Karlsruher Antragsteller nicht in den neuen Bundesvorstand gewählt. Die "Roten Peperoni", die Kinderorganisation der DKP, veranstalteten im Sommer ihr traditionelles Ferienlager. Erstmals seit langen Jahren sollen dabei wegen des angeblich besonders großen Zuspruchs zwei Kinderlager (in Mamming an der Isar und in Rombach le France) durchgeführt worden sein. 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 1.500 Baden-Württemberg (1999: ca. 1.600) ca. 5.000 Bund (1999: ca. 6.200) Publikationen: "Antifa Nachrichten" (Baden-Württemberg) "antifa-rundschau" (Bund) Aktives "antifaschistisches" Engagement - freilich auch im teilweise engen Verbund mit Linksextremisten - und das intensive Bemühen, weitere Mitglieder und Bündnispartner aus dem demokratischen Bereich zu gewinnen, stehen unverändert im Mittelpunkt der politischen Arbeit der VVN-BdA. Dies unterstrich auch das Motto "Zukunft Antifaschismus: Frieden! Soziale Gerechtigkeit! Solidarität" der Landesdelegiertenkonferenz in Mannheim am 26./27. Februar 2000. Dennoch war auch auf dieser Konferenz der Kurs der Organisation nicht unumstritten. Zu - wie die VVNBdA selbst berichtet - "heftigen Auseinandersetzungen" führte der schließlich mehrheitlich angenommene Leitantrag, dem zufolge es vorrangige Aufgabe der VVNBdA in den kommenden zwei Jahren sei, "die Friedensbewegung zu stärken"22. Abgeleitet aus dem für die Organisation bis heute richtungweisenden "Schwur von Buchenwald" und dessen Leitspruch "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" zeigt dies das Bestreben der VVN-BdA, neben dem Engagement gegen den "Faschismus" 22 "Antifa Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2000, S. 6/7 u. ebd., Anlage, S.1. 85 mit dem Kampf gegen den Krieg und eine vermeintlich zunehmende Militarisierung der Gesellschaft einen weiteren Schwerpunkt in ihrer politischen Agitation aufzubauen, der freilich mit ihrem "Antifaschismus" in untrennbarem Zusammenhang steht. Die Forderung nach "Nie wieder Krieg" als dem "antifaschistischen Erbe" aus der deutschen Vergangenheit soll ausdrücklich mit der Aufarbeitung des NATO-Angriffs auf Jugoslawien einhergehen. Die in diesem Zusammenhang gleichzeitig erhobene Forderung nach einer Beendigung des Tschetschenien-Krieges enthält allerdings bemerkenswerter Weise keineswegs eine Kritik an Russland: So radikal, wie die NATO im Kosovokrieg vorgegangen sei, so radikal handle auch das russische Militär - wobei jedoch folgender Unterschied bestehe: "Während die NATO gründlich mit der jugoslawischen Souveränität im Kosovo aufräumte, versucht Russland seine Souveränität in Tschetschenien zu wahren". In der Interpretation der VVN-BdA handelt Russland quasi in einer Notwehrsituation gegenüber der Politik der NATO. War der "lange geschürte albanische Separatismus" der Anlass zur Einmischung der NATO und "Vorwand" für ihren Krieg, so hätte auch der Tschetschenienkrieg einen ständigen Unruheherd und damit "Angst" in Russland auslösen sollen, um der NATO auch hier einen "ständig[en] latenten Grund zu Einmischung bis hin zu militärischer Intervention zu liefern". Der Krieg in Tschetschenien liege also in der Logik der NATO-Strategie: "Wo diese für sich in Anspruch nimmt, die Probleme der Welt mit unerbetenen militärischen Interventionen zu lösen, müssen sich die anderen beeilen, dieser 'Lösung' durch die selbe Methode zuvorzukommen: Krieg"23. Vor dem Hintergrund schwindender Mitgliederzahlen nutzt die VVN-BdA ihr weiter intensiviertes "antifaschistisches" Engagement neben bündnistaktischen Erwägungen zugleich für verstärkte Nachwuchswerbung. Dass sich an der mangelnden Abgrenzung der VVN-BdA gegenüber Linksextremisten im Grundsatz wenig geändert hat, zeigt das Beispiel der Ulmer Demonstration und Kundgebung "Gegen Rassismus und Faschismus" am 11. November 2000. An dieser Aktion nahm die VVN-BdA neben nahezu ausschließlich linksextremistischen Organisationen teil, darunter die "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm", das "Antifaschistische Aktionsbündnis Bodensee-Unterallgäu", die "Marxistisch-Leninistische 23 "Antifa Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2000, S. 7. 86 Partei Deutschlands" (MLPD) und deren Nebenorganisation "Solidarität International" (SI) oder die "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V" (ATIF)24. Die Teilnahme der VVN-BdA ist umso bemerkenswerter, als sich, Presseberichten zufolge, die demokratischen Parteien wegen der Beteiligung von Linksextremisten bereits im Vorfeld von der Demonstration zurückgezogen hatten. Die eindeutig linksextremistische Ausrichtung dieser Demonstration manifestierte sich im Übrigen nicht nur in Redebeiträgen, sondern auch in skandierten Parolen wie "Hinter dem Faschismus steht das Kapital". Als Teilnehmer ihrer "landesweiten antifaschistischen Konferenz" in Stuttgart am 29. Januar 2000 erwähnte die VVN-BdA ausdrücklich auch Beteiligte aus dem autonomen Spektrum, namentlich die linksextremistische Stuttgarter Gruppe "AQuadrat". Auch die kontinuierlichen Aktivitäten der bis Februar 2000 amtierenden Landesvorsitzenden der VVN-BdA in der linksextremistischen Szene in Karlsruhe sprechen für sich. In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Messerattacke eines Rechtsextremisten auf einen Angehörigen der linken Szene in Karlsruhe am Rande der Selbstpräsentation der "Roten Antifa Karlsruhe" (RAK) auf dem Karlsruher Kronenplatz am 6. Mai 2000 zeichnete sie u.a. für eine Presseerklärung dieser Anfang 2000 gegründeten linksextremistischen Gruppierung verantwortlich. Diese punktuell immer wieder erkennbare Unterstützung linksextremistischer Gruppierungen geht parallel mit dem Engagement für weitere "klassische" Themenbereiche des deutschen Linksextremismus. So berichteten die "Antifa Nachrichten" über eine von der VVN-BdA auf ihrem ersten "antifaschistischen Jugendkongreß" Ende Oktober 1999 verabschiedete Resolution für "die Freiheit aller politischer Gefangenen"25. Ausdrücklich bekundet die VVN-BdA auch ihre Solidarität mit Mumia ABU-JAMAL. Bei der drohenden Vollstreckung des Todesurteils gehe es nicht um Gerechtigkeit, sondern vor allem um "die Durchsetzung des rassistischen Prinzips der Herrschaftssicherung" in Amerika. Nach eigener Aussage hat die Landesvereinigung Baden-Württemberg ABU-JAMAL nicht nur deshalb zu ihrem Ehrenmitglied ernannt, um damit zu würdigen, dass er "zum Opfer und Verfolgten eines 24 Vgl. Teil E, Kap. 3.1.2. 25 "Antifa Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2000, S. 10, Hervorhebung im Original. 87 rassistischen Systems" geworden sei, sondern "vor allem" auch deshalb, weil er "von Anfang an ein Kämpfer gegen dieses System war und es bis heute geblieben ist"26. 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 700 Baden-Württemberg (1999: ca. 700) unter 2.000 Bund (1999: ca. 2.000) Publikationen: "Rote Fahne" (RF) "Lernen und Kämpfen" (LuK) "Rebell" Als einziger linksextremistischer Partei gelang es der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD), ein neues Parteiprogramm zu verabschieden. Es wurde auf einer Großveranstaltung in Berlin am 8. Januar 2000 vorgestellt. Die MLPD versuchte, die "Spendenaffäre" der CDU für den Aufund Ausbau einer "kämpferischen Opposition" zu nutzen. Die heftigen innerparteilichen Kontroversen auf dem Münsteraner Parteitag der PDS ließ die MLPD zudem hoffen, von der angenommenen Krise dieser Partei profitieren zu können. Die vom Cottbuser Parteitag gesetzten Signale in Richtung Zusammenarbeit mit der SPD interpretierte die MLPD dann als Zeichen für den Weg der PDS zu einer "staatstragenden Monopolpartei". So, wie sie eine Regierungsbeteiligung der PDS - wie zunächst auf Landesebene in Mecklenburg-Vorpommern - und das damit verbundene Mittragen der "offen volksfeindlichen Politik" verurteilte, blieb sie ihrerseits bei der Überzeugung, dass "diese Bundesrepublik ... ein hochorganisiertes, staatsmonopolistisches Land" sei, dessen Eigentumsund Machtverhältnisse sich nicht durch "Anbiederung" an das System, sondern "nur durch einen revolutionären Umsturz grundlegend 'umgestalten'" ließen.27 In Baden-Württemberg verfügt die MLPD über ein gefestigtes Kadergerüst. Hierunter fällt auch die zentral gesteuerte Arbeit der Betriebsgruppen der MLPD. Diese traten insbesondere im Großraum Stuttgart mit verstärkten Aktivitäten, u.a. durch Verteilen 26 "Antifa Nachrichten" Nr. 1 vom Januar 2000, S. 13. 27 "Rote Fahne" Nr. 42/2000, S. 13. 88 von Publikationen vor den Werkstoren der Betriebe und in Fußgängerzonen, auf. Eine bis zum Herbst 2000 befristete "Spendenkampagne zur Stärkung der sozialistischen Alternative" ergab nach einer Aufstellung im Parteiorgan "Rote Fahne" angeblich einen Gesamtbetrag von über 800.000 DM. Der Erlös soll u. a. dem Ausbau von Arbeiterbildungszentren, darunter auch dem Ende 1999 erworbenen Stuttgarter Haus zugute kommen. Hier finden bereits seit Anfang 2000 Bildungsund Schulungsveranstaltungen statt. Auch die MLPD beteiligte sich verstärkt am Kampf gegen "neofaschistische" Tendenzen. So waren ihr Jugendverband "Rebell" und die Vorfeldorganisation "Solidarität International" (SI) neben weiteren linksextremistischen bzw. linksextremistisch beeinflussten Gruppierungen im September Mitveranstalter einer "Antifaschistischen Aktionswoche" in Esslingen. SI engagierte sich darüber hinaus im Laufe des Jahres 2000 für die Gründung eines lange angekündigten "Internationalen Kampfbundes". Wieder verstärkt öffentlich in Erscheinung getreten ist im zurückliegenden Jahr der MLPD-beinflusste Frauenverband "Courage", insbesondere anlässlich des Internationalen Frauentags. 4.5 "Rote Hilfe e. V." (RH) Gründung: 1974 Sitz: Kiel Mitglieder: ca. 260 Baden-Württemberg (1999: ca. 200) ca. 4.000 Bund (1999: ca. 3.500) Die "Rote Hilfe e.V." gehört weiterhin zu den - wenigen - linksextremistischen Organisationen, die Zulauf haben. Der Mitgliederbestand hat sich bundesweit um knapp 15 Prozent auf rund 4.000 Personen erhöht. In Baden-Württemberg, wo es Ortsgruppen in Heidelberg, Heilbronn und Karlsruhe gibt, muss von einem Anstieg um sogar 30 Prozent ausgegangen werden. 89 Als Hilfsorganisation für "politisch Verfolgte" aus dem "linken" Spektrum war sie zugleich eine der aktivsten unter den linksextremistischen Organisationen. Die "Rote Hilfe e.V." trat im Jahr 2000 in Zusammenhang mit der Mumia-ABU-JAMAL-Kampagne sowie als Mitorganisator des bundesweiten Aktionstages "18.3. Freiheit für alle politischen Gefangenen weltweit" in Erscheinung. Im Rahmen ihrer längerfristig vorbereiteten Freilassungsinitiative für die noch inhaftierten RAF-Mitglieder legte sie eine "Dokumentation" vor mit dem Titel "Freilassung für die politischen Gefangenen aus der RAF", die von der "Bundesarbeitsgruppe der Roten Hilfe e.V. für die Freilassung der Gefangenen aus der RAF" erstellt worden war. Die professionell gestaltete Broschüre umfasst 68 Seiten - neben Porträts der Inhaftierten werden die politischen und juristischen Aspekte der angestrebten Freilassung dargelegt. Weitere Teile befassen sich mit der angeblichen "Vernichtungshaft", mit "Gedanken zur Haftsituation" und der "Geschichte" der RAF. In ihrem Vorwort erläutern die Verfasser unter anderem ihr zentrales Anliegen, bei dem es darum gehe, "dass wir Öffentlichkeit herstellen, dass wir sie [d.h. die Inhaftierten] wieder ins Bewusstsein vieler Menschen bringen, dass wir für ihre Freilassung etwas tun". Sie geben allerdings indirekt zu erkennen, dass sie vor dem Hintergrund der derzeitigen Schwäche der deutschen "Linken" nicht mit allzu viel Resonanz rechnen. 4.6 Sonstige Organisationen Im Jahr 2000 sind unter den kleineren linksextremistischen Organisationen lediglich einige trotzkistische Gruppierungen wieder deutlicher in Erscheinung getreten. Auffällig war das forcierte Auftreten von "Linksruck", mit örtlichem Schwerpunkt in Freiburg. Nicht nur auf dem Feld des "Antifaschismus", sondern auch im Kreis linksextremistischer Gegner der CASTOR-Transporte ist die Organisation offenkundig bestrebt, Einfluss zu gewinnen. Im Rahmen des allgemein erhöhten Engagements von Linksextremisten im Zeichen des "antifaschistischen Kampfes" konnten verschiedentlich Aktivitäten der "Sozialistischen Alternative Voran" (SAV) festgestellt werden, so beispielsweise in Stuttgart oder Freiburg. 90 Der "Revolutionär-Sozialistische Bund/IV. Internationale" (RSB) kandidierte im Wahlkreis 35 (Mannheim-Nord) für den Landtag. 5. Aktionsfelder 5.1 "Antifaschismus" Der "antifaschistische Kampf" hat seit der zweiten Jahreshälfte 2000 naturgemäß auch im gesamten linksextremistischen Lager besondere Bedeutung erlangt. Linksextremisten sehen sich durch die verstärkte öffentliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in ihrem Tun bestätigt und bestärkt. So werden nach Kräften Aufrufe unterstützt zum "Zusammenstehen gegen rechts" und dabei Bündnisse mit einer breiten Palette an politisch-gesellschaftlichen Kräften angestrebt. Strategisch geht es dabei darum, langfristig Partner im "antifaschistischen Kampf" nach ihrem Verständnis zu gewinnen und gezielte "antifaschistische" Bewusstseinsbildung zu betreiben. Starke Vorbehalte gibt es allerdings hinsichtlich der Beteiligung an staatlichen Initiativen gegen "rechts". Mit dem Staat als dem eigentlichen politischen Gegner bei dem Vorgehen gegen Rechtsextremismus "gemeinsame Sache" zu machen, stößt bei vielen Linksextremisten auf Ablehnung. Zentrale Forderungen von Linksextremisten sind die Aufhebung der "reaktionären Ausländergesetze", uneingeschränktes Asylrecht, das Verbot aller "faschistischen" Parteien und Organisationen sowie eine Beendigung der angeblichen "Kriminalisierung" von "AntifaschistInnen". Spätestens seit der Ankündigung der Bundesregierung, für die Bekämpfung des Rechtsextremismus verstärkt auch finanzielle Hilfe in Aussicht zu stellen, wurde die Forderung nach einem Ende der "Diskriminierung" von "Antifaschisten" offensiv umgewandelt in die Forderung nach einer Anerkennung, Förderung und finanziellen Unterstützung derjenigen Gruppen und Organisationen, die bereits seit Jahren auf dem Gebiet des "Antifaschismus" tätig seien - auch dann, wenn sie systemkritisch eingestellt seien. In den vordersten Reihen befinden sich hier insbesondere die VVN-BdA, aber auch die DKP und die PDS. Zu dem Vorgehen gegen "Faschisten" gehört nach autonomem Selbstverständnis auch die Anwendung von Gewalt. Das gewaltsame Vorgehen nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Personen - letzteres ist in der autonomen Szene ansonsten eher 91 umstritten - wird im "antifaschistischen Kampf" als unverzichtbar angesehen. Selbst die Tötung von "Faschisten" wird zumindest billigend in Kauf genommen, sogar vorsätzlicher Mord wird offen diskutiert: "Politischer Mord ist und sollte das letzte und unausweichliche Mittel sein, um weitere Verbrechen zu verhindern, um weiteres Menschenleben zu retten.... Schüsse auf Nazis sind auch schon mal diskutiert worden, aber dann abgelehnt worden, weil die Meinung sich durchsetzte, dass wir derzeit nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse vorfinden, in denen politischer Mord gerechtfertigt und notwendig wäre.... Nazis zu töten ist (derzeit) nicht unser politisches Ziel, auch wenn wir nicht 100% ausschließen können, dass es bei Auseinandersetzungen mit Nazis evtl. auch dazu kommen kann, auch wenn das ausdrücklich nicht gewollt ist"28. Für andere steht fest: "dieser staat ist faschistisch. Deshalb auch unsere Meinung, in bestimmten fällen körperverletzung oder das töten von einem faschistischen funktionsträger des staates als legitim anzusehen"29. Der linksextremistische "Antifaschismus" richtet sich dabei aber nicht nur gegen das Auftreten von Skinheads oder Neonazis auf der Straße, sondern auch gegen ihre Trefflokale, Schulungszentren ("faschistische Zentren"), unverändert gegen Burschenschaften als vermeintliche "rechte Kaderschmieden", verstärkt gegen die "Logistik" von Rechtsextremisten. Hierzu zählen beispielsweise Brandanschläge auf Reisebusse von Firmen, die Rechtsextremisten befördern, mit im Ergebnis teils hohen Sachschäden. 5.2 "Widerstand" gegen die "Expo 2000" Von langer Hand vorbereitet waren Protestaktionen gegen die "Expo 2000". Aus linksextremistischer Sicht stellte die Weltausstellung in Hannover nichts anderes dar als eine "reine Huldigung an den kapitalistischen Fortschritt", während die Kehrseite dieser Medaille "komplett negiert" werde, nämlich "Armut, Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung, Rassismus, ungerechte Reichtumsverteilung weltweit - das alles hat auf 28 "Interim Sonderausgabe Runder Tisch der Militanten" Nr. 498 vom 30. März 2000. 29 Ebd. 92 der Expo keinen Platz". Diese sei vielmehr als eine "Ausstellung der Metropolstaaten ein Selbstdarstellungsversuch des geeinten, erstarkten und selbstbewussten 30 Deutschlands" . Wie hoch der Symbolwert der "Expo 2000" für die Szene war, zeigte u. a. deren ausführliche Thematisierung in einschlägigen Szeneschriften: "Interim" widmete ihr eine Sonderausgabe, zusätzlich zu einem Spezialteil in ihrer Ausgabe Nr. 503, in dem eine Liste von Firmen, die Partner der "Expo 2000" waren, und weitere Adressen und Informationen zusammengestellt waren darüber, "wer dieses widerliche Spektakel finanziert, wann was stattfindet und wo ihr weitere Infos bekommt"31. Anregungen vermitteln sollte auch ein in der Szene kursierendes "Anti-Expo-Aktionshandbuch" mit dem Titel "Stören. Blockieren. Sabotieren - ein Handbuch voller pfiffiger Ideen für die ganze Familie". An den Protest gegen die "Expo" knüpften sich ursprünglich weitreichende Hoffnungen: Nicht nur die Vorstellung, in Hannover nach dem Vorbild massenhafter, gewaltsamer Ausschreitungen gegen die WTO-Konferenz im November 1999 ein "zweites Seattle" stattfinden zu lassen und damit zu demonstrieren, dass massiver Widerstand auch in Deutschland möglich ist, sondern auch die Idee, in diesem Protest die verschiedenen Teilbereichsbewegungen zusammenzuführen. In der Rückschau musste die Szene selbst einräumen, dass diese Ziele nicht einmal in Ansätzen realisiert werden konnten. Die Mobilisierung blieb insgesamt deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Der Widerstand gegen die "Expo" beschränkte sich auf wenige spektakuläre Einzelaktionen wie kurzfristige Straßenblockaden, vor allem aber auf Farbschmierereien, nicht nur auf dem "Expo"-Gelände selbst, sondern im gesamten Bundesgebiet. Am Eröffnungstag kam es wiederholt zu Blockadeversuchen und Demonstrationen, an denen auch Aktivisten aus Baden-Württemberg teilnahmen. In nur sehr bescheidenen Ausmaßen konnte das Konzept, mittels dezentraler Gruppenaktionen im gesamten Stadtgebiet von Hannover die Eröffnung wenn schon nicht zu verhindern, so doch zumindest zu stören, in die Tat umgesetzt werden. An einer Demonstration am 27. Mai 2000 unter dem Motto "Die Beherrschung verlieren 30 "Interim" Nr. 503 vom 25. Mai 2000, S. 1. 31 Ebd., S. 12. 93 - EXPO NO!" beteiligten sich ca. 1.000 Personen. Am Tag der Eröffnung, dem 1. Juni 2000, blockierten Unbekannte die Bahnstrecken Hamburg-Hannover und Göttingen-Hannover mit brennenden Autoreifen. Die begangenen Strafund Gewalttaten zeigten insgesamt eine beachtliche Bandbreite, von einer Vielzahl an Sachbeschädigungen über Hakenkrallenanschläge, Bombendrohungen bis zu Sabotageaktionen wie das Verkleben von Fahrscheinautomaten oder von Lichtschranken für die automatisch schließenden Türen in Stadtbahnwagen, das Ziehen der Notbremse oder das Inbrandsetzen von Müllcontainern. Nach dem Höhepunkt, der "Anti-Expo-Aktionswoche" vom 27. Mai bis 4. Juni 2000, nahmen Aktivitäten wie auch die Straftaten gegen die Weltausstellung deutlich ab. 5.3 "Politische Gefangene" Bereits das fünfte Jahr in Folge rief die "Initiative Libertad" am 18. März 2000 zum bundesweiten "Aktionstag gegen staatliche Unterdrückung" auf, diesmal unter dem Motto "das Schweigen brechen, die Initiative ergreifen - für die Freiheit der politischen Gefangenen". In diesem Rahmen fand am 18. März 2000 in Stuttgart ein "Internationaler Tag der politischen Gefangenen" statt, mit einer Kundgebung auf dem Schloßplatz und einer Demonstration vor der Justizvollzugsanstalt (JVA) in StuttgartStammheim. Das allerdings in den letzten Jahren spürbar gesunkene Interesse zeigte sich auch bei den zusätzlich im Land abgehaltenen Informationsveranstaltungen zu diesem Thema. Die Besucherzahlen lagen unter den Erwartungen der Initiatoren. Trotzdem wurde im zurückliegenden Jahr ein neuer Anlauf genommen, um der Forderung nach der Freilassung der noch inhaftierten Mitglieder der "Roten Armee Fraktion" (RAF) Nachdruck zu verleihen. Teil dieser langfristig vorbereiteten, von der "Roten Hilfe e.V." betriebenen Initiative ist eine Dokumentation "Freilassung für die politischen Gefangenen aus der RAF". Im Zuge eines "Internationalen Aktionstages" am 13. Mai 2000 gegen die Hinrichtung des in den USA wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilten farbigen 94 Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL kam es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie Italien, Spanien, den USA, Malta, Frankreich und Brasilien zu Solidaritätsaktionen. In Berlin gab es bereits am 5. Februar eine bundesweite Demonstration "Für das Leben und die Freiheit von Mumia Abu-Jamal und allen politischen Gefangenen. Abschaffung der Todesstrafe", an der ca. 8.000 Personen teilnahmen. Am selben Tag fand auch in Baden-Württemberg eine zentrale Demonstration "Freiheit für Mumia ABU-JAMAL" in Freiburg statt, zu deren Organisatoren auch die trotzkistische Gruppe "Linksruck", die DKP, die VVN-BdA und die PDS gehörten. Ferner hielten "Mumia-Soli-Gruppen" im Laufe des Jahres zahlreiche Informationsstände ab, so in Mannheim, Karlsruhe oder Freiburg. 5.4 Kampf um "Autonome Zentren" Vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 2000 stand der Kampf um den Erhalt autonomer Zentren nochmals verstärkt im Vordergrund. Die schärfsten, vor allem auch gewalttätigen Reaktionen von Linksextremisten gab es erneut in Heidelberg. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Stadtverwaltung um ein Ersatzgebäude für das bereits Anfang 1999 abgerissene "Autonome Zentrum" (AZ) wurde seitens der Szene mit hohem Aufwand betrieben: Eine Sonderzeitung "RABAZ" sowie Kundgebungen und Mahnwachen sollten auf die Lage des AZ aufmerksam machen. In der Nacht vom 6. Februar 2000 kam es zur Besetzung eines leerstehenden Gebäudes der Deutschen Bahn im Bereich des ehemaligen Güterbahnhofs, an der ca. 300 Personen teilnahmen. Das Gebäude wurde von der Polizei in den Mittagsstunden des folgenden Tages ohne Zwischenfälle geräumt. Zu der Demonstration am 12. Februar 2000 ("Ein Jahr Räumung des Autonomen Zentrums - Der Kampf geht weiter") konnten ca. 1.200 Teilnehmer mobilisiert werden, darunter ein "schwarzer Block"32 mit 200-250 Personen. Nach Mitternacht "entglasten" ca. 50 Vermummte zwei Polizeifahrzeuge. Dabei wurden fünf Beamte verletzt. Im Stadtgebiet von Heidelberg wurden Molotowcocktails in Abfalleimer geworfen, die Scheiben einer Sparkasse zerstört, die Eingangstür des Heidelberger Rathauses eingeworfen und ein weiterer Molotowcocktail in den Innenraum geschleudert, der 32 Gruppe gewaltbereiter Autonomer, häufig in einheitlich schwarzer "Kampfausrüstung" und mit Sturmhauben ("Hasskappen") vermummt. 95 jedoch nicht zündete. Eine Selbstbekennung zu diesen Taten wurde seitens der Bewohner des ehemaligen AZ bewusst vermieden. Hingegen war von einem offenbar großen Sympathisantenkreis die Rede, der sich auf solche Art mit dem Schicksal der Betroffenen solidarisiere. Unbeschadet dessen, dass seitens des AZ "offiziell" Bedauern über die Verletzung der Polizeibeamten bei den nächtlichen Ausschreitungen bekundet wurde, hatte sich ein Sprecher des AZ bereits Tage vor der Demonstration vom 12. Februar 2000 in einem "Interview" in der Sonderzeitung "RABAZ" eindeutig geäußert: "Die Wut bei den AzlerInnen ist ... natürlich sehr groß und wird sich ohne Zweifel in vielfältigen Aktionen Luft machen"33. Andererseits distanzierte man sich ausdrücklich von dem Vorgefallenen und schob die Verantwortung auf die Stadt. In einer Presseerklärung zu den gewaltsamen Ausschreitungen erklärte das "Autonome Zentrum im Exil": "Es drängt sich [der] Eindruck auf, dass mit dieser anhaltenden Provokation seitens der Stadtverwaltung Gewalt geradezu heraufbeschworen werden soll. Diese dient dann als willkommener Vorwand, AzlerInnen als GewalttäterInnen darzustellen und die mehrfach gegeben[en] Versprechungen vergessen zu machen"34. 6. Nutzung moderner Informationstechnik durch Linksextremisten Die Zahl der linksextremistischen Angebote im Internet ist im Jahr 2000 deutlich gestiegen. Im Gegensatz zu rechtsextremistischen Angeboten nutzen Linksextremisten das Internet unter weitgehendem Verzicht auf optische und akustische Elemente gezielt zum Aufbau von Vernetzungsund Kommunikationsstrukturen und zur Verbreitung von Inhalten. Dabei ist es inzwischen gelungen, eine Vielzahl von informellen Netzwerken über das Internet zu gründen und vor allem über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Die bestehenden Informationskanäle und die eigenen Netz-Strukturen werden zielgerichtet zur Verarbeitung von Demonstrationsund Aktionsaufrufen sowie zur szeneninternen Kommunikation genutzt. Auch im Jahr 2000 konnten neue Projekte von linksextremistischen Gruppen, überwiegend aus dem autonomen Spektrum, im Internet festgestellt werden. 33 "RABAZ" vom 7. Februar 2000. 34 Presseerklärung vom 16. Februar 2000. 96 Der Aufbau der Internetseiten der verschiedenen linksextremistischen Gruppierungen ist bezüglich Form und Themen nahezu identisch. Die Betreiber der linksextremistischen Internetseiten agitieren überwiegend gegen den Staat und gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. Dabei dokumentieren Teile des autonomen Spektrums in Baden-Württemberg auf ihren Webseiten eine in Diktion und Formulierung unmissverständliche, kompromisslose und gewaltbejahende Haltung gegenüber dem "herrschenden System": "... Antifaschismus bedeutet für uns dabei nicht das Dreschen von hohlen Phrasen und leeres Gerede. ... Außerdem beteiligen wir uns an direkten Aktionen, Demos Blockaden, etc. Konsequenter Antifaschismus meint aber nicht nur den Kampf gegen alte und neue Nazis ... Wichtig ist es für uns gegen "das System" im Allgemeinen und gegen den sogenannten "rechten Konsens" im Speziellen zu kämpfen." (Aus der Selbstdarstellung der im Frühjahr 2000 gegründeten "Antifaschistischen Aktion Esslingen", Fehler im Original) Eine Steigerung der verbalen Aggressivität von Linksgegenüber Rechtsextremisten ist mittlerweile auch im Internet deutlich erkennbar und wird beispielhaft durch nachfolgenden Eintrag eines "Linken" in das Gästebuch einer rechtsextremistischen Seite dokumentiert: "Hey you bitches, wir haben gelernt, was ihr nie lernen werdet: ... so faschistischen pennern wie euch die kehle durchzuschneiden und oich mit den füssen nach oben am dorfplatz aufzuknüpfen und ausbluten lassen. danach weden wir oich auf einem grill drehen und wenden und genüsslich essen. braunes Fleisch aus doitschem lande .... hmm lecker. wir haben gelernt mit der ANTIFA gegen oich zu kämpfen... OI!OI!OI! SMASH THE BROWN ! ! ! ! ! ! ! !" (Fehler im Original) 97 Alle im Internet vertretenen linksextremistischen Gruppierungen nutzen das Medium zur Selbstdarstellung, zur Ankündigung von und Mobilisierung zu Veranstaltungen, zur internen Kommunikation und zur politischen Agitation. Daneben werden in Diskussionsforen aktuelle und szenetypische Themen erläutert. Darüber hinaus werden Informationen über den politischen Gegner ermittelt und verbreitet. So werden auf der Website der autonomen Gruppe "b.a.r.t." (bruhrain anarchy riot team) aus Bruchsal das Foto eines Rechtsextremisten und dessen Adresse veröffentlicht. Es gibt in der linksextremistischen Szene Überlegungen und erste Ansätze, gegen rechtsextremistische Seiten im Internet vorzugehen. Diese Überlegungen erstrecken sich keineswegs ausschließlich auf virtuelle Angriffe gegenüber rechtsextremistischen Netzstrukturen. In der autonomen Szenepublikation "Interim"35 wird dazu aufgefordert, neben Rechtsextremisten auch den Staat und seine Institutionen mit legalen und illegalen Mitteln anzugreifen: "Die alten Maxime, die Herrschenden dort zu treffen, wo es ihnen am meisten weh tut, muß in der heutigen Zeit den virtuellen Bereich mit einschließen. Denn wenn das Internet mehr und mehr zum wirtschaftlichen Medium Nr. 1 wird, wo Informationen und Wirtschaft zusammenlaufen, sollte dieser Ort auch zum Aktionsfeld radikaler Linker werden." Im Herbst 2000 konnte im Internet eine "Netz-Antifa" festgestellt werden, die dazu aufruft, gegen rechtsextremistische Seiten vorzugehen: "... Hacken wir ihre Internet-Seiten, stören ihre Kommunikation, zerschlagen ihre Netze!" Es liegen Hinweise vor, dass die "Netz-Antifa" Verbindungen in die Hackerszene hat und somit potenziell über Kenntnisse verfügt, Internetseiten zu hacken und Netzwerke anzugreifen. 35 "Interim" Nr. 512 vom 19. Oktober 2000. 98 Als erste Aktion verbreitete die "Netz-Antifa" im Internet - über Mailinglisten und ihre Homepage - Adressen von rechtsextremistischen Internetseiten sowie deren Betreiber und die jeweiligen sie beherbergenden Internet-Service Provider (ISP)36. Die Besucher der Seite bzw. die Empfänger der E-Mail werden aufgefordert, sich bei den jeweiligen ISP zu beschweren, damit diese die bei ihnen hinterlegten rechtsextremistischen Seiten aus dem Internet nehmen. Ingesamt zehn regionale Websites von Unterorganisationen der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) sowie seit Mitte des Jahres die Seite des PDSLandesverbandes Baden-Württemberg sind im Internet abrufbar. Sie bieten auch für die gesamte regionale Antifa-Szene Anlaufadressen und Veranstaltungshinweise. Außerdem werden in Baden-Württemberg Websites der "Arbeitsgemeinschaft Junger GenossInnen in und bei der PDS" (AGJG) sowie der PDS-Hochschulgruppen Heidelberg, Tübingen und Freiburg und die der regionalen Gruppen in Karlsruhe und Freiburg angeboten. Erstmalig konnten im Jahr 2000 die Website des Landesverbandes Baden-Württemberg und der "Kommunistischen Plattform" BadenWürttemberg festgestellt werden. Die Internetangebote der Projekte "PARTISAN.net" ("Projekte Archive Radikaler Theorie Info System Alternativer Nachrichten") und des überregionalen Projekts "NADIR" publizieren inzwischen eine Vielzahl von aktuellen szenespezifischen und historischen Beiträgen sowie bundesweit aktuelle Veranstaltungstermine. Beide verfügen daneben über ein umfangreiches Archiv mit Recherchemöglichkeiten. Über "Links" sind weitere bundesweite und regionale Projekte zugänglich, die überwiegend dem linksextremistischen Spektrum angehören. Darüber hinaus sind über die Domain von NADIR inzwischen mehr als 40 weitere regionale Angebote von Gruppen, Initiativen und Periodika aus dem Bundesgebiet, u.a. auch die autonome Gruppe "AQuadrat" in Stuttgart, angeschlossen. Die exklusiv im Internet über PARTISAN.net erscheinende Publikation "trend - online zeitung für die alltägliche Wut" hat sich aufgrund ihrer kontinuierlichen Aktualisierungen zur wichtigsten deutschsprachigen "linken" Publikation im Internet entwickelt. 36 Anbieter von Speicherplatz für Webseiten. 99 Auf der aus Baden-Württemberg angebotenen Homepage "Die Linke Seite", mittlerweile eine der wichtigsten Fundstellen im gesamten Bundesgebiet, findet sich ein buntes Angebot von "Links" zu einer Vielzahl von szenespezifischen Themen, Publikationen und von Terminen, z.B. zum Thema "Antifa". Eigene Aussagen enthält die Website hingegen in der Regel nicht. Das Angebot versteht sich als "bundesweites, linkes Kommunikationsund Informationsmedium". Im Bereich des Linksextremismus werden zwar weiterhin bestehende Mailboxsysteme wie das "CL-Netz" ("Computernetzwerk Linksysteme") mitgenutzt, jedoch verlieren diese Kommunikationsmöglichkeiten gegenüber dem Internet immer mehr an Bedeutung. 100 E. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Von den in Baden-Württemberg gemeldeten rund 1.269.00037 Ausländern waren 8.730 (1999: 9.040) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder gar terroristischer Zielsetzung aktiv. Gravierende Verschiebungen der Anteile der unterschiedlichen extremistischen Organisationen am Gesamtspektrum wurden nicht festgestellt. Die Gesamtzahl der von extremistischen Ausländerorganisationen verübten Straftaten sank 2000 bundesweit auf 79138 (1999: 2.536). Die Abnahme um ca. 70 Prozent bedeutet eine Trendwende gegenüber den Anstiegen der vergangenen Jahre (1999: + 8 Prozent). Die Zahl der Gewalttaten ist ebenfalls auf 116 (1999: 391) deutlich gesunken. Dies entspricht einer Abnahme von rund 70 Prozent. 37 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stand: 31.12.1999. 38 Quelle: Bundesministerium des Innern. 101 Die Gewalttaten im Bund-/Ländervergleich39 Gewalttaten Baden-Württemberg Bund 2000 1999 2000 1999 Tötungsdelikte 0 0 1 1 Versuchte Tötungsdelikte 0 5 0 7 Brandstiftungen 2 23 8 101 Landfriedensbruch 3 4 28 103 Körperverletzungen 12 25 40 83 keine keine Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, 0 1 separaten separaten Luft-, Schiffsund Straßenverkehr Angaben Angaben Raub/ Erpressung 5 12 35 73 keine keine Herbeiführung einer separaten separaten 0 3 Sprengstoffexplosion Angaben Angaben keine keine Freiheitsberaubung separaten separaten 4 20 Angaben Angaben keine keine Bildung krimineller/terroristischer 2 7 separaten separaten Vereinigungen Angaben Angaben Gesamt: 24 77 116 391 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 31 69 89 317 Nötigung/Bedrohung 11 42 61 303 keine keine Vereinsgesetz 29 195 separaten separaten Angaben Angaben keine keine Androhung von Straftaten 9 47 separaten separaten Angaben Angaben Andere Straftaten 20 41 525 1.525 Gesamt: 100 394 675 2.145 Straftaten insgesamt 124 471 791 2.536 In Baden-Württemberg sank die Zahl der Gesetzesverletzungen mit ausländerextremistischem Hintergrund auf 124 gegenüber 471 im Vorjahr (ca. - 74 Prozent). Beachtlich ist dabei besonders der starke Rückgang bei der Zahl der 39 Änderungen bei den Vorjahreszahlen sind bedingt durch die Fortschreibung der polizeilichen Kriminalstatistik. 102 Gewalttaten von 77 auf 24 und dort vor allem bei den Brandstiftungen. Hauptursachen für diesen erheblichen Rückgang sind einerseits die Beendigung des Kosovokonflikts und andererseits der seitens der PKK seit Sommer 1999 gesteuerte "Friedenskurs". Die Proteste im Zusammenhang mit der Einführung eines neuen Gefängnistyps in der Türkei im Spätjahr 2000 führten bis 31. Dezember 2000 in Deutschland nur zu einer sehr geringen Anzahl von Straftaten. Die türkischen Staatsangehörigen bilden in Baden-Württemberg die zahlenmäßig stärkste Nationalität unter den hier lebenden Ausländern (rund 347.00040). Lediglich etwa 2 Prozent von ihnen gehörten im Jahr 2000 extremistischen Gruppierungen an. Die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen, untereinander rivalisierenden bis verfeindeten politischen Lagern haben sich gegenüber 1999 kaum verändert. 2. Kurden - "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Gründung: 1978 (in der Türkei) Betätigungsverbot in Deutschland seit 26. November 1993 Sitz: Nord-Irak Vorsitzender: Abdullah ÖCALAN, seit dessen Festnahme im Februar 1999 wird die Organisation vom Präsidialrat geleitet Anhänger: ca. 900 Baden-Württemberg (1999: ca. 900) ca. 12.000 Bund (1999: ca. 12.000) Publikationen: u. a. "Serxwebun" (Unabhängigkeit); Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) als Sprachrohr Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) definiert sich als einzige legitime Vertreterin kurdischer Interessen. Unter den Kurdenorganisationen ist sie die einflussreichste und mitgliederstärkste. Ursprüngliches Ziel der straff hierarchisch organisierten Kaderpartei war die Errichtung eines unabhängigen Staates Kurdistan. Deshalb eröffnete sie 1984 mit Hilfe ihres bewaffneten Arms "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) einen auch mit terroristischen Mitteln geführten Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. 40 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stand: 31.12.1999. 103 In der Bundesrepublik Deutschland versuchte die PKK in der Vergangenheit, diesen Kampf sowohl durch politische als auch durch gewalttätige Aktionen zu unterstützen. In dieser Phase kam es immer wieder zu brutalen Anschlägen gegen zumeist türkische Einrichtungen. Deswegen wurden der PKK und ihrer Propagandaorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie weiteren Nebenorganisationen im November 1993 die Betätigung im Bundesgebiet verboten. Nach der Verhaftung ihres Vorsitzenden Abdullah ÖCALAN am 15. Februar 1999 und den sich hieran anschließenden Gewaltphasen änderte die PKK ab September 1999 und insbesondere nach dem 7. Parteikongress im Januar 2000 ihre Ziele in Richtung auf eine die kurdische Identität wahrende regionale Autonomie auf türkischem Staatsgebiet und suchte damit den politischen Ausgleich mit der Türkei. Gleichwohl dürfte sie so lange eine Gefahr für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bleiben, bis ihr neuer Kurs des "demokratisch-politischen Kampfes" abgeschlossen ist und danach demokratische und gewaltfreie Strukturen tatsächlich das Organisationsleben auf Dauer bestimmen. Allgemeine Lage Die bereits im Verlauf des Jahres 1999 beobachteten Bemühungen einer Wandlung der PKK von einer zumindest in Teilen terroristischen zu einer politischen Organisation wurden fortgesetzt. Das proklamierte Ende des bewaffneten Kampfes führte innerhalb der PKK zu für die Organisation einschneidenden Konsequenzen unterschiedlichster Art. Zwar folgten die meisten Anhänger im Ergebnis ÖCALANs so genanntem Friedenskurs, jedoch konnten viele Mitglieder, insbesondere Angehörige und Freunde von gefallenen und verletzten PKK-Kämpfern, die Umorientierung zu einer in Teilen bis zur Selbstaufgabe reichenden "Friedenspolitik" nicht nachvollziehen. Demonstrationsmüdigkeit, rückläufige Besucherzahlen in den PKK-nahen Vereinen vor Ort und ein Sinken der Spendenbereitschaft waren die Folge. Am 5. Mai 2000 begannen türkische Streitkräfte im irakisch-iranischen Grenzgebiet eine erfolgreiche Großoffensive gegen die PKK-Guerilla. Auf Seiten der türkischen Armee sollen auch Verbände der "Demokratischen Partei Kurdistan/Irak" (DPK/I) sowie der "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK) in die Kämpfe eingegriffen haben. Im September setzte die PUK ihre Angriffe gegen die PKK in deren noch verbliebenen 104 Rückzugsgebieten im Nordirak fort. In der Hoffnung auf Beendigung dieser Angriffe erklärte die PKK gegenüber der PUK mit Wirkung vom 4. Oktober 2000 einen einseitigen Waffenstillstand, jedoch kam es auch danach immer wieder zu Auseinandersetzungen. 7. Parteikongress der PKK Auf dem im Januar 2000 durchgeführten 7. Außerordentlichen Parteikongress wurden mehrere Beschlüsse gefasst, die vor dem Hintergrund des eingeleiteten Friedenskurses allesamt auf eine Neustrukturierung der Organisation abzielten. Sowohl das Parteiprogramm als auch die Satzung wurden überarbeitet. Während das Programm schwerpunktmäßig auf die "Aufgaben der demokratischen Wandlung" als neues Hauptziel der Partei abhebt, lässt die Satzung nur den Schluss zu, dass es sich bei der PKK auch weiterhin um eine straff organisierte und autoritär geführte Organisation mit jetzt sozialistischer statt wie bisher kommunistischer Prägung handelt. So heißt es darin: "Jedes Parteimitglied kämpft für den Sozialismus und ist Internationalist... Jedes Parteimitglied ist der Verfechter der neuen sozialistischen Ethik..." Auch am Prinzip des unbedingten Gehorsams gegenüber dem nächsthöheren Gremium sowie der ständigen Berichtspflicht und Pflicht zur Rechenschaft und Selbstkritik wird festgehalten. Dass die Partei weiterhin die Ausübung einer eigenen Gerichtsbarkeit für sich in Anspruch nimmt, dokumentieren folgende Stellen der Satzung: "Das Parteimitglied hat sich der Parteidisziplin vollständig zu unterwerfen... Die Nichtteilnahme an einer Versammlung ohne eine gültige Begründung ist strafbar..." Auffällig ist, dass die Organisation nur ihr Emblem (dieses besteht nunmehr aus einem "roten Stern in der goldenen Sonne"), nicht aber, wie eigentlich erwartet, ihren Namen geändert hat. 105 Der Führerkult der PKK, die sich selbst weiterhin als "Führerbewegung" bezeichnet, verstärkte sich de facto trotz der beschlossenen inneren Demokratisierung noch. Der 15. Februar 2000, der erste Jahrestag der Ergreifung ÖCALANs in Nairobi/Kenia, wurde einem Beschluss des 7. Parteikongresses zufolge zum "Tag des nationalen Führers" erklärt. Aufbau und Organisation Die PKK, deren oberste Führungsebene in Europa die "Europäische Frontzentrale" (ACM) ist, gliedert sich in Regionen, Gebiete und Teilgebiete. Die Bundesrepublik Deutschland ist organisatorisch in sieben Regionen eingeteilt, die sich wiederum aus insgesamt ca. 30 Gebieten zusammensetzen. Laut Parteisatzung fungiert der Parteikongress als "höchstes Gremium" der PKK. Der Generalvorsitzende, zuständig für die Kontrolle und die Koordination der Parteiaktivitäten, ist nach wie vor "der Vorsitzende der gesamten Partei und vertritt sie auf höchster Ebene." Eine Vertretung durch den mehrere Mitglieder umfassenden Präsidialrat erfolgt dann, "wenn der Generalvorsitzende nicht in der Lage ist, seinen Aufgaben nachzukommen." Der Parteirat wird neben dem Generalvorsitzenden und dem Präsidialrat als "das höchste exekutive Parteigremium" beschrieben und ersetzt das an die kommunistischen Traditionen der PKK erinnernde Zentralkomitee. Selbstkritisch wurde die bisherige Rolle der ERNK beleuchtet, die für die gesamte öffentliche Parteiarbeit in Westeuropa zuständig war. Ihr wurde der Vorwurf gemacht, sie habe bei der Umsetzung der Friedenspolitik ÖCALANs versagt. Bereits auf ihrem 7. Parteikongress beschloss die PKK deswegen die baldige Umwandlung der ERNK. Am 20. Mai 2000 teilte die "Özgür Politika" mit, dass die ERNK aufgelöst und dafür die "Kurdische Demokratische Volksunion" (YDK) gegründet worden sei. Veränderungen wurden auch in Bezug auf die ARGK beschlossen. Sie erhielt die Bezeichnung "Volksverteidigungskräfte" (HPG), um ihren defensiven Charakter zu unterstreichen. 106 Auf einem vom 29. Juli bis 21. August 2000 "im Gebirge in Südkurdistan" durchgeführten Kongress der "Arbeiterpartei der Frauen Kurdistans" (PJKK) wurde eine Umbenennung in "Partei der freien Frauen" (PJA) beschlossen. Wie bei der Neubenennung der HPG strich man die Bezeichnung "Kurdistan" im Organisationsnamen. Die strukturelle Gliederung der Bundesrepublik Deutschland in Regionen hat die PKK ohne Rücksicht auf bestehende Landesgrenzen vorgenommen. Der weitaus größte Teil Baden-Württembergs wird von der aus fünf Gebieten (Stuttgart, Heilbronn, Karlsruhe, Freiburg, Bodensee) bestehenden Region "BADEN" abgedeckt. Lediglich die Gebiete Mannheim und Ulm gehören zu den Regionen "SÜD" bzw. "AUGSBURG". Die "Sahinler" (Falken), die als Teil der PKK-Jugendorganisation auftraten und namentlich in Baden-Württemberg in den zurückliegenden Jahren sehr aktiv waren, wurden als Gruppierung offenbar aufgelöst. Aktivitäten Am 12. Februar 2000, anlässlich des ersten Jahrestags der Verbringung ÖCALANs in die Türkei, demonstrierten 16.000 Anhänger der PKK in Straßburg. Aus BadenWürttemberg reisten etwa 3.000 Personen an. Neben Portraits ÖCALANs und Spruchbändern mit der Forderung nach dessen Freilassung wurden zahlreiche Fahnen der ERNK mitgeführt. Anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz am 21. März 2000 veranstalteten Kurden in Deutschland, größtenteils unter maßgeblicher Regie der PKK, bundesweit - u.a. auch in Stuttgart, Heilbronn, Freiburg, Mannheim und Ulm - Kundgebungen und Demonstrationen, die allesamt friedlich verliefen. Am 24. Juni 2000 nahmen etwa 25.000 Personen in Düsseldorf an einer Großdemonstration zum Thema "Weg mit der Todesstrafe - Frieden jetzt - Freiheit für Abdullah ÖCALAN" teil. Anlässlich des Jahrestags der Verurteilung ÖCALANs forderten Redner die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei, bessere Haftbedingungen für ÖCALAN sowie eine dauerhafte Lösung des Kurdenproblems. 107 Mehr als 50.000 Personen, darunter auch Tausende aus Baden-Württemberg, nahmen am "Internationalen Festival für Frieden, Demokratie und Freiheit" am 2. September 2000 im Müngersdorfer Stadion in Köln teil. Das Programm bestand aus kulturellen Darbietungen und politischen Redebeiträgen. Unter anderem wurde ein Grußwort ÖCALANs verlesen, in dem dieser die Einheit von Partei und Volk beschwor und die türkische Regierung erneut aufforderte, endlich Maßnahmen zur Befriedung des Kurdenkonflikts zu ergreifen. Zahlreiche Teilnehmer brachten auf dieser Veranstaltung ihre Sympathien für die PKK offen zum Ausdruck. Sie zeigten Fahnen der verbotenen ERNK sowie Portraits von ÖCALAN. In Baden-Württemberg stützt sich die PKK bei ihren Aktivitäten nach wie vor auf einen harten Kern von etwa 900 Personen. Die Zahl der Sympathisanten ist zwar leicht rückläufig, dennoch umfasst das in diesem Bereich mobilisierbare Potenzial immer noch mehrere tausend Kurden. In allen PKK-Gebieten und hier schwerpunktmäßig in den PKK-nahen Vereinen setzte die Organisation ihre Aktivitäten fort, wenn auch mit nachlassendem Engagement, insbesondere innerhalb der Frauenund Jugendorganisation der PKK. Auffällig ist, dass auf Versammlungen vielfach vorab und somit unter teilweiser Aufgabe der Konspiration in der "Özgür Politika" hingewiesen wurde. Gleichwohl waren die Teilnehmerzahlen überwiegend zurückgehend. Propagandamittel Am 19. Juni 2000 nahm der neue kurdische Fernsehsender "METV" den regulären Sendebetrieb auf. Ausstrahlungsgebiet ist der Nahe Osten, Europa und die GUS. "METV" sendet täglich zwar nur für wenige Stunden Beiträge zur kurdischen Kunst, Kultur, Literatur und Sprache, soll jedoch den sukzessiven Ausbau der Sendezeit planen. Nach Entzug der Sendelizenz für den von der PKK gesteuerten Fernsehsender "MED-TV" im März 1999 war ein Kulturund Bildungsprogramm für Kurden zunächst über den Sender "CTV" ausgestrahlt worden. Im Juli 1999 nahm auf Betreiben der PKK mit "MEDYA-TV" ein neuer kurdischer Fernsehsender seinen Sendebetrieb auf, der zur Zeit täglich von 12.00 Uhr bis etwa 24.00 Uhr neben kulturellen Beiträgen auch Nachrichten und politische Magazine sendet und dabei auch PKK-Führungspersonen 108 die Möglichkeit bietet, die Parteipolitik der Basis zu vermitteln. "MEDYA-TV" und "METV" nutzen jetzt - zeitversetzt - eine Satellitenfrequenz. "CTV" hat seine Sendetätigkeit eingestellt. Ein weiteres wichtiges Propagandamittel für die PKK ist die in türkischer Sprache im hessischen Neu-Isenburg erscheinende Tageszeitung "Özgür Politika", die neben Erklärungen der Führungsebene vor allem Aufrufe zu regionalen und überregionalen Veranstaltungen veröffentlicht. Finanzierung In der Vergangenheit benötigte die PKK beträchtliche finanzielle Mittel für die Durchführung militärischer Aktionen. Jetzt werden Gelder hauptsächlich für den hauptamtlichen Parteiapparat sowie die europaweite Propagandatätigkeit benötigt. Die Finanzierung erfolgt im Wesentlichen über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Publikationen und Gewinne aus Großveranstaltungen. Bei der jährlichen Spendenkampagne sollen die angesprochenen Landsleute etwa ein Monatsgehalt abliefern. Die Spendenbereitschaft der PKK-Anhänger sank, zumal ein unverändert hoher Bedarf für den Kampf in Kurdistan vor dem Hintergrund der propagierten friedlichen Linie der PKK wenig nachvollziehbar erschien. Dennoch wurden keine Fälle gewaltsamer Spendeneintreibungen mehr bekannt. Zunehmend versuchte die Partei, ihr Kapital nach marktwirtschaftlichen Kriterien gewinnbringend anzulegen. Oppositionelle Bestrebungen in der PKK Der PKK gelang es trotz ihrer totalitären Struktur nicht mehr, oppositionelle Strömungen zu verhindern. So informierte das PKK-Zentralkomitee mit einer vom 6. Januar 2000 datierten Erklärung die "Öffentlichkeit" über die Abspaltung einzelner Einheiten von der ARGK, dem militärischen Arm der PKK. Diese Mitteilung, die auch über das Internet verbreitet wurde, wandte sich gegen "Provokateure" innerhalb der Organisation und führte in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Guerillakämpfer an, die sich "mit jeweils einer kleinen Guerillagruppe Anfang dieses Jahres von der Partei losgelöst" hätten. Es sei der PKK "trotz intensiver und beharrlicher Bemühungen nicht gelungen", diese Kämpfer "aus dem Gebiet der Türkei abzuziehen." Die PKK unterhalte jedoch zu 109 diesen "keinerlei Beziehungen mehr" und trage auch "keine Verantwortung für ihr zukünftiges Handeln." Die Tatsache, dass ihre Gefolgsleute "bewaffnet" seien, zwinge jedoch zu besonderer Aufmerksamkeit. Erstmals im Oktober 1999 wurde ein mit Datum vom 26. September 1999 unterzeichnetes Positionspapier einer sich "PKK-Kämpfer der revolutionären Linie" bezeichnenden Gruppierung bekannt. Darin wurde vehement Kritik geübt am politischen Kurs des PKK-Präsidialrats. In einer unmittelbar "an die Öffentlichkeit" gerichteten weiteren Erklärung der Oppositionsgruppe vom 7. Januar 2000 wurden Präsidialrat und Zentralkomitee eines "Verbrechen[s] an unserer Partei und unserem Volk" bezichtigt. Die Gruppe differenzierte deutlich zwischen ÖCALAN sowie dem Präsidialrat und dem Zentralkomitee. Ihre Kritik richtete sich nicht gegen den Parteivorsitzenden, der "hinterlistig entführt und in Gefangenschaft genommen wurde". "Angesichts dieser Umstände [könne] es keinen Frieden geben". Vielmehr wurde allein dem Präsidialrat sowie dem Zentralkomitee zum Vorwurf gemacht, dass deren eingeleitete "Friedensphase" in Wirklichkeit eine "klassische Kapitulation" darstelle. Im Mai 2000 trennte sich die "Özgürlük Insiyatifi" (Freiheitsinitiative) - zum Großteil aus langjährigen führenden Guerillakämpfern der PKK bestehend - von der PKK. Dem gingen erfolglose Versuche voraus, den ÖCALAN-treuen Kurs des Präsidialrats umzukehren. Die Hälfte der etwa 60 Personen umfassenden Gruppe wurde durch PKKEinheiten in den Rückzugsgebieten der PKK-Kämpfer im Irak festgenommen. ÖCALAN soll zunächst zur Bestrafung dieser Dissidenten aufgerufen haben. Des Weiteren setzten sich kurdische Intellektuelle - in Deutschland und dem benachbarten europäischen Ausland ansässige kurdische Schriftsteller und Journalisten - kritisch mit dem aktuellen Kurs der PKK und vor allem der Person ÖCALAN auseinander. Zu diesem Kreis ist die "Nationale Demokratische Initiative Kurdistan" zu zählen, die von ehemaligen hochrangigen Führungsfunktionären der PKK gegründet wurde. Sie trat erstmals mit einer im Internet verbreiteten Erklärung vom 18. August 2000 an die Öffentlichkeit. Darin wurde die PKK eindringlich aufgefordert, sich dem Einfluss des inhaftierten ÖCALAN zu entziehen und dessen "Kapitulationspolitik" sofort aufzugeben. 110 Den oppositionellen Kräften gelang es zwar zunehmend, ihre Interessen zu bündeln und sich einen organisatorischen Rahmen zu geben. Dennoch handelt es sich bei ihnen bisher um Kleinbeziehungsweise Kleinstgruppen, Spaltungsansätze im eigentlichen Sinne sind in der PKK-Anhängerschaft weiterhin (noch) nicht ersichtlich. Perspektiven Die Wandlung von einer militärischen zu einer ausschließlich politischen Organisation kann auf Dauer nur gelingen, wenn die PKK zumindest einen Teil ihrer jetzigen Forderungen durchzusetzen vermag. Es gibt vermehrt Anzeichen für konkrete Schritte der türkischen Regierung zur Entspannung und Normalisierung des Lebens in der Krisenregion. So wurden Restriktionen gelockert und wirtschaftliche Hilfen angekündigt - nicht zuletzt deswegen, weil eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union auch von einer friedlichen Lösung des Kurdenproblems abhängig gemacht wird. Andererseits gibt es auch zunehmend Stimmen in der Organisation, die mit dem "von oben" verordneten nachgiebigen Verhalten der Parteiführung nicht übereinstimmen und zumindest durch die Drohung mit erneuten Gewalthandlungen Druck erzeugen wollen. Schon deshalb sind der weitere Verlauf sowie die Endgültigkeit des eingeleiteten "Demokratisierungsprozesses" völlig ungewiss. Auch wenn es derzeit keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die PKK - jedenfalls so lange ÖCALAN am Leben ist - von der von ihm initiierten friedlichen "Demokratisierungsphase" abweicht, sind erneute Gewalttätigkeiten durch die PKK oder ihre Sympathisanten im Falle einer für die Organisation unbefriedigenden Lageentwicklung nach wie vor nicht auszuschließen. Dass die PKK für einen solchen Fall gerüstet ist, beruht auf ihrer weiterhin straffen und autoritär geführten Organisation und ausreichenden Mobilisierungsfähigkeit. 111 3. Türken (ohne Kurden)41 3.1 Linksextremisten 3.1.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front (DHKP/-C) / Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C) Gründung: 1978 als "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke) Anhänger: ca. 150 Baden-Württemberg (1999: unter 200) ca. 1.000 Bundesgebiet (1999: ca. 1.100) Publikationen: "DEVRIMCI SOL" "KURTULUS" "VATAN" Die 1978 in der Türkei gegründete "Devrimci Sol" wurde dort bereits zwei Jahre später und in der Bundesrepublik Deutschland am 9. Februar 1983 (bestandskräftig seit 1989) verboten. Nach jahrelangen innerorganisatorischen Streitigkeiten und aufgrund persönlicher Animositäten leitender Parteifunktionäre spaltete sich die Organisation Ende 1992 in zwei rivalisierende Fraktionen, die sich nach ihren Führungsfunktionären Dursun KARATAS und dem im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften erschossenen Bedri YAGAN als KARATASbzw. YAGAN-Flügel bezeichneten. Trotz der auch heute noch bestehenden gleichen politischen Ziele und ideologischen Grundlagen vollzog die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP/-C), wie sich der KARATAS-Flügel danach nannte, auf dem am 30. März 1994 in Damaskus abgehaltenen "Parteigründungskongress" die endgültige Trennung. Seit Mitte des gleichen Jahres verwendeten die Anhänger des YAGAN-Flügels die Bezeichnung "Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C). Bei der Verwirklichung ihres Ziels einer "Weltrevolution" sehen beide Organisationen als Hauptfeind nach wie vor die Türkei an. Als weitere "Feinde des Volkes" werden "zuallererst der US-Imperialismus und alle imperialistischen Kräfte" genannt. Hierzu 41 Insbesondere in den türkischen linksextremistischen Organisationen sind auch Angehörige der kurdischen Volksgruppe organisiert. Die Unterscheidung zur PKK erfolgt über die Definition des Ziels der jeweiligen Organisationen. Während für die PKK die Erlangung einer möglichst weit reichenden "kurdischen" Autonomie im Vordergrund steht, beabsichtigten die hier genannten türkischen Organisationen politische Veränderungen für die gesamte Türkei. 112 zählt vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die aufgrund der vielen hier lebenden türkischen Staatsangehörigen ein wichtiges Betätigungsfeld darstellt. Die in der Vergangenheit durchgeführten Anschläge gegen staatliche und insbesondere gegen private türkische Einrichtungen und die im gleichen Zeitraum mit erschreckender Brutalität bis hin zum Mord ausgetragenen Flügelkämpfe zwischen den Anhängern der beiden rivalisierenden Organisationen dokumentieren, dass beide Gruppierungen ihre politischen Ziele auch im Bundesgebiet durch Gewalt zu realisieren versuchen. Am 13. August 1998 erließ der Bundesminister des Innern gegen die THKP/-C ein Betätigungsverbot. Gleichzeitig stufte er die DHKP/-C als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen "Devrimci Sol" ein und bezog sie in das frühere Verbot mit ein; die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage der DHKP/-C wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 1. Februar 2000 in letzter Instanz abgewiesen. Die sich bereits im Vorjahr abzeichnende Schwächung beider Dev SolNachfolgeorganisationen hat sich auch 2000 unvermindert fortgesetzt. Der Ausfall zahlreicher hochrangiger Führungsfunktionäre, die festgenommen und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden sind, ist in allen Organisationseinheiten deutlich spürbar, weshalb beide Gruppierungen gegenwärtig nicht in der Lage sind, europaweit "qualifizierte" Führungskräfte zu finden. Aufgrund dieser Schwäche und wegen der Gewaltverzichtserklärung von Dursun KARATAS vom 12. Februar 1999 kam es im Jahr 2000 zu keinen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den immer noch zerstrittenen KARATASund YAGAN-Anhängern. Zahlreiche Anschläge und Attentate in der Türkei belegen allerdings, dass gerade die DHKP/-C ihren "legitimen und gerechten Kampf" dort unvermindert weiterführt. In Baden-Württemberg haben beide Organisationen zusammen etwa 150, bundesweit ca. 1.000 Anhänger. Die THKP/-C, deren Betätigungsfeld sich fast ausschließlich im norddeutschen Raum befindet, verfügt in Baden-Württemberg über keine Stützpunkte und nur über einzelne Mitglieder. Im Land agitiert die DHKP/-C insbesondere in den Ballungsräumen Stuttgart, Mannheim und Ulm. Die dort etablierten Ortsvereine führen ihre Versammlungen und Zusammenkünfte äußerst konspirativ durch. Da aufgrund erheblicher finanzieller 113 Probleme keine eigenen Vereinsräume mehr zur Verfügung stehen, verlagern sie notgedrungen ihre Zusammenkünfte zeitweise in Räume anderer solidarischer Gruppierungen. Für die zumeist im benachbarten Ausland durchgeführten größeren Veranstaltungen können beide Organisationen mehrere Hundert Anhänger und Sympathisanten mobilisieren. In Deutschland werden vereinzelt derartige überregionale Treffen als Musik-, Folkloreoder Kulturveranstaltungen deklariert. Als Werbeträger dienen hierbei populäre türkische Musikgruppen. In der Bundesrepublik Deutschland reagierten THKP/-C und DHKP/-C zumeist auf Vorkommnisse in der Türkei, zunehmend aber auch auf innerdeutsche Ereignisse und Vorgänge im benachbarten Ausland. Agitationsschwerpunkt des Jahres 2000 waren die Aktionen im Zusammenhang mit dem bis Ende Januar anhaltenden Hungerstreik inhaftierter DHKP/-C-Aktivisten, vor allem ihres "Vorzeige"-Häftlings Ilhan YELKUVAN, der insgesamt 64 Tage die Nahrung verweigerte und mit seinem Protest eine Verbesserung seiner Haftbedingungen und die Aufhebung der "willkürlichen" Einzelhaft verlangte. In einer DHKP/-C-Flugschrift vom 10. Januar 2000 wurde der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang vorgeworfen, ihr "Nazi-Erbe" weiter fortzuführen: ".. Der deutsche Staat ist in seiner Geschichte, sei es den Revolutionären im eigenen Land, sei es Revolutionären aus anderen Ländern immer ein Feind gewesen. Diese Feindschaft endete nicht mit dem Nazi-Regime, sondern setzt sich mit großer Geschwindigkeit heute noch fort..." An anderer Stelle dieses Flugblatts wurde die Bundesregierung zugleich pauschal als "Unterstützer des türkischen Faschismus" diffamiert. In einer am 8. Februar 2000 verbreiteten Internet-Mitteilung prangerte die DHKP/-C ferner die zwiespältige Haltung der "Regierungsbeauftragten und Mitglieder des Europäischen Parlaments" an, die auf die gegenwärtige Regierungskoalition unter Beteiligung der FPÖ in Österreich heftig reagiert habe, während bei der Bekämpfung des Rassismus und Faschismus, vor allem in Deutschland und in der Türkei, die EUVerantwortlichen eine "Zuschauerrolle" einnehmen würden. Heuchlerisch verhalte sich 114 Deutschland auch - so die Erklärung der DHKP/C-Europavertretung im Internet am 8. März 2000 - wenn es die Festnahme dreier kurdischer Bürgermeister und HADEPMitglieder rüge: "... Wer dem Faschismus in der Türkei jede Unterstützung anbietet, kann die Handlungen einer faschistischen Regierung nicht tadeln und die eigene Verantwortlichkeit in Vergessenheit bringen. Was auch immer die faschistischen Regierungen in der Türkei tun, das tun sie mit der Unterstützung und Zustimmung Deutschlands und der USA. Alle Greueltaten des Faschismus wurden von ihnen abgesegnet und unterstützt..." Untätigkeit gegenüber den "aufmarschierenden Nazis" warf die DHKP/-C der Bundesregierung in einer weiteren Internet-Veröffentlichung vom 13. März 2000 vor. Hierzu hieß es: "... Deutschland ist ein Paradies für Nazis, für die Revolutionäre ist es ein Land der Verbote und Repressalien..." Auch gegen die Reisen "interessierter amerikanischer Politiker und Geschäftsleute" in das kurdische Gebiet polemisierte die DHKP/-C in einer Internet-Erklärung vom 2. Juni 2000. Hiernach würde jetzt der US-Imperialismus in Kurdistan mit Plünderungen und Verwüstungen beginnen. Die anstehende Gefängnisreform in der Türkei, insbesondere der Bau neuer Gefängnisse, in denen für "politische" Häftlinge Einzelzellen ("F-Typ") anstelle der bisher üblichen Gemeinschaftsräume vorgesehen sind, hat bei der DHKP/-C und anderen "betroffenen" linksextremistischen türkischen Organisationen heftige Reaktionen ausgelöst, die sich mit zunehmender Intensität auf das ganze Bundesgebiet erstreckt haben. In der "an alle Vorsitzenden, Minister und Abgeordnete der Regierungsparteien" gerichteten Internet-Erklärung der DHKP/-C (Nr. 115 vom 16. Juni 2000) wurden vorgenannte Verantwortliche auf die Tragweite dieser Beschlüsse hingewiesen: "... Ihr werdet für die Isolationszellen und die zur Durchsetzung dieser Zellen verübten Massaker die Verantwortung tragen..." 115 Zugleich drohte die DHKP/-C den entsprechenden türkischen Repräsentanten sehr konkret unter Erinnerung an frühere Aktionen: "...Denkt nicht, dass Ihr Euch mit Euren dutzenden von Schutzvorrichtungen und Panzerungen ein Leben lang schützen könnt, oder dass Ihr für die Volksjustiz unerreichbar seid. Unsere Gerechtigkeit vergisst weder, noch vergibt sie. All diejenigen, die Beschlüsse fassen und diese in die Praxis umsetzen, werden sich für jeglichen Schaden, der unseren Gefangenen zugefügt wird, verantworten müssen. VERGESST NICHT den ehemaligen Justizminister Mehmet Topac, den Gefängnisdirektor und Major des Gefängnisses von Davutpasa, Adnan Özbey, und den Staatsanwalt vom Bayrampasa Gefängnis, Niyazi Fikret Aygen..." (Hervorhebung im Original) Mit ihrer weiteren im Internet veröffentlichten Mitteilung vom 28. Juli 2000 unter der Überschrift: "UNSERE GEFALLENEN IM TODESFASTEN '96 SIND DIE VORBOTEN FÜR WEITERE SIEGE" kündigte die DHKP/-C neuen Widerstand und Hungerstreikaktionen bis hin zum Todesfasten in den türkischen Gefängnissen an. Gemeinsam mit dem von ihr gesteuerten "Komitee gegen Isolationshaft" (IKM) und dem von mehreren anderen linksextremistischen türkischen Organisationen getragenen "Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen" (DETUDAK) führte die DHKP/-C seit Mai 2000 verschiedene Aktionen gegen die Einführung eines neues Gefängnistyps durch, auf die im folgenden Abschnitt genauer eingegangen wird. 3.1.2 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) / "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) Gründung: 1972 Anhänger: ca. 360 Baden-Württemberg (1999: ca. 360) ca. 1.900 Bund (1999: ca. 1.900) Publikationen: "Özgür Gelecek" (Freie Zukunft) "Partizan" (Der Partisan) 116 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) Gründung: 1994 Anhänger: ca. 250 Baden-Württemberg (1999: ca. 250) ca. 700 Bund (1999: ca. 700) Publikation: "Politikada ATILIM" (Der politische Angriff) Die von der türkischen Regierung geplante Verlegung politischer Gefangener in neu gebaute Gefängnisse, die unter dem Begriff "F-Typ" bekannt geworden sind42, war auch für die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) und die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) die das Jahr 2000 beherrschende Thematik. Obwohl die türkische "Neue Linke" nach wie vor in zahlreiche Gruppierungen gespalten und zersplittert ist, führten die Pläne der Regierung zu verstärkter Bündnisbildung, die unter der Bezeichnung "Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen" in der Türkei bekannt geworden ist. Bei den in Deutschland in der Öffentlichkeit in Erscheinung getretenen Solidaritätskomitees handelt es sich um DETUDAK - "Devrimci Tutsaklarla Dayanisma Komitesi" ("Solidaritätskomitee mit den revolutionären Gefangenen") und ÖZTUDAK - "Özgürlük Tutsaklarla Dayanisma Komitesi" ("Solidaritätskomitee mit den freien Gefangenen in der Türkei und Kurdistan"). Zudem schlossen sich nach einer Meldung der "Özgür Politika" vom 30. April 2000 in Bielefeld die deutschlandund europaweiten TKP/ML-Basisorganisationen "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF), "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK), "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF), sowie einige kleinere Vereinigungen zu einer Plattform zusammen. 42 Vgl. Kap. 3.1.1. 117 Die Proteste gegen die Verlegung der "revolutionären" Gefangenen erfolgten in vielfältiger Form: Sie umfassten Informationsstände, Mahnwachen, Unterschriftenaktionen, Plakatierungen, Presseerklärungen, Demonstrationen mit Kundgebungen und Hungerstreikaktionen. U. a. wurde in den Städten Ulm und Stuttgart durch Plakataktionen mit dem Wortlaut: "ISOLATION IST MORD! NEIN! ZUR ISOLATIONSHAFT DER POLITISCHEN GEFANGENEN IN DER TÜRKEI! DETUDAK" auf diese Thematik hingewiesen. Am 13. Mai 2000 fanden zeitgleich in zahlreichen Städten Europas Demonstrationen statt, so auch in Stuttgart (ca. 350 Teilnehmer), Köln (ca. 600 Teilnehmer), Berlin (ca. 70 Teilnehmer) und Hamburg (ca. 170 Teilnehmer). Ein von einer größeren Zahl Inhaftierter in verschiedenen türkischen Gefängnissen am 19./20. Oktober 2000 begonnener Hungerstreik wurde ab dem 20. November 2000 durch einen Teil der Hungerstreikenden als so genanntes "Todesfasten" weitergeführt. Vor diesem Hintergrund kündigte das von der MLKP dominierte Solidaritätskomitee DETUDAK Hungerstreiks und sonstige themenbezogene Veranstaltungen in Stuttgart, Ulm, Berlin und Hamburg an. In einer im Internet verbreiteten Erklärung des "Ostanatolischen Gebietskomitees" (DABK)43 und der DHKP/-C heißt es, der Einführung von Einzelzellen durch den faschistischen türkischen Staat könne allein mit einer opferbereiten "Kampflinie" begegnet werden. Weiter erklären die Verfasser: "Heute kündigen wir dem Imperialismus und seinen kollaborierenden Knechten ein weiteres Mal an, dass wir in einer ihnen verständlichen Sprache antworten werden. Wir sind entschlossen. Wir werden nicht davor zurückscheuen, jeglichen Preis zu zahlen. Wir werden sterben, aber nicht in Isolationszellen gehen." Mit Fortdauer des Todesfastens und der damit einhergehend größer werdenden Gefahr des Ablebens eines Todesfastenden verstärkten auch die betroffenen Organisationen in Deutschland ihre Solidaritätsaktionen. Dabei kam es zu einer regelrechten Flut von Protestaktionen, als türkische Sicherheitskräfte in den Morgenstunden des 19. Dezember 2000 die Gefängnisse, in denen der Hungerstreik und das Todesfasten durchgeführt wurden, stürmten. 43 Die TKP/ML ist seit 1994 in die rivalisierenden Flügel "Partizan" und DABK gespalten. 118 Bundesweit wurden zahlreiche spontane und angemeldete Demonstrationen und Kundgebungen durchgeführt. Besonders erwähnenswert in Baden-Württemberg sind u.a. die "gewaltfreien" Besetzungen des Stuttgarter Fernsehturms, des Teils der Abfertigungshalle des Stuttgarter Flughafens, in dem sich der Schalter der "Turkish Airlines" befindet, der SPD-Geschäftsstelle in Ulm und des privaten Fernsehsenders B.TV Württemberg in Ludwigsburg. 3.2 Türkische Islamistische Vereinigungen 3.2.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." / "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V." (IGMG/EMUG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG). Sitz: Bonn / Köln Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (1999: ca. 3.600) ca. 27.000 Bund (1999: ca. 27.000) Publikation: "Milli Görüs & Perspektive" (in türkischer Sprache, vereinzelte Artikel in deutsch), als Sprachrohr dient auch die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" In Baden-Württemberg wie in der gesamten Bundesrepublik Deutschland ist die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) die wichtigste Vertreterin des türkischen politischen Islamismus. Ihre Mutterorganisation, die "Fazilet-Partisi" (FP, "Tugendpartei") spielt in der Türkei eine bedeutende Rolle. Wie schon die Vorgängerparteien, deren Führungspersönlichkeit Necmettin ERBAKAN war, stellt sie sich als Vertreterin eines alternativen Systems dar, das die gegenwärtige, auf die säkularen Reformen Kemal Atatürks zurückgehende Staatsform in der Türkei abschaffen will. Die derzeit in der FP stattfindenden Machtkämpfe zwischen jüngeren Funktionären und der "alten Garde" um ERBAKAN haben sich in Deutschland bislang nicht ausgewirkt. Wie die FP vertritt die IGMG politische Auffassungen, z.B. mit antisemitischen Tendenzen, die teilweise mit den Grundsätzen der deutschen 119 Verfassung nicht vereinbar sind. Als Vorsitzender der IGMG fungiert der Geschäftsführer des IGMG-Sprachrohrs "Milli Gazete", Dr. Yusuf ISIK44. In Baden-Württemberg arbeitet die IGMG mit anderen Organisationen, wie z.B. der von der "Muslimbruderschaft" beeinflussten "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg e.V.", zusammen. Auch aufgrund des Bestrebens, das Recht auf die Erteilung von islamischem Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen zu erhalten, für das sich die IGMG auch in Baden-Württemberg stark macht, hielt sich die IGMG-Zentrale mit Verlautbarungen, die Zweifel an ihrer Verfassungstreue wecken könnten, weitgehend zurück. Allerdings hält dies führende Kader wie Mehmet S. ERBAKAN nicht davon ab, den Bundesminister des Innern als Herausgeber des Verfassungsschutzberichtes des Bundes als "Feind des Islam" zu diffamieren. Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen zeigten sich bei einem "Tag der offenen Tür" des IGMG-Vereins Esslingen am 30. September/1. Oktober 2000, bei dem ein Vortrag zum "Niedergang der Evolutionstheorie" gehalten wurde. Der zuvor als seriös dargestellte Referent einer "Bilim Arastirma Vakfi" (Wissenschaftliche Forschungsstiftung) hatte seinen Ausführungen Werke eines Autors zu Grunde gelegt, der unter dem Pseudonym Harun YAHYA publiziert. Dieser befasst sich in seinen Werken mit Judentum, Freimaurerei und Darwinismus. Er stellt dabei Verbindungen zwischen der Evolutionstheorie Darwins, dem Materialismus, dem Kommunismus, dem Liberalismus und dem Kapitalismus her, die alle Folgeerscheinungen der religionsfeindlichen französischen Revolution gewesen seien. Dabei hätten seinem Weltbild zufolge "Juden" und "Freimaurer" eine negative Rolle gespielt. Harun YAHYAs Hasstiraden gipfeln in einem Buch mit dem Titel "Soykirim Yalani" (Holocaustlüge), in dem er die Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland in Frage stellt und auch nicht davor zurückschreckt, Zeugnisse der Zeit, wie das Tagebuch der Anne Frank, zu verunglimpfen. Auch über Links von der Homepage der IGMG im Internet werden interessierte Benutzer zu den Seiten mit den Hetzschriften YAHYAs geführt, von denen es wiederum Verbindungen auch zu den Schriften bekannter Holocaust-Leugner gibt. 44 Seit April 2001 hat Mehmet Sabri ERBAKAN dieses Amt inne. 120 Auch andere Ortsvereine geben Anlass zu Zweifeln an ihrer "Friedlichkeit" und "Verfassungskonformität". So setzte sich die Mannheimer IGMG für die Glaubensbrüder in Tschetschenien ein und ging beim Werben für die Solidarität mit den Tschetschenen so weit, eine Internetadresse zu den Vorgängen ausdrücklich zu empfehlen, die auch die militärische Seite des "Jihad"45 propagiert. So heißt es dort: "Die militärische Ausbildung ist eine islamische Obligation, es besteht keine Wahlfreiheit!" Diese Ausbildung sei für den Muslim eine Verpflichtung, egal, ob er in einem moslemischen oder nicht-moslemischen Land lebe. Letztendlich wird dem Leser unter der Überschrift "Jihad Training im Ausland" empfohlen, "einzelne, die ihr kennt und denen ihr vertraut", zu kontaktieren, denn "sie werden dazu imstande sein, euch einen besseren Rat zu geben." Dort, wo legal wie in den USA Waffen erworben werden können, solle man von den Möglichkeiten Gebrauch machen; eine Ausbildung mit einer Kalaschnikow sei zu bevorzugen. Aber auch in Ländern, in denen das Waffenhandwerk nicht so frei zu erlernen sei, könne man sich über Kampfsportarten, die am besten durch ein Vertrautmachen im Umgang mit Blankwaffen zu ergänzen seien, für den "Jihad" vorbereiten. Der IGMG-Ortsverein ruft zwar nicht ausdrücklich zu Spenden für Tschetschenien auf, sondern stellt eine Unterstützung ins Ermessen, die Sympathie gilt jedoch erkennbar den tschetschenischen Mudjahidin. Die Internetadresse mit der "Jihad"-Website wird als wahrhaftige Quelle zu den Ereignissen im Kaukasus ausgegeben, so dass davon auszugehen ist, dass auch den Inhalten dieser Website wie z.B. dem folgenden Zitat in IGMG-Kreisen zugestimmt wird: "Nur Jihad und das Gewehr, KEINE Verhandlungen, KEINE Konferenzen und KEINEN Dialog." Einen Schwerpunkt bildet die Jugendarbeit für die IGMG. Eine Vielzahl von Ortsvereinen in Baden-Württemberg führte in den Schulferien in verschiedenen Altersklassen und getrennt nach Geschlechtern Sommerkurse durch, die auch im Jahr 2000 nach eigenen Angaben wieder regen Zulauf fanden. Ziel der Ferienkurse sei es, den Kindern beizubringen, ihre Religion weiterzugeben.46 Auch sei von deutscher Seite bislang nie gewürdigt worden, stellt Mehmet S. ERBAKAN fest, dass es ohne diese Arbeit in Stadtteilen von Köln und Berlin viel unruhiger aussähe.47 Allerdings ist diese Art 45 Auch "Djihad": "Einsatz" (auch bewaffnet) auf dem "Weg Gottes". 46 "Milli Gazete" vom 23. Mai 2000. 47 taz vom 3. August 2000. 121 von Befriedung wohl weniger dem Durchlaufen eines Korankurses zu verdanken, sondern eher den subtilen Formen der Sozialkontrolle. Diese Ausbildung einer nebenstaatlichen Gewalt, die die Organisation in ihrem Einflussbereich vorantreibt, bleibt der deutschen Öffentlichkeit zumeist verborgen. Beispielsweise wurden in Heilbronn, Aalen und Blaubeuren Jugendlokale, Internetcafes bzw. eine "KinderJugendabteilung" eingerichtet. Die Vereinigung sieht solche Einrichtungen als Hort für die Jugendlichen an, damit diese nicht "im Sumpf" landen. Mit diesen bei oberflächlicher Betrachtung positiven Angeboten wird aber ein Ziel verfolgt, das weit über die "Sozialarbeit" hinausgeht. Es gilt, die Jugendlichen für die politische Ideologie zu gewinnen, sie von der Vorrangstellung der "Gemeinschaft" vor individuellen Belangen zu überzeugen. Bei der damit einhergehenden Vermittlung einer besonderen "islamischen Identität" werden die Probleme einer aus ihrer Sicht abzulehnenden "Angleichung" an die "Nichtmuslime" (Kafir, d.h. "Ungläubige") hervorgehoben. Es sei "der Islam", der das Leben der Jugendlichen "beherrschen" müsse48. Hier ist der Islam nicht allein als religiöse Leitlinie gemeint, sondern als umfassendes Regelwerk für das gesellschaftliche Leben, hinter das die Regeln eines demokratischen Rechtsstaats zurücktreten müssen. Aber auch das am Osmanentum orientierte nationalistische Gedankengut wird weitergegeben, indem das Bewusstsein gepflegt wird, "Nachkommen von Eroberern" zu sein.49 Dies entspricht den programmatischen Vorstellungen, die Necmettin ERBAKAN zu "Milli Görüs" als politische Idee entwickelt hat: "Der Glaube, den Sultan Fatih bei der Eroberung Istanbuls in seinem Herzen hatte, ist Milli Görüs selbst. Unsere Nation hat tausend Jahre die Welt beherrscht. Milli Görüs ist das Medikament [für] alle unsere Probleme."50 Bei einer solchen Betonung des Zwecks von an sich positiven sozialen Einrichtungen zeigt sich, dass die in islamistischen Kreisen verbreitete Vorstellung von der liberalen Gesellschaft als einem bedrohenden Element immer noch gepflegt wird. Dem Christentum, mit dem angeblich ein Dialog unterhalten wird, will man als gefestigt und 48 "Milli Gazete" vom 17. November 2000. 49 "Milli Gazete" vom 16. November 2000. 50 Internetauswertung. 122 stark begegnen, um nicht selbst beeinflusst zu werden, sondern um seinerseits beeinflussen zu können. Das Verhältnis der IGMG zu Minderheiten zeigt sich darin, dass sie einem islamistischen Denker wie Yusuf AL-QARADAWI eine prominente Beraterrolle einräumt, der in seinem auch auf deutsch erschienenen Buch "Erlaubtes und Verbotenes im Islam" die Todesstrafe für Homosexuelle zwar als grausam, doch von Rechtsgelehrten als "empfohlen" beschreibt, "um die Reinheit der islamischen Gesellschaft zu erhalten und sie von abartigen Elementen rein zu halten." In Baden-Württemberg existieren über 60 IGMG-Vereine, die in vier regionalen Verbänden - Stuttgart, Freiburg, Schwaben und Rhein-Saar - organisiert sind. Zum Verband Schwaben gehören allerdings auch bayerische Ortsvereine, während sich der Verband Rhein-Saar bis nach Rheinland-Pfalz erstreckt. 3.2.2 "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V." (ICCB) bzw. "Der Kalifatsstaat" (Hilafet Devleti) Gründung: 1985 als Abspaltung aus der "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) hervorgegangen Sitz: Köln Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (1999: ca. 300) ca. 1.100 Bund (1999: ca. 1.100) Publikationen: "Ümmet-i Muhammed" (Die Gemeinde Mohammeds, in türkischer Sprache) Die kompromissloseste islamistische Vereinigung auf deutschem Boden ist der "Kalifatsstaat", der mit ca. 300 Anhängern auch in Baden-Württemberg stark vertreten ist, sich aber organisatorisch in einem zerrütteten Zustand befindet. Der verbliebene "harte Kern" von Anhängern ging dazu über, sich innerhalb informeller Zirkel zu bewegen, die - zumindest nach außen - ihre Verbindung zum ICCB verschleiern. Dessen "Kalif"51 Metin KAPLAN wurde am 15. November 2000 vom Oberlandesgericht 51 Im Sinne von "Nachfolger des Propheten" und damit spirituelles und weltliches Oberhaupt. 123 Düsseldorf zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass KAPLAN zur Tötung des "Gegenkalifen" Dr. Ibrahim Sofu aufgerufen hatte, der 1997 in Berlin erschossen worden war. Die Anhänger reagierten u.a. im Internet unverzüglich auf die Verurteilung und stellten fest, dass es zwischen dem Deutschland unter Hitler 1933 und dem demokratischen Deutschland im Jahr 2000 keinen Unterschied gebe: In beiden Staatsformen sei "Religion verboten, Meinungsäußerung verboten, Sprechen verboten...". Im Verbandsorgan "Ümmet-i Muhammed" wurde der Prozessverlauf ständig als "Prozess gegen den Islam in Person des Kalifen" kommentiert. Als angebliche Hintermänner nennen die Kalifatsanhänger die "Feinde des Islam", die "Imperialisten" sowie die "Zionisten" und ihre "Handlanger", die "kemalistischen Besatzerbanden".52 Ziel des Verbands ist die Errichtung eines "Kalifatsstaats", zunächst in dem von den "Kemalisten" zu befreienden Anatolien, und davon ausgehend in der ganzen Welt. Die Gründung eines islamischen Staats könne aber nicht durch demokratische Methoden, sondern nur mit den Methoden des Propheten verwirklicht werden. Der Iran sei das beste Beispiel dafür.53 Moscheen seien die geeigneten Örtlichkeiten für die Vorbereitung auf den "Djihad". Diese dienten nicht nur zur Verrichtung des rituellen Gebets und der Koranlesung, sondern auch der Erörterung politischer Angelegenheiten, wobei hier "die Politik des Islam" und nicht "die Parteipolitik und solche unsinnigen Dinge" gemeint sei, so das Organ der Vereinigung54. Auch "gelten die Moscheen gleichzeitig als Kasernen und Quartiere. Sie sind außerdem Orte, an denen die Ausrüstung und die Vorbereitung der islamischen Armee erfolgen". Moscheen sind für den Redakteur der "Ümmet-i Muhammed" Zentren, in denen "die Gläubigen aufwachen, sich ihrer Trägheit entledigen und sich erneut aufbäumen." Ein nicht unwesentlicher Bestandteil der Propaganda ist ein Märtyrerkult, mit dem das 52 Gemeint ist die türkische Regierung, die nach Ansicht der KAPLAN-Anhänger den "Kalifatsstaat" Anatolien besetzt hält. 53 "Ümmet-i Muhammed" vom 10.August 2000. 54 "Ümmet-i Muhammed" vom 30. März 2000. 124 Bewusstsein der "Soldaten Gottes" für die Konsequenzen ihres Denkens und Handelns geschärft werden soll. So wird der radikale islamistische Denker Sayyid Qutb55 als ein Vorbild dargestellt, an dem buchstäblich nachzuweisen sei, dass es "der Wunsch eines jeden guten Muslim" sei, Märtyrer zu werden. Menschen, die sich so einsetzten, seien "die besten Menschen und ehrenhaft."56 Auch der "Kalifatsstaat" äußert sich zum Thema Islamunterricht, sieht die Diskussion um die Erlaubnis zur Erteilung von Islamunterricht aber als klar entschieden an. Mit Berufung auf den Islam, der eindeutig definiere, wem das Recht zustehe, die Muslime zu vertreten, nämlich dem Kalifen, reklamiert der "Kalifatsstaat" dieses Recht für sich: "Dafür braucht es keiner Verhandlungen."57 Auf die Motivation und Solidarisierungsfähigkeit der Anhängerschaft in BadenWürttemberg scheint sich die Verhaftung des "Kalifen" eher positiv auszuwirken. So kamen zu einer Veranstaltung in Esslingen am 16. Juli 2000 über 500 Personen, darunter auch eine erhebliche Anzahl Frauen und Kinder. Ob es Metin KAPLAN gelingen wird, auch nach seiner Verurteilung seine Anhängerschaft aus der Haftanstalt heraus hinter sich zu scharen, bleibt offen. Derzeit profiliert sich sein Sohn Fatih als Leitfigur des Verbandes. Völlig ungebrochen ist beim verbliebenen harten Kern des ICCB die feindselige Haltung gegenüber "den Juden", die an erster Stelle in der Liste der Feinde des Islam genannt werden.58 Paradoxerweise setzen sie in ihren Kampagnen, die die Verunglimpfung der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel haben, immer wieder die angebliche Verfolgung "der Muslime" durch die deutsche Justiz und Behörden mit der Verfolgung jüdischer Bürger im Hitlerdeutschland gleich. Aber auch unabhängige Wissenschaftler werden vom "Kalifatsstaat" diffamiert. Insbesondere Orientalisten hätten im allgemeinen "eine große Antipathie gegen den Islam". Was an deutschen Universitäten unter der 55 Sayyid Qutb, geb. 1906, wurde als profilierter Denker der ägyptischen "Muslimbruderschaft" 1996 unter Nasser hingerichtet. 56 "Ümmet-i Muhammed" vom 31. August 2000. 57 "Ümmet-i Muhammed" vom 15. Juni 2000. 58 "Ümmet-i Muhammed" vom 19. Oktober 2000. 125 Bezeichnung Orientalistik betrieben werde, sei eine Fortsetzung "der Gedanken der Kreuzzüge". 3.3 Extreme Nationalisten Föderation der TürkischDemokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) / "Deutsche Türk Föderation" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 Baden-Württemberg (1999: ca. 2.100) ca. 7.800 Bund (1999: ca. 7.500) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" (türkisch) Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) ist die in Deutschland bekannteste türkische Organisation mit einer extremnationalistischen Tendenz. Der breiten Öffentlichkeit ist die ADÜTDF vor allem unter der Bezeichnung "Graue Wölfe" bekannt. In Baden-Württemberg ist sie mit mehr als 40 Ortsvereinen vertreten. Größere Vereine mit jeweils 70 bis 100 Mitgliedern existieren in Stuttgart, Ulm und Mannheim. Die ADÜTDF versucht seit der Regierungsbeteiligung ihrer Mutterorganisation "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) in der Türkei ihr Image im Heimatland und im Ausland zu verbessern. Ideologische Äußerungen im Verbandsorgan "Türk Federasyon Bülteni" (Bulletin der Türkischen Föderation) in der Ausgabe vom Juni 2000 weisen jedoch darauf hin, dass die ADÜTDF weiterhin für einen übersteigerten Nationalismus und offen rassistische Positionen steht, die von der Überlegenheit der türkischen "Rasse" über andere ausgehen. Auch die Frage einer "Synthese" von "Türkentum und Islam" wird in einer Weise erörtert, die andere Religionen wie das Christentum als minderwertig beschreibt. Dass überdies von einem Völkerbegriff ausgegangen wird, der einen Pluralismus von Kulturen rigoros ablehnt und bei dem letztendlich die "Beseitigung" von Gegnern wie 126 z.B. Kurden als Option ausgesprochen wird, erregt zumindest Zweifel an der friedlichen Gesamthaltung, die die Führung des Verbands stets betont. Für eine latente Bereitschaft zur Gewaltanwendung gibt es, allen Beschwichtigungen zum Trotz, immer wieder Hinweise. Beispielsweise wurde im August 2000 im Verlauf einer Verkehrskontrolle in Stuttgart ein selbstgefertigter Schlagstock im Auto eines ADÜTDF-Anhängers aufgefunden, der mit den Buchstaben "MHP" und drei roten Halbmonden symbolträchtig verziert war. 4. Arabische Islamisten Zahlreiche islamistische Organisationen, die auch in Baden-Württemberg Stützpunkte unterhalten, und deren Repräsentanten haben ihren Ursprung in Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens sowie Südasiens. Trotz ihrer unterschiedlichen nationalen und ethnischen Herkunft - viele Verantwortliche sind heute Deutsche - unterscheidet sich ihre politische Zielsetzung kaum. Die Errichtung eines nach ihrem Verständnis wahrhaft "islamischen Staates" in ihrer jeweiligen Heimat kann als Konstante im politischen Denken innerhalb dieser Organisationen bezeichnet werden. Zwar ist durchaus festzustellen, dass es in diversen Zirkeln dieser ganz und gar nicht homogenen Bewegung auch zu einem Nachdenken über Fehler in der Vergangenheit gekommen ist, doch ist von einer Abkehr von antiwestlichen, gegen Aufklärung und säkulares Denken gerichteten Ideologien nicht die Rede. Dieses fortdauernde "Unbehagen über das Moderne" ist insofern relevant, da es sich letztlich kritisch gegen eine freiheitliche Demokratie mit ihren individuellen Grundund Menschenrechten richtet. Dem modernen, demokratischen Staat wird ein - bislang nirgends eindeutig definierter, jedoch von diesen Gruppierungen als "islamisch" bezeichneter - Gesellschaftsentwurf gegenübergestellt, der angeblich alle Bereiche menschlichen Lebens umfasst, d.h. Familie, Wirtschaft und Staat. Als bedeutendste Organisation ist die seit 1960 bestehende "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) anzuführen, die in Stuttgart eine Zweigstelle unterhält. Auch zu einer Moschee in Karlsruhe bestehen Kontakte. Ihre ideologische Heimat ist bei der 1928 in Ägypten gegründeten "Muslimbruderschaft" (MB) zu suchen. Diese international tätige Organisation verfügt in Baden-Württemberg 127 ungefähr über 190 Mitglieder (1999: ca. 210). Sie verfolgt ihre Interessen in der deutschen Gesellschaft offensiv über einen als "unabhängig" bezeichneten Dachverband, den "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD), mit Sitz in Köln oder die regionalen Verbände wie z.B. den "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg e.V.", mit Sitz in Stuttgart, der mit der IGMG zusammenarbeitet. Der "Islamische Bund Palästinas e.V." (IBP) vertritt die Interessen der militanten palästinensischen "HAMAS" ("Bewegung des islamischen Widerstands") in Deutschland. Auch diese Organisation ist ein nationaler Zweig der "Muslimbruderschaft". Sie nimmt beim Widerstand gegen Israel eine herausragende Rolle ein und lehnt die israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen nach wie vor ab. Sie bekennt sich zu einer Reihe der jüngsten Anschläge in Israel. Eine der "HAMAS" nahe stehende humanitäre Hilfsorganisation, die "AL-AQSA e.V." mit Sitz in Aachen, pflegt ebenfalls Verbindungen nach Baden-Württemberg. Bundesweit führt sie Spendengeldsammlungen in Moscheen und bei Veranstaltungen islamischer Einrichtungen durch. Die "Islamische Heilsfront" (FIS) und ihr bewaffneter Arm "Islamische Armee der Errettung"59 (AIS) zählen ebenso zu den Vertretern algerischer Islamisten wie die in der Vergangenheit wegen ihrer unkontrollierten brutalen Gewalt in Erscheinung getretene und selbst im islamistischen Lager umstrittene "Islamische Bewaffnete Gruppe" (GIA). Seit der Regierungsübernahme durch einen neuen Staatspräsidenten in Algerien Anfang 1999 scheint sich die Lage zwar partiell entspannt zu haben, was nicht zuletzt auf das für islamische Extremisten, die nicht an Massakern beteiligt waren, erlassene Amnestiegesetz zurückzuführen ist. Ein Ende der Auseinandersetzungen liegt jedoch, sofern die Medienberichte über fortgeführte Anschläge zutreffen, noch in weiter Ferne. Die "Hizb at-Tahrir" trat in Baden-Württemberg im Jahr 2000 durch Flugblattaktionen in Erscheinung. Außerdem machen ihre Beiträge im Internet deutlich, dass die 59 Wird auch als "Islamische Armee des Heils" bezeichnet. 128 "westlichen" Konzepte von Demokratie und Menschenrechten mit ihr nicht zu realisieren sind. Nur sporadisch und durch Einzelpersonen vertreten sind die tunesische "An-Nahda" ("Die Wiedergeburt/Erneuerung") sowie die ägyptische "Djama'a al-islamiya" ("Islamische Gruppen"). Der stark emotionale Bezug dieser Gruppen zum Nahen Osten wurde insbesondere während des jüngst entbrannten Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern deutlich. Mit Bestürzung musste die Öffentlichkeit in Deutschland wahrnehmen, dass antiisraelische Stimmungen, z.B. bei Deutschen arabischer Herkunft, sich in Angriffen auf jüdische Einrichtungen, wie in Essen und Düsseldorf geschehen60, entluden. In Berlin wurde ein Rabbiner tätlich angegriffen, was mit "Hass auf Juden" begründet wurde. Auch in spannungsfreien Zeiten werden Verbindungen mit ihren Herkunftsländern aufrecht erhalten, nicht zuletzt über islamistische Multiplikatoren, z.B. eingereiste Referenten, und diverse Medien aus den Heimatländern, die für ein "islamistisches Bewusstsein" in einer angeblich gegen den Islam ausgerichteten Umwelt Sorge tragen. Protestveranstaltungen und Demonstrationen in Baden-Württemberg im Zusammenhang mit der erneut entfachten "Intifada" in den Palästinensergebieten werden aus Sicht der Gruppierungen als Höhepunkte des Jahres bewertet. Waren entsprechende Solidaritätsbekundungen in der Vergangenheit eher verhalten, so scheint vor diesem Hintergrund jetzt die bislang zu beobachtende Distanz aufgehoben. Gemeinsam fordern sunnitische wie schiitische Aktivisten, den "Todfeind" Israel mit allen Mitteln zu bekämpfen und die heilige Stadt Jerusalem zu befreien. Was hier zu Lande als Verbalradikalismus erscheinen mag, hat im Krisengebiet allerdings konkrete Auswirkungen: eine Spirale der Gewalt auf beiden Seiten. Insofern ist es ein bedenkliches Symbol, wenn in Berlin - wie im Dezember 2000 geschehen - die Flagge Israels verbrannt wird. 60 Am 2. Oktober 2000 wurde ein Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf verübt. Fünf Tage später versuchten etwa 200 Teilnehmer einer Demonstration gegen das Vorgehen der israelischen Regierung im Palästinakonflikt die "Alte Synagoge" in Essen zu stürmen. Sie bewarfen Gebäude und Polizeieinsatzkräfte mit Steinen, als diese die Erstürmung verhinderten. 129 Für viele islamistische Organisationen gewinnt die Nutzung des Internet immer mehr an Bedeutung. Die Mehrzahl der bekannten Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen unterhalten inzwischen eine Homepage bzw. ist durch Links miteinander verbunden. Dadurch können Demonstrationstermine oder Spendenaufrufe jederzeit abgerufen werden. Das immer häufiger genutzte Medium ermöglicht somit auch eine kurzfristige Mobilisierung der Anhänger und versorgt diese nahezu ohne Zeitverlust mit Informationen. Mit der wiederholten Darstellung äußerst grausamer Szenen, die den Einsätzen des israelischen Militärs zugerechnet werden, sollen Abneigung und Hass gegen Israel geschürt werden. Ergänzt werden die Internetseiten durch ein umfangreiches Angebot an einschlägiger Literatur. Darüber hinaus bieten Multiplikatoren ihre Dienste an, indem sie Beiträge, u.a. zu politischen Themen, über ein E-Mail-Netz verbreiten. Einerseits distanzieren sich Islamisten im Internet - bei aller Schärfe der Kritik an den Vorgängen im Nahen Osten - von einem gegen "Juden als Angehörige einer Religionsgemeinschaft" gerichteten Rassismus nazistischer Prägung, gleichzeitig polemisieren sie aber gegen den "Einfluss des Zionismus auf die Weltpolitik" und belegen diesen "zionistischen Einfluss" allein über die religiöse Zugehörigkeit ausländischer Spitzenpolitiker. Ebenso intensiv widmen sich die islamistischen Aktivisten der Geldbeschaffung. Nicht selten bedienen sie sich hierbei Vereinigungen mit humanitärem Charakter oder appelllieren an die Gemeinschaft der Gläubigen, für Notleidende oder aber für Hinterbliebene von "Jihad-Kämpfern" beispielsweise inTschetschenien, Geld zu spenden. Wenn Teile dieser Gelder zweifellos auch der Linderung der Not in Kampfgebieten dienen, so ist dennoch davon auszugehen, dass bedeutsame finanzielle Mittel abgezweigt werden, um die bewaffneten Kämpfer entsprechend auszurüsten. Von aktuellen Ereignissen unabhängig ist die Ablehnung westlicher Prinzipien und Werte bzw. ihre Relativierung durch den Vorbehalt der Gültigkeit islamischer Rechtsund Moralvorstellungen in den beobachteten Organisationen. Zwar bekennen sich arabische Islamisten öffentlich zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, bieten jedoch zugleich Schriften wichtiger radikaler Denker, wie des pakistanischen Aktivisten 130 Abul A'la Mawdudi zum Verkauf an und empfehlen sie sogar zu Lehrzwecken. Mawdudi wird auch dem deutschen Publikum als "einer der Hauptarchitekten und Leitfiguren der zeitgenössischen islamischen Renaissance und vielleicht auch als der bemerkenswerteste Denker und Autor unserer Zeit" vorgestellt. Mit seinen Gedanken sollen angeblich "Vorurteile und Barrieren abgebaut, Falschinformationen richtig gestellt" werden. Allerdings erfährt der Leser auch, dass jede Ordnung nach Macht strebe, sie verlange "ungeteilte Macht für sich". Eine Teilung sei undenkbar. So könne die Ordnung des Islam als "vollständige Lebensweise" andere "Lebensweisen" wie Volksherrschaft, Monarchie und Kommunismus niemals neben sich dulden: "Gesetzliche Urteile müssen auf [Gottes] Schari'a basieren, die Polizei muss nach seinen Geboten handeln, Finanzgeschäfte müssen in Übereinstimmung mit seinen Gesetzen ausgeführt, Steuern nach seinem Befehl erhoben ... werden."61 In dieser Sichtweise gibt es in allen Lebensbereichen nur eine Wahrheit und nur einen richtigen islamischen Standpunkt, der eben von den islamistischen Organisationen tradiert wird. Vielfältigkeit der Meinungen, Widerspruch, liberales Denken, die einer freiheitsorientierten Demokratie zugrunde liegen, werden so ausgeschlossen. Dass islamistische Rechtsvorstellungen hierzulande geltende Gesetze konterkarieren bzw. jegliches Gebot der Toleranz außer Acht lassen, wird beispielhaft an der radikalen pakistanischen Strömung "Pasban-e Khatm-e Nabuwwat" (PKN), die auch in BadenWürttemberg tätig ist, deutlich. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine angeblich vom "wahren Glauben abweichende" Gruppierung namens "Ahmadiyya Muslim Djama'at", die ihrem Selbstverständnis zufolge islamisch ist, durch massive Propaganda am Praktizieren ihrer Form des Islam zu hindern. Im Bereich der schiitischen Konfession treten in Deutschland als Vertreter des politischen Islam die "Gruppen des libanesischen Widerstands" (Amal) und die "Hizb Allah" ("Partei Gottes") auf. Beide Organisationen spielen eine Rolle in der libanesischen Politik, wobei insbesondere die bedeutendere "Hizb Allah" es sich zum Verdienst anrechnet, mit ihrem militärischen Arm "Al-muqawama al-islamiya" ("Islamischer Widerstand") entscheidenden Anteil am Rückzug der israelischen 61 Abul A'la Mawdudi: "Als Muslim leben", Karlsruhe 1995. 131 Armee aus dem Südlibanon gehabt zu haben. Seit einigen Jahren sucht die Organisation ihre politischen Ziele auf differenzierte Weise zu erreichen. Ein starkes soziales Engagement in der schiitischen Bevölkerung soll die Akzeptanz und die Basis der Anhängerschaft erweitern. Der bewaffnete Kampf wird ausdrücklich auf das Heimatland beschränkt, im Ausland sucht man die auch parlamentarisch wirkende Partei vom Geruch der "Terrororganisation" zu befreien. Der Rückzug der israelischen Streitkräfte im Mai aus dem Südlibanon wurde als Erfolg des militärischen Armes der "Hizb Allah" gefeiert. Der "Islamische Widerstand" biete "das Vorbild", wie "der Feind" zu bezwingen sei. Die Anhänger in Deutschland waren immer wieder aufgefordert worden, sich weiterhin um "die Belange des Widerstandes gegen die Besatzung" zu kümmern und den Brüdern im Süden und in der westlichen Beqa-Ebene Unterstützung zu leisten. Die Nachricht, dass so genannte "Agenten der israelischen Besatzung" der aufgelösten "Südlibanesischen Armee" (SLA) auch in Deutschland Zuflucht finden könnten, stieß sowohl innerhalb der "Hizb Allah" als auch in den "Amal" auf Ablehnung. 62 Die Anfang Oktober 2000 einsetzenden militanten Auseinandersetzungen der Palästinenser mit israelischen Sicherheitskräften im Rahmen der so genannten "Al Aqsa-Intifada" veranlassten den Generalsekretär der "Hizb Allah", Scheich NASRALLAH, zu einem Aufruf an die meist jugendlichen Straßenkämpfer, ihren Aufstand zum bewaffneten Widerstandskampf auszubauen. Einem Zeitungsartikel63 zufolge appellierte er an die Palästinenser bei einer Kundgebung in Beirut sinngemäß, dass sie versuchen sollten - anstatt sich von Israel ohne Gegenwehr totschießen zu lassen - zuerst anzugreifen und zu töten. Die Strategie müsse die gleiche sein wie im Südlibanon. Die "Hizb Allah" sei bereit, solche Anstrengungen zu unterstützen, doch könne er nicht an Stelle der Palästinenser Aktionen planen. Die Entwicklungen im Libanon blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Aktivitäten der hiesigen "Hizb Allah"-Anhänger. Mehrfach beteiligten sie sich bundesweit an den Protestdemonstrationen palästinensischer Gruppierungen. Ansonsten beschränkt sich die "Hizb Allah" hier zu Lande weitgehend auf interne 62 "Ad-diyar" vom 19. August 2000. 63 "Neue Zürcher Zeitung" vom 6. Oktober 2000. 132 Treffen und Diskussionsrunden. Im Vordergrund steht die finanzielle und moralische Unterstützung der Kämpfer gegen den "Erzfeind Israel". Die Spendenmoral wird durch Propagandamaterial aus dem Libanon gefördert. Bisweilen werden auch Themen der deutschen Politik aufgenommen. So war die Frage der Entschädigung von NSZwangsarbeitern Anlass für eine Polemik gegen den "internationalen Judenkongress und viele andere jüdische Organisationen in Europa und den USA", die Deutschland "trotz der guten Geste immer im Käfig der Beschuldigten belassen".64 Nennenswert war die Beteiligung an der alljährlichen Demonstration zum sogenannten "Quds"-Tag (Jerusalem-Tag) am 2. Januar 2000 in Berlin, an der ca. 2.000 Personen teilnahmen. Die Räume Freiburg, Mannheim und Stuttgart bilden unverändert die Schwerpunkte der "Hizb Allah" in Baden-Württemberg, der hier ungefähr 90 Personen zuzurechnen sind. 5. Ehemaliger Vielvölkerstaat Jugoslawien Hauptsächlich die Jahrestage des Beginns (24. März 1999) und der Beendigung (20. Juni 1999) des NATO-Einsatzes in Jugoslawien waren Auslöser öffentlichkeitswirksamer Aktionen. So fand beispielsweise am 26. März 2000 in Stuttgart eine Kundgebung mit rund 550 Teilnehmern statt. Entsprechend der nach Beendigung des Militäreinsatzes wieder entspannteren Stimmung war die Aktionsbereitschaft der Kosovo-Albaner auf der einen und der Serben auf der anderen Seite eher gering. Die Konfliktparteien sehen Baden-Württemberg65 vor allem als wichtigen Ruheraum, aber auch als unverzichtbare Finanzierungsbasis an. Viele haben sich hier eine wirtschaftlich sichere Existenz geschaffen und befürchten, diese im Falle von Verstößen gegen das ihnen gewährte Gastrecht zu verlieren. Provokationen werden deshalb von beiden Seiten als kontraproduktiv angesehen. Viele Kosovo-Albaner haben im Laufe des Jahres Baden-Württemberg - zumindest vorübergehend - verlassen, um den Wiederaufbau im Kosovo voranzutreiben. 64 "Al-'Ahd" vom 28. Juli 2000, Nr. 860. 65 Insgesamt leben in Baden-Württemberg 278.400 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und der Bundesrepublik Jugoslawien [Serbien/Montenegro]). Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Stand 31. Dezember 1999. 133 Die Parlamentswahlen am 24. September 2000 in Serbien, die Erstürmung des Parlaments durch Anhänger des serbischen Oppositionsbündnisses und die internationale Anerkennung der neuen jugoslawischen Regierung wurden in den Reihen der in Baden-Württemberg lebenden Serben überwiegend positiv bewertet. Die Mehrzahl der hier lebenden Kosovo-Albaner sieht jedoch keinen Anlass, von ihrem Unabhängigkeitsstreben abzulassen. Auch die politischen Führer im Kosovo sprechen sich für die staatliche Unabhängigkeit der Provinz von Serbien aus. Der neue jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica machte allerdings bereits deutlich, dass für ihn ein eigener Staat Kosovo nicht zur Diskussion stehe. Nationalistische Kosovo-Albaner befürchten nun, die Politik der internationalen Staatengemeinschaft könne über sie hinweggehen - zumal dann, wenn Kostunica demokratische Reformen einführt und den Albanern eine weitgehende Autonomie anbietet. Mitglieder und Anhänger der extrem-nationalistischen "Nationaldemokratischen Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) und der linksextremistischen "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) verlegten ihre Bemühungen personell wie auch finanziell derzeit hauptsächlich auf den Wiederaufbau im Kosovo. Deswegen hat eine Reihe von Aktivisten beider Organisationen zwischenzeitlich Baden-Württemberg verlassen. Absicht der "Rückkehrer" dürfte es allerdings auch sein, bei der Verteilung von Ämtern, beim Aufbau staatlicher Strukturen bzw. einer neuen Infrastruktur berücksichtigt zu werden. Durch diese Abwanderung ist die politische Arbeit der B.K.D.SH. (in BadenWürttemberg ca. 30 Mitglieder, bundesweit ca. 150) zumindest derzeit stark eingeschränkt. Die Vereinigung trat im Jahre 2000 nicht mit eigenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung, die Aktivitäten beschränkten sich auf interne Veranstaltungen. Die LPK wurde Anfang Juli 1999 in Pristina/Kosovo in die "Partei der Demokratischen Vereinigung" (PBD) umgewandelt. Bereits im Oktober 1999 ließen insbesondere Mitglieder der Sektionen der LPK in Deutschland und der Schweiz - die am Umwandlungsparteitag nicht beteiligt wurden - sowie unzufriedene PBD-Anhänger die LPK wieder aufleben, während die PBD ihrerseits in der "Partei für den demokratischen Fortschritt Kosovos" (PPDK) aufging. Vorsitzender der PPDK ist 134 Hasim THAQI66, ehemaliger Führer der "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK). Am 28. November 1999 wurde in Zürich die Auslandsvertretung der PPDK gegründet und am 12. Februar 2000 die Gründung der PPDK-Sektion Deutschland in Kirchheim/Teck vollzogen. Dabei sind viele Mitglieder der LPK zur PPDK übergetreten. Die PPDK hat sich auf ihrem Parteitag am 20./21. Mai 2000 in Pristina erneut umbenannt. Sie heißt nun "Demokratische Vereinigung Kosovos" (PDK). THAQI wurde als Parteivorsitzender in seinem Amt bestätigt. Der Vorstand setzt sich überwiegend aus Funktionären der offiziell aufgelösten UCK und der LPK zusammen. Aufgrund anhaltender erheblicher ideologischer und persönlicher Streitigkeiten zwischen Funktionären der PDK und der LPK hinsichtlich des Führungsanspruchs und der Verteilung von Ämtern im Kosovo, hat die LPK nunmehr die Zusammenarbeit mit der PDK eingestellt. LPK-Mitglieder in Deutschland (ca. 300 Personen, davon in Baden-Württemberg ca. 40) stehen der politischen Entwicklung skeptisch gegenüber und verhalten sich abwartend, zumal "Hardliner" unter den Funktionären sich vorbehalten, die Strukturen der Vereinigung in Deutschland neu zu gliedern. Bis Impulse dafür aus dem stärksten Exilverband in der Schweiz kommen, haben die LPK-Volksräte (Ortsgruppen) in BadenWürttemberg ihre Aktivitäten vorerst eingestellt. Derzeit sind im Land lediglich "Reststrukturen" feststellbar. In Baden-Württemberg verfügt die PDK nur partiell über Strukturen, die zudem nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig sind. Anlässlich der Kommunalwahlen67 im Kosovo führte die PDK-Deutschland am 8. Oktober 2000 in Esslingen-Berkheim in Anwesenheit des PDK-Parteivorstands aus dem Kosovo eine Informationsveranstaltung durch, an der etwa 450 Personen teilnahmen. 66 THAQI war Leiter des politischen Direktoriums im Generalstab der "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK). Er wurde im Februar 1999 als Verhandlungsleiter der Delegation der Kosovo-Albaner bei den "Kosovo-Friedensgesprächen" in Rambouillet öffentlich bekannt. 67 Bei den Wahlen am 28. Oktober 2000 konnte die PDK lediglich 27,3% der Stimmen auf sich vereinigen. Als eindeutiger Sieger der Wahl ging der "Demokratische Bund Kosovos" (LDK) mit einem Stimmenanteil von 58% hervor. Er ist die größte albanische Partei im Kosovo und kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. Dr. Ibrahim Rugova, Vorsitzender des LDK, war 1992 zum "Präsidenten" der "Republik Kosovo" gewählt worden. Serbien bezeichnete diese Wahl und die gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen als illegal. 135 Das in Stuttgart von der PDK eingerichtete Auslands-Büro wurde aufgelöst. Spendenzahlungen in den "Regierungsfonds" der PDK "Fondi i Kosoves" bei einer Bank in Stuttgart erfolgten nicht. Eine von Funktionären der LPK in der Schweiz initiierte Reaktivierung des im Jahre 1999 eingestellten LPK-Fonds "Vendlindja Therret" konnte in Baden-Württemberg nicht realisiert werden. 6. Iraner Der "Nationale Widerstandsrat Iran" (NWRI) ist die einflussreichste Gruppierung der iranischen Opposition im Ausland. Er versteht sich selbst als "demokratische Alternative" zum iranischen "Mullah-System". Der NWRI wird von der "Organisation der Volksmodjahedin Iran" (PMOI) dominiert, welche den Anspruch erhebt, eine künftige Übergangsregierung im Iran zu stellen. Führungspersönlichkeiten der PMOI sind das Ehepaar Masoud und Maryam RADJAWI, wobei Maryam von der Organisation als "designierte Präsidentin Irans" angesehen wird. Ein Ereignis von herausragender Bedeutung bildete für den NWRI der Staatsbesuch des iranischen Präsidenten Khatami vom 10. bis zum 12. Juli 2000 in Deutschland. Er sollte zur eigenen Profilierung als d i e Oppositionsbewegung gegen das Regime im Iran genutzt werden. Im Verlauf der Kundgebungen wurden 288 Demonstranten vorläufig festgenommen. Auf mitgeführten Plakaten standen Slogans wie "Ein Verbrecher zu Gast ist keine Ehre für die Gastgeber", "Khatami ist ein Mörder", "Iran, Iran, RAJAVI, RAJAVI - die Mullahs müssen weg". Der erhoffte Erfolg blieb jedoch durch das frühe Eingreifen der Sicherheitsbehörden aus. Wie in den vergangenen Jahren auch wurden Mahnwachen und Infostände in BadenWürttemberg durchgeführt. Hierbei ging es vor allem um Themen wie die "Unterwerfung der Frauen" und "20 Jahre Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Iran". Ein Schwerpunkt der PMOI in Baden-Württemberg liegt derzeit in Karlsruhe. Im Iran selbst forderten Anschläge auf verschiedene staatliche Objekte zahlreiche Tote und Verletzte. Die PMOI bzw. deren bewaffnete Sektion, die "Nationale Befreiungsarmee", übernahmen für die Gewaltakte die Verantwortung. 136 7. Sikhs Babbar Khalsa International (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz: Merzenich/Kreis Düren Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (1999: 30) ca. 200 Bund (1999: 200) International Sikh Youth Federation (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion der ISYF" in Frankfurt am Main Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (1999: 80) ca. 600 Bund (1999: 600) Publikation: "Des Pardes" Im nordindischen Bundesstaat Pandschab kämpfen seit Jahrzehnten verschiedene Sikh-Organisationen für einen eigenen unabhängigen Staat "Khalistan" (Land der Reinen). Fahndungserfolge der indischen Streitkräfte haben allerdings die Kommandostrukturen terroristischer Sikh-Gruppen nachhaltig geschwächt. Dessen ungeachtet versuchten diese - wenn auch in geringerem Maße - mittels terroristischer Anschläge eine Destabilisierung der Region herbeizuführen. Aufgrund der bereits im Jahre 1983 erlassenen "Anti-Terrorgesetze" verließen viele aktive Sikhs ihr Heimatland, um vom Ausland aus den "Befreiungskampf" sowohl finanziell als auch propagandistisch zu unterstützen. In der Bundesrepublik Deutschland konnten Stützpunkte extremistischer Sikh-Organisationen mit insgesamt rund 850 Anhängern lokalisiert werden. Politische Aktivitäten entfalteten hauptsächlich die in mehrere Flügel gespaltene "International Sikh Youth Federation" (ISYF) und die "Babbar Khalsa International " (BK)68. Die weniger bedeutende "Kamagata Maru Dal International" 68 Diese Bezeichnung wird von der "Babbar Khalsa" für die Auslandsorganisation verwendet. 137 (KMDI) besteht in Baden-Württemberg nur als Funktionärsgruppe. Zwischen den Funktionären der verschiedenen Organisationen herrschen unterschiedliche Auffassungen, wie das gemeinsame Ziel, die Schaffung eines unabhängigen Staates, zu verwirklichen ist. Politische Meinungsverschiedenheiten werden überwiegend in den Versammlungsorten der Sikhs, den Gurdwaras69, ausgetragen. Um die Machtposition ihrer jeweiligen Organisation zu stärken, versuchten die Funktionäre ihren Einfluss in den Tempelkomitees auszuweiten. Wichtigste Zentren waren Frankfurt/Main und Köln. Tempel befinden sich auch in Stuttgart und Mannheim. In Baden-Württemberg sind etwa 125 Extremisten - insbesondere in den Räumen Mannheim, Reutlingen, Stuttgart und Tübingen sowie im Südbadischen - in kleinen, oftmals konspirativen Zirkeln mit häufig wechselnden Personenzusammensetzungen organisiert. Funktionäre führten auch im Jahr 2000 regelmäßig in den Tempeln, aber auch in Asylbewerberwohnheimen Spendensammlungen durch. Insbesondere bei "Märtyrer-Gedenkveranstaltungen"70, die u.a. in Stuttgart und Mannheim stattfanden, versuchten Führungsfunktionäre ihre Gesinnungsgenossen in kämpferischen Ansprachen von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Kampf im Heimatland mit unvermindertem Engagement zu unterstützen. Darüber hinaus nutzten die Organisationen zur politischen Agitation englischund pandschabisprachige Publikationen und das Internet. So informierte die ISYF in der wöchentlich erscheinenden Sikh-Zeitschrift "Des Pardes" regelmäßig die im Ausland lebenden Landsleute über alle maßgeblichen geplanten Veranstaltungen wie Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. 69 Tempel, die den kulturellen, religiösen aber auch politischen Mittelpunkt darstellen. 70 Dabei wird - neben den obligatorischen Lesungen aus dem heiligen Buch "Granth Sahib" - vor allem der von indischen Sicherheitskräften getöteten "Sikhkämpfer" gedacht und zu Geldspenden zur Unterstützung der in der Heimat lebenden Kämpfer und Hinterbliebenen aufgefordert. 138 8. Tamilen - "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Oberhausen/Nordrhein-Westfalen (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (1999: 80) ca. 750 Bund (1999: 750) Publikation: "Kalathil" (Kampfplatz) Die linksextremistischen, separatistischen "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) führen seit 17 Jahren einen bewaffneten "Freiheitskampf" gegen singhalesische Regierungstruppen. Ihr Ziel ist die Schaffung eines unabhängigen, sozialistischen Staats "Tamil Eelam". Es gelang den LTTE im April 2000, die Elefantenpassage und somit die einzige Landverbindung zur Halbinsel Jaffna, der traditionellen Hochburg der Tamilen, einzunehmen. Die Organisation hat auch im Internet ihre unverminderte Bereitschaft zum Kampf in aller Deutlichkeit erneut manifestiert. In dieser Veröffentlichung wurde im Sommer 2000 erstmals der territoriale Umfang ihrer Forderungen deutlich. In drei Phasen sollen zunächst der überwiegend von Tamilen bewohnte Norden und Osten, danach die ganze Insel Sri Lanka und schließlich sogar der indische Bundesstaat Tamil Nadu71 einbezogen werden. Außerdem droht die Organisation der internationalen Gemeinschaft mit weitreichenden Repressalien. In den Verlautbarungen heißt es u.a.: "Wir werden jeden töten, der unseren Weg nach Tamil Eelam behindert. Es ist egal, ob es sich um einen Singhalesen, Tamilen, Moslem, Schwarzen oder Weißen handelt. Wir werden jeden ausrotten, der sich unserer Vision entgegenstellt - unserem Kampf für ein Heimatland der Tamilen." Ein Ende des Guerillakriegs72 ist trotz internationaler Vermittlungsversuche nach wie vor nicht in Sicht. 71 Nach Ausbruch des Bürgerkriegs auf Sri Lanka (1983) fanden dort viele tamilische Kämpfer Zuflucht. 72 Seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahre 1983 sind über 60.000 Menschen getötet worden. 139 Angesichts drastisch gestiegener Kriegskosten für den von der Organisation geführten Kampf auf Sri Lanka und der daraus resultierenden desolaten finanziellen Lage ist die LTTE-Führung wieder verstärkt auf Spenden der im Ausland lebenden Landsleute angewiesen. Die nach streng hierarchischen Prinzipien gegliederte deutsche Sektion leistete ihren finanziellen Beitrag, indem sie von allen hier lebenden Tamilen monatlich festgelegte "Steuern" erhob bzw. anlassbezogene Spendengeldaktionen durchführte. Des Weiteren ergingen von der Kommandozentrale auf Sri Lanka für die im Ausland operierenden Führungskader Vorgaben, das Spendenaufkommen zu steigern, mehr LTTE-Propagandamaterial zu verteilen sowie insgesamt die Akzeptanz der Organisation bei den hier lebenden Tamilen zu fördern. Die LTTE versuchen das Leben der Tamilen bis in den Privatbereich zu durchdringen, sie zu indoktrinieren und an die Organisation zu binden, z.B. durch Freizeiteinrichtungen, Schulen, Kindergärten und sogenannter "Volksläden" (u.a. in Stuttgart), durch die Gründung verschiedener Nebenorganisationen73, sowie die intensive Nutzung moderner Medien wie Fernsehen, Rundfunk und Internet. Weitere Einnahmequellen werden durch den Verkauf von Propagandamaterial erschlossen. Im Jahr 2000 wurden in Baden-Württemberg wieder mehrere Veranstaltungen durchgeführt, an denen bis zu 1.600 Personen teilnahmen (beispielsweise am 17. Juni 2000 anlässlich der Rückeroberung des Elefantenpasses durch die "Tamil Tigers"). Zu einer Protestdemonstration gegen den sri-lankischen Staat am 3. April 2000 vor dem UN-Büro in Genf konnten über 4.000 Personen, darunter mehrere hundert Teilnehmer aus Baden-Württemberg, mobilisiert werden. In Baden-Württemberg können ca. 80 Personen74 dem engeren LTTE-Umfeld zugerechnet werden. Stützpunkte existieren in Bad Friedrichshall, Heilbronn, Ludwigsburg und Stuttgart. 73 Hierzu zählen die "World Tamil Movement" (WTM), die "Tamil Rehabilitation Organisation" (T.R.O) und der "Tamilische Studentenverein Deutschland e.V." (T.S.O). 74 In Baden-Württemberg leben derzeit über 6.500 Personen aus Sri Lanka (Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stand: 31.12.1999). 140 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Allgemeiner Überblick Scientology sei pleite, schrieb im Dezember 1998 ein deutsches Nachrichtenmagazin. Diese Annahme, die sich hauptsächlich auf die missliche finanzielle Lage der Hamburger Scientology-Niederlassung bezog, hat sich im Hinblick auf die ScientologyOrganisation (SO) in Baden-Württemberg als Fehleinschätzung erwiesen. Während andere Organisationseinheiten der SO teilweise tatsächlich mit existenziellen Problemen kämpfen, konnte die Stuttgarter Niederlassung im Jahr 2000 im internationalen Scientology-Vergleich75 zumindest zeitweise einen Spitzenplatz belegen. Die "Class V Org"76 Stuttgart dürfte ihre finanzielle Basis somit zumindest wieder stabilisiert haben. Scientology ist es im Jahr 2000 gelungen, in Baden-Württemberg neue Anhänger zu gewinnen, wenn auch nicht in großem Umfang. Dadurch war es möglich, die Abgänge durch "Aussteiger" weitgehend auszugleichen und den Mitgliederbestand in etwa zu halten. Nach einem Boom zu Beginn der neunziger Jahre und einem darauf folgenden teils massiven Abwärtstrend ist landesweit nun eine gewisse Stabilisierung eingetreten. Darüber hinaus versucht die SO-Niederlassung in der Landeshauptstadt, ihren Aktionsradius durch verstärkte Aktivitäten im so genannten Feldauditorenbereich ("Dianetikgruppen")77 auszubauen. Alles in allem gelingt es der SO in BadenWürttemberg noch immer vergleichsweise gut, ihre Mitglieder zu erheblichen Geldzahlungen zu bewegen. Wenn auch von der Öffentlichkeit nicht mehr besonders wahrgenommen, wird seitens der Organisation weiterhin intensiv um neue Mitglieder geworben. Die SO präsentiert 75 "Rons Birthday Game": Weltweiter Wettbewerb aller "Orgs" untereinander, dessen Stichtag jeweils der 13. März ist. "Sieger" ist die Organisationseinheit, welche die besten Statistiken (betreffend Umsatz, Auditing, Mitgliedergewinnung usw.) erreicht hat. 76 Die einer "Mission", d.h. der SO-Basisorganisation, übergeordnete Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 77 Auditor: Person, die scientologische Verfahren zur Persönlichkeitsveränderung anwendet. Feldauditoren praktizieren außerhalb der "Org". Dianetik ist die Methode zur ideologischen Umerziehung, mit der die SO beansprucht, unerwünschte Empfindungen und Emotionen, irrationale Ängste und psychosomatische Krankheiten zu beseitigen. 141 sich im Internet, verteilt verstärkt Werbematerial und führt Veranstaltungen durch. Scientologen nehmen Ansprachen im persönlichen Umfeld vor und schrecken dabei auch nicht davor zurück, persönliche Abhängigkeiten auszunutzen. Beispiel: - Das Mitglied eines Prüfungsausschusses an einer Hochschule in BadenWürttemberg versuchte, eine Studentin für Scientology zu interessieren. Als die Hochschulleitung daraufhin die Zusammenarbeit mit dem SO-Mitglied beendete, erhob die betreffende Person in einem Schreiben schwere Vorwürfe, wegen ihrer "Religionszugehörigkeit diskriminiert" zu werden und bestritt den Werbungsversuch. Die Person sah ihre SO-Zugehörigkeit als "Privatsache" an, die sie angeblich von ihren beruflichen Verpflichtungen trenne. Gleichzeitig bekannte sie sich aber dazu, eine Führungskraft der Hochschule persönlich zu einer ScientologyWerbeveranstaltung eingeladen zu haben. Das SO-Mitglied scheute auch nicht vor unterschwelligen Drohungen gegenüber der Hochschulleitung zurück: "...Eine Erwähnung des vorliegenden Vorgangs, z.B. im jährlichen Menschenrechtsbericht des amerikanischen Außenministeriums, würde sicherlich nicht nur bei den amerikanischen Partnerhochschulen... auf Unverständnis stoßen..." Eine neue Variante der Mitgliederwerbung ist das Eingehen auf Stellengesuchsanzeigen in Tageszeitungen. Wer im Bereich Stuttgart und Karlsruhe ein entsprechendes Inserat aufgibt, kann unter Umständen mit Zuschriften des "DIANETIK-Informationszentrum Dianetic Stuttgart e.V." rechnen. Bemerkenswert erscheint dabei, dass die Antwortschreiben offensichtlich nicht gezielt auf Berufswünsche eingehen. Die im Frühjahr 2000 in Stuttgart durchgeführten Ausstellungen "Was ist Scientology?" und "L. Ron Hubbard, Ein Schriftsteller für den Menschen" waren Teil einer europaweiten Imagekampagne, mit der die SO sich als eine selbstlose Religionsgemeinschaft und den Scientology-Gründer L. Ron Hubbard (1911-1986) als Menschenfreund und universelles Genie darzustellen versuchte. Gegenüber der Öffentlichkeit und den Mitgliedern propagierte die Organisation dabei angebliche Expansionserfolge und behauptete, eine überaus große Resonanz bei Bevölkerung und 142 Medien erzielt zu haben. Dies entsprach allerdings nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Bei dem Versuch, Räumlichkeiten, für ihre Ausstellungen anzumieten, gingen Scientologen in Einzelfällen massiv oder konspirativ vor. Nachdem ein Hotel einen Mietvertrag mit der SO abgelehnt hatte, verglich die SO die Nichtvermietung von Räumen mit einer Versagung grundlegender Menschenrechte und drohte, wegen angeblicher Diskriminierung die Vereinten Nationen einzuschalten. Dadurch sollte das Hotelmanagement offenkundig eingeschüchtert und wegen einer eventuellen Rufschädigung zu einer Vermietung bewegt werden. In einem anderen Fall gaben die Scientologen ihren Hintergrund zunächst nicht zu erkennen bzw. traten als Repräsentanten eines Verlages auf, dessen Nähe zur SO weniger bekannt ist. Eine weitere, bereits 1999 begonnene PR-Maßnahme der SO war die "Bibliothekenkampagne". Sie hatte zum Ziel, Scientology-Literatur flächendeckend in öffentlichen Büchereien einzustellen. Die SO behauptet, bereits 2.500 Bibliotheken mit Scientology-Büchern beliefert zu haben. Zur Finanzierung der Aktion erfolgte ein Spendenaufruf an die Mitglieder, wobei behauptet wurde, es gebe "eine Art Zensur" in Deutschland. Die Werbemaßnahmen der SO und ihrer Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) konzentrierten sich im Jahr 2000 auf Bildungsund Erziehungseinrichtungen. An Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung wurden Imageund Propagandamaterialen versandt. Im Einzelfall suchten KVPM-Aktivisten gezielt den persönlichen Kontakt, beispielsweise besuchten sie im Februar 2000 im Raum Stuttgart eine Informationsveranstaltung zum Thema "hyperaktive Schulkinder". Sie versuchten, durch offensives Auftreten die scientologische Sichtweise des Problems zu propagieren. In den Veranstaltungspausen sprachen die KVPM-Anhänger zu dem gleichen Zweck Lehrer und Eltern persönlich an. Mit gleicher Zielrichtung versuchte die KVPM, eine Klinik für Psychotherapie unter Druck zu setzen. Zunächst erhob ein KVPM-Anhänger, der sich als "Sachbuchautor" ausgibt, schwere Vorwürfe gegen die Psychiatrie und unterstellte ihr völliges Versagen und eine Schädigung der Patienten. Er bot der Klinik an, diese Vorwürfe vor Veröffentlichung seines neuen Buches zu widerlegen, indem sie einer Befragung ihrer Patienten über 143 Therapiemethoden durch ihn und eine KVPM-Funktionärin zustimme. Er setzte eine Frist und wertete vorab das Ausbleiben einer fristgerechten Antwort als Eingeständnis, dass die "erhobenen Vorwürfe wohl zutreffend sind." Die Klinik schaltete daraufhin einen Rechtsanwalt ein. 1.2 Scientology in Zahlen Scientology behauptet von sich, "eine der am schnellsten wachsenden Religionen" zu sein. Um die angeblichen Expansionserfolge zu belegen, wird durch die ständige Bekanntgabe einer weit übertriebenen Mitgliederzahl - weltweit angeblich "7 bis 8 Millionen" Scientologen, davon 30.000 im Bundesgebiet - versucht, den Eindruck dauerhaften "Zulaufs" zu vermitteln. Tatsächlich bewegt sich die Zahl der aktiven Anhänger der SO in Baden-Württemberg in den letzten Jahren gleichbleibend bei etwa 1.200 und bundesweit etwa bei 5.000 bis 6.000 Personen. Baden-Württemberg zählt mit dem bundesweit dichtesten Organisationsnetz neben Bayern und dem Raum Hamburg zu den Schwerpunkten der SO in Deutschland: Class V Org in Stuttgart, etwa 700 aktive Mitglieder Fünf Missionen, jeweils eine in Ulm, Karlsruhe, Göppingen, Heilbronn, Reutlingen; die "Mission" in Freiburg/Breisgau ist erloschen Dianetikgruppen in Stuttgart, Welzheim und Ostfildern Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM), je ein Verein in Stuttgart und in Karlsruhe World Institute of Scientology Enterprises (WISE) Laut Eigenangaben rund 30 Personen bzw. Firmen aus Baden-Württemberg, überwiegend im Management-, Immobilienoder Finanzdienstleistungsbereich. Nach Erkenntnissen des Landesamtes dürften etwa 60 WISE-Mitglieder im Land tätig sein. Ein Hubbard College of Administration (HCA) sowie ein WISE Charter Comittee" (WCC) befinden sich in Göppingen. Im "Missions"-Bereich besitzen nur die Niederlassungen in Ulm, Karlsruhe und Göppingen einen nennenswerten Mitgliederstamm, wobei Ulm mit nahezu 200 Personen die mitgliederstärkste "Mission" Deutschlands sein dürfte. Die Karlsruher Niederlassung erreicht - als zweitgrößte - nicht die Größe der Organisationseinheit in Ulm, die "Mission" Göppingen verfügt über ca. 40 - 60 Mitglieder. Die "Missionen" 144 Reutlingen und Heilbronn sind dagegen fast bedeutungslos. An internen Veranstaltungen der Scientology-Organisation in Baden-Württemberg beteiligten sich zwischen 50 und 300 Personen. 2. Aktivitäten des "Office of Special Affairs" (OSA) "...Und wir beabsichtigen, alles aus dem Weg zu räumen, was aus dem Weg geräumt werden muss, egal, wie groß es ist, um eine Zivilisation zu schaffen, die überleben kann... Wir meinen es ernst..."78. Entgegen öffentlicher Verlautbarungen der SO übernimmt das OSA klassische nachrichtendienstliche Aufgaben, wie z.B. die systematische Sammlung und Auswertung von Informationen. Insbesondere Kritiker sollen dann durch Diffamierungen in Misskredit gebracht und dadurch unglaubwürdig gemacht werden. Dabei verfügt die SO offensichtlich über ein umfangreiches Archiv. Im Jahr 2000 wurde bekannt, dass die zwischenzeitlich erloschene Stuttgarter Scientology-Gruppe "Mitbürger unterstützen Toleranz" (MUT) keine Bürgerrechtsgruppe zur Förderung der Toleranz war, sondern im Benehmen mit OSA Stuttgart dazu diente, Scientology-Kritiker und deren Aktivitäten systematisch abzuklären. MUT-Aktivisten begaben sich auch in Podiumsveranstaltungen von Scientology-Gegnern. Danach wurden Berichte über den Veranstaltungsverlauf für das OSA gefertigt. Folgende Passage eines Berichtes offenbart die nach wie vor angewandte Taktik der Diffamierung: "Ich machte mehrere Zwischenrufe, rückte seine Aussagen in die Nähe des Dritten Reiches ...In einer längeren Redeschlacht mit mir habe ich ihn als rechtsradikal tituliert. Auch immer wieder als Lügner... und ich stellte ihn immer wieder in die Ecke des Dritten Reiches. Auch als den größten Lügner, der mir je untergekommen ist. Nach der Veranstaltung standen die Leute noch eine Viertelstunde länger um mich herum (heiße Diskussion), als um .... Er sagte sogar Auf Wiedersehen zu mir." Das OSA würdigt Gegner durch die Art der Bilddarstellung in der breit gestreuten Scientology-Zeitschrift "Freiheit" gezielt herab und führt sie als angebliche Kriminelle 78 Church of Scientology AOSH EU & AF (Hrsg.), Flugblatt "Hast du mitgeholfen?", Copyright 1992. 145 oder Geisteskranke vor. Im Jahr 2000 wurden Rundschreiben an die Verfassungsschutzbehörden versandt, in denen Scientology-Kritiker auf das Heftigste verunglimpft wurden, eine Taktik, die in der SO als "Dead Agenting"79 bezeichnet wird. Das OSA versucht auch auf offene Weise, an Informationen zu gelangen (so genannte "overt data collection"). Ein aus Baden-Württemberg stammender mutmaßlicher OSAAngehöriger führte bei kirchlichen und staatlichen Beratungsstellen in mehreren anderen Bundesländern "Datensammelaktionen" durch. Auslöser war das in diesen Ländern neu eingeführte Informationszugangsgesetz, welches Dritten umfangreiche Akteneinsicht gestattet. Es handelte sich offenkundig um den Versuch, den Kennntnisstand der genannten Stellen über die SO festzustellen. Im Herbst 2000 rief unter einem Pseudonym mehrmals ein "Journalist" bei verschiedenen Landesämtern für Verfassungsschutz an. Der erkannte Scientologe versuchte, unter dem Vorwand einer journalistischen Recherche interne Informationen zu erlangen. Dabei interessierte er sich insbesondere für die Arbeitsschwerpunkte sowie den Mittelund Personaleinsatz der Verfassungsschutzbehörden bei der Beobachtung der SO. Das "Deutsche Büro für Menschenrechte" in München, dessen Aufgabenstellung für eine OSA-Anbindung spricht, setzte seine Propagandakampagne weiter fort und versuchte mit Nachdruck gegen die Verwendung von Schutzerklärungen80 in der Wirtschaft vorzugehen. Das folgende Beispiel zeigt, dass die SO-Zentrale in den USA Einfluss auf deutsche Behörden nehmen will und entsprechende Maßnahmen keinesfalls nur ihrer Organisation in Deutschland überlässt. Als im Jahr 2000 die Handelsbeauftragte der US-Regierung nach dem Vorstoß eines hochrangigen amerikanischen Scientologen die Verwendung von Schutzerklärungen in Deutschland rügte, wurde dies seitens der SO massiv propagandistisch ausgeschlachtet. Damit gelang es der SO erstmals, ihre Konfliktstrategie gegen Deutschland auf die Ebene der US-amerikanischen internationalen Wirtschaftspolitik zu verlagern. 79 Die SO versteht unter diesem Begriff die Vernichtung der Glaubwürdigkeit von Scientology-Gegnern. 80 Eine Erklärung, die beispielsweise festlegt, dass der Mitarbeiter oder Vertragspartner die Managementtechnologie Hubbards nicht anwendet bzw. ablehnt. Derartige Erklärungen dienen dem Schutz vor Einflussnahme durch Unternehmensberater, die Managementkonzepte nach Hubbard vermarkten. 146 In einer Rede legte der Leiter des OSA, Mike RINDER, seine Sichtweise des "Krieges" der SO gegen Deutschland dar und erweckte den Eindruck, dass die SO der USHandelsbeauftragten Aufträge erteilen kann81. RINDER über die Rolle der USHandelsbeauftragten : "...Eine negative Auskunft dieses Büros reicht, damit ein Land Handelsumsätze in Millionenoder gar Milliardenhöhe verliert.....Einer der lauteren und härteren Gradienten besteht darin, dass eine Regierung auf die Watch List [etwa: Überwachungsliste] der Repräsentantin für Handelsbeziehungen gesetzt wird....am 4. Mai warf die US-Repräsentantin für Handelsbeziehungen eine Bombe auf die Deutschen ab und setzte sie auf die internationale Watch List..." Im Zusammenhang mit angeblichen Copyrightverletzungen in Schweden merkte er an: "...Sie verstand die Bedeutung dieses Auftrags und ergriff sofort entsprechende Maßnahmen. Richtig, Schweden wurde auf die internationale Watch List gesetzt, weil es die Rechte des RTC82 und der Scientology-Religion verletzt hatte..." 3. Die "Sea Org" - eine paramilitärische Kaderschmiede Die SO-Niederlassungen in Baden-Württemberg sind angesichts der globalen Strategie nicht eigenständig, sondern Teil einer hierarchischen, straff von den USA aus geführten internationalen Organisation. In diesem Zusammenhang wurde mehrfach das Auftreten von Mitgliedern der "Sea Organization" ("Sea Org") in den SO-Niederlassungen im Land festgestellt. Die "Sea-Org" betreibt Rekrutierungsstellen in internationalen Organisationseinheiten, die auch Anwerber ("Sea Org recruiters") in nationale SO-Niederlassungen entsendet. Daher sind auch aus Baden-Württemberg stammende Scientologen in der "Sea Org" - bis hin zu Führungspositionen - feststellbar. Die "Sea Org" wurde 1967 durch L. Ron Hubbard gegründet und ist nach Angaben von Aussteigern eine paramilitärische Kadertruppe, von der de facto die gesamte Macht und Kontrolle über die SO ausgeht. Der ehemalige hochrangige SO-Manager Jesse Prince bezeichnete die "Sea Org" als "...den eigentlichen Knotenpunkt, der das Reich von 81 "Impact" Nr. 90/2000, S. 8ff. 82 Das "Religious Technology Center" (RTC) in Los Angeles ist die Befehlszentrale der SO unter der Leitung von David MISCAVIGE. Es koordiniert seit 1982 die lizensierte Vergabe der Rechte fast aller Namenszüge, Titel, Begriffe und eingetragenen Warenzeichen der SO. 147 Scientology kontrolliert. Das Personal der Sea-Organization ist befugt, andere Scientology-Organisationen zu übernehmen und zu beaufsichtigen und das Personal zu degradieren..."83. Nach eigener Einschätzung ist die "Sea Org" "der einzige Garant für das Überleben der Scientology Technologie auf diesem Planeten"84. Das Selbstverständnis dieser uniformierten Truppe beruht auf dem Prinzip von Befehl und bedingungslosem Gehorsam. Die "Sea Org", die sich als Elite versteht, idealisiert Härte, "straffe Disziplin" und die Bereitschaft, "durch die Hölle zu gehen." Die Mitglieder sollen jeglichen Widerstand gegen die "globale Expansion" der SO "zerschlagen", "ausrotten" bzw. "ausschalten"85. Aussteiger berichten, dass die "Sea Org" eigene Straflager, so genannte "Rehabilitation Project Forces" (RPF) betreibt. Die SO bestreitet gegenüber der Öffentlichkeit nicht die Existenz der RPF, stellt sie jedoch als eine Einrichtung zur "Läuterung" Einzelner dar86. Nach Eigenangaben gehören der "Sea Org" etwa 5.000 Personen an. Führungspositionen in der oberen Managementhierarchie und Mitarbeiterposten ab der "kontinentalen" Ebene, z.B. in der Europazentrale in Kopenhagen, werden in der Regel mit "Sea Org"-Mitgliedern besetzt. Ein Teil der "Sea Org", der ebenfalls auf Hubbard zurückgeht, ist die "Commodore Messengers Org" (CMO). Dabei handelt es sich um eine Art Kadettenanstalt in den USA, in der Kinder und Jugendliche auf künftige Führungsaufgaben vorbereitet werden. Hinweisen zufolge versuchten "Sea Org Recruiters" auch schon in Baden-Württemberg, jugendliche Scientologen anzuwerben. 83 Quelle: Internet http://www.access.ch/pwidmer/SCI/jesseaff.html, Stand Oktober 2000. 84 Quelle: Internet http://www.sky.net/-sloth/sci//Atack.affdv, Stand Februar 2000 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 85 Sea-Org Jahrgangszeitschriften "High Winds" 1996 - 1998. 86 Zu diesem Thema wurde im Oktober 2000 von der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg eine Studie von Prof. Stephen Kent (Soziologe an der Universität von Alberta/Kanada) als Broschüre unter dem Titel "Gehirnwäsche im Rehabilitation Project Force (RPF)" herausgegeben. 148 4. Anhaltspunkte für die Ablehnung der Demokratie durch die SO 4.1 Hass und Verachtung gegenüber unserer Gesellschaft Hubbards nach wie vor gültige Führungsanweisungen87 und seine politischen Aufsätze sind immer wieder von Hass und Verachtung gegenüber der nichtscientologischen Gesellschaft geprägt. Die mitunter wahnhaft anmutenden Verschwörungstheorien der SO sollen glauben machen, die Psychiatrie, "Hauptfeind" der SO, würde demokratisch gewählte Regierungen lenken oder die Justiz unterwandern. Ziel ist offenkundig, gegenüber dem demokratischen Staat Feindbilder aufzubauen und Ängste zu schüren. Die SO versucht mit unterschiedlichsten Mitteln, ein Zerrbild der Bundesrepublik Deutschland zu entwerfen und als einen angeblichen Unrechtsstaat darzustellen, indem sie ihr zentrale Merkmale einer Diktatur zuordnet. Über breit gestreute Publikationen und das Internet erfolgt eine planmäßige Herabsetzung des Ansehens Deutschlands und die Verunglimpfung seiner führenden Repräsentanten. So soll beispielsweise der Eindruck erweckt werden, dass verschiedene Grundrechte in Deutschland nicht gewährleistet oder in akuter Gefahr seien. Den Medien, die sachlich und kritisch über die SO berichten, wird vorgeworfen, gelenkt zu sein. Mit Schlagworten wie "Die Medien werden Ihnen diese Geschichte nicht erzählen" oder durch die Behauptung einer "massiven Indoktrination" der deutschen Bevölkerung durch Politiker will die SO den Eindruck erwecken, dass die Pressefreiheit in Deutschland nicht wirklich existiert. Stattdessen wirft die SO den Medien sogar vor, die Öffentlichkeit gegen Scientology "aufzuhetzen"88. Durch die bildliche Darstellung eines "in Flammen stehenden" Grundgesetzes oder einer brennenden Justitia werden Behauptungen in Scientology-Publikationen mit suggestiven Mitteln verstärkt. Vergleiche mit den "Bücherverbrennungen" während der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dürften beabsichtigt sein. Das Festhalten an dem Vorwurf, "Nazi-Psychiater" seien in Deutschland nach wie vor aktiv und anerkannt, soll eine gesellschaftspolitische Kontinuität zum Dritten Reich konstruieren. Die 87 Hauptsächlich "Policy Letters" (HCO-PL) und "Technical Bulletins" (HCO-B). 88 "Fünfzehn Jahre Erfolg bei der Vereinigung, der Förderung, der Unterstützung und dem Schutz der Scientology-Religion und von Scientologen", Sonderjahresbericht der International Association of Scientologists (IAS) an ihre Mitglieder aus Anlass ihres fünfzehnjährigen Bestehens, 1999, S. 92. Bei der IAS handelt es sich um die internationale Mitgliedervereinigung der SO. 149 Maßlosigkeit der Vorwürfe gipfelt unter anderem darin, rechtsstaatliche Maßnahmen in Deutschland in die Nähe von "völkermörderischen Übergriffen89" zu rücken. 4.2 Konstruierte "religiöse Verfolgung" Um die eigenen Absichten ungestört verfolgen zu können, versucht die SO einen möglichst unangreifbaren Status - z.B. den einer anerkannten Religionsgemeinschaft - zu erlangen. David MISCAVIGE hatte in einem Interview mit der "St. Petersburg Times" im Oktober 1998 das Ziel dargelegt, bis zum Jahre 2000 in den wichtigsten europäischen Ländern die Steuerbefreiung bzw. eine "religiöse Anerkennung" für Scientology zu erreichen90. Um Deutschland im Ansehen der Weltöffentlichkeit herabzusetzen, schrecken SOMitglieder auch nicht davor zurück, schriftliche Belege zu fingieren und damit die Justiz zu täuschen. Im November 1997 veröffentlichten deutsche und amerikanische Medien die Geschichte einer deutschen Staatsbürgerin, die in den USA um politisches Asyl nachgesucht und dieses auch erhalten hatte. Als Grund hatte die Frau angegeben, dass sie Scientologin sei und aus "Furcht vor Verfolgung ihres Glaubens" Deutschland verlassen habe. Tatsächlich wollte sich die Scientologin drohenden Vollstreckungsmaßnahmen deutscher Finanzbehörden wegen Steuerschulden entziehen. Im Sommer 2000 ergab die Recherche von Journalisten des Nachrichtenmagazins "Stern"91, dass der Fall offensichtlich von Scientology inszeniert worden war, um Deutschland international an den Pranger zu stellen. Mehrere der SO angehörende deutsche Firmeninhaber - darunter auch Unternehmer aus Baden-Württemberg - verfassten Schreiben, in denen der Frau auf ihre Stellenbewerbung unter Hinweis auf ihre Scientology-Zugehörigkeit eine Absage erteilt wurde. Einige dieser Schreiben an die Deutsche waren bereits vorsorglich in Englisch abgefasst worden. Damit sollte dem Einwanderungsrichter in den USA der "Beweis" 89 Ebd.: "...In Kanada und Deutschland wurden tückische Razzien auf unsere Kirchen verübt, die an die völkermörderischen Übergriffe auf Religionen in ,weniger informierten' Zeiten und Gesellschaften der Geschichte erinnerten...". 90 "St. Petersburg Times", 25. Oktober 1998. 91 "Stern" Nr. 27/2000. 150 geliefert werden, dass in Deutschland viele Scientologen arbeitslos seien und es für praktizierende "Glaubensanhänger" der SO fast unmöglich sei, dort ein normales Leben zu führen. Nachdem der Frau Asyl in den USA gewährt worden war, sandte sie einem scientologischen Mitstreiter eine "Belobigung" für seine Mitwirkung. Der OSA-Funktionär Kurt WEILAND verkündete dann Anfang November 1997, die Frau habe "klar und überzeugend" demonstriert, dass ihre Furcht vor "Verfolgung" begründet gewesen sei. Der Grund für die massiven Angriffe auf den deutschen Staat dürfte in dem FreundFeind-Denken innerhalb der SO zu finden sein. Wer die SO kritisiert oder sich ihren Zielen entgegenstellt, gilt als "Feind", der in einem entfesselten "Krieg" mit massiven Mitteln bekämpft werden darf. Scientologen sind überzeugt, das einzig funktionierende Konzept zur Gestaltung der Gesellschaft und des Staats zu besitzen: "Dianetik und Scientology sind die einzige Hoffnung für die Menschheit. Keine andere Technologie ist in der Lage, den Menschen zu befreien und eine Gesellschaft zu schaffen, in der Vernunft regiert... Doch unglücklicherweise gibt es einige Leute, die den Menschen lieber in Ketten sehen..."92. 4.3 Das scientologische Konzept für eine "neue Zivilisation" In der SO zeigt sich die von Hubbard entworfene Gegengesellschaft mit eigenen Gesetzen, eigener Justiz und eigenem Nachrichtendienst. Durch ein umfassendes Angebot angeblicher Therapiemöglichkeiten und Sozialreformen soll der Öffentlichkeit suggeriert werden, dass die SO zentrale gesellschaftliche Bereiche revolutionieren könne. Hinter einer religiösen, gemeinnützigen Fassade verbirgt sich jedoch ein Programm, das mit der Werteordnung unserer Demokratie unvereinbar ist. Die SO propagiert zur Schaffung einer "neuen Zivilisation" Ziele, die zahlreiche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen enthalten. So wären nach Umsetzung ihrer Ideologie fundamentale Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Gewaltenteilung, Demokratieprinzip, Recht auf Ausübung der Opposition oder Gesetzmäßigkeit der Exekutive außer Kraft gesetzt. Im Standardwerk "Dianetik" spricht Hubbard von dem Ziel einer perfekten Gesellschaft mit - im 92 "Fünfzehn Jahre Erfolg bei der Vereinigung, der Förderung, der Unterstützung und dem Schutz der Scientology-Religion und von Scientologen", Sonderjahresbericht der International Association of Scientologists (IAS) an ihre Mitglieder aus Anlass ihres fünfzehnjährigen Bestehens, 1999, S. 2. 151 scientologischen Sinne - perfekt funktionierenden Menschen ("Clears"), denen allein es erlaubt sein sollte, über Bürgerrechte zu verfügen. Zur Verbreitung scientologischer Techniken in der Gesellschaft unterhält die SO ein weltweites Netzwerk von "Hubbard Colleges of Administration" (HCA). Eine der deutschen Niederlassungen befindet sich in Göppingen. Laut der Internet-Website der Zentrale HCAI93 in den USA ist das Ziel dieses Netzwerkes die Verbreitung der scientologischen Verwaltungstechnologie ("Admin Tech") und "Ethik"94 in der Wirtschaft, staatlichen Behörden, Verbänden und Medien. Kernstück der "Verwaltungstechnologie" nach Hubbard ist ein totalitäres Kontrollsystem. Durch intensive Überwachung und Disziplinierung des Einzelnen werden mittels persönlicher "Statistiken" dem Betroffenen "Ethikzustände" zugewiesen. Diese "ethischen" Daseinszustände werden beispielsweise als "Macht" oder "Überfluß" bis hin zu "Feind" oder "Verrat" bezeichnet95. Während Mitarbeiter mit hoher Statistik ("Upstats") nach scientologischer Sichtweise in aller Regel im Recht sind, soll gegen diejenigen mit niedriger Statistik ("Downstats") äußerst rigide vorgegangen werden: "...Kurz gesagt, ein Mitarbeiter kann ,sich alles erlauben', solange seine Statistik oben ist, und wenn sie unten ist, kann er nicht einmal ,niesen', ohne einen Hieb zu erhalten... Es ist leicht, Mitarbeiter zu disziplinieren, und es ist hart, die Öffentlichkeit zu disziplinieren... Für mich kann ein Mitarbeiter, dessen Statistiken oben sind, nichts unrechtes tun..."96 Der Einzelne ist außerdem gehalten, über nicht Scientology-konformes Verhalten anderer "Wissensberichte" zu fertigen. Scientology behauptet auf der Website des HCAI, mit Hubbards administrativen Techniken auch politische Organisationen und Staaten optimal steuern und den 93 HCAI: "Hubbard College of Administration International". 94 Scientologische "Ethik" hat keinen Bezug zu den Grundsätzen sittlichen und moralischen Handelns. "Ethik" im Sinne von Scientology bedeutet rücksichtslose Durchsetzung eigener Ziele und Beseitigung von "Gegenabsichten". 95 L. Ron Hubbard, Einführung in die Ethik der Scientology, Kopenhagen, 1998, S. 75ff. 96 Ebd., S. 251ff. Im englischen Original lautet eine Passage: "In short a staff member can get away with murder so long as his statistic is up and can't sneeze without a chop if it's down" (L. Ron Hubbard, The Organization Executive Course, Basic Staff Volume 0, Los Angeles 1976, S. 174). 152 Abwärtstrend eines Landes vollständig umkehren zu können. Gleichzeitig wird unterschwellig das Sozialstaatsund Demokratieprinzip verworfen und für sozialdarwinistische Vorstellungen geworben. Die SO beabsichtigt nicht, in Form einer Partei an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Vielmehr sollen scientologisch trainierte Personen "Schlüsselpositionen" in der Gesellschaft besetzen, diese im Sinne der SO nutzen und durch Gewinnung weiterer Personen das "Parallelsystem" Scientology mit dem Endziel politischer Machterlangung etablieren97. Schlagworte wie "Clear Deutschland" bedeuten, langfristig politische Macht zu erlangen. Ehemalige hochrangige SO-Mitglieder bestätigten den angestrebten politischen Herrschaftsanspruch. "Einfachen" SO-Mitgliedern an der Basis seien die Ziele der Führungsspitze oder die mögliche Tragweite einer scientologisch organisierten Gesellschaft häufig nicht in ihrer Gesamtheit bekannt. Für das Ziel des "geklärten" Staates wird zwar ständig geworben, jedoch fehlt in aller Regel die detaillierte Darstellung. Vertrauliche Richtlinienbriefe oder Strategiepapiere sind oftmals nur der Führungsebene zugänglich. 4.4 Die scientologische "Justiz" "... Ich lade Sie dazu ein, das zu untersuchen, was in unserer heutigen Gesellschaft lachhafterweise als ,Recht' gilt...98". Die SO lehnt die ordentliche Gerichtsbarkeit bei Konflikten zwischen Scientologen unter Androhung des Auschlusses aus der Organisation ab. Sie setzt für Mitglieder eine scientologische Justiz99 an Stelle der Gerichte des Rechtsstaates, welche stattdessen verächtlich gemacht werden. Das scientologische Rechtssystem ist in seiner Konzeption nicht an die im Grundgesetz konkretisierten Grundund Menschenrechte gebunden und enthält Anhaltspunkte für das Ziel der Errichtung einer Gewaltund Willkürherrschaft 100. Ein WISE-Charter Comittee in Baden-Württemberg legte in einer "Exekutiv Direktive" die Regeln für Scientologen unmißverständlich fest: 97 L. Ron Hubbard, HCOB vom 10.06.1960, teilweise zitiert im 2000 verteilten Flugblatt "Was wir von einem Scientologen erwarten". 98 L.Ron Hubbard, Einführung in die Ethik der Scientology, Kopenhagen 1998, S. 8. 99 Die SO besitzt zu diesem Zweck "Komittees der Beweisaufnahme", "Ethik"-Gerichte und im WISEBereich "WISE Charter Comitees" (WCC). 100 z.B. in: L. Ron Hubbard, Handbuch des Rechts, Kopenhagen, 1979 (Copyright 1989). 153 "...1. Ein Scientologe darf gegen einen anderen Scientologen kein gerichtliches Mahnverfahren einleiten (Mahnbescheid). 2. Ein Scientologe darf eine Forderung gegen einen anderen Scientologen nicht an einen Nicht-Scientologen abtreten und dieser würde dann gerichtlich gegen den Scientologen vorgehen. 3. Ein Scientologe darf nicht vor Gericht gegen einen anderen Scientologen Klage erheben. 4. Ein Scientologe darf sich zwar anwaltlich beraten lassen, dieser Anwalt darf aber dann auch nicht in Vertretung für den Scientologen den anderen verklagen. 5. Ein Scientologe darf einen anderen Scientologen nicht bei der Polizei anzeigen oder der Polizei melden. Erhält ein Scientologe Kenntnis von einer ungesetzlichen Tat eines anderen Scientologen, muss dies selbstverständlich gehandhabt werden und wird ggf. auch den Behörden gemeldet. Dies geschieht jedoch ausschließlich via WISE. 6. Ein Scientologe darf nicht eine Firma verklagen, die einem anderen Scientologen gehört oder in der ein anderer Scientologe auch nur Gesellschafter ist. Verstöße gegen obige Punkte 1-6 sind unterdrückerische Handlungen und werden gemäß den Standard-Ethik-Verfahren gehandhabt. Eine Empfehlung eines Scientologen an einen anderen Scientologen, eine der obigen Handlungen zu tun, wird ebenfalls als unterdrückerische Handlung gehandhabt..." Im Jahr 2000 wurde beispielsweise bekannt, dass ein Scientologe über längere Zeit hinweg versucht hat, über scientologische "Linien" eine Geldforderung gegen ein anderes Mitglied einzutreiben. Der Versuch blieb erfolglos. Als er ein Zivilgericht einschalten wollte, erhielt er folgendes Schreiben von einem SO-Funktionär aus den USA: "Dein Ersuchen, einen rechtlichen Angriff auf... zu starten, wird nicht genehmigt. Das wäre eine unterdrückerische Handlung und Du würdest dafür declared"101 (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 5. Demaskierung durch Sprache Die Doppelgesichtigkeit der SO zeigt sich auch in der intern benutzten Sprache. Entgegen der öffentlichen Darstellung einer menschenfreundlichen, am Gemeinwohl orientierten Religionsgemeinschaft offenbart sich im Sprachgebrauch der SO eine teils 101 "declared": zum "Unterdrücker" und damit zum Feind der SO erklärt. 154 brutale Terminologie und ein mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbares Menschenbild. Nichtscientologen werden verächtlich als "Wogs" und "seriengefertigte Humanoide"102 oder als "rohes Fleisch"103 bezeichnet. In einer Abhandlung über die Probleme des Auditing in den nach wie vor gültigen "Technischen Bulletins" für Dianetik und Scientology formuliert Hubbard: "...Der Eingeborene Süd-Afrikaner ist wahrscheinlich die einzige Person auf der ganzen Welt, die nicht auszubilden ist - ihm geht möglicherweise jede menschliche Norm ab...." Der Scientology-Gründer versucht nachzuweisen, dass ein "Eingeborener" selbst zu einfachen Tätigkeiten nicht in der Lage sei und plädiert dafür, der Mensch solle "aufhören ein ,Homo sapiens' zu sein" und solle "ein ,Homo Scientologicus' werden"104. Auf "fallende Statistiken" sollen Führungskräfte mit "Ethik"-Maßnahmen erbarmungslos reagieren: "...Das Kennzeichnen als Unterdrücker ist unser Hängen. Wenn die Dinge schlecht stehen (schlechte Indikatoren stark sichtbar sind), ist es sehr heilsam, einen Körper an den Galgen zu hängen. Wir nennen es ,einen Kopf auf den Spieß stecken'. Zu viele SCHLECHTE Indikatoren und eine allzu vermasselte Situation, und wir müssen105 einen Kopf auf den Spieß stecken... Wenn es ringsum zahlreiche schlechte Indikatoren gibt - niedrige und abfallende Statistiken, verpatzte Fälle - werden wir mit unseren Befragungen sehr geschickt und setzen den Ort praktisch unter Kriegsrecht - wir nennen dies einen Notlagezustand. Wenn Notlage einmal erklärt worden ist, müssen Sie gewöhnlich ein oder zwei Köpfe auf den Spieß stecken, um die Leute davon zu überzeugen, dass Sie es ernst meinen... Ethik ist die Dampfwalze... UNTERDRÜCKER! Rotten Sie sie aus... Machen Sie ihre potenziellen Schwierigkeitsquellen ausfindig, indem Sie Weiterleiter von Gerüchten usw. ausfindig machen. Dann machen Sie den Unterdrücker ausfindig und schießen Sie. Ruhe herrscht... Das ist die Aufgabe von 102 L. Ron Hubbard, Fachwortsammlung für Dianetics und Scientology, Kopenhagen, 1984, S. 112: "Wog... Dies bedeutet einen gewöhnlichen, durchschnittlichen, Lieschen-Müller-artigen seriengefertigten Humanoiden... Scientology-Slang für jeden Nichtscientologen... er stammt aus dem britischen Slang, in dem er eine nichtbritische Person in einer der englischen Kolonien bezeichnete." 103 "rohes Fleisch: Personen, die bisher noch nichts mit Scientology zu tun hatten". L. Ron Hubbard, PTS/SP-Vortragskassetten Glossar, Hollywood, 1990, S. 22. 104 L. Ron Hubbard, The Technical Bulletins of Dianetics and Scientology, Kopenhagen, 1991 Band IV, S. 140ff. (Übersetzung durch das Landesamt für Verfassungsschutz). 105 Hervorhebung im Original durch Kursivschrift. 155 Ethik. So entfernen wir nach und nach die Bremsen in Richtung einer geklärte Erde"106 (Hervorhebungen im Original). 6. Ausblick "... Der irdische Maßstab für Erfolg ist die Menge an Macht, Autorität, Leuten, Vermögen und Eigentum, die man kontrolliert. An Erfolg dieser Art sind wir deshalb interessiert, weil er die Mittel verkörpert, um hinauszugreifen und unsere Aufgabe zu erledigen..."107. In Deutschland und in anderen westeuropäischen Staaten dürfte die SO weiterhin sehr große Schwierigkeiten haben, ihre propagierten Ziele umzusetzen. Dennoch kann sie sich in Europa voll und ganz auf die Logistik und die enorme finanzielle Stärke der Zentrale in den USA stützen. Dort hat es Scientology durch jahrelangen intensiven Lobbyismus geschafft, einen gewissen Einfluss auch im Bereich der Politik zu gewinnen. Scientology wird sich weiterhin auf den Versuch konzentrieren, amtliche Stellen in den USA oder Unterorganisationen der Vereinten Nationen durch gezielte Falschinformationen über angebliche "Diskriminierungen" von Scientologen zu instrumentalisieren. Das Hauptziel dürfte darin bestehen, diese Stellen zu Interventionen gegenüber Deutschland zu bewegen. Obwohl die Beobachtung der SO durch den Verfassungsschutz in hohem Maße Licht in die teilweise konspirativ agierende Organisation gebracht und sie entmystifiziert hat, ist das gewonnene Bild in manchen Bereichen noch nicht scharf genug, um zu abschließenden Bewertungen zu gelangen. In Deutschland ist gegenwärtig weder die von der SO behauptete Expansion noch die von ihren Kritikern befürchtete breite Unterwanderung der Gesellschaft festzustellen. Die SO hat nach derzeitigem Kenntnisstand auch nicht das Mitgliederpotenzial, um in umfassender Weise derartige Absichten umzusetzen. 106 L. Ron Hubbard, "Indikatoren von Orgs", Der Organisationsführungskurs, Band 0, Kopenhagen, 1999, S. 672ff. 107 "Fünfzehn Jahre Erfolg bei der Vereinigung, der Förderung, der Unterstützung und dem Schutz der Scientology-Religion und von Scientologen. Sonderjahresbericht der International Association of Scientologists (IAS) an ihre Mitglieder aus Anlass ihres fünfzehnjährigen Bestehens, 1999, S. 78. 156 Hinsichtlich des von der "Scientology-Organisation" ausgehenden Gefahrenpotenzials kann dennoch keine Entwarnung gegeben werden. Die beobachtete Stagnation, die eine Momentaufnahme darstellt, ist im Wesentlichen auf die Ablehnung der SO in der Bevölkerung zurückzuführen, die nicht zuletzt in dem hohen Konfliktpotenzial der Organisation und der jahrelangen Aufklärungsarbeit durch Staat und Gesellschaft begründet ist. Die Erfahrung zeigt, dass Scientology ihren Machtanspruch umso offener und dreister durchzusetzen versucht, je ungestörter und unbeachteter sie sich glaubt. Die Zielsetzung, Staat und Gesellschaft scientologisch umzuformen, besteht unverändert fort. Vertrauliches Telefon Im Zuge der weiteren Beobachtung der SO ist der Verfassungsschutz nach wie vor auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Rufen Sie an: 0711/9561994. 157 G. SPIONAGEABWEHR 1. Allgemeiner Überblick Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des "Kalten Krieges" ist unsere Welt keineswegs frei von Spannungen. Es gibt zahlreiche neue - häufig regionale - Konfliktherde, aber auch neue strategische Allianzen. Vor diesem Hintergrund bestehen die Bemühungen fremder Staaten unverändert fort, sich durch den Einsatz ihrer Nachrichtendienste einen Informationsvorsprung zu verschaffen. Während bei bundesweiter Betrachtung früher die politische und die militärische Spionage im Vordergrund standen, haben heutzutage die Ausforschung von Wirtschaft und Wissenschaft sowie die nachrichtendienstlich gesteuerte Beschaffung von Proliferationsgütern108 erheblich an Bedeutung gewonnen. In Baden-Württemberg hat sich die Spionageabwehr in den letzten Jahren sogar ganz überwiegend mit solchen Sachverhalten befasst. Maßgebliche Ursache für die Wirtschaftsausspähung ist nach wie vor der globale Konkurrenzkampf um Ressourcen, Märkte und Know-how. Infolge einer sich verschärfenden internationalen Wettbewerbssituation scheinen auch Staaten mit freiheitlich-demokratischer Tradition nicht frei davon zu sein, zum Vorteil ihrer Volkswirtschaften auf das Mittel der nachrichtendienstlich gesteuerten Spionage zurückzugreifen. Proliferationshandlungen sind vor allem auf das Machtstreben der Regierungen einzelner Krisenländer zurückzuführen. In Anbetracht der explosionsartigen Zunahme weltweit verfügbarer Informationen und elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten sind Spionagespuren immer schwerer zu entdecken. Die Spionageabwehr ist deshalb mehr denn je auf Hinweise aus der Bevölkerung, von Firmenangehörigen und Behördenmitarbeitern angewiesen. Außerdem nimmt die Bedeutung von Sicherheitsvorkehrungen stetig zu. 108 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-how sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 158 Von der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) - allen voran die Russische Föderation - , der Volksrepublik China und dem Iran gehen seit Jahren die intensivsten nachrichtendienstlichen Aktivitäten aus. Der Nachweis von Spionagebemühungen westlicher Länder fällt dagegen schwer. Der Erfolg der Spionageabwehr ist nicht allein an der Zahl verurteilter Agenten abzulesen. Ihr gesetzlicher Auftrag geht zunächst einmal dahin, Regierung, Parlament und Öffentlichkeit aktuell über die nachrichtendienstliche Bedrohungslage zu unterrichten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist die langfristige Beobachtung geheimdienstlicher Aktivitäten grundsätzlich wertvoller als der frühzeitige exekutive Zugriff. Allerdings ist vor allem bei schwerwiegenden Verratsfällen die schnelle Einschaltung der Exekutivbehörden unumgänglich. So hat das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2000 - wie bereits im Vorjahr - erneut einen groß angelegten Fallkomplex an den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof abgegeben. Darüber hinaus konnten im Laufe des Jahres 2000 folgende wichtige Arbeitsergebnisse gewonnen werden: * weiterführende Erkenntnisse über Verschleierungsmethoden bei der Beschaffung von proliferationsrelevantem Know-how * zusätzliche Informationen zur Enttarnung ehemaliger bzw. reaktivierter Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste * neue Ansatzpunkte zur Bewertung der Agentenführung per Internet durch fremde Nachrichtendienste Außerdem ist es gelungen, den Kontakt zu wichtigen externen Fachleuten unterschiedlichster Bereiche wie IT-Spezialisten, Unternehmensberatern, Fachjournalisten und Wissenschaftlern erstmals aufzunehmen bzw. zu vertiefen. 159 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Aktuelle Trends Die Unterscheidung zwischen staatlich gelenkter Wirtschaftsspionage und der unbefugten Informationsbeschaffung durch inund ausländische Konkurrenten gestaltet sich zusehends komplizierter. Erschwerend wirkt sich u.a. aus, dass fremde Nachrichtendienste auch Unternehmen für ihre Zwecke einsetzen - zum Beispiel so genannte gemischte Firmen und Jointventures. Ebenso spielen große, ausländische Unternehmen der Sicherheitsbranche in diesem Zusammenhang eine Rolle. Weitreichende Möglichkeiten des Zugriffs auf Interna ihrer deutschen Auftraggeber machen sie für die Dienste ihrer Heimatländer besonders interessant. Nicht umsonst werden sie auch als "private Nachrichtendienste" bezeichnet. Speziell russische Sicherheitsdienstleister beschäftigen zahlreiche (ehemalige) Geheimdienstangehörige, teilweise wird sogar ganz unverblümt mit dem Expertenwissen dieser "Fachleute" geworben. In letzter Zeit sind in verstärktem Maße auch Verbindungen der kriminellen Szene bis hin zur Organisierten Kriminalität zu Nachrichtendiensten feststellbar. Insbesondere bei chinesischen und russischen Diensten gibt es - wie der nachfolgende Beispielsfall belegt - entsprechende Anhaltspunkte: Ein Staatsbürger der ehemaligen Sowjetunion siedelte Anfang der 90er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland über. Nach der Gründung einer eigenen Firma fiel er den Abwehrbehörden auf, als er bei deutschen Herstellern nachrichtendienstlich nutzbare Sicherheitstechnik für sein Heimatland beschaffen wollte. Im Zuge der Ermittlungen wurde festgestellt, dass er vor seiner Übersiedlung ranghoher Offizier in der ehemaligen UdSSR gewesen ist. Konkreten Hinweisen zufolge soll er für das seinerzeitige KGB gearbeitet haben und bis heute Kontakte zu seinem ehemaligen (nachrichtendienstlichen) Umfeld unterhalten. Es gibt zudem Anhaltspunkte, dass er maßgeblich in Strukturen der Organisierten Kriminalität (Russenmafia, Geldwäsche) eingebunden ist und vermutlich auf Weisung ranghoher Instrukteure seines Heimatlandes handelt. 160 Die Aufdeckung von Spionagesachverhalten wird durch immer raffinierter werdende Angriffsmethoden erschwert. Von herausragender Bedeutung ist mittlerweile die Informationsgewinnung unter Nutzung modernster Technik. Die Späher von heute kommen vor allem über Datennetze und via Satellit. Internet, Telefax, E-Mail, Handys und Computernetzwerke eröffnen - soweit sie nicht durch spezifische Maßnahmen wie Verschlüsselungstechnik, Anti-Viren-Programme und Firewalls109 geschützt werden - vielfältige Möglichkeiten des ungehinderten und weitestgehend unbemerkten Datendiebstahls immensen Ausmaßes. Fremde Nachrichtendienste nutzen Schwachstellen in sensiblen und zukunftsorientierten Bereichen konsequent aus. Das Eindringen in Kommunikationsnetze und das Abschöpfen schützenswerten Wissens werden mit hohem Aufwand systematisch und professionell betrieben. Neben der russischen "Föderalen Agentur für Regierungsfernmeldewesen und Information" (FAPSI) wird vor allem auch der amerikanische Abhördienst "National Security Agency" (NSA) mit der weltumspannenden Datenspionage in Verbindung gebracht. Mitte des Jahres 2000 sind sowohl in Frankreich als auch auf verschiedenen Ebenen des Europäischen Parlaments erneut Initiativen gestartet worden, das im Wesentlichen von den Vereinigten Staaten getragene elektronische Aufklärungssystem ECHELON110 näher zu durchleuchten. Ein Untersuchungsbericht der französischen Nationalversammlung kam im Oktober 2000 zu dem Schluss, ECHELON könne eine Gefahr für die öffentliche und die individuelle Freiheit darstellen. Das Europäische Parlament richtete eigens dafür einen temporären Untersuchungsausschuss ein, der sich weiter mit der Angelegenheit befasst. Offizielle amerikanische Stellen haben den Vorwurf, das Abhörsystem ECHELON diene der Wirtschaftsspionage zugunsten amerikanischer Unternehmen, stets zurückgewiesen. Am 7. März 2000 hat allerdings der ehemalige Direktor des USAuslands-geheimdienstes CIA, James Woolsey, auf einer internationalen 109 Vorgeschaltetes Sicherheitssystem mit der Funktion, illegale Zugriffe aus dem World-Wide-Web auf das eigene Datenverarbeitungsnetz zu verhindern. 110 ECHELON ist ein von den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland betriebenes elek-tronisches Aufklärungssystem, das ungefiltert den gesamten E-Mail-, Telefon-, Faxund Telexverkehr abhört. Nähere Informationen zum Thema ECHELON können im Internet unter www.heise.de/tp (Heise-Verlag, Telepolis, Echelon-Special) und www.fas.org ("Federation of American Scientists") abgerufen werden. 161 Pressekonferenz111 in Washington bestätigt, dass die USA "mit Spionage, durch Abhören, durch Aufklärungssatelliten" Wirtschaftsgeheimnisse gestohlen haben. Er rechtfertigte diese Praxis damit, dass es "bei einigen unserer ältesten Freunde und Alliierten" eine "nationale Kultur" der Bestechung gebe, wenn es darum gehe, internationale Großaufträge zu erhalten. Eine Weitergabe der gewonnenen Erkenntnisse an amerikanische Unternehmen schloss er in diesem Zusammenhang aus. Insofern handle es sich auch nicht um Wirtschaftsspionage. Dagegen hielt Woolsey es für einen "Missbrauch von Ressourcen der Nachrichtendienste", wenn Informationen über technologische Entwicklungen aus befreundeten Staaten mit ausschließlich wirtschaftlicher Bedeutung nicht an US-Unternehmen weitergegeben würden. Angesichts dieses Sachstands ist die Entwicklung in Bezug auf das ECHELON-System weiterhin sehr sorgfältig zu beobachten, wie überhaupt der technischen Spionage besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein wird. Mit der zunehmenden Verbreitung und Nutzung der Internetzugänge in Privathaushalten, Unternehmen und Behörden ist ein derzeit kaum noch einschätzbares Risikopotenzial entstanden. Die besondere Verletzlichkeit des strategisch bedeutsamen Rohstoffs "Information" haben nicht zuletzt die beiden spektakulären Virenattacken "Melissa" und "I-love-you" sowie die massiven Hackerangriffe auf Online-Aktienhändler und im Internet agierende Auktionshäuser, Buchhändler und Nachrichtensender (Yahoo, Ebay, Amazon, CNN u.a.) zu Beginn des Jahres 2000 in eindrucksvoller Art und Weise vor Augen geführt. Dabei war die von den genannten Virenund Hacker-Attacken ausgehende Wirkung noch weit entfernt von dem theoretisch möglichen Ausmaß an Zerstörung. Immerhin dürfte deutlich geworden sein, wie schwierig Risiken einzugrenzen sind, wenn niemand Auftraggeber und Motivlage kennt. Elektronische "Bomben" können an jeder Stelle der Welt gezündet werden, ohne dass ein klar definierter Frontverlauf zu erkennen wäre. Das Phänomen "Information Warfare"112 hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einem globalen Problem von herausragender 111 "State Departement Briefing" im "Foreign Press Center". 112 Gesamtheit aller Maßnahmen, die darauf abzielen, durch Einwirken auf gegnerische Informationssysteme bei gleichzeitigem Schutz eigener Systeme eine Informationsüberlegenheit zu schaffen bzw. zu erhalten. 162 sicherheitspolitischer Bedeutung entwickelt und stellt mittlerweile eine ernste Bedrohung vor allem für informationstechnisch hochentwickelte Staaten dar. Insofern ist auch für die Bundesrepublik Deutschland der Schutz sensibler und zugleich besonders wichtiger Infrastrukturen (z.B. Informationsund Kommunikationsnetze, Energieversorgung) zu einer besonderen Herausforderung auf dem Präventionssektor geworden. 2.2 Ausforschungsbemühungen fremder Staaten Nachrichtendienste der Russischen Föderation und anderer GUS-Staaten Unverändert geht die Mehrzahl der vom Landesamt für Verfassungsschutz erkannten Aufklärungsbemühungen von russischen und anderen Diensten der GUS aus. Dabei treten schwerpunktmäßig die Nachrichtendienste der Russischen Föderation in Erscheinung. Der Einfluss der russischen Dienste auf Politik und Gesellschaft hat nach der Amtsübernahme Präsident Putins, der mittlerweile eine Reihe hochrangiger (Ex-)Geheimdienstfunktionäre in seinem unmittelbaren Umfeld platziert hat, weiter zugenommen. Es kursieren Spekulationen über die bevorstehende Bildung eines neuen russischen "Super-KGB", der die verschiedenen, z.T. miteinander konkurrierenden Dienste unter einem einheitlichen Dach zusammenfassen soll. Noch aber operieren der FernmeldeAufklärungsdienst FAPSI, der zivile Auslandsdienst SWR, der militärische Nachrichtendienst GRU sowie der Inlandsdienst FSB - um nur die wichtigsten russischen Dienste zu nennen - weitgehend eigenständig. Innerhalb des brüchigen Staatengebildes GUS hat sich im Laufe der Zeit eine Kerngruppe von Ländern herauskristallisiert, die bestrebt ist, die Kooperation in den unterschiedlichsten Bereichen und Ebenen kontinuierlich auszubauen. Was den nachrichtendienstlichen Sektor anbelangt, handelt es sich dabei - neben der Russischen Föderation - namentlich um die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan. Deren Dienste treten im Hinblick auf die Deutschland-Aufklärung vor allem dadurch in Erscheinung, dass sie schwerpunktmäßig deutschstämmige Aussiedler kontaktieren, um diese vor der Übersiedlung ins Bundesgebiet oder anlässlich späterer 163 Verwandtenbesuche für eine Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Nachrichtendienst zu gewinnen. Hauptaufklärungsziel der russischen und anderer GUS-Dienste ist und bleibt die Wirtschaft. Dies belegt auch das nachfolgende Beispiel: Ein Mitarbeiter eines russischen Unternehmens beantragte im Laufe des Jahres 2000 ein Einreisevisum für Deutschland. Als Einreisegrund gab er Geschäftsverhandlungen bei einem baden-württembergischen HydraulikHersteller an. Der Antragsteller ist als SWR-Offizier enttarnt worden, der bereits in der Vergangenheit im Verdacht stand, Mitarbeiter des (ehemaligen) KGB gewesen zu sein. Das baden-württembergische Unternehmen war zuvor schon Zieladresse eines anderen erkannten russischen NachrichtendienstAngehörigen. Gegen die Einreise des Antragstellers wurden wegen dieser Erkenntnisse Sicherheitsbedenken erhoben. Der Visum-Antrag wurde abgelehnt. Ziel solcher Einreiseversuche ist die Beschaffung von Informationen über Neuentwicklungen und Technologien, die sich für die Umsetzung in russischen Wirtschaftsbetrieben eignen und den eigenen Forschungsaufwand reduzieren. Ende Juli 1999 wurden in einem spektakulären Fall, der sich in Bayern und Niedersachsen zugetragen hat, zwei deutsche Staatsbürger wegen des Verdachts der Spionage für einen russischen Nachrichtendienst festgenommen. Peter S., Vertriebsund Projektleiter für Panzerabwehrwaffen bei der Tochterfirma eines in Baden-Württemberg ansässigen Weltkonzerns, soll Michael K., Inhaber einer Transportund Handelsgesellschaft, mit rüstungstechnischem Know-how aus seinem Arbeitsbereich beliefert haben, das von K. mutmaßlich an einen russischen Nachrichtendienst weitergeleitet wurde. Mit dem am 29. Mai 2000 verkündeten Urteil des Oberlandesgerichts Celle ist dieser Fall nunmehr abgeschlossen. Das Gericht verhängte gegen K. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie gegen S. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Außerdem wurden hinsichtlich beider Angeklagter hohe Geldbeträge für verfallen erklärt. Im Rahmen seiner 164 rechtlichen Würdigung erklärte das Gericht, die Tat liege hart an der Grenze zum besonders schweren Fall der Spionage. Bemerkenswert erschien nicht zuletzt die enorme Menge des Materials, das von K. und S. an ihre russischen Aufraggeber geliefert worden war; allein die nach der vorläufigen Festnahme sichergestellten - noch nicht übergebenen - Unterlagen füllten fünf bis sechs Umzugskartons. Bei der Strafzumessung wirkten sich neben dem Umstand, dass das Verratsmaterial zum überwiegenden Teil der Geheimhaltung unterlag, die besondere Verwerflichkeit des Verrats am Arbeitgeber sowie der Vertrauensbruch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen als verschärfend aus. Volksrepublik China Auch wenn der Prozess der wirtschaftlichen Umstrukturierung des Landes derzeit eine Reihe von Problemen aufwirft, ist die Volksrepublik China im Laufe des letzten Jahrzehnts auf ihrem Weg von einer rückständigen Agrarnation zur aufstrebenden Weltmacht schon weit vorangekommen. Um dem wachsenden Gewicht auf der internationalen politischen Bühne noch besser gerecht zu werden, rüstet China gegenwärtig seine Streitkräfte massiv auf. Außerdem setzt die chinesische Staatsführung in immer stärkerem Maße auf eine leistungsfähige Auslandsaufklärung. China unterhält derzeit mindestens acht Organisationen mit geheimdienstlichen Aufgaben. Neben Nachrichtendiensten im klassischen Sinne handelt es sich dabei auch um Gliederungen der regierenden Kommunistischen Partei. Die intensivsten Auslandsaufklärungsaktivitäten entfalten das "Ministerium für Staatssicherheit" (MSS) sowie die "Hauptverwaltung Nachrichtenwesen im Generalstab der Volksbefreiungsarmee" (MID). Wichtigste Aufgabenfelder dieser Dienste sind - neben der Informationsund Güterbeschaffung aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Rüstungstechnik - die Überwachung chinesischer Auslandsgemeinden sowie die Anwerbung in Deutschland lebender Landsleute für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit. Bevorzugt werden die Zugangsmöglichkeiten von Austauschwissenschaftlern, Studenten, Journalisten und Geschäftsleuten aus gemischten oder rein chinesischen Firmen genutzt. 165 Nach aktuellen Erkenntnissen versuchen offizielle Stellen in China ganz gezielt Personen zum Zwecke der Informationsbeschaffung in Industriebetriebe und wissenschaftliche Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland einzuschleusen. Teilweise werden in diesem Zusammenhang auch die Dienste deutscher Vermittlungsagenturen genutzt. Krisenländer113 Wie alle totalitären Staaten unterhalten auch die Krisenländer Irak, Iran, Libyen und Syrien mächtige Geheimdienstapparate, die sie für die verschiedensten Zwecke einsetzen. Einschneidende Ereignisse wie die iranischen Parlamentswahlen oder der Tod des langjährigen syrischen Staatspräsidenten Assad ließen bislang keine Veränderungen im Hinblick auf die Intensität der nachrichtendienstlichen Auslandsaktivitäten dieser Staaten erkennen. In Deutschland konzentrieren sich die Krisenländer vor allem auf die Ausforschung ihrer im Bundesgebiet lebenden Regimegegner und die Beschaffung von Technologien und Gütern zur Herstellung von ABC-Waffen und zur Entwicklung eigener Trägerraketen mit großer Reichweite. 2.3 Proliferation114 - Schwerpunktthema für die Spionageabwehr Transfer von Gütern und Wissen Obwohl die Krisenländer in Teilbereichen bereits über Massenvernichtungswaffen verfügen, intensivieren sie weiter ihr Engagement auf diesem Gebiet. Bestehende Arsenale sollen komplettiert sowie hinsichtlich Lagerfähigkeit, Einsetzbarkeit und Wirkung perfektioniert werden. Auch soll die Abhängigkeit von Zulieferungen anderer Länder wegfallen. Dabei wird es immer wichtiger, Verfahren, Güter und Technologien für eine eigene Infrastruktur zur Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu schaffen. 113 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. 114 Siehe Fußnote 108. 166 Irak setzte in den kriegerischen Auseinandersetzungen am Persischen Golf wiederholt chemische Kampfstoffe ein und beschoss zuletzt Israel mit SCUD-Raketen. Libyen hat eine Chemiewaffenproduktionsanlage bei Rabta errichtet. Nordkorea beliefert andere Länder mit ballistischen Flugkörpern. Iran besitzt Chemiewaffen sowie weitreichende Raketen. Pakistan und Indien schließlich testeten im Mai 1998 mehrere nukleare Sprengsätze. Um zur Beschaffung proliferationsrelevanter Güter die bestehenden strengen Gesetze und Exportkontrollen in Deutschland zu umgehen, bedienen sich die Krisenländer neben ihren Geheimdiensten auch nachrichtendienstlich gesteuerter Staatsfirmen und konspirativ arbeitender Beschaffungsorganisationen. Sie verschleiern den tatsächlichen Endabnehmer, nutzen neutrale oder in die Irre führende Projektbezeichnungen und gründen Firmen im Inund Ausland nur für die Abwicklung eines einzigen Geschäfts. Als Drehscheibe derartiger Geschäfte und als Sitz solcher Firmen sind Singapur, Zypern, Malta und Dubai festgestellt worden. Die Beschaffungen werden in viele, für sich allein gesehen unverdächtige Einzelpakete aufgeteilt, so dass die Proliferationsrelevanz des gesamten Geschäfts schwer oder gar nicht erkennbar wird. Neben diesen Beschaffungsmethoden hat der Wissenstransfer für die Proliferation hohe Bedeutung. Internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit ist zwar erwünscht und soll grundsätzlich nicht behindert oder kontrolliert werden. Die Freiheit von Forschung und Lehre wird jedoch missbraucht, wenn sich sicherheitskritische Länder unter dem Deckmantel des freien Austausches von technologisch-wissenschaftlichen Informationen das Know-how verschaffen, das sie zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und Raketen benötigen. Diese zu missbilligende Verwendung von Wissen ist nur sehr schwer zu erkennen und sicher nicht vollständig durch Gesetze und Verordnungen einzudämmen. Allerdings kann schon durch eine sicherheitsbewusste Entscheidung über die personelle Besetzung bei sensiblen Forschungsprojekten ein gewisser Informationsschutz erreicht werden. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder haben wegen der zunehmenden Bedeutung des Proliferationsproblems eine gemeinsame Informationsbroschüre115 erstellt, die umfassend über Beschaffungsmethoden und 115 Die Broschüre "Proliferation" kann über die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bezogen werden. 167 Erkennbarkeit illegaler Geschäfte informiert. Im Vordergrund der Beschaffungsbemühungen der Krisenländer standen im Jahr 2000 Informationen über Forschungsund Entwicklungsprojekte, Fertigungsverfahren, Managementmethoden und Ablauforganisation sowie Kooperationsund Strategiepapiere. Hinsichtlich proliferationsrelevanter Güter waren vor allem die Rüstungs-, Nuklearund Flugkörpertechnik und -forschung von Interesse. Zu den besonders schützenswerten Technologien zählen daneben die Materialtechnik, Produktionstechnologie, Informationsund Kommunikationstechnik, Elektronik, Biotechnologie, Medizintechnik, Luftfahrt-, Verkehrs-, Energieund Umwelttechnik. Beispiele für Proliferationsversuche Die Komplexität der Thematik lässt sich am Besten anhand konkreter Sachverhalte veranschaulichen. Diesem Zweck dienen die folgenden - nach Ländern geordneten - Beispiele: * Irak Eine baden-württembergische Firma, die sich auf dem Gebiet der Medizintechnik betätigt, wurde in letzter Zeit vermehrt von Geschäftsleuten aus Krisenländern kontaktiert. In einem konkreten Fall beantragte ein irakischer "Geschäftsmann" bei der deutschen Botschaft in Amman/Jordanien ein Einreisevisum zum Besuch dieses Unternehmens. Kurz darauf stellte der Iraker bei der französischen Botschaft in Bagdad/Irak einen zweiten Visum-Antrag. Dieses Mal gab er die französische Niederlassung der vorgenannten badenwürttembergischen Firma als Zieladresse an. Tatsächlich benutzte er keine der offiziell angegebenen Routen. Er reiste über Frankreich ein und begab sich von dort - ohne die französische Niederlassung aufgesucht zu haben - direkt zu seinem eigentlichen Ziel, dem Unternehmen für Medizintechnik in BadenWürttemberg. Sein exakter Reiseweg konnte nicht ermittelt werden. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem Besucher um den Mitarbeiter einer irakischen Organisation, die sich auf die Beschaffung von Produkten für das Bio-Waffenpro-gramm spezialisiert hat. Solche Personen unternehmen insbesondere dann, wenn sie vermuten, dass ihre westlichen Geschäftspartner 168 mit Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, enorme Anstrengungen, Kontrollmaßnahmen zu unterlaufen. * Iran Ein weltweit aktiver Mitarbeiter einer einschlägig bekannten iranischen Beschaffungsorganisation versuchte, bei einem baden-württembergischen Spezialmaschinenhersteller Produkte zu erwerben, die auch für die Entwicklung von ABC-Waffen von Bedeutung sein können. * Libyen Im Frühjahr 2000 beantragten zwei erkannte Mitarbeiter eines libyschen Nachrichtendienstes, die angeblich für eine Handelsfirma ihres Heimatlandes tätig sind, Einreisevisa für Deutschland. Zieladresse war ein baden-württembergisches Imund Exportunternehmen. Diese Firma wurde jedoch nicht aufgesucht, offensichtlich hatten die beiden Personen allein beabsichtigt, sich unerkannt auf dem Territorium der Bundesrepublik zu bewegen. Gegen die beiden Libyer war bereits vor Jahren ermittelt worden, u. a. wegen nachrichtendienstlicher Aktivitäten im westlichen Ausland und wegen Verwendung einer falschen Identität in Deutschland. Nach Feststellungen des Landesamts für Verfassungsschutz hielten sie sich in den letzten Jahren mehrfach in Baden-Württemberg auf. Die ursprünglich avisierte Imund Exportfirma stand bereits in der Vergangenheit im Proliferationsverdacht. * Pakistan Der ausländische Geschäftsführer eines Imund Exportunternehmens in BadenWürttemberg stand mit Organisationen des Rüstungssektors in Pakistan in Verbindung. Es handelte sich dabei um Hersteller von Sprengstoffen und um Aufkäufer von Gütern für den Nuklearbereich. Ein Zusammentreffen zwischen dem Geschäftsführer und einem Deutschen mit beruflichem Zugang zu sensiblen Bereichen fand unter konspirativen Bedingungen statt und ist als nachrichtendienstlich auffällig zu bewerten. 169 Beschaffungsnetze116 So genannte Händleragenten (Vermittler, Broker) bieten sich in idealer Weise als Mittler bei Geschäften des (illegalen) Technologietransfers an. Sie leiten proliferationsrelevante Güter über Drittländer bzw. Tarneinrichtungen in das eigentliche Zielland, um dadurch die wahre Identität des Endnutzers zu verschleiern. Insbesondere im süddeutschen Raum wurde mehrfach auf einen solchen Experten für den Exportbereich Iran hingewiesen. Mit Hilfe eines unscheinbaren Wohnungsbüros und exzellenter Kontakte in sein Heimatland ist es ihm möglich, auch bei problematischen Handelsgeschäften Lösungen zu bieten. Auf diese Weise fördert er unter Einsatz moderner Kommunikationstechniken die Umgehung gesetzlicher Exportrestriktionen. 3. Serviceorientierung der Spionageabwehr Die bereits vor mehreren Jahren eingeleitete Serviceorientierung des Verfassungsschutzes als "Frühwarnsystem" wurde im Jahr 2000 gerade im Hinblick auf veränderte Bedürfnisse der Nutzer der Informationen weiter vorangetrieben. Die Aufbereitung der Daten und Fakten wurde noch gezielter auf die Anforderungen der Regierung, der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und der Bevölkerung zugeschnitten. So hat das Landesamt für Verfassungsschutz an der immer stärker zu beobachtenden Einbeziehung von Sicherheitsüberlegungen in das Qualitätsmanagement einen nicht geringen Anteil. Die Angebotspalette orientiert sich stark an den Erfordernissen einer zunehmend IT-basierten Informationsund Kommunikationsstruktur. Speziell durch Fachvorträge, Informationsund Beratungsgespräche, Diskussionsrunden und Interviews in Funk, Fernsehen und Printmedien wird aktuelles Wissen des Landesamts für Verfassungsschutz einem größeren Kreis der potenziell von Spionage Betroffenen zugänglich gemacht. Insgesamt wurden von Angehörigen der Spionageabwehr im Jahr 2000 rund 40 Vorträge gehalten, etwa 45 Medienkontakte wahrgenommen und ca. 140 Firmenbesuche absolviert. 116 Vom Empfängerland aufgebautes und kontrolliertes Geflecht aus diversen Firmen und anderen Einrichtungen zur Abwicklung illegaler Beschaffungsaktionen auf dem Proliferationssektor. 170 Das Landesamt für Verfassungsschutz bietet Zusammenarbeit und Beratung bei der Aufklärung von Spionagefällen und sonstigen Sicherheitsvorkommnissen an. Es informiert durch Broschüren, Vorträge und Informationen im Internet (www.badenwuerttemberg.de/verfassungsschutz). Dabei werden die Regelungen des Datenschutzes eingehalten. Um einen direkten Kontakt zur Spionageabwehr zu ermöglichen, ist ein VERTRAULICHES TELEFON eingerichtet worden. Die Bürger können dem Landesamt für Verfassungsschutz - gegebenenfalls auch anonym - unter Telefon 0711/9 54 76 26 und Fax 0711/9 54 76 27 rund um die Uhr einschlägige Sachverhalte mitteilen. Kompetente Mitarbeiter nehmen die Hinweise entgegen oder geben bei persönlichen Konfliktsituationen sachkundigen Rat. Alle Fälle werden selbstverständlich unter absoluter Wahrung der Vertraulichkeit behandelt. Im Übrigen unterliegt das Landesamt für Verfassungsschutz nicht - wie etwa die Polizei - dem Strafverfolgungszwang. 4. "Sicherheitsforum Baden-Württemberg - die Wirtschaft schützt ihr Wissen" Das im September 1999 ins Leben gerufene Sicherheitsforum, dem neben Vertretern von Firmen, Forschungseinrichtungen, Verbänden und Kammern sowie dem Wirtschaftsund dem Innenministerium auch das Landesamt für Verfassungsschutz angehört, versteht sich als Beispiel für eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Wirtschaft und Staat. Seine Aufgabe ist es, die aktuelle Situation auf dem Sektor Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung zu analysieren und daraus konkrete Aktivitäten abzuleiten. Das Sicherheitsforum verfolgt keine geschäftlichen Interessen und ist keine Konkurrenz für gewerbliche Sicherheitsunternehmen. Die Besonderheit des Sicherheitsforums besteht darin, dass sich Staat und Wirtschaft gemeinsam um die Festlegung der "Spielregeln" ihrer Zusammenarbeit bemühen und dabei auch Neuland betreten wollen. Diese Initiative kann als beispielgebend für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und der Wirtschaft 171 172 Leistungsangebot des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg für die Wirtschaft angesehen werden und hat zwischenzeitlich auch in anderen Bundesländern Nachahmer gefunden. Gespräche mit einigen besonders innovativen Unternehmen im Lande haben die vom Landesamt für Verfassungsschutz in der Vergangenheit vertretene Position zur Wirtschaftsspionage grundsätzlich bestätigt, aber auch interessante neue Aspekte vermittelt. Bemerkenswert erscheint, dass nahezu alle befragten Unternehmen ihr eigenes Know-how als geheimhaltungsbedürftig einstuften, aber nur eines dieser Unternehmen bislang über ein umfassendes Sicherheitskonzept verfügt. Insgesamt sind die Vorkehrungen gegen ungewollten Know-how-Abfluss mehr oder weniger lückenhaft. Die Vertreter der aufgesuchten Unternehmen halten es übereinstimmend für notwendig, selbst weitere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und die Sensibilisierung der Wirtschaft zu intensivieren. Dieser Anregung hat das Sicherheitsforum durch die Einrichtung einer eigenen Homepage umgehend Rechnung getragen. Unter www.sicherheits-forum-bw.de sind Adressen, Informationen, Tipps, Literaturhinweise und weiterführende Links zum Thema Wirtschaftsspionage abrufbar. Die Geschäftsstelle des Sicherheitsforums verteilt darüber hinaus bei Bedarf Informationsmaterial und beantwortet Anfragen. Eine eigens dafür zusammengestellte Informationsmappe enthält neben allgemeinen Informationen, einer Literaturliste, eine Auswertung der von den Mitgliedern des Sicherheitsforums geführten Interviews und Abhandlungen zu Spezialthemen auch den Leitfaden des Landesamtes für Verfassungsschutz zum Schutz vor Spionage, der in einer Art Selbsttest den Unternehmen ermöglicht, Schwachstellen im eigenen Sicherheitssystem zu erkennen. Das Angebot des Forums hat sich bereits jetzt als gut geeignetes Mittel erwiesen, die Aufmerksamkeit der Wirtschaft verstärkt auf die Gefahren der Spionage zu lenken. Gleichzeitig wird damit die Hoffnung verbunden, dass der Informationsfluss nicht zur Einbahnstraße wird, sondern auch umgekehrt sicherheitsrelevante Informationen aus der Wirtschaft an das Sicherheitsforum zurückfließen. 173