A. VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Der politische Extremismus ist eine ständige Herausforderung für unsere Demokratie, die sich im Bewusstsein der Lehren aus den Jahren der Weimarer Republik und der leidvollen Erfahrungen aus der Nazidiktatur als "wehrhafte Demokratie" versteht. Neben anderen "Sicherheitsmechanismen" zum Schutz unseres demokratischen Gemeinwesens erwähnt das Grundgesetz auch den Verfassungsschutz (Artikel 73 Nr. 10). Seine Aufgabe ist es, verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verantwortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als "Frühwarnsystem" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Bund und die 16 Länder unterhalten eigene Verfassungsschutzbehörden. Die größte, weil mit vielerlei Zentralfunktionen ausgestattete Behörde ist das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln. Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland entsprechend arbeiten alle 17 Behörden eng zusammen. Das badenwürttembergische Landesamt für Verfassungsschutz hat seinen Sitz in Stuttgart. Es gliedert sich in fünf Abteilungen und wird von einem Präsidenten geleitet. Sein Personalbestand ist im Haushaltsplan des Landes ausgewiesen. Danach waren dem PRÄSIDENT Stabsstelle Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit Öffentlichkeitsarbeit Abteilung 1 2 3 4 5 Zentralabteilung NachrichtenbeNachrichtenbeSpionageabwehr Unterstützende Verwaltung schaffung/ schaffung/ Geheimund Dienste Grundsatzfragen -auswertung -auswertung Sabotageschutz AusländerRechts-, LinksScientologyextremismus extremismus Organisation -terrorismus -terrorismus 1 Amt für das Jahr 1999 insgesamt 343 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter zugewiesen (1990: 410). Personalausgaben waren in Höhe von etwa 23,8 Millionen (1990: 21,1 Millionen) DM und Sachausgaben in Höhe von rund 5,0 Millionen (1990: 5,1 Millionen) DM veranschlagt. 1. Aufgaben des Verfassungsschutzes Das Landesamt für Verfassungsschutz ist immer dann gefordert, wenn den obersten Werten und Prinzipien des Grundgesetzes Gefahr droht. So hat das Landesamt nach SS 3 Abs. 1 und 2 des Landesverfassungsschutzgesetzes (LVSG) die Aufgabe, Informationen über solche Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder auch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind. Unter dem Begriff der Bestrebungen versteht man dabei eine "politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweise", die auf eine Beeinträchtigung der verfassungsmäßigen Ordnung abzielt (vgl. SS 4 Abs. 1 LVSG). Deshalb schaut der Verfassungsschutz überall dort genauer hin, wo Bestrebungen erkennbar sind, unsere Staatsordnung durch ein links-, rechtsextremistisches oder sonstiges undemokratisches Staatsgebilde zu ersetzen oder durch terroristische Gewalt zu beseitigen. Er ist aber beispielsweise auch gefordert, wenn islamistische, linksund rechtsextremistische Ausländerorganisationen ihr Heimatland von deutschem Boden aus mit Gewalt bekämpfen und dadurch unseren Staat möglicherweise in außenpolitische Konflikte und Zwangssituationen bringen. Außerdem gehört die Spionageabwehr zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes. Hier geht es darum, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht aufzuspüren und auszuleuchten. Aus dem Beobachtungsauftrag folgt die - ebenfalls gesetzlich bestimmte - Verpflichtung des Verfassungsschutzes, die für die Gefahrenabwehr zuständigen Stellen über seine Erkenntnisse zu informieren, damit dort die gebotenen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Schließlich erfüllt das Landesamt für Verfassungsschutz eine Mitwirkungsaufgabe im Bereich des vorbeugenden personellen und materiellen Geheimschutzes. Es unterstützt hierbei Behörden und außerbehördliche Stellen bei der Überprüfung von Ge- 2 heimnisträgern und anderen Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätig sind. Es bietet dabei auch Beratung an, wie geheimhaltungsbedürftige Vorgänge durch technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden können. 2. Verhältnis von Verfassungsschutz und Polizei Verfassungsschutzund Polizeibehörden sind in der Bundesrepublik Deutschland streng voneinander getrennt. Dies gilt sowohl in organisatorischer Hinsicht als auch was die spezifischen Befugnisse betrifft. Diese mit dem Begriff "Trennungsgebot" umschriebene Kompetenzverteilung wurzelt in der nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnenen Einsicht, dass sich die leidvollen Erfahrungen mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) niemals wiederholen dürfen. Dadurch wird sichergestellt, dass dem Verfassungsschutz keine polizeilichen Befugnisse zustehen. Mitarbeiter des Landesamts dürfen also keinerlei Zwangsmaßnahmen wie etwa Vorladungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen durchführen. Erscheint aufgrund der dem Verfassungsschutz vorliegenden Informationen ein polizeiliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Polizeidienststelle unterrichtet. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 3. Methoden des Verfassungsschutzes Einen Großteil der zur Auftragserfüllung erforderlichen Informationen beschafft das Landesamt auf offenem, jedermann zugänglichem Weg. So werten die Mitarbeiter der Behörde Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter, Programme, Broschüren und sonstiges allgemein verfügbares Material extremistischer Organisationen aus und besuchen immer wieder auch deren öffentliche Veranstaltungen. Allerdings kann das Landesamt für Verfassungsschutz seine Informationen auch verdeckt beschaffen und die dafür im LVSG vorgesehenen Methoden und Techniken anwenden bzw. einsetzen. Gerade solche durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnene hochwertige Erkenntnisse ermöglichen im Grundsatz erst eine fundierte, genaue und verlässliche Analyse der Gefährdungslage. 3 Beispiele für nachrichtendienstliche Mittel sind der Einsatz von Vertrauensleuten (V-Leuten) die Observation verdächtiger Personen geheimes Fotografieren sowie Tarnmaßnahmen, mit denen verdeckt werden soll, dass der Verfassungsschutz Beobachtungen vornimmt . Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz im Einzelfall unter engen, gesetzlich normierten Voraussetzungen den Brief-, Postund Fernmeldeverkehr überwachen (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses - G 10 -). 4. Kontrolle Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt einer vielschichtigen rechtsstaatlichen Kontrolle. Innerbehördliche Maßnahmen wie z.B. Kontrollen durch den internen Datenschutzbeauftragten, die Rechtsund Fachaufsicht durch das Innenministerium, aber auch Kontrollen des Landesbeauftragten für den Datenschutz oder des Rechnungshofs stellen sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht überschritten wird. Die parlamentarische Kontrolle ist nach SS 16 LVSG Aufgabe des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, dem Mitglieder aller Fraktionen angehören. Ihm berichtet das Innenministerium zweimal im Jahr sowie auf Verlangen des Ausschusses und aus besonderem Anlass über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Für die Wahrnehmung der spezifischen parlamentarischen Kontrolle über die Durchführung des "Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses" (G 10) ist ein Gremium bestellt, das sich aus fünf Abgeordneten des Landtags zusammensetzt. Über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen entscheidet eine unabhängige Kommission, die aus drei vom Landtag bestellten Persönlichkeiten, die nicht notwendigerweise Abgeordnete sein müssen, besteht. 4 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann dauerhaft nur durch eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführte geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz leistet dabei einen wesentlichen Beitrag, indem es neben der Regierung und dem Parlament vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Parteien und Organisationen regelmäßig informiert. Eine ganze Palette von Informationsmöglichkeiten steht dabei zur Auswahl. So können derzeit 13 Broschüren zu den verschiedensten Themen des Verfassungsschutzes beim Landesamt angefordert werden. Auch stellt das Landesamt gerne Referenten für Vortragsund Diskussionsveranstaltungen zu Themen des politischen Extremismus, der Scientology-Organisation, der Spionageabwehr und anderen Themen des Verfassungsschutzes zur Verfügung. Darüber hinaus beantwortet das Landesamt die Anfragen von Medienvertretern so umfassend wie möglich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg haben im Jahre 1999 rund 80 Vorträge gehalten. Etwa 13.600 Verfassungsschutzberichte 1998 und 33.500 Broschüren wurden auf Anforderung verteilt. Derzeit sind folgende Informationsschriften verfügbar: Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg - Aufbau und Arbeitsweise (Broschüre - Januar 1999) Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - Mai 1998) Junge Nationaldemokraten (JN) - Jugendorganisation oder Sammelbecken für Neonazis? (Broschüre - November 1997) 5 Skinheads (Broschüre - November 1997) Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - September 1999) Antifaschismus als Agitationsfeld von Linksextremisten (Broschüre - November 1998) Ausländerextremismus in der Bundesrepublik Deutschland - Allgemeine Entwicklung (Broschüre - Oktober 1996) Islamistische Extremisten (Broschüre - Juli 1999) Arbeiterpartei Kurdistans - Organisationsaufbau (Broschüre - Juli 1998) Scientology - ein Fall für den Verfassungsschutz (Broschüre - August 1997) Die Scientology-Organisation (Broschüre - Juni 1999) Schutz vor Spionage - Ein praktischer Leitfaden für die gewerbliche Wirtschaft (Broschüre - Juni 1999) Wirtschaftsspionage - Die gewerbliche Wirtschaft im Visier fremder Nachrichtendienste (Broschüre - Oktober 1998) 6 Auch im Internet präsentiert sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg seit Oktober 1997 mit einer eigenen Homepage. Dort sind die aktuellen Verfassungsschutzberichte sowie grundlegende Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus, der Spionageabwehr und der Scientology-Organisation abrufbar. Alle zu diesen Themenbereichen sowie zur Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Landesamts herausgegebenen Broschüren können heruntergeladen werden. Außerdem berichtet das Landesamt auf seiner Homepage monatlich über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse und bietet hierzu Hintergrundinformationen an. Abbildungen, Schaubilder, Tabellen und Grafiken, Literaturhinweise und Erläuterungen von Fachbegriffen zum Thema Verfassungsschutz runden das Angebot ab. Von der Homepage gelangt man zur eMail-Adresse, über die Fragen, Anregungen, Kritik und Bestellungen von Publikationen direkt an das Landesamt gesandt werden können. Daneben besteht die Möglichkeit, die Anschriften aller Verfassungsschutzbehörden im Bundesgebiet sowie eine Übersicht über ihre Informationsschriften abzurufen und über einen Link direkt zur jeweiligen Homepage - soweit vorhanden - zu wechseln. Kontaktanschriften für Informationen Landesamt für Verfassungsschutz Innenministerium Baden-Württemberg Baden-Württemberg "Öffentlichkeitsarbeit" Referat "Verfassungsschutz" Postfach 50 07 00 Postfach 10 24 43 70337 Stuttgart 70020 Stuttgart Tel.: 0711/95 44 181/182 Tel.: 0711/231-3501 Fax: 0711/95 44 444 Fax: 0711/231-3599 Internet: http://www.baden-wuerttemberg.de/verfassungsschutz eMail: lfv-bw@t-online.de Vertrauliches Telefon zur Scientology-Organisation: 0711/95 61 994 Vertrauliches Telefon zur Wirtschaftsspionage: 0711/95 47 626 7 B. VERGLEICH DER STRAFUND GEWALTTATEN MIT ERWIESENER ODER ZU VERMUTENDER RECHTS-, LINKSUND AUSLÄNDEREXTREMISTISCHER MOTIVATION IN BADEN-WÜRTTEMBERG IM ZEITRAUM 1997 - 1999 950 898 858 833 850 750 650 550 330 484 450 316 341 350 176 266 250 150 63 28 34 50 51 38 61 35 70 50 -50 S traftaten davonGewalttaten S traftaten davonGewalttaten S traftaten davonGewalttaten insgesamt1997 1997 insgesamt1998 1998 insgesamt1999 1999 Rechtsextremismus Linksextremismus Ausländerextremismus 8 C. RECHTSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen 1.1 Überblick Der Rechtsextremismus in Deutschland ist einerseits gekennzeichnet von teilweise spürbaren Mitgliederverlusten in den einschlägigen Parteien und Gruppen, andererseits bundesweit von einem weiteren Anwachsen der gewaltbereiten Skinheadszene und von Wahlerfolgen der rechtsextremistischen "Deutschen Volksunion" (DVU). Staatliche Bekämpfungsmaßnahmen und Verbote neonazistischer Organisationen in den letzten Jahren führten zwar dazu, dass sich die Neonaziszene insgesamt zahlenmäßig nicht vergrößern und organisatorisch nicht verfestigen konnte, und dass rechtsextremistisch motivierte Gewalt nicht mehr das Ausmaß der frühen 90er-Jahre erreichte; gleichwohl bleibt der Rechtsextremismus aufgrund der aktuellen Entwicklungen ein Schwerpunkt der Beobachtung durch das Landesamt für Verfassungs1.800 1.800 9 schutz. Hierzu gehören auch Aktivitäten revisionistischer Historiker, die den Nationalsozialismus zu verharmlosen und die Grenzen zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus zu verwischen versuchen. Zu den herausragenden Agitationsthemen im Jahr 1999 zählten der Kosovokrieg und der NATO-Einsatz der Bundeswehr sowie daraus resultierend ein zunehmender Antiamerikanismus. Während die Auseinandersetzung mit diesem Thema jedoch überwiegend in der rechtsextremistischen Publizistik ihren Niederschlag fand, boten der "Widerstand" gegen die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944"1, der "Kampf gegen das herrschende System" verbunden mit sozialpolitischen Aussagen und antikapitalistischen Parolen sowie fremdenfeindliche Polemik immer wieder Anlass zu bundesweiten Demonstrationen und Kundgebungen. 1.2 Ideologie Rechtsextremismus basiert im Wesentlichen auf zwei Komponenten: dem Nationalismus und dem Rassismus. Danach bestimmt sich der Wert eines Menschen nach seiner ethnischen Zugehörigkeit zu einer Nation oder "Rasse". Die Nation gilt als höchstes Gut, dem sich alle anderen Werte und Interessen unterzuordnen haben. Daraus ergibt sich sowohl die Unterdrückung der Individualität als auch die behauptete Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen. Da die Nation rassisch begründet wird, führt dies zwangsläufig zur Ausgrenzung und Abwertung derjenigen, die nicht der gleichen ethnischen Gruppe angehören. Die Menschenrechte gelten somit weder für die ausgegrenzten "Rassefremden" noch für die der Nation Zugehörenden. Rechtsextremisten propagieren ein autoritäres politisches System, basierend auf der Ideologie der Volksgemeinschaft und dem Führerprinzip. Da Volkswille und Führerhandeln - bedingt durch die gleiche ethnische Herkunft - eins sind, machen sie nach rechtsextremistischer Auffassung die Kontrollmechanismen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung überflüssig und 1 Die Präsentation der Ausstellung wurde wegen vereinzelter Fehler in der Fotodokumentation vorübergehend ausgesetzt. 10 die Abschaffung des demokratischen Verfassungsstaates zu einer zwangsläufigen Folge. Dass rechtsextremistische Verhaltensmuster und Denkschemata trotz der historischen Erfahrungen und vielfältiger Aufklärungskampagnen nach wie vor in Teilen der Bevölkerung Anhänger finden, zeigt das seit Jahren zahlenmäßig relativ stabile rechtsextremistische Personenpotenzial. Verschwörungsund Schuldzuweisungstheorien aller Art bieten einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte und liefern die angebliche Lösung ("Ausländer raus") gleich mit. Umso erfreulicher ist es, dass 1999 in Bund und Land wieder ein Rückgang der Mitgliederzahlen zu verzeichnen ist. Trotz der Wahlerfolge der rechtsextremistischen "Deutschen Volksunion" (DVU) in Bremen und Brandenburg zeigte sich sehr schnell die inhaltliche Substanzlosigkeit ihrer Wahlkampfslogans; im Landesparlament von Sachsen-Anhalt macht die DVUFraktion nur noch durch interne Streitereien von sich reden. 1.3 Gewalt Im Bereich der rechtsextremistisch motivierten Gewalt ist dagegen erneut eine Zunahme zu verzeichnen. 1999 wurden in Baden-Württemberg 61 Gewalttaten verübt; 1998 waren es noch 50. Ähnlich sieht es auf Bundesebene aus: 1999 gab es 746 Delikte gegenüber 708 im Vorjahr. Während diese Entwicklung auf Landeswie auf Bundesebene gleichartig verlaufen ist, zeigen sich beim gewaltbereiten Personenpotenzial doch erhebliche Unterschiede. Erstmals seit Jahren ging in BadenWürttemberg die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads zurück - von ca. 700 (1998) auf rund 670 (1999). Bundesweit hingegen stieg die Zahl von 8.200 (1998) auf 9.000 (1999) deutlich an; der Schwerpunkt liegt mit über 50 % des Gesamtpotenzials eindeutig in Ostdeutschland. Indes stellt auch die gewaltbereite Szene in Baden-Württemberg eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die weiterhin aufmerksam beobachtet und sowohl mit strafrechtlichen als auch mit vorbeugenden Maßnahmen bekämpft wird. 11 Entwicklung der Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation in Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 1987-1999 1600 1485 1400 1322 1200 1000 849 Vergleichszahlen für 785 790 800 708 746 BW für 1987 - 1990 VergleichszahlenfürB W für1987 612 624 - 1990liegen nicht liegennichtvorvor 600 400 195 173 178 200 139 129 122 58 64 63 50 61 28 36 0 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Bund Land Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten in Deutschland und Baden-Württemberg im Jahr 1999 Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten in Deutschland und Baden-Württemberg im Jahr 1998 1 2 Baden-Württemberg Bund 1999 (1998) 1999 (1998) Rechtsextremistische 833 (898) 10.037 (11.049) Straftaten insgesamt davon: fremdenfeindliche 246 (302) 2.283 (2.643) Straftaten 1 Zahlen des LKA Baden-Württemberg 2 Zahlen des Bundesministeriums des Innern Grafik: LfV BW 12 1.4 Neonazismus Die Zahl der Neonazis ist sowohl im Land (1999: 300; 1998: 320) als auch auf Bundesebene (1999: 2.200; 1998: 2.400) leicht rückläufig. Der organisierte Neonazismus spielt in Deutschland eine eher abnehmende Rolle; öffentlichkeitswirksame Aktivitäten - ein wichtiges Ziel der Szene - sind zurückgegangen. Da 1999 keine zentrale "Rudolf Heß-Kundgebung" geplant war, organisierten baden-württembergische Neonazis eine überregional wenig beachtete Veranstaltung in der Schweiz. Lediglich im "Kampf" gegen die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" machten Neonazis durch ihre Teilnahme an diversen Gegenkundgebungen in größerem Umfang auf sich aufmerksam. Bundesweit ist derzeit das Bemühen erkennbar, durch die flächendeckende Einrichtung "Nationaler Info-Telefone" (NIT) das Kommunikationsnetz weiter auszubauen. 1.4 Parteien Innerhalb des rechtsextremistischen Parteiengefüges blieb die DVU bundesweit die mitgliederstärkste Partei. In Baden-Württemberg bewegt sie sich seit Jahren auf gleichem Niveau. Nach Mandatsgewinnen in den Landesparlamenten von Bremen und Brandenburg ist sie nun mit Sachsen-Anhalt in drei Parlamenten vertreten. Offensichtlich ist es für eine rechtsextremistische Partei durchaus möglich, mittels massiver Wahlwerbung auch ohne gefestigte regionale Strukturen und trotz nahezu inaktiver Parteibasis beachtliche Wahlergebnisse zu erzielen. Bei der Kommunalwahl in Baden-Württemberg gelang dies jedoch nicht. Ursächlich für den sowohl bundesals auch landesweit zu beobachtenden weiteren Mitgliederrückgang bei den "Republikanern" (REP) dürften die Misserfolge bei den Landtagswahlen, der Europawahl und der baden-württembergischen Kommunalwahl sowie der dadurch wieder aufflammende Streit über den Kurs der Partei sein. Die Taktik des Bundesvorsitzenden Dr. Rolf SCHLIERER - formale Beibehaltung des Abgrenzungsbeschlusses zu anderen rechtsextremistischen Organisationen2 bei gleichzeitigen Wahlabsprachen mit der DVU - zeigt zum einen, dass er seinen in- 2 Ruhstorfer Beschluss, 1990 13 nerparteilichen Kritikern entgegenkommen muss, um sie in die Gesamtpartei zu integrieren. Andererseits hält er eine Zusammenarbeit mit der DVU für offenbar weniger schädlich als etwa mit der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD). Die Phase des Aufschwungs scheint für die NPD mit dem Jahr 1999 beendet zu sein. Auf Bundesebene konnte die Partei ihre Mitgliederzahl zwar gerade noch halten; im Land ist aber bereits ein erster Rückgang zu beobachten. Bei den verschiedenen Wahlen blieb die Partei erwartungsgemäß erfolglos. Der Bundesvorsitzende Udo VOIGT verfolgt weiter seine Strategie, die NPD auf eine möglichst breite Basis zu stellen und die unterschiedlichen Strömungen des "nationalen Widerstands" zu bündeln. Im Gegensatz zu den anderen rechtsextremistischen Parteien scheut er dabei auch nicht vor einer - wenn auch nur anlassbezogenen - offenen Kooperation mit Neonazis und Skinheads zurück. 2. Gewaltbereiter Rechtsextremismus 2.1 Häufigkeit und Zielrichtung rechtsextremistisch motivierter Gewalt Die Zahl der rechtsextremistisch und fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten hat sich in Baden-Württemberg gegenüber 1998 wieder erhöht. 1999 hielten sich fremdenfeindliche und sonstige rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte die Waage. In den beiden Vorjahren lag der Anteil der Delikte mit fremdenfeindlicher Motivation noch jeweils bei rund 60 %. Bundesweit war im Vergleich zu 1998 ein Anstieg um ca. 5 % der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten zu verzeichnen. Dabei lag der regionale Schwerpunkt weiterhin in Ostdeutschland. Bei den in Baden-Württemberg bekannt gewordenen 61 Delikten handelte es sich bis auf eine Brandstiftung und einen Landfriedensbruch fast ausschließlich um Körperverletzungen, die in 35 Fällen von Angehörigen der rechtsextremistischen Skinheadszene begangen wurden. 1998 waren neben 45 Körperverletzungsdelikten ebenfalls je ein Brandanschlag und ein Landfriedensbruch verübt worden. 14 Die Gewalttaten im Bund-/Ländervergleich Gewalttaten Baden-Württemberg Bund 1999 (1998) 1999 (1998) Tötungsdelikte 0 0 1 0 Versuchte Tötungsdelikte 0 1 13 16 Brandstiftungen 1 1 35 39 Landfriedensbrüche 1 1 65 55 Körperverletzungen 56 45 630 595 Gefährliche Eingriffe in den 1 0 Keine sepaKeine sepaBahn-, Luft-, Schiffsund raten Anraten Angagaben ben Straßenverkehr Raub/Erpressung 2 2 Keine sepaKeine separaten Anraten Angagaben ben Herbeiführen einer Spreng- 0 0 2 3 stoffexplosion Gesamt: 61 50 746 708 Beispiele: Am 6. März 1999 provozierten fünf Angehörige der rechtsextremistischen Skinheadszene im Regionalexpress Stuttgart-Tübingen durch ausländerfeindliche Äußerungen eine verbale Auseinandersetzung mit einem äthiopischen Staatsangehörigen. Im weiteren Verlauf traktierten die Skins den Mann mit Fußtritten und verschonten auch andere Fahrgäste nicht, die dem Opfer zu Hilfe kommen wollten. Die Skingruppe war auf dem Heimweg vom Besuch des Fußballbundesligaspiels VfB Stuttgart - Eintracht Frankfurt. Am 4. Mai 1999 verurteilte das Jugendschöffengericht Reutlingen zwei der Beteiligten - einen 34-jährigen Hooligan und einen 19-jährigen Skinhead - rechtskräftig zu Bewährungsstrafen von einem Jahr bzw. neun Monaten. Am 8. Juli 1999 überfielen drei bayerische Skinheads in Ulm einen Angehörigen der Antifa Ulm/Neu-Ulm, rissen ihn vom Fahrrad, schlugen und traten auf den am Boden liegenden ein. Angestiftet zu der Tat hatte sie der ehemalige informelle Führer der 15 zwischenzeitlich aufgelösten Gruppierung "Skinheads Schwaben", der sich selbst bei der Ausführung der Tat im Hintergrund hielt. Am 8. November 1999 schlugen ein 16und ein 17-jähriger Skinhead in Bad Säckingen einen türkischen Asylbewerber mit einem Notfallhammer nieder, nachdem sie ihn zuvor nach seiner Nationalität gefragt hatten. Die geständigen Täter hatten bei ihrer Festnahme rechtsextremistisches Propagandamaterial bei sich. Am 3. Dezember 1999 kam es in Burgrieden/Krs. Biberach an einer Bushaltestelle aus einer ca. 15-köpfigen Skinheadgruppe heraus zu tätlichen Übergriffen auf Jugendliche, die von den Skins u.a. mit "Russenpack, ihr nehmt uns die Arbeitsplätze" beleidigt wurden. Etwa fünf Skinheads prügelten auf ihre Opfer ein und schlugen sie mit den Köpfen gegen eine Mauer, die anderen hinderten die Jugendlichen an der Flucht. Der einzige Brandanschlag ereignete sich am 9. April 1999 in Hechingen. Unbekannte Täter setzten dort zwei leere Wohncontainer, die als Anlaufstelle für jugendliche Spätaussiedler vorgesehen waren, in Brand. Wegen der Nutzung der Wohncontainer hatte es im Vorfeld von Seiten der Anwohner massive Proteste gegeben. Die endgültige Entscheidung zugunsten des Projekts war erst am Vorabend des Anschlags im Gemeinderat gefallen. Am 3./4. Dezember 1999 kam es in Gerabronn/Krs. Schwäbisch Hall zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der rechtsextremistischen Skinheadszene und Punkern. Insgesamt waren an den Ausschreitungen zwischen 100 und 150 Jugendliche beteiligt. Die Polizei ermittelt gegen beide Gruppen wegen des Verdachts des besonders schweren Landfriedensbruchs, da Gaspistolen, Schlagwerkzeuge und eine Eisenkette zum Einsatz kamen. 16 * Täteranalyse Der Anteil der von Angehörigen der rechtsextremistischen Skinheadszene begangenen Gewalttaten hat gegenüber den Vorjahren weiter zugenommen. Lag deren Tatbeteiligung 1997 und 1998 jeweils bei etwa 50 %, so wurden 1999 in rund 60 % der Fälle Skinheads als Tatverdächtige angegeben. Die Opfer dieser Gewaltdelikte waren Ausländer, "Linke" und Personen aus sozialen Randgruppen, aber auch ehemalige Szenemitglieder. Nach wie vor sind Frauen und Mädchen nur in Einzelfällen an Gewaltdelikten beteiligt; ihr Anteil liegt bei etwa 7 %. Hinsichtlich der Altersstruktur dieses Täterkreises muss mit Besorgnis auf das überwiegend jugendliche Alter der meisten Täter hingewiesen werden. 1998 waren rund zwei Drittel der in Baden-Württemberg wohnhaften Tatverdächtigen 16 bis 20 Jahre, ein Viertel 21 bis 25 Jahre und die restlichen ca. 8 % zwischen 25 und 60 Jahre alt. In drei bekannt gewordenen Fällen waren Jugendliche unter 16 Jahre beteiligt. 1999 lag der Anteil der 16bis 20-jährigen bei 63 %, der 21bis 25-jährigen bei 22 % und der von 25 bis 60 Jahre alten Tatverdächtigen bei 15 %. In sechs Fällen waren Personen unter 16 Jahre beteiligt. Auffällig ist, dass eine Häufung rechtsextremistischer Skinheads nicht zwangsläufig zu einem Ansteigen von Gewaltdelikten führt. Im Umfeld der 1999 in BadenWürttemberg durchgeführten zehn Skinkonzerte wurden keine gewaltsamen Übergriffe verzeichnet. Zumeist wird Gewalt spontan und unter Alkoholeinfluss verübt, was ein präventives Entgegenwirken erschwert. 2.2 Rechtsextremistische Skinheads Größenordnung, Erscheinungsbild, soziologische Daten Erstmals seit Jahren ist die Zahl der rechtsextremistischen Skinheads in BadenWürttemberg wieder rückläufig. Rund 670 Skins (1998: 700) wurden im Laufe des Jahres bei einschlägigen Veranstaltungen festgestellt. Da organisatorische Struktu17 ren in der Skinheadszene fast völlig fehlen, sind genauere Zahlenangaben nicht möglich. Bemerkenswert ist die große Fluktuation: viele Jugendliche verlassen die Szene nach relativ kurzer Zeit wieder, neue kommen hinzu. Der Anteil weiblicher Skinheads (Renees) liegt bei rund 15 %. Altersstruktur der rechtsextremistischen Skinheadszene in Baden-Württemberg im Jahr 1999 > 30 Jahre 16 und 17 Jahre 3% 7% . 25 - 30 Jahre 17% 18 - 20 Jahre 35% 21 - 24 Jahre 38% Grafik: LfV BW Bundesweit beläuft sich die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten, von denen der größte Teil der rechtsextremistischen Skinheadszene zuzurechnen ist, auf ca. 9.000 (1998: 8.200). Auffällig ist das typische Erscheinungsbild der Skins, in der Regel bestehend aus DocMartens-Stiefeln mit weißen Schnürsenkeln, Jeans mit Hosenträgern, Bomberjacke und Glatze. Der zeitweilige Trend, die Szenezugehörigkeit durch ein unauffälligeres Äußeres zu verschleiern, wurde wieder aufgegeben. Der leichte Rückgang der Skinheadzahl in Baden-Württemberg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anziehungskraft dieser Szene insbesondere auf bestimmte männliche Jugendliche weiterhin ungebrochen ist. Staatliche repressive Maßnahmen sowie die öffentliche Verurteilung zeigen nur begrenzt Wirkung. Die Beweggründe, die junge Leute in diese Subkultur treiben, sind dabei immer diesel18 ben: jugendliche Protesthaltung, Provokation und Tabubruch, der gesamtgesellschaftliche Umbruch mit den Folgen einer Entwurzelung und zunehmenden Entfremdung vom Elternhaus, Perspektivlosigkeit in Verbindung mit wirtschaftlichen Problemen und tatsächlichem oder befürchtetem sozialem Abstieg. Hinzu kommen das durch die Szene vermittelte Gemeinschaftserlebnis und - daraus resultierend - das Gefühl eigener Stärke und endlich Anerkennung in einer sozialen Gruppe. Diesen Jugendlichen werden dort simple Erklärungen und einfache Lösungen für komplexe Probleme angeboten. Räumliche Schwerpunkte In der Skinheadszene gibt es zahlreiche überregionale Kontakte und grenzüberschreitende Aktivitäten in allen Grenzregionen Baden-Württembergs. Ein reger Austausch findet insbesondere anlässlich größerer Veranstaltungen (z.B. Konzerte) statt, außerdem bei gegenseitigen Kneipenbesuchen, die der "Kameradschaftspflege" dienen sollen. Die räumlichen Schwerpunkte in Baden-Württemberg lagen auch 1999 in den Grenzgebieten Baden-Württemberg/Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg/ Bayern; die Kontakte reichten bis in die Schweiz. Treffpunkte der rechtsextremistischen Skinheads aus dem Rhein-Neckar-Kreis sind verschiedene Gaststätten in Baden-Württemberg, z.B. die "Schmuckerstube" in Mannheim, Hessen und Rheinland-Pfalz. Gemeinsame Besuche von Proben der in dieser Region angesiedelten Skinband "Bosheit" sowie von Fußballspielen dienen ebenfalls der Kontaktpflege. Am 13. Mai 1999 kam es bei einer solchen Begegnung in Offenbach/Hessen zu schweren Ausschreitungen, an denen Skinheads und Hooligans aus dem Raum Mannheim/Ludwigshafen maßgeblich beteiligt waren. Ein amtsbekannter Mannheimer Skinhead wurde am 29. Oktober 1999 vom Bezirksjugendschöffengericht des Amtsgerichts Mannheim wegen schweren Landfriedensbruchs zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Eine bereits im Oktober 1997 verhängte elfmonatige Bewährungsstrafe wurde miteinbezogen. Das Urteil ist rechtskräftig. 19 Die Allgäuer Skinheadszene war 1999 insbesondere im Bodenseekreis und im Landkreis Ravensburg aktiv. Die Kontakte zu den Gesinnungsgenossen aus dem angrenzenden Raum Lindau/Bayern sind besonders ausgeprägt. Daneben bestehen weiterhin Verbindungen zu Skins aus den Regionen Biberach, Ulm/Neu-Ulm, Kempten und Memmingen. Die Anlaufstelle rechtsextremistischer Skinheads aus den Bereichen Horb, Freudenstadt, Karlsruhe, Stuttgart, Reutlingen, Freiburg, dem Allgäu, dem Bodenseekreis und den angrenzenden Bundesländern, das "Comico" in Horb, musste nach gut zwei Jahren im April 1999 endgültig schließen. Seitdem gibt es in BadenWürttemberg keine Szenekneipe mehr, die eine solch überregionale Anziehungskraft ausübt. Die bereits in den letzten Jahren zu beobachtende ansatzweise Vernetzung auf internationaler Ebene wurde auch in Baden-Württemberg massiv ausgebaut. Insbesondere die 1987 von Ian Stuart Donaldson, dem 1993 verstorbenen Sänger der neonazistischen britischen Skinhead-Band "Skrewdriver", ins Leben gerufene, europaweit aktive "Blood & Honour-Bewegung" konnte ihre Präsenz in BadenWürttemberg verstärken. Die "Sektion Baden" sowie die "Sektion Württemberg" organisierten 1999 mehrere Skinkonzerte. Damit handelten sie ganz im Sinne der Zielsetzung von "Blood & Honour", über die Musik politischen Einfluss auf die Szene zu nehmen. Mittelpunkt ihrer "Ideologie" sind die Vorstellung von der Höherwertigkeit der weißen "Rasse" und der Kampf gegen "Linke", Juden und Ausländer. So genannte Blood & Honour-Divisionen gibt es mittlerweile in zahlreichen europäischen Staaten. Die seit 1995 in Deutschland aktive Vereinigung verfügt mittlerweile über 150-200 Anhänger. In fast allen Bundesländern bestehen Sektionen; eine führende Rolle nimmt die Berliner Sektion ein. Strukturierungsversuche der 1986 in den USA gegründeten "Hammerskins", deren Ziel die Vereinigung aller "weißen, nationalen" Kräfte ist, sind in Baden-Württemberg nach wie vor nur vereinzelt erkennbar und haben sich bisher in der Regel auf Kon20 takte einzelner Szenemitglieder zu "Hammerskins" beschränkt, insbesondere in der Schweiz. Schon seit Jahren ist bundesweit zu beobachten, dass rechtsextremistische Parteien, aber auch Neonazis versuchen, Einfluss auf die Skinheadszene zu nehmen und sie für ihre Zwecke zu nutzen. Besonders ausgeprägt ist dies seit jeher bei den neonazistischen "Kameradschaften", die sich in der Regel aus den Reihen der Skinheads rekrutieren. Aber auch die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) und ihre Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) sind bestrebt, über die Organisation von Konzerten mit rechtsextremistischen Skinbands und Liedermachern sowie über die Produktion und den Vertrieb entsprechender Tonträger junge Leute mit ihrer Ideologie zu erreichen und für ihre eigenen Interessen zu gewinnen. Die Skinheadszene wird dabei sowohl als Rekrutierungsfeld für neue Mitglieder als auch als Geldquelle betrachtet. Die Reaktionen der Skins sind unterschiedlich. Die Konzerte werden besucht, auch Tonträger gekauft, in die Parteiarbeit aber lassen sie sich kaum einbinden. Auch die Teilnahme an Großdemonstrationen wie z.B. anlässlich der Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" ist eher unter dem Aspekt zu sehen, dass Skinheads darin die Möglichkeit zu (gewalttätigen) Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner sehen. In Baden-Württemberg bestehen intensive Kontakte zwischen der Skinheadszene und der NPD/JN im Bereich Schwäbisch Hall/Crailsheim. Dort sind zahlreiche Skinheads Mitglied und nehmen regelmäßig an Parteiveranstaltungen teil, bei denen sie auch als Ordner eingesetzt werden. Als gescheitert können dagegen die Bemühungen der NPD/JN im Rhein-NeckarKreis angesehen werden. Dort ist es nicht gelungen, Angehörige dieser Szene in die Parteiarbeit einzubinden. Erste Kontakte zwischen NPD/JN und Skinheads bahnten sich 1999 auch im Bodenseeraum an; der Kreisverband Ravensburg der NPD rekrutiert sich vermehrt aus diesen Reihen. 21 Publikationen Ein wichtiges Kommunikationsmittel in der Skinheadszene stellen nach wie vor die so genannten Fanzines dar, interne Informationshefte, die zumeist in Eigenarbeit erstellt werden und Konzertbesprechungen, CDbzw. Plattenkritiken, aktuelle Szeneberichte, Interviews mit Skinbands, Besprechungen anderer Fanzines sowie juristische Tipps enthalten. Sie können über den einschlägigen Versandhandel oder bei Skinheadveranstaltungen erworben werden. Neben den bereits 1998 herausgegebenen Fanzines "Doitsche Offensive" und "Der Feldzug" aus Mannheim, deren Redaktionen 1999 gemeinsam das Projekt "Der Rippenbrecher" veröffentlichten, sowie dem Heft "Neue Ordnung" aus Crailsheim gab es im Jahr 1999 mehrere Neuerscheinungen. Es wurden "Der Germane" in Ludwigsburg und "Mehr als Boots'n' Hate" in Aichwald veröffentlicht. Ein ehemaliges Redaktionsmitglied der 1999 eingestellten Publikation "Baden Front" aus Bühl gibt nun eigenverantwortlich das Fanzine "KdF" in Stutensee heraus. Von den Fanzines "A.f.D." aus Weinstadt, "Der Knobelbecher" aus Bad Teinach, "Der Nordmann" aus Weinheim und "Der Kettensprenger" aus Kornwestheim erschienen 1999 keine Ausgaben. Ein Skinhead aus Schwäbisch Hall stellt unter dem Titel "White Power - Die weißesten Seiten aus Süddeutschland" Szeneinformationen ins Internet ein. Er bietet die Artikel sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache an. Die in Baden-Württemberg herausgegebenen Fanzines weisen vermehrt ausländerfeindliche, gewaltverherrlichende, rassistische und antisemitische Texte und Illustrationen auf und sind deshalb immer häufiger Gegenstand von Ermittlungsverfahren. Das Amtsgericht Mannheim verurteilte am 26. Januar 2000 den Herausgeber des Fanzines "Der Sturmführer - Brauner Beobachter aus Baden" zu 20 Arbeitsstunden sowie zu einer Jugendstrafe, die auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Inhalt der Ausgabe Nr. 2 enthielt mehrere Passagen, die den Straftatbestand der 22 Volksverhetzung erfüllen; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Heft wurde nach der zweiten Ausgabe eingestellt; laut einer Meldung im Internet will der Herausgeber "verstärkt an der JN-Internetseite Baden-Württembergs ... und an der Publikation (Südweststimme) der Jungen Nationaldemokraten Baden-Württembergs mitarbeiten". Anklage wegen desselben Tatverdachts wurde von der Staatsanwaltschaft Mannheim auch gegen die Herausgeber und mögliche Mitwirkende des Fanzines "Der Feldzug" erhoben3. 3. Rechtsextremistische Musikszene Skinhead-Musikgruppen Die Fluktuation im Skinheadbereich ist auch in der Musikszene spürbar. Wie bereits im Vorjahr gab es auch Ende 1999 in Baden-Württemberg sechs aktive Skinbands sowie einen Liedermacher, der unter der Bezeichnung "Wolfsrudel" auftritt. Bei den Musikgruppen hat es dabei allerdings geänderte Zusammensetzungen, Neugründungen sowie Auflösungen gegeben. Neu ist unter anderem die im Rhein-Neckar-Kreis beheimatete Skinband "Bosheit", die sich bereits durch zahlreiche Auftritte im ganzen Bundesgebiet einen einschlägigen Namen gemacht hat. Auch die im Raum Horb ansässige Band "Propaganda" hat schon im ersten Jahr ihres Bestehens eine große Popularität in der Skinheadszene erreicht. Bundesweit waren 1999 rund 90 rechtsextremistische Skinbands aktiv. Rückläufig ist in der baden-württembergischen Szene dagegen die Produktion von Tonträgern. Lediglich die Band "Foierstoß" aus Gernsbach veröffentlichte Anfang 1999 eine CD, die bereits im Juli desselben Jahres durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) indiziert wurde. Ebenfalls indiziert wurde im Juni 1999 die bereits im Vorjahr erschienene Debüt-CD der Skinband "Ultima Ratio", Stuttgart, mit der Begründung, der Inhalt dieses Tonträgers sei geeignet, Kinder und 3 Bei Redaktionsschluss war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. 23 Jugendliche sozialethisch zu desorientieren, da er fremdenfeindliches Verhalten fördere. Der Betreiber des in Ulm ansässigen Versandhandels für rechtsextremistische Tonträger "Clockwork-Records" musste sich 1999 erneut vor Gericht verantworten. Erst im Januar 1998 hatte ihn das Amtsgericht Ulm u.a. wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren auf Bewährung und zur Zahlung einer Geldstrafe von 15.000,DM verurteilt. Bei Wohnungsdurchsuchungen im März und im Mai 1999 hatte die Polizei zahlreiches Beweismaterial bei ihm sichergestellt. Es belegte, dass er während seiner Bewährungszeit den Handel mit Tonträgern antisemitischen, volksverhetzenden und fremdenfeindlichen Inhalts fortgesetzt hat. Das Amtsgericht Ulm verurteilte ihn deshalb am 25. Oktober 1999 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Skinkonzerte 1999 stieg die Zahl der rechtsextremistischen Skinkonzerte in Baden-Württemberg deutlich an. Fanden im Vorjahr noch fünf derartige Veranstaltungen gegenüber zwei im Jahr 1997 statt, so trafen sich Szenemitglieder aus dem Inund Ausland 1999 zehnmal zu einschlägigen Musikveranstaltungen. Besonders hervorzuheben sind zwei durch die Skinheadorganisation "Blood & Honour" initiierte Konzerte im Landkreis Karlsruhe sowie ein Konzert mit ca. 700 Besuchern im Raum Reutlingen. Die "Blood & Honour"-Sektion Baden, die bereits an der Organisation zweier Konzerte im Elsass beteiligt war, veranstaltete am 18. September 1999 in einer Gaststätte in Rastatt-Plittersdorf ein Konzert mit mehreren inund ausländischen rechtsextremistischen Skinbands. An der Veranstaltung nahmen ca. 450 Personen teil. Die Vorbereitungen waren äußerst konspirativ. Die Teilnehmer erfuhren erst an einem vorher festgelegten Treffpunkt den Veranstaltungsort. Ähnlich konspirativ verlief die Planung des zweiten "Blood & Honour"-Konzerts am 16. Oktober 1999 in Pfinztal-Berghausen. Unter dem Vorwand, einen Geburtstag 24 feiern zu wollen, wurde die gemeindeeigene Kulturhalle angemietet. Der Einladung folgten ca. 300-400 Szenemitglieder. Neben anderen rechtsextremistischen Skinbands spielte auch die Gruppe "Bosheit" aus dem Rhein-Neckar-Kreis. Gegen die Mitglieder der Band leitete die Staatsanwaltschaft Mannheim ein Ermittlungsverfahren ein. Bereits am 17. September 1999 hatte die Polizei bei einer Razzia im Proberaum der Band in Mannheim zahlreiche Liedtexte beschlagnahmt, die den Verdacht der Volksverhetzung und des Aufrufs zur Gewaltanwendung begründeten. Das größte Skinkonzert in Baden-Württemberg fand am 30. Oktober 1999 in Engstingen/Krs. Reutlingen statt. Bis zu 700 Skinheads aus dem gesamten Bundesgebiet sowie dem benachbarten Ausland verfolgten die Auftritte verschiedener Skinbands aus dem Inund Ausland. Ein geplantes Großkonzert mit mehreren Skinbands, das am 11. Dezember zugunsten der neonazistischen "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) im Raum Schwäbisch Hall hätte stattfinden sollen, wurde nach Intervention der Polizei kurzfristig abgesagt. Bei den weiteren Konzerten, die 1999 in Baden-Württemberg stattfanden, kamen jeweils zwischen 70 und 400 Skinheads zusammen. Bundesweit fanden rund 140 rechtsextremistische Musikveranstaltungen statt; damit sank die Zahl gegenüber dem Vorjahr um 17 %. Das größte von "Blood & Honour" organisierte Konzert fand in Garitz/Sachsen-Anhalt statt. An ihm nahmen mehr als 2.000 Szeneangehörige aus dem Inund Ausland teil. Sonstige rechtsextremistische Musik Der Ehninger Liedermacher Frank RENNICKE tritt nach wie vor bundesweit bei Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene auf. Die Veranstalter sind häufig neonazistische "Kameradschaften" oder kommen aus dem Bereich der "Nationalde25 mokratischen Partei Deutschlands" (NPD). Wegen seiner großen Beliebtheit im gesamten "rechten" Lager wirkt er nach wie vor als Integrationsfigur für die Szene. Im Rahmen einer Vortragsveranstaltung des "Nationalen Widerstands Stuttgart" im Frühjahr 1999 in Herrenberg-Gültstein, bei der auch der ehemalige Vorsitzende der verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP), Friedhelm BUSSE, referierte, hatte RENNICKE ca. 140 Zuhörer. Nach wie vor nutzt RENNICKE die modernen Kommunikationsmittel, um seine Musik einem breiten Spektrum näher zu bringen. Interessenten können über seine Homepage im Internet Hörproben von den dort eingespeisten Tonträgern abrufen. Wegen Verbreitens volksverhetzender Tonträger und jugendgefährdender Schriften fand auch 1999 eine Hausdurchsuchung bei ihm statt. 4. Neonazistische Aktivitäten 4.1 Bundesweit operierende Gruppen 4.1.1 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Gründung: 1979 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 70 Baden Württemberg (1998: ca. 70) ca. 500 Bund (1998 ca. 450) Publikation: "Nachrichten der HNG" Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) ist die mitgliederstärkste Organisation innerhalb des neonazistischen Spektrums und wird seit 1991 von Ursula MÜLLER, Mainz-Gonsenheim, geleitet. Die HNG versteht sich als Sammelbecken und Solidargemeinschaft für Neonazis aus dem Inund Ausland. Nach dem weitgehenden Wegfall organisationsmäßiger 26 Strukturen innerhalb der Neonaziszene wurde sie zu einem wichtigen Bindeglied zwischen den noch verbleibenden Gruppierungen und Einzelaktivisten. Ihre Aufgabe sieht die HNG darin, "nationale, politische Gefangene" und deren Angehörige finanziell und moralisch zu unterstützen. Ihre Mitglieder gehören zumeist gleichzeitig auch einer anderen rechtsextremistischen Organisation an. Zur Unterrichtung ihrer Mitglieder und der Inhaftierten erscheinen monatlich die "Nachrichten der HNG", die u.a. Leserbriefe, Hinweise auf bestehende "Nationale Info-Telefone" (NIT) und eine "Gefangenenliste" beinhalten. Durch sie sollen Kontakte zu inhaftierten Gesinnungsgenossen vermittelt und deren weitere Einbindung in die rechtsextremistische Szene gewährleistet werden. Zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit erklärte die HNG zwischenzeitlich die Rechtsberatung der "Kameraden" auf dem "Gebiet der ehemaligen DDR". Unter der Überschrift "20 Jahre Gefangenenhilfe" heißt es in der August-Ausgabe der "Nachrichten der HNG": "... Denn offenbar sah das Regime in der aufkommenden nationalen Bewegung in Mitteldeutschland nach der 'Wende' eine größere Gefahr als in den seit Jahrzehnten festgefügten und von Spitzeln durchsetzten Gruppierungen im Westen. Anders ist nicht zu erklären, warum in den sogenannten 'neuen Ländern' mit - bis dato in der alten BRD unbekannten Brutalität - gegen die nationale Opposition vorgegangen wird ..." (Fehler im Original) 27 4.1.2 "Freiheitlicher Volks Block" (FVB) Gründung: 1994 Sitz: Nürnberg Mitglieder: ca. 30 Baden-Württemberg (1998: ca. 40) ca. 70 Bund (1998: ca. 100) Publikation: "FVB-Spiegel" Der "Freiheitliche Volks Block" (FVB), Anfang 1994 unter Beteiligung ehemaliger Angehöriger der im Jahr 1993 verbotenen neonazistischen "Heimattreuen Vereinigung Deutschlands" (HVD) gegründet, versucht sich in seinem neuen Positionspapier "Strategierichtlinien Freiheitlicher Volks Block 1999-2000" als "wählbare Massenpartei des gesellschaftlich rechten Randes" zu empfehlen. Die Teilnahme an parlamentarischen Wahlen sowie - angesichts der geringen personellen Potenz - eine intensive Mitgliederrekrutierung sind die selbst gesetzten Ziele der Vereinigung. Um diese Ziele erreichen zu können, müsse "... die zukünftige FVB Propaganda ... unter allen Umständen qualitativ mit der Propaganda der lizensierten Bonner Großparteien konkurieren können, möglichst hochwertiger als diese sein ..." (Fehler im Original) Nachdem die Organisation bereits 1998 durch die Inhaftierung ihres Bundesvorsitzenden Konrad PETRATSCHEK, Bayern, - er wurde wegen allgemeinkrimineller Delikte zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt - ihren Organisator und aktivsten Funktionär verloren hatte, konnte der neue Vorsitzende Thomas SCHARF, Bayern, diese Lücke bisher nicht füllen. In Baden-Württemberg gibt es keinen funktionierenden Landesverband. Nennenswert ist lediglich der Aufruf des FVB zu einer Gegendemonstration gegen eine "AntifaKampagne" am 10. April 1999 in Heidenheim unter dem Motto "Rotfrontund Antifabanden zerschlagen - den Widerstand organisieren!". Am Veranstaltungstag fanden sich statt der 150 erwarteten Teilnehmer nicht einmal 20 Personen ein. Die Gegendemonstration wurde daraufhin abgesagt. 28 4.2 Aktivitäten mit überregionaler Bedeutung 4.2.1 Neonazistische Publikationen Die im Januar 1998 erstmals erschienene Zeitschrift "Zentralorgan" entwickelt sich zunehmend zur einzigen bundesweit nennenswerten neonazistischen Publikation. Die anonym bleibende Redaktion mit Anschrift in Hamburg ist maßgeblich von führenden Neonazis aus der Hansestadt geprägt, die im norddeutschen Raum unter der Bezeichnung "Freie Nationalisten" versuchen, ein rechtsextremistisches "Netzwerk" aufzubauen. Das vierteljährlich erscheinende Heft, das auszugsweise auch im Internet abrufbar ist, enthält vorwiegend Berichte über Kundgebungen und Demonstrationen. In populistischer Art und Weise werden kulturelle und aktuelle politische Themen aus rechtsextremistischer Sicht behandelt, wobei die Autoren der einzelnen Artikel nicht genannt werden. Darüber hinaus enthält das "Zentralorgan" Werbung für zahlreiche rechtsextremistische Organisationen und Gruppierungen, Verlage und Versandhandel sowie "Nationale Info-Telefone" (NIT) und Internetadressen. In der baden-württembergischen Neonaziszene publizieren in unregelmäßigen Abständen Aktivisten aus Karlsruhe eine eigene Broschüre namens "Rote Socke", die ohne eigene Kommentierung Veröffentlichungen des politischen Gegners über die "rechte Szene" reproduziert. 4.2.2 "Rudolf Heß-Gedenkveranstaltungen 1999" Der ehemalige Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß ist nach seinem Tod am 17. August 1987 zu einer Symbolgestalt für die deutsche Neonaziszene geworden. Aus diesem Anlass führen Rechtsextremisten seit 1988 "Rudolf Heß-Gedenkveranstaltungen" in Deutschland oder im benachbarten Ausland durch. Gegenmaßnahmen der Sicherheitsbehörden verhinderten jedoch sowohl den "Jubiläumsmarsch" 1997 als auch eine zentrale Veranstaltung im Jahr 1998. Diese Misserfolge veranlassten die rechtsextremistische Szene nunmehr zu einem Strategiewechsel. Während in den vergangenen Jahren die Mobilisierung unter Federführung eines "Rudolf Heß-Aktionskomitees" stets einen zentralen "Heß-Marsch" 29 innerhalb Deutschlands zum Ziel hatte, riefen die einschlägigen "Nationalen InfoTelefone" (NIT) ab Ende Juli 1999 zu regionalen Aktionen für die Zeit vom 9. - 22. August 1999 auf. Das "NIT Rheinland" forderte darüber hinaus Fantasie und Kreativität: "Alles ist möglich, es liegt bei euch, wie sich die Aktionswochen entwickeln. Sorgt bei allem was ihr tut, auf jeden Fall dafür, dass möglichst viel Aufsehen erregt wird." Durch das Fehlen eines überregionalen "Rudolf Heß-Aktionskomitees" fühlten sich einige baden-württembergische Neonazis dazu berufen, eine eigene medienwirksame Gedenkaktion zu organisieren. Am 14. August 1999 fanden sich ca. 80-100 Personen, in der Mehrheit aus BadenWürttemberg, aber auch aus Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz, mit Kleinbussen und einigen Pkw in Bern ein und zogen vor die deutsche Botschaft. Dort führten sie eine kurze Kundgebung durch, skandierten Parolen wie "Rudolf Heß, das war Mord" oder "Frei, Sozial und National" und trugen ein Spruchband mit Bild und dem Text "Wir gedenken Rudolf Heß". Der ehemalige Vorsitzende der verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP), Friedhelm BUSSE, hielt eine kurze Rede. Noch am Abend und in der Nacht traten die meisten Teilnehmer wieder die Heimreise an. Die von der Schweizer Polizei überwachte Kundgebung fand weder bei den Medien in der Schweiz noch in Deutschland Resonanz. Über das Internet und die NIT äußerte sich die neonazistische Szene anschließend zufrieden über den "Erfolg" von Bern, lediglich die fehlende Resonanz in den Medien wurde bemängelt. Dies wiederum dürfte die Ursache für eine Plakataktion in Villingen-Schwenningen gewesen sein. Mit der Aufschrift "...der nationale Widerstand marschierte am 14.08.1999 in Bern vor der Deutschen Botschaft auf, trotz massiver Bespitzelung hat der BRD-UNRECHTSTAAT dieses Jahr vollständig in BadenWürttemberg versagt!! ..." (Fehler im Original) wurde im Nachhinein erfolglos versucht, die Presse für das Thema zu interessieren und von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. 30 Während der Heß-Aktionswochen kam es auch in Deutschland zu regionalen, teilweise spontanen, jedoch wenig öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen. Vereinzelte Versuche, lokale "Heß-Märsche" durchzuführen, wurden von der Polizei verhindert. Sämtliche Anmeldungen von Demonstrationen und Veranstaltungen, die im Zusammenhang mit Heß standen, wurden im Vorfeld von den Behörden verboten. Insgesamt gab es in Baden-Württemberg mehr Plakatund Klebeaktionen als 1998. In den meisten Fällen verwendete man "Heß-Aufkleber" oder mit "Heß-Parolen" besprühte Bettlaken, die an Straßenbrücken angebracht wurden. Der sich bereits 1998 abzeichnende Trend, bundesweit nicht mehr zu einem zentralen "Heß-Marsch" zu mobilisieren und stattdessen dezentrale Aktionen durchzuführen, wurde 1999 umgesetzt. Damit eröffnen sich für regionale neonazistische Zirkel Möglichkeiten, sich selbst in der Öffentlichkeit darzustellen. Auch in den kommenden Jahren ist damit zu rechnen, dass der Todestag des Hitler-Stellvertreters einen festen Platz im Terminkalender der Neonazis einnehmen wird. 4.2.3 Kommunikationsmittel Schon früh hat die rechtsextremistische Szene den Nutzen der neuen Medien erkannt. Internet, Mailboxen und Mobiltelefone sind als Kommunikationsmittel nicht mehr wegzudenken (vgl. S. 72 ff.). Insbesondere die "Nationalen Info-Telefone" (NIT) haben als ebenso einfache wie effektive Form der Informationsübermittlung an Bedeutung gewonnen. NIT sind Anrufbeantworter, über die Informationen ausgetauscht, Aktionen und Veranstaltungen koordiniert werden. Sie sind ein preisgünstiges, durch jedermann nutzbares Medium, das auch in Zukunft verstärkt zum Einsatz kommen wird. Die derzeitigen Bemühungen, flächendeckend im ganzen Bundesgebiet neue NIT zu installieren, tragen zur weiteren Vernetzung der Szene bei. Trotz der fast immer gemeinsamen Bezeichnung als "Nationales Info-Telefon" (NIT) oder auch "Freies Info-Telefon" (FIT) sind die Info-Telefone keinesfalls als Verbund anzusehen. Es bestehen durchaus Meinungsverschiedenheiten zwischen den Betreibern. Die Themenauswahl und Diktion lassen die rechtsextremistische Grundein31 stellung erkennen bei gleichzeitigem Bemühen, strafbare Inhalte zu vermeiden. Die Bedeutung der einzelnen NIT ist sehr unterschiedlich. Die regelmäßig aktualisierten Ansagetexte enthalten neben Terminund Veranstaltungshinweisen aus der rechtsextremistischen Szene auch Kommentierungen allgemeinpolitischer Themen. Im Laufe des Jahres 1999 waren in Baden-Württemberg außer dem NIT Mannheim, das nur wenige Tage geschaltet war, drei Info-Telefone in Betrieb: - NIT Baden-Württemberg in Wehr/Krs. Waldshut - NIT Schwaben in Calw (im Januar 2000 umbenannt in "Info-Telefon Bündnis Rechts, Anschluss Baden-Württemberg") - NIT Karlsruhe Darüber hinaus waren im Bundesgebiet abrufbar: - NIT Hamburg - NIT Schleswig-Holstein in Halstenbek - NIT Mecklenburg-Vorpommern in Stavenhagen - NIT Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (nur zeitweise) - FIT Norddeutschland Regionalanschluss Mecklenburg in Rostock Regionalanschluss Hamburg - NIT Rheinland in Düsseldorf - NIT Preußen in Berlin - NIT Bayern in München - IT "Bündnis Rechts" in Lübeck 4.3 Neonazistische Personenzusammenschlüsse in Baden-Württemberg Allgemeines Die Zahl der Neonazis in Baden-Württemberg ist 1999 nur leicht gesunken. Nahezu unverändert gehört die Mehrzahl der rund 300 Neonazis im Land lose strukturierten, 32 autonomen Personenzusammenschlüssen, so genannten Kameradschaften, Neonazioder Freundeskreisen, an. Diese haben sich als Folge der Exekutivmaßnahmen - seit 1992 wurden insgesamt 15 Organisationen bundesweit verboten - etabliert. Die "Kameradschaften" haben vor allem bei männlichen Jugendlichen unverändert einen hohen Stellenwert, wie regelmäßige Treffen, Sonnwendund Erntedankfeiern mit z.T. zahlreichen Teilnehmern sowie die rege Beteiligung an überregionalen Aktionen belegen. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe vermittelt den Jugendlichen nicht nur Anerkennung und ein Selbstwertgefühl, die Aktivitäten der Kameradschaften haben für viele auch einen gewissen Freizeitwert. Zudem bringt etwa die gemeinsame Anreise zu einer verbotenen Demonstration einen Hauch von Abenteuer und stärkt - insbesondere nach Konfrontationen mit der "linken" Szene oder der Polizei - das Zusammengehörigkeitsgefühl. Unter der Bezeichnung "Nationaler Widerstand Baden-Württemberg" oder versehen mit regionalen Ergänzungen wie etwa "Nationaler Widerstand Stuttgart" treten Neonazis nicht nur im Internet auf; unter diesem Namen werden auch öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Skinkonzerte und Vortragsveranstaltungen durchgeführt. Obwohl in den vergangenen Jahren wiederholt Verbotsverfügungen ausgesprochen wurden, gelang es den Veranstaltern zuletzt, solche zu umgehen. Dabei wurden nicht nur zum Teil beachtliche finanzielle Gewinne erzielt, Mitgliederwerbung und Prestigegewinn waren weitere Aspekte. Aktuelle Situation in Baden-Württemberg In Baden-Württemberg bestehen "Kameradschaften", Neonaziund Freundeskreise in den Bereichen Stuttgart, Karlsruhe, Heilbronn und Villingen-Schwenningen sowie im Rhein-Neckar-Kreis. Schwerpunkt ihrer Agitation war 1999 die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944". Mit den Slogans "Unsere Großväter waren keine Verbrecher" oder "Ruhm und Ehre unseren Wehrmachtssoldaten" versuchten sie, ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen. In nahezu allen Ausstellungsorten beteiligten sich Rechtsextremisten aus BadenWürttemberg an Gegenaktionen, so u.a. am 7. Februar 1999 in Saarbrücken, wo sie 33 mit rund 150 Neonazis und Skinheads unter den insgesamt ca. 400 Teilnehmern besonders stark vertreten waren. Auch weite Anfahrtswege, etwa nach Hamburg, sind für die Szene kein Hindernis. Eine ursprünglich für den 5. Juni 1999 vorgesehene Demonstration wurde zunächst verboten und am 10. Juli 1999 schließlich durchgeführt. Zweimal fuhr ein Bus - überwiegend mit Neonazis aus dem Raum Karlsruhe und dem Rhein-Neckar-Kreis besetzt - nach Norddeutschland. Die Demonstrationen anlässlich der Wehrmachtsausstellung wurden zumeist von der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) bzw. deren Studentenverband "Nationaldemokratischer Hochschulbund" (NHB) angemeldet, bei der Durchführung dominierten jedoch immer Neonazis. Diese Vorgehensweise ist charakteristisch für das Verhältnis zwischen NPD/JN auf der einen und Neonazis auf der anderen Seite. Die beidseitig verfolgte und in diversen Positionspapieren ausdrücklich propagierte Strategie einer anlassbezogenen Kooperation dient der effektiveren Durchführung von Kundgebungen. Die Absicht beider Seiten, die jeweils andere für sich selbst zu vereinnahmen und zu instrumentalisieren, ist indes zu offenkundig, als dass sie zum Erfolg führen könnte. Gegenseitiges Misstrauen und kritisches Abwägen der Vorund Nachteile einer Zusammenarbeit dürften letztlich dazu führen, dass die Schwelle eines lediglich formellen Aktionsbündnisses nicht überschritten wird. Am 20. März 1999 organisierte die "Kameradschaft Karlsruhe" eine in der Szene viel beachtete Veranstaltung. Unter dem Motto "Von Terrorist zu Terrorist" referierten vor ca. 200 Besuchern der frühere Angehörige und Rechtsanwalt der "Roten Armee Fraktion" (RAF), Horst MAHLER, Berlin, sowie der ehemalige Sprengstoffattentäter und Gründer einer rechtsterroristischen Vereinigung, Peter NAUMANN, Hessen. Im Vorfeld der Veranstaltung war das von der "Kameradschaft Karlsruhe" eingerichtete und betreute "Nationale Info-Telefon" (NIT) erstmals in Betrieb genommen worden. Ausdrücklich wurde die Veranstaltung als nicht öffentlich angekündigt. Nach "linkem" Vorbild wurde 1999 in Karlsruhe ein so genanntes Repressionsbüro eingerichtet. Ziel dieser Einrichtung ist ein Fotoarchiv, in dem alle Formen der "Repression" gegen "nationale Bürger" gesammelt werden sollen. Laut eigenen Angaben 34 im Internet will man "Bildmaterial des Nationalen Widerstands zum Thema Repression archivieren", umso "eine bessere Gestaltung von Aufklebern, Plakaten und Broschüren zu garantieren." Die einzige Homepage baden-württembergischer Neonazis im Internet wird von Angehörigen einer "Kameradschaft" aus dem Raum Villingen-Schwenningen betrieben. Unter der Bezeichnung "Nationaler Widerstand Baden-Württemberg" bieten sie neben Veranstaltungsberichten, juristischen Tipps und Nachrichten aus der Szene auch einschlägiges Propagandamaterial und Tonträger an. Darüber hinaus dient das Internet der Mobilisierung für eigene Veranstaltungen, so z.B. zu einem Skinkonzert am 27. März 1999 in Bräunlingen-Döggingen. An dieser Veranstaltung - bei der auch indizierte Tonträger angeboten wurden - nahmen ca. 250 Personen teil. Das vergangene Jahr hat erneut gezeigt, dass die neonazistische Szene in BadenWürttemberg über sehr breit gefächerte Kontakte verfügt. Sowohl zu bundesweit führenden Neonazis als auch zu Funktionären anderer rechtsextremistischer Organisationen und Parteien - auch im Ausland - bestehen gute Verbindungen, ein Trend, der sich angesichts der regen Reisetätigkeit baden-württembergischer Neonazis noch verstärken dürfte. 5. Rechtsextremistische Parteien 5.1 "Die Republikaner" (REP) Gründung: 1983 1984 Landesverband Baden-Württemberg Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 1.800 Baden-Württemberg (1998: ca. 1.900) ca. 14.000 Bund (1998: ca. 15.000) Publikation: "DER REPUBLIKANER" 35 Organisation Die REP sind seit Jahren flächendeckend in allen Bundesländern mit eigenständigen Landesverbänden vertreten. Ungeachtet dessen ist es der Partei auch 1999 nicht gelungen, die zum Teil erheblichen Unterschiede in der Bedeutung dieser Untergliederungen abzubauen. Insbesondere in den neuen Bundesländern stagniert der ohnehin nur schleppend vorangegangene Aufbau auf einem niedrigen Niveau. Die schlechten Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in drei der fünf neuen Bundesländer verstärkten den Rutsch der betroffenen Untergliederungen in die politische Bedeutungslosigkeit. Der baden-württembergische Landesverband ist weiterhin nicht nur der erfolgreichste, sondern - durch die örtliche Konzentration führender Parteifunktionäre - auch der bedeutendste. Neben dem Vorsitz der Bundespartei hat Dr. Rolf SCHLIERER, Stuttgart, auch den Vorsitz der baden-württembergischen Landtagsfraktion inne. In beiden Funktionen wird er vom baden-württembergischen Landesvorsitzenden Christian KÄS vertreten, der am 8. Mai 1999 auf dem baden-württembergischen Landesparteitag in seinem Amt bestätigt wurde. Der bereits 1998 festgestellte leichte Mitgliederrückgang setzte sich, bedingt durch die schlechten Wahlergebnisse und innerparteilichen Probleme, 1999 fort. In Baden-Württemberg blieb die Organisationsdichte der REP nahezu unverändert. Neben den Kreisverbänden, die sich grundsätzlich mit den baden-württembergischen Landkreisen decken, existieren einzelne Ortsverbände. Die "Kommunalpolitische Vereinigung der Partei DIE REPUBLIKANER in BadenWürttemberg e.V." trat trotz der Kommunalwahlen vom Oktober 1999 kaum öffentlich in Erscheinung. Eine andere Entwicklung nahm dagegen die "Republikanische Jugend" (RJ). Nachdem deren Führung in Baden-Württemberg personell neu strukturiert wurde, sind gegenüber den Vorjahren Ansätze einer effektiveren Jugendarbeit erkennbar. Neben einzelnen Untergliederungen, die sich auf Kreisebene gegründet haben, wird auch eine eigene Publikation - "Der junge Patriot" - herausgegeben. Bundesweit machte die RJ im September 1999 auf dem "Deutschlandtag" in Eula bei 36 Leipzig durch die erstmalige Wahl eines Bundesvorstands parteiintern von sich reden. Eigenen Angaben zufolge weist die Mitgliederzahl der RJ nach Jahren der Stagnation eine positive Tendenz auf. Die Untergliederungen, der "Republikanische Hochschulverband" (RHV), der "Republikanische Bund der Frauen" (RBF) und der "Republikanische Bund der öffentlich Bediensteten" (RepBB), entwickelten kaum nennenswerte Aktivitäten. Beobachtung Die Partei wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz und von nahezu allen Verfassungsschutzbehörden der Länder beobachtet. Im November 1998 erhob der baden-württembergische Landesverband der REP Klage gegen die nachrichtendienstliche Beobachtung, nachdem 1994 ein Antrag der Partei auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen worden war. Das Hauptsacheverfahren ist noch nicht abgeschlossen. In Rheinland-Pfalz unterlagen die REP im September 1999 im Rahmen der gerichtlichen Auseinandersetzung um die nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz entschied letztinstanzlich, dass die Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln zurecht erfolge. Im Dezember 1999 entschied das Bundesverwaltungsgericht Berlin, basierend auf einer Klage des REP-Landesverbands Niedersachsen, dass die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz wegen Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen zulässig sei wie bei anderen Organisationen. Das so genannte Parteienprivileg stehe einer solchen Beobachtung nicht entgegen. Politischer Kurs Auch 1999 fanden sich bei den REP die für eine Partei des rechtsextremistischen Spektrums typischen Agitationsfelder wieder. Zwar versucht der Bundesvorsitzende Dr. Rolf SCHLIERER auch weiterhin die Partei als rechtskonservativ und gemäßigt 37 darzustellen, eine Vielzahl von Äußerungen der "Republikaner" belegt jedoch, dass die dabei auferlegte Zurückhaltung lediglich taktischer Natur ist. Die bekannte feindselige Haltung gegen Ausländer zeigt sich in der pauschalen Diffamierung dieser Personengruppe insbesondere als Kriminelle und Schmarotzer des deutschen Sozialsystems. Sie ist kaum mit den im Grundgesetz garantierten Werten - Gleichheit und Menschenwürde -vereinbar. "... Unregulierte Zuwanderung und doppelte Staatsbürgerschaft bergen ungeheuren sozialen Sprengstoff. Die multikulturelle Gesellschaft zerstört die Grundlagen der Nation als Solidargemeinschaft. Sie öffnet unser Land dem 'Kampf der Kulturen' ... zwischen europäischer Aufklärung und islamischer Lebensauffassung ... Durch doppelte Staatsbürgerschaft und erweiterten Familienzuzug wird das soziale Sicherungssystem in Deutschland endgültig zerstört ..." (Flugschrift der REP zur "Doppelten Staatsbürgerschaft", in Baden-Württemberg im März 1999 bekannt geworden) "Dieses gewalttätige Pack muss aus Deutschland gejagt werden, besser heute als morgen. Diese PKK-Idioten gefährden das Leben von deutschen Männern und Frauen. Schon allein aus diesem Grund müssten diese Schweine ausgewiesen werden, ob sie wollen oder nicht! Warum tut die Regierung nichts? Warum schaut sie tatenlos zu? Warum wird nur angekündigt, jedoch nicht gehandelt? Respekt vor der Israelischen Botschaft: Die haben gleich geschossen!" (Anonymer Leserbrief, veröffentlicht im Abschnitt "Leserbriefe" des "Jugendreports Saar", Mitgliederzeitschrift der "Republikanischen Jugend Saar", 2. Quartal 1999) Selbst der REP-Bundesvorsitzende scheut sich nicht, in seiner Kritik an der Zuwanderung und der multikulturellen Gesellschaft diese als eine Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland darzustellen und versucht damit bewusst, eine fremdenfeindliche Haltung in der Bevölkerung hervorzurufen: 38 "... Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Land. Zuwanderer, die wir nicht gerufen haben, haben Deutschland zum Bürgerkriegsland gemacht. Wer Multi-Kulti sät, wird Bürgerkrieg ernten! ... Durch ihre Feigheit und Realitätsverweigerung haben die Altparteien uns diesen Bürgerkrieg ins Haus geholt ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 1-2/1999) Weiter heißt es in einem anderen Artikel unter dem Kürzel "P.M." in derselben Ausgabe des Parteiorgans: "... Die Messer sitzen locker in Multi-Kulti-Kreuzberg ... Fazit: Multi-Kulti taugt nur bei Sonnenschein. Im Ernstfall wird blutiger Bürgerkrieg daraus ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 1-2/1999) Durch die fortgesetzte Verwendung des Begriffs "Überfremdung" versuchen die REP, weitere Ressentiments gegen ausländische Mitbürger zu schüren und Ängste in der Bevölkerung vor einer "anschwellenden" Zuwanderung zu wecken: "Schluss mit ... der Überfremdung ganzer Stadtteile ... Wir wollen, dass Deutschland auch weiterhin die Heimat der Deutschen bleibt und nicht zu einem 'Multikulti-Staat' verkommt ... (Flugschrift "Republikanische-Jugend", Kreisverband Ludwigsburg, anlässlich der Kommunalwahl 1999) "... Nein zu 'Multi-Kulti'. Überfremdung und Kulturvermischung erzeugen Zwietracht ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 8/1999) "... Das gleiche Land aber schleppt Millionen Ausländer mit, die uns enorme Kosten verursachen - Kosten, die längst nur noch durch Schulden zu bezahlen sind. 39 Offene Grenzen. Gewalt. Kriminalität. Massenarbeitslosigkeit. Wer sich von den Medien und dem CDU/SPD-Schönreden nicht länger einlullen lässt, der spürt: Unser Gemeinwesen löst sich auf. Weiter so und damit in die Katastrophe ... Grund allen Übels ist die Massenarbeitslosigkeit. Eine Hauptursache dafür ist die seit Jahren anschwellenden Zuwanderung ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 9/1999, Fehler im Original) "... Was tun, wenn mein Kind auf dem Schulhof von einer Türkengang erpresst wird? Kann ich überhaupt wagen, Anzeige zu erstatten? Fakt ist: In der zweiten und dritten Einwanderergeneration wächst eine Jugend heran, die frustriert und ohne Perspektive sich in Ghettomentalität und Gewalttätigkeit austobt... Berlin wird zum Bürgerkriegsschauplatz ... Multi-Kulti life ... Unsere Stadt verliert nicht nur ihren deutschen Charakter: Es wird bereits gefährlich, als Deutscher allein auf die Straße zu gehen. Politiker von CDU und SPD lassen unsere Jugendlichen damit allein... Schluss mit dem Multi-Kulti-Gerede ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 9/1999) "Erste Hälfte 60er-Jahre: Die ersten Gastarbeiter kommen ... Zweite Hälfte 60er-Jahre: Die Flut steigt ... Erste Hälfte 70er-Jahre: Anwerbestopp - Erste Gettosanierung ... Zweite Hälfte 70er-Jahre: Die Dämme brechen ... Neben den plötzlich steigenden Asylbewerberzahlen ergießt sich über Kreuzberg, Tiergarten und Wedding eine wahre Flut junger Türken ... Ende der Neunziger-Jahre: Die Gettos sind nicht mehr beherrschbar ... Bisher noch gutwillige deutsche Familien, aber auch erste Ausländer verlassen fluchtartig die Ghettos Richtung Brandenburg ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 9/1999, Fehler im Original) 40 "Gewalt gegen deutsche Jugendliche - wen kümmerts? ... Deutscher Jugendlicher in Markgröningen schwer verletzt ... Ausländer nimmt die Tötung seines Opfers in Kauf ... Diese ungesühnte und unbestrafte Straftat ist kein Einzelfall. Wir kennen weitere Fälle, wo Kinder und Jugendliche grundlos von Ausländern zusammengeprügelt wurden. Sie auch? Dann helfen Sie mit, etwas dagegen zu unternehmen ... Die etablierten Parteien sind Heuchler ... Teure und aufwendige Integrationsbemühungen sind wirkungslos - die Ausländerkriminalität wächst rapide ..." (Flugschrift "DIE REPUBLIKANER", Kreisverband Ludwigsburg, verteilt auf dem "Republikanertag" vom 3. Oktober 1999, Fehler im Original) Weder in der Häufigkeit noch in der Qualität der Angriffe gegen Institutionen und Repräsentanten des Staates haben die REP 1999 mehr Zurückhaltung als in den Vorjahren geübt. "...'Jeder Flüchtling, der in Baden-Württemberg oder einem anderen kriegsfernen Land untergebracht werde, bringe Milosevic seinem Ziel näher, mit den ethnischen Säuberungen endgültige Fakten zu schaffen. 'Bundesdeutsche Politiker machen sich somit zu Erffüllungsgehilfen der menschenverachtenden Politik der serbischen Machthaber', erklärte KÄS." (Pressemitteilung "Die Republikaner im Landtag" vom 12. April 1999, Fehler im Original) "... Die D-Mark wurde geopfert, die Ausländerzahl verdoppelt, die Anbiederung an fremde Interessen ins Schizophrene gesteigert. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Unionschristen Deutschland aufgegeben haben, ... als er (Jürgen Rüttgers, Anm. der Red.) jüngst die Einführung von Islamunterricht forderte. Das war die Kapitulation vor der kulturellen Überfremdung, die seine Parteifreunde in jahrelan41 ger Arbeit erschaffen hatten ..." ("DER REPUBLIKANER", Nr. 9/1999) "Deutschland: Kosten der Überfremdung werden zunehmend verheimlicht Immer noch versuchen Politiker von CDU bis PDS die multikulturelle Gesellschaft als irgendwie nützlich für Deutschland zu verkaufen. Um die fatalen Auswirkungen der Masseneinwanderung zu verschleiern, wird gelogen, geschummelt, getrickst und verheimlicht ..." (Aktuelle Informationen der "Republikaner", http://www.rep.de/ak00999.htm, Fehler im Original) Mit solchen Diffamierungsund Verunglimpfungskampagnen wird immer wieder versucht, einen an sachlichen Zielen orientierten politischen Diskurs unmöglich zu machen und damit das parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland zu beschädigen. Selbst Vergleiche mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime und kommunistischen Diktaturen scheuen die REP dabei nicht: "... Nach Auffassung von Verfassungsschutz und Innenministerium ist demnach nur 'politisch korrekt' ausgerichteten Personen der freie Informationszugang zu den Abgeordneten des baden-württembergischen Landtags erlaubt. Diese Einstellung erinnert fatal an die von tatsächlichen Nazis und stalinistischen Vollstreckern in der Zeit des 3. Reiches und der SED-Diktatur in Deutschland betriebenen Ausgrenzungspraktiken gegenüber politisch Andersdenkenden. Die seinerzeitigen Parolen wie: 'mit Juden, Kommunisten und Vaterlandsverrätern spricht man nicht bzw. pflegt man keinen Umgang' sind den älteren Mitbürgern noch in Erinnerung und sollten für die Herren Schäuble und Rannacher Anlass geben, ihre eigenen Vorgehensweisen und Einstellungen, wie sie in 42 dem gegen die Landtagsfraktion gerichteten operativen Spähvorgang sichtbar werden, selbstkritisch zu hinterfragen ...". (Pressemitteilung "Die Republikaner im Landtag" vom 2. Juli 1999, Fehler im Original) "... Ich darf Ihnen versichern, überall dort, wo ich den 'Verfassungsschutzbericht' herumreiche und auf meine Erwähnung hinweise, ist Ihnen ein Lacherfolg sicher. Ich weiß nicht ob Sie sich vorstellen können, welche Witze dann spontan über die bayerische 'Stasi' und deren Schlapphüte gemacht werden ... Die Verfolgung von Patrioten, Freiheitsliebender, Erneuerer, Reformer, Demokraten und Minderheiten hat in Deutschland eine jahrhundertalte Tradition. Diese Tradition scheint ungebrochen ... Nun sehe ich mich in der Reihenfolge all der Verfolgten ... Der Berliner Tagesspiegel hat sich am 05.07. eindrucksvoll zu den Grundrechten geäußert. Das Buch 'Der Verfassungsschutz' von Claus Nordbruch, hält all jenen den Spiegel vor die da meinen, mit Stasi-Methoden ihre Macht in einem demokratischen Staat zu sichern und zu festigen ..." (Schreiben des Vorsitzenden des REP-Kreisverbands Kempten/Oberallgäu vom 12. Juli 1999, Fehler im Original) Aktivitäten Obwohl sich 1999 die Aktivitäten der baden-württembergischen REP im Wesentlichen auf die Europaund die Kommunalwahlen konzentrierten, fanden in diesem Zusammenhang nur wenige Veranstaltungen von Bedeutung statt. Auch daran lassen sich die zunehmende Resignation der Basis und deren mangelnde Bereitschaft, sich für ihre Partei zu engagieren, erkennen. Der Landesparteitag am 8. Mai 1999 in Horb-Rexingen stand im Mittelpunkt parteiinterner Initiativen. Dort wurde der bisherige Landesvorsitzende Christian KÄS mit einer Mehrheit von annähernd 75 % in seinem Amt bestätigt. 43 Wenige Wochen vorher, am 10. April 1999, hatte in Esslingen ein "Frühjahrskongress" unter dem Motto "10 Jahre Republikaner in den Parlamenten" stattgefunden. Dessen Außenwirkung war indes genauso gering wie die des traditionellen "Republikanertags" am 3. Oktober 1999 in Stuttgart, an dem ca. 200 Personen teilnahmen. Selbst im Kommunalwahlkampf gab es keine flächendeckend angelegten werbewirksamen Initiativen. Bundesweit beschränkte sich die Partei auf die "Aschermittwochsveranstaltung" am 17. Februar 1999 in Geisenhausen (Bayern), an der rund 750 Personen teilnahmen, und eine zentrale Kundgebung am 12. Juni 1999 in Berlin, die den Abschluss des Europawahlkampfs bildete und mit der die REP des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 gedenken wollten. Wahlen Den REP ist es nicht gelungen, an die Landtagswahlerfolge in Baden-Württemberg anzuknüpfen. Bei den Wahlen 1999 konnten sie sich nicht aus der politischen Bedeutungslosigkeit lösen. Auch die von der Partei erstmals praktizierte Wahlabsprache mit der DVU brachte zumindest für die REP keine Erfolge. Selbst mit dem Ergebnis der baden-württembergischen Kommunalwahlen vom Oktober 1999 konnte die Partei nicht zufrieden sein. Sie verlor gegenüber den letzten Kommunalwahlen über ein Drittel ihrer Stimmen und konnte auch in ihren ehemaligen Hochburgen ihr Ergebnis nicht halten. 44 Europa/Bund/Land Baden-Württemberg Angaben der Zweitstimmen in % Wahlen (Verluste gegenüber der letzten Wahl) Landtagswahl Baden- - 10,9 Württemberg 1992 Europawahl 1994 3,9 (-3,2) 5,9 (-2,8) Landtagswahl Baden- - 9,1 (-1,8) Württemberg 1996 Landtagswahl Hessen 1999 2,7 (+0,7) - Europawahl 1999 1,7 (-2,2) 3,3 (-2,6) Landtagswahl Saarland 1999 1,3 (-0,1) - Landtagswahl Brandenburg und Wahlverzicht zugunsten der DVU - Bremen 1999 Landtagswahl Thüringen 1999 0,8 (-0,5) - Landtagswahl Sachsen 1999 1,5 (+0,2) - Landtagswahl Berlin 1999 2,7 ( - ) - Kommunalwahlen Baden- - Gemeinderatswahlen: 0,8 (-0,6) Württemberg 1999 Kreistagswahlen: 1,6 (-0,7) Vor dem Hintergrund der Diskussionen um den richtigen politischen Kurs innerhalb der Partei wird die letztjährige Niederlagenserie bei der Mehrzahl der Wahlen dem Bundesvorsitzenden Dr. Rolf SCHLIERER zugerechnet. Die Unterstützung für seine ohnehin umstrittene politische Linie nahm an der Parteibasis dadurch weiter ab. Insgesamt scheint der Versuch von Dr. Rolf SCHLIERER, die REP als eine für breite Bevölkerungsschichten wählbare Alternative im demokratischen Parteienspektrum zu positionieren, gescheitert. Der Grund dürfte nicht zuletzt in seinem ambivalenten Kurs zwischen Abgrenzung zu und Kooperation mit anderen Rechtsextremisten liegen. 45 Machtkampf innerhalb der Partei Durch die Niederlage von Christian KÄS in der Konfrontation um den Bundesvorsitz Ende 1998 hat nur scheinbar eine parteiinterne Konsolidierung stattgefunden. Die beiden Lager mit ihren unterschiedlichen politischen Richtungen existieren weiter. Ein Parteiflügel unterstützt dabei den Kurs von Dr. Rolf SCHLIERER einer taktischen Abgrenzung zu anderen Rechtsextremisten, die jedoch immer weniger durchgehalten wird, der andere tritt für eine offenere Zusammenarbeit mit ihnen ein. Die Auseinandersetzungen, die den Landesverband Baden-Württemberg aufgrund der personellen Konstellation in besonderem Maße tangieren, fanden 1999 parteiintern ihre Fortsetzung. Der Riss durch den baden-württembergischen Landesvorstand wurde auf dem Landesparteitag am 8. Mai 1999 in Horb-Rexingen offensichtlich. Zwar bestätigten die Delegierten Christian KÄS in seinem Amt mit annähernd 75 % der Stimmen, seine dort gewählten Stellvertreter gehören allerdings eher zu den Anhängern des Bundesvorsitzenden. Zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen Christian KÄS und Dr. Rolf SCHLIERER kam es indes bislang nicht. Zudem deutet sich an, dass sich neben dem baden-württembergischen Landesvorsitzenden weitere Personen als Konkurrenten von Dr. Rolf SCHLIERER profilieren. Letztlich hat dessen Rückhalt an der Basis und das Vertrauen in die Richtigkeit seines Kurses, bedingt durch die permanenten Wahlniederlagen 1999, weiter abgenommen. Inzwischen äußern sich Parteifunktionäre intern zunehmend kritisch zu Führungsverhalten und Führungsanspruch. Teilweise wurde dem gesamten Bundesvorstand nahegelegt, zurückzutreten. Dr. Rolf SCHLIERER kommt jedoch in BadenWürttemberg zugute, dass er innerhalb der Landtagsfraktion noch einflussreiche Fürsprecher hat. Bundesweit kann er sich auf Mitglieder verschiedener Parteigremien und einzelne Landesvorsitzende stützen. Die Fronten der zwei Lager scheinen sich weiter zu verhärten. Dem Bundesvorsitzenden gelingt es nicht, die beiden Flügel innerhalb der REP zu einen. 46 Bündnisbestrebungen und Kontakte zu anderen Rechtsextremisten Das Verhältnis der REP unter Führung des Bundesvorsitzenden zu anderen rechtsextremistischen Gruppierungen macht deutlich, dass die wiederholt durch offizielle Verlautbarungen dokumentierte Abgrenzung allenfalls taktisch motiviert ist. Als erstes Anzeichen hierfür kann die Wahlabsprache mit der "Deutschen Volksunion" (DVU) von Ende 1998 gewertet werden. Dr. Rolf SCHLIERER und der DVUVorsitzende Dr. Gerhard FREY vereinbarten, bei Wahlen nicht mehr gegeneinander anzutreten. Wie an den Wahlergebnissen des Jahres 1999 abzulesen ist, brachte dieses Übereinkommen für die REP aber keine sichtbaren Erfolge. Nachdem auch der Bundesvorsitzende offenbar in solchen Übereinkünften mittelfristig die einzige Möglichkeit sieht, die Partei aus der weitgehenden Bedeutungslosigkeit zu lösen, zeigte sich anlässlich der baden-württembergischen Kommunalwahlen, dass die Kooperation mit anderen Rechtsextremisten auch auf unteren Parteiebenen stattfindet. So waren beispielsweise in Karlsruhe auf der Kommunalwahlliste der REP Mitglieder der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) zu finden. Ein verantwortlicher NPD-Funktionär äußerte sich dahingehend, dass die Kandidatur - entgegen der Behauptung der REP - durchaus auf einer offiziellen Absprache zwischen den Parteien beruhte. Eine öffentliche Stellungnahme der REP zu diesen Vorkommnissen ist nicht bekannt geworden. Ähnliche Feststellungen konnten auch in Pforzheim getroffen werden. Dort kandidierten Angehörige des rechtsextremistischen "Freundeskreises 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e.V." (FHD) auf der Gemeinderatsliste der REP und wirkten aktiv an deren Wahlkampf mit. Nach dem Vorbild der Parteiführung sieht anscheinend auch die Basis mittlerweile keinen Anlass mehr zur Zurückhaltung. Neben solchen Wahlkooperationen gab es 1999 weitere Kontakte zu anderen Rechtsextremisten, durch die der offizielle Abgrenzungsbeschluss unterlaufen wurde. Auch hier sind nahezu alle Parteiebenen involviert. So initiierte die Vorsitzende des REP-Kreisverbands Biberach Mitte 1999 eine Veranstaltung mit dem führenden Funktionär der rechtsextremistischen "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH), Jürgen SCHÜTZINGER, und eine weitere mit einem ande47 ren bekannten Rechtsextremisten. Eine offizielle Stellungnahme der Partei zu diesen Veranstaltungen ist nicht bekannt geworden. An einer Veranstaltung unter dem Motto "Vor dem Aufbruch - Deutsche Patrioten sammeln sich" am 18. September 1999 in Mecklenburg-Vorpommern nahmen zahlreiche Mitglieder der REP teil, u.a. auch der ehemalige stellvertretende REP-Bundesvorsitzende Hans HIRZEL aus Hessen. Der bekannte Rechtsextremist Peter DEHOUST (Bayern) moderierte das Treffen, Harald NEUBAUER (Bayern), Mitherausgeber der rechtsextremistischen Publikation "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE", hielt eine Rede. NEUBAUER, der von der REP-Führung Mitte 1999 mit einem "Auftrittsverbot" innerhalb der Partei belegt worden war, sprach entgegen dieser internen Weisung auf Einladung des Hamburger REP-Landesverbands im September 1999 auf einer weiteren Veranstaltung. Neben den genannten Wahlabsprachen und Kontakten haben sich auch 1999 immer wieder Parteimitglieder und Funktionäre zu Wort gemeldet, die den Abgrenzungsbeschluss kritisierten und dessen Aufhebung verlangten. Verbunden wurden solche Äußerungen nicht selten mit der Forderung nach einem Rücktritt des Bundesvorstands: "... Aus diesem Grunde forderten wir direkt nach der Thüringenwahl, bei der REP, NPD und DVU wiederum im Grunde gegeneinander antraten, den Rücktritt des Bundesvorstandes ... Eine Zusammenarbeit auch mit der NPD ist nicht nur sinnvoll, sondern überlebenswichtig ..." (Hans-Peter FISCHER, Vorsitzender des REP-Kreisverbands Bergstraße/Hessen in "Deutsche Stimme", Nr. 11/99, Parteiorgan der NPD) 48 5.2 "Deutsche Volksunion" (DVU) Gründung: 1971 als eingetragener Verein 1987 als politische Partei Sitz: München Mitglieder: ca. 1.800 Baden-Württemberg (1998: ca. 1.800) ca. 17.000 Bund (1998: ca. 18.000) * Sprachrohre: "Deutsche National-Zeitung" (DNZ) "Deutsche Wochen-Zeitung" (DWZ) (Beide Zeitungen wurden zusammengelegt und erscheinen seit dem 3. September 1999 als "National-Zeitung" -NZmit Untertitel "Deutsche Wochen-Zeitung".) *Dr. FREY gibt höhere Zahlen an. Organisation Die mitgliederstärkste rechtsextremistische Organisation in Deutschland ist auch weiterhin die "Deutsche Volksunion" (DVU). Die in allen Bundesländern mit Landesverbänden vertretene Partei wird von München aus von ihrem Vorsitzenden Dr. Gerhard FREY autoritär geführt. Weder auf Bundesnoch auf Landesebene konnte sich so ein eigenständiges Parteileben entwickeln. Zwar verfügt die DVU in Baden-Württemberg über einen der mitgliederstärksten Landesverbände; jedoch gehen weder von ihm noch von den formell existierenden Kreisverbänden Stuttgart, Ludwigsburg, Esslingen, Göppingen, Böblingen/Tübingen, Waldshut/Tiengen, Heilbronn, Mannheim, Freudenstadt/Rottweil und Konstanz besondere Aktivitäten aus. Selbst das alljährliche Sommerfest der Partei fiel 1999 aus. Politischer Kurs Trotz aller Lippenbekenntnisse zum Grundgesetz setzte die DVU ihre verfassungsfeindliche Agitation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung unverändert fort. Insbesondere in den von Dr. FREY herausgegebenen Zeitungen offenbart sich 49 die rechtsextremistische Zielsetzung der Partei durch die Verwendung immer gleicher Agitationsmuster und -themen: - Fremdenfeindlichkeit einhergehend mit einer einseitigen und verzerrenden Berichterstattung über Ausländerkriminalität - Antisemitismus - Relativierung des Holocaust - Geschichtsrevisionismus - angebliche Überfremdung des deutschen Volks - Angriffe gegen Institutionen und Repräsentanten des demokratischen Staates. Mit aggressiven und reißerischen Schlagzeilen und Kommentierungen werden tagespolitische Ereignisse verzerrt dargestellt und für die eigenen Zwecke missbraucht: "Wird Deutschland Türken-Kolonie? Neuer Massenzustrom aus dem Orient" (NZ, Nr. 44/99) "Übernehmen Ausländer Deutschland? Ein Volk auf dem Rückzug" (NZ, Nr. 46/99) "KZ Buchenwald: Der Schwindel geht weiter - So werden ganze Schulklassen belogen" (DNZ, Nr. 5/99) "Ewig büßen und zahlen für Auschwitz?" (DNZ, Nr. 7/99) "Deutschland - Paradies für Polit-Abzocker?" (DNZ, Nr. 29/99) "Ständig Verfassungsbruch durch Etablierte" (DNZ, Nr. 8/99) 50 Aktivitäten Die von außen erkennbaren Aktivitäten der Partei konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Landtagswahlkämpfe in Bremen, Brandenburg und Thüringen. An den anderen Wahlen des Jahres 1999 nahm die DVU - nicht zuletzt auch wegen Absprachen mit der Partei "Die Republikaner" (REP) - nicht teil. Anlässlich des DVU-Bundesparteitags am 16. Januar 1999 in München wurde Dr. Gerhard FREY in seinem Amt als Vorsitzender bestätigt. Einer seiner drei Stellvertreter ist der DVU-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, Peter JÜRGENSEN, Forst. Die alljährliche Großveranstaltung der DVU war diesmal schlechter besucht als in den Vorjahren. Nur knapp 2.000 Teilnehmer, darunter auch Rechtsextremisten aus dem Ausland, fanden am 25. September 1999 den Weg in die Passauer Nibelungenhalle. Unter dem Motto "Wir lieben Deutschland" polemisierte Dr. Gerhard FREY zu den Themen Arbeitslosigkeit, Steuerpolitik, Asylbewerber und doppelte Staatsbürgerschaft. Die kritische Berichterstattung über die DVU bezeichnete er als "Schweine-Journalismus und Medienmafia". Ein Funktionär der nationalistischen belgischen Partei "Vlaams Blok" übermittelte ein Grußwort; der als Gast angekündigte Chef des französischen rechtsextremistischen "Front National" (FN), JeanMarie LE PEN, trat hingegen - wie schon 1998 - nicht auf. Wahlen Wie zwischen den beiden Vorsitzenden von DVU und REP im November 1998 vereinbart, trat die DVU nur bei den Landtagswahlen in Bremen, Brandenburg und Thüringen an. Am 6. Juni 1999 gelang es ihr in Bremen, trotz insgesamt nur 3 % der Stimmen - aufgrund des im Wahlbereich Bremerhaven erzielten Ergebnisses (5,99 %) und einer Sonderregelung im Bremer Wahlrecht - ein Mandat zu erringen. Im Wahlkampf hatte die DVU vor allem auf flächendeckende Plakatierung und massiven Einsatz von Postwurfsendungen gesetzt. Mit aggressiven Werbeslogans wie "Deutsche Arbeitsplätze zuerst für Deutsche!", "Deutschland soll das Land der Deut51 schen bleiben" oder "Steuergeldmissbrauch durch Polit-Bonzen und ihre Gehilfen muss streng bestraft werden" versuchte sie, Wähler zu gewinnen. Einen weiteren finanziell aufwändigen Wahlkampf führte die DVU anlässlich der Landtagswahl am 5. September 1999 in Brandenburg. Mit 5,3 % der Stimmen konnte sie immerhin fünf Abgeordnete in den Potsdamer Landtag entsenden, doch blieb die DVU damit weit hinter den eigenen Erwartungen zurück. Der Erfolg dürfte neben der landesweit geringen Wahlbeteiligung auch auf die mit den REP getroffene Wahlabsprache zurückzuführen sein. Die DVU ist somit gegenwärtig in drei Landesparlamenten (Sachsen-Anhalt, Bremen und Brandenburg) vertreten. Bei der Landtagswahl am 12. September 1999 in Thüringen hatte die Parteiführung ein gleich gutes Ergebnis wie in Brandenburg erwartet. Mit 3,1 % der Stimmen wurde jedoch nicht annähernd diese Vorgabe erreicht. Die DVU setzte ihre in Brandenburg und Sachsen-Anhalt erfolgreiche Wahlkampfstrategie auch in Thüringen ein und führte einen aggressiven und aufwendigen Wahlkampf. Trotzdem gelang es ihr dort nicht, genügend Stimmen für sich zu mobilisieren. Bei der baden-württembergischen Kommunalwahl am 24. Oktober 1999 trat die DVU nur zur Gemeinderatswahl in Singen und in ausgesuchten Wahlbezirken zur Kreistagswahl im Landkreis Konstanz mit einer eigenen Liste an. Nach einem eher lustlos geführten Wahlkampf erzielte sie in Singen 1,79 % der Wählerstimmen, im Kreis Konstanz sogar nur 0,38 %. 5.3 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Sitz: Stuttgart Mitglieder: ca. 410 Baden-Württemberg (1998: ca. 430) ca. 6.000 Bund (1998: ca. 6.000) Publikation: "Deutsche Stimme" (DS) 52 Organisation Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) unterhält in allen Bundesländern Landesverbände, die jedoch auffallende Differenzen hinsichtlich ihrer Aktivitäten aufweisen. Die älteste rechtsextremistische Partei in Deutschland konnte auf Bundesebene ihre Mitgliederzahl insgesamt zwar halten, jedoch musste sie regional im Zuge einiger Abspaltungen z.T. deutliche Verluste hinnehmen. So verlor sie in ihrem mit Abstand stärksten Landesverband Sachsen auch die meisten Mitglieder. Unbeschadet dessen konnte sie auch 1999 einige größere öffentlichkeitswirksame Demonstrationen durchführen. Dies geht vor allem auf die Bereitschaft der Partei und ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) zurück, mit Neonazis zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus versucht der Parteivorsitzende Udo VOIGT, in den neuen Ländern sogar die ehemalige SED-/PDS-Klientel einzubinden. In Baden-Württemberg kam der Aufwärtstrend des vorangegangenen Jahres wieder zum Stillstand. Sinkende Mitgliederzahlen und die nur noch geringe Anzahl von aktiven Kreisverbänden dokumentieren dies. Der Landesverband hat seine frühere Bedeutung innerhalb der Partei verloren. Das Unvermögen des Landesvorstands führte zu einer rapiden Verschlechterung der Parteiarbeit; der Landesverband befindet sich in einem desolaten Zustand. Die Aktivitäten der NPD in Baden-Württemberg beschränkten sich vorwiegend auf interne Zusammenkünfte ohne Außenwirkung. Ideologische Ausrichtung Die NPD versteht sich als "die nationale Weltanschauungspartei, deren Handeln ein Bekenntnis zum 'Lebensrichtigen Menschbild' zu Grunde liegt". Sie sieht sich als "grundsätzliche Alternative zum gegenwärtigen Parteienspektrum", bekennt sich zu einem "deutschen Sozialismus" und strebt die "Schaffung einer neuen Ordnung als die Alternative zum liberalkapitalistischen System des BRD-Deutschlands der Westalliierten" an ("Deutsche Stimme", Nr. 6/1998, S. 2). Mit Nachdruck thematisiert der seit 1996 amtierende NPD-Vorsitzende Udo VOIGT die sozialistische Komponente und macht sie damit zu einem festen Bestandteil innerhalb des ideologischen Selbstverständnisses der Partei. Folgerichtig wurden sozi53 alpolitische Aussagen wie "Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeitnehmer", "Mehr soziale Gerechtigkeit!" oder "Großkapital vernichtet weitere Arbeitsplätze" in den Mittelpunkt der NPD-Propaganda gestellt. Ausdrücklich wurden diese Ansichten mit der Ablehnung des bestehenden politischen Systems verknüpft. Mit der Thematisierung wirtschaftsund sozialpolitischer Fragen hat die Partei ein eigenständiges Profil im rechtsextremistischen Spektrum errungen und ist in Verbindung mit einer aktionistischen Strategie zu einem Anziehungspunkt insbesondere in Ostdeutschland geworden. Innerhalb der NPD ist die "Sozialismus-Debatte" jedoch nicht unumstritten und wird - nicht zuletzt vom baden-württembergischen Landesverband - als ideologisch falsch, wenig erfolgversprechend und realitätsfremd abgelehnt. Die von einem traditionalistisch-besitzbürgerlichen Politikund Wirtschaftsverständnis geprägte Parteibasis der westdeutschen Landesverbände trägt deshalb - im Gegensatz zu den ostdeutschen Landesverbänden - die neue Richtung nicht mit. Insofern bilden diese unterschiedlichen Einstellungspotenziale ein latentes innerparteiliches Konfliktfeld. Zur Besänftigung des parteiinternen Disputs stellte VOIGT aus diesem Grunde im Januar 1999 beim Bundesparteitag in Mulda/Sachsen klar: "Die NPD ist und bleibt national und versteht sich als sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung!" Kurze Zeit später relativierte er seine Aussage jedoch wieder und öffnete sogar die NPD für ehemalige Kommunisten : "Wer einen deutschen Sozialismus will und erkennt, dass die Marxisten am Internationalismus und ihrem falschen Menschenbild gescheitert sind, hat natürlich genauso einen Platz in unserer Bewegung, wie jeder so genannte Freie Nationalist, der Satzung und Programm der NPD als für sich verbindlich anerkennt." ("Deutsche Stimme", Nr. 2/1999, S.3) 54 Auch das Parteiorgan der NPD, die "Deutsche Stimme" (DS), hat ihre Themenauswahl der neuen ideologischen Ausrichtung angenähert. Unbeirrt wird an der vorgegebenen Generallinie eines "Antikapitalismus von rechts" festgehalten, die grundsätzlich unumstritten ist, über deren substanzielle Ausgestaltung aber noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen. Die Tendenz der Hinwendung zu neuen ideologischen Akzenten wird in der Gewinnung neuer Autoren und der Erschließung bisher weitgehend unberücksichtigter Themenfelder deutlich. Zusammenarbeit mit Neonazis und Skinheads Die sowohl von NPD und ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) als auch von führenden Neonazis verfolgte und propagierte Strategie einer anlassbezogenen Zusammenarbeit wurde durch gemeinsam organisierte Demonstrationen umgesetzt. Massenveranstaltungen wurden vermehrt dazu genutzt, um den Anspruch der NPD, "Speerspitze der nationalistischen und sozialistischen Fundamentalopposition" zu sein ("Deutsche Stimme", Nr. 11/1998, S. 16), zu unterstreichen und in der Öffentlichkeit für ihre politischen Ziele zu werben. Gerade Aufmärsche und öffentliche Versammlungen sprechen vor allem Neonazis und rechtsextremistische Skinheads an, die der NPD ein beachtliches Mobilisierungspotenzial sichern. Maßgebliche Kräfte in der Partei plädieren deshalb für eine noch stärkere Einbeziehung neonazistischer Kreise, um dem Ziel einer innergesellschaftlichen Opposition näher zu kommen. Durch eine weitere Aufnahme von Neonazis und rechtsextremistischen Skinheads setzt sich die NPD jedoch gleichzeitig der Gefahr aus, dass diese einen steigenden Einfluss auf die ideologische Ausrichtung der Gesamtpartei erhalten könnten. Neonazis erhalten so die Möglichkeit, propagandistisch zu wirken. Die von der NPD angemeldeten Demonstrationen gegen die umstrittene Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" wurden bereits maßgeblich von Neonazis für ihre politischen Zwecke genutzt. Die Mehrzahl der Teilnehmer kam aus diesem Spektrum; die NPD konnte dagegen oftmals nur eine geringe Anzahl von Mitgliedern mobilisieren. 55 Im Impressum der September-Ausgabe 1999 der "Deutschen Stimme" wurde sogar einem bekennenden Neonazi ausdrücklich eine Plattform geboten. Der Berliner Christian WENDT, der der NPD bis dahin eher kritisch gegenübergestanden hatte, war als "Chef vom Dienst" und als Verantwortlicher im Sinne des Presserechts aufgeführt. Sein plötzliches Interesse an der Partei passt in die Strategie der Neonazis, die Einflussmöglichkeiten der unorganisierten Rechtsextremisten auf die NPD zu erhöhen. Eine Interessengemeinschaft der NPD mit Neonazis und Skinheads - wie in anderen Bundesländern mitunter feststellbar - oder gar eine verstärkte Kooperation zwischen den verschiedenen rechtsextremistischen Lagern gibt es im Landesverband BadenWürttemberg derzeit allerdings nicht. Jedoch beteiligen sich auch hier Neonazis an Veranstaltungen der NPD. So fand am 24. Mai 1999 in Bruchsal eine gemeinsame Kundgebung unter dem Motto "50 Jahre Grundgesetz - Wir fordern: Meinungsfreiheit für alle! Freiheit für alle politischen Gefangenen!" statt. Etwa 250 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet nahmen hieran teil. Als Redner traten u.a. die NPDVorstandsmitglieder Holger APFEL, Bayern, und Frank SCHWERDT, Berlin, der baden-württembergische NPD-Landesvorsitzende Michael WENDLAND, Weissach, sowie der bundesweit bekannte Neonazi Michael SWIERCZEK, Bayern, auf. Die aktuelle Situation des baden-württembergischen Landesverbands ist geprägt durch erhebliche interne Probleme aufgrund der gezielten Verjüngung der Funktionäre auf Landesund Kreisebene, die sich geradezu lähmend auf die Parteiarbeit auswirkt. Offensichtlich sind die "Jungen" nicht in der Lage, die übernommenen Führungsaufgaben zu bewältigen. Wahlen 1999 beteiligte sich die NPD sowohl an der Wahl zum Europäischen Parlament als auch an Wahlen in einzelnen Bundesländern. Bei der Europawahl erzielte die NPD insgesamt 0,4 % der Stimmen, das Ergebnis in Baden-Württemberg lag mit 0,3 % sogar unter dem Bundesdurchschnitt. 56 Lediglich in Sachsen konnte die Partei bei der Landtagswahl im September 1999 1,4 % der Stimmen auf sich vereinigen und kam dadurch in den Genuss der Wahlkampfkostenerstattung. In allen anderen Bundesländern verbuchte sie nur partielle "Achtungserfolge" und blieb insgesamt weit hinter ihren Erwartungen zurück. Das schlechte Abschneiden dürfte obendrein diejenige innerparteiliche Position gestärkt haben, die der NPD als Wahlpartei keine Priorität einräumt und sie eher als außerparlamentarische Opposition sieht, die eine Zusammenarbeit mit dem Neonazi-Lager bevorzugt. Die Bildung von Wahlbündnissen mit anderen rechtsextremistischen Parteien lehnte die Mehrheit der NPD-Mitglieder ab. Außerdem wandte sich VOIGT bereits im Vorfeld der Europawahl in einem Kommentar in der "Deutschen Stimme - Extra", Ausgabe 1/1999, gegen neue Bündnisse: "Die kommenden Europawahlen böten erneut die Möglichkeit zur Bildung EINER nationalen Wahlplattform ... Im Auftrag des Parteivorstandes schrieb ich an SCHLIERER und FREY. - Doch unsere ehrlich gemeinten Initiativen sind im Vorfeld der Gespräche gescheitert und der Gedanke daran wird heute wohl nur noch in nationalen Mini-Parteien und Sektiererkreisen weitergeführt. - Der Zeitund Organisationsfaktor schließt eine ganzheitliche Lösung zur Europawahl mittlerweile aus und außer bei uns scheint diese auch nie ernsthaft bei REP und DVU erörtert worden zu sein." Umso überraschender kam daher die Ankündigung des NPD-Kreisverbands Stuttgart - mit Wohlwollen des NPD-Landesvorsitzenden - und der Partei "Vereinigte Rechte" (VR), für die Kommunalwahl am 24. Oktober 1999 erstmals ein Bündnis einzugehen. Bereits Mitte Juli 1999 stellten dann der Vorsitzende des NPDKreisverbands Stuttgart und der VR-Vorsitzende Mario MEURER, Stuttgart, ein "Programm mit politischen Aussagen zur umfassenden Neugestaltung der Stuttgarter Politik" vor. In dieser Grundsatzerklärung "Bündnis für Stuttgart" bezeichneten die 57 Unterzeichner das parlamentarische System als unfähig, korrupt und gegen die Interessen des Volkes gerichtet: "Die etablierten Parteien haben abgewirtschaftet und sind verschlissen. Filz, Bürokratie und Korruption haben sich breit gemacht und töten jeden Ansatz, anerkannten Problemen wirksam zu begegnen." Die beiden Parteien einigten sich zwar auf eine gemeinsame Liste für die Gemeinderatswahl in Stuttgart (Ergebnis: 0,2 %) und für die Regionalwahl der Region Stuttgart (Ergebnis: 0,1 %), jedoch trat die Listenverbindung nur in zwei Wahlkreisen und in der Region an. In wenigen weiteren Wahlkreisen kandidierte die NPD allein. Nennenswerte Ergebnisse konnte sie jedoch nicht erringen. 5.3.1 "Junge Nationaldemokraten" (JN) Gründung: 1969 Sitz: Oberhausen/Sinning Mitglieder: ca. 70 Baden-Württemberg (1998: ca. 70) ca. 350 Bund (1998:ca. 400) Publikation: "DER AKTIVIST" Organisation Als einzige rechtsextremistische Partei verfügt die NPD seit 30 Jahren mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine zahlenmäßig bedeutsame Jugendorganisation. Dieses Jubiläum wurde am 13. März 1999 in Mitterskirchen/Bayern gefeiert. Das Treffen stand unter dem Motto "30 Jahre Junge Nationaldemokraten - 30 Jahre Kampf - Aktion - Widerstand". Bei der Veranstaltung wurde mehrmals die Unabhängigkeit der JN gegenüber der Mutterpartei betont. Tatsächlich sind jedoch eigenständige JN-Aktivitäten stark rückläufig und gehen in den Aktionen der NPD weitgehend auf. Grund dafür dürfte der Wechsel führender JN-Funktionäre in wichtige Funktionen der NPD sein. 58 Die JN konnten ihren Mitgliederstand bundesweit nicht halten und mussten Einbußen hinnehmen. Mangelnde Eigeninitiative und zu wenig Profil gegenüber der NPD machen die Jugendorganisation zunehmend unattraktiv für ihre Mitglieder. Dieser Trend ist auch beim Landesverband Baden-Württemberg feststellbar, der nur noch aus wenigen aktiven Stützpunkten besteht. Diese führen zwar regelmäßig "Kameradschaftsabende" und Informationsveranstaltungen durch, allerdings ohne große Außenwirkung. Der Landesvorstand ist nicht in der Lage, eigene - von der NPD unabhängige - Aktionen zu planen und umzusetzen. Selbstverständnis der JN Die JN verstehen sich als "aktionistische Jugendorganisation, die ihren Taten einen nationalrevolutionären Geist zugrunde legen" will ("DER AKTIVIST", Nr. 8/1998)4. Sie bekennen sich in ihren "Thesenpapieren" zu einer "Neuen Volksgemeinschaft", in der die "Widersprüche und Unzulänglichkeiten des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems" überwunden werden. Der JN-Bundesvorsitzende Sascha ROßMÜLLER äußerte sich in einem Artikel derselben Ausgabe dahingehend, dass "einzig eine, entgegen dem zersetzenden Individualismus unserer Zeit geschlossen aber dynamisch, traditionsbewusst aber der Zukunft zugewandt, wertidealistisch aber undogmatisch auftretende Jugendorganisation" wie die JN "eine Alternative zur Perspektivlosigkeit der Gegenwart sein" könne. In einem weiteren Artikel desselben Blatts erläuterte Sascha ROßMÜLLER am Beispiel der Nichtteilnahme an den Gedenkveranstaltungen zum Todestag von Rudolf Heß die Strategie der JN und erklärte, dass jede Aktion "grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsaussichten erwogen werden" müsse. Er forderte seine Gesinnungsgenossen auf, sich um die derzeitigen gesellschaftlichen Probleme der Bevölkerung zu kümmern und sinnlose "Heß-Aktionen" sein zu lassen: 4 "JN-internes Kampfund Schulungsblatt" 59 "... Wir müssen erst unsere Hausaufgaben machen, ehe wir das Geschichtsbild revidieren können. Nur mit einer zeitgemäßen Wortergreifung werden wir Gehör finden für die Notwendigkeit einer Machterlangung, um Besserung für unser Volk zu erwirken. Dies ist keine Frage der Strategie, sondern der Taktik; hier steht keine Anschauung zur Diskussion, sondern nur ihre moderne Ausdrucksform ..." Aktuelle Situation Über ihre Rolle als Jugendorganisation hinaus sind die JN ein potentielles Bindeglied zwischen Neonazis und Skinheads auf der einen und der NPD auf der anderen Seite. Wie bei der NPD sind auch bei den JN einige Neonazis in führende Funktionen gelangt und verfügen über erheblichen Einfluss. So wurde bei dem Bundeskongress der JN am 10. April 1999 im mainfränkischen Klingenberg der Neonazi Sascha ROßMÜLLER, Bayern, zum neuen JN-Vorsitzenden gewählt. Er setzte sich gegenüber seinem Konkurrenten Achim EZER, Nordrhein-Westfalen, durch. Aus Verärgerung über den Wahlausgang verließen viele EZER-Anhänger - so auch die badenwürttembergischen Delegierten - vorzeitig den Kongress. Achim EZER wie auch einzelne Aktivisten aus den - mit dem Wahlausgang - unzufriedenen Landesverbänden Nordrhein-Westfalen, Sachsen und BadenWürttemberg gründeten in der Folgezeit die neue Vereinigung "Bildungswerk Deutsche Volksgemeinschaft" (BDVG), die bislang nur marginal in Erscheinung getreten ist. Vorsitzender der Vereinigung ist Achim EZER. Mit Sascha ROßMÜLLER hat nun erstmals ein erklärter Neonazi - er war Aktivist des 1993 verbotenen neonazistischen "Nationalen Blocks" (NB) - den Bundesvorsitz der JN inne. In seiner Antrittsrede kündigte er für die Zukunft einen radikaleren politischen Kurs an und betonte die Eigenständigkeit der JN gegenüber der Mutterpartei. Die anvisierte geänderte Zielrichtung der Jugendorganisation wird zwar auch durch weitere Vorstandsmitglieder, die ebenfalls aus dem neonazistischen Spektrum kom60 men, deutlich, tatsächlich aber besteht nach den Neuwahlen der Einfluss der NPD fort. Den JN ist es bislang nicht gelungen - angesichts der unerfahrenen Führungsmannschaft kaum verwunderlich - wieder mehr eigenes Profil zu gewinnen. Auch beim baden-württembergischen Landesverband führte die Wahl von Sascha ROßMÜLLER zum JN-Bundesvorsitzenden zu erheblichen Spannungen. Es kam zwar nicht zu größeren Austritten, dennoch gerieten die JN in große Schwierigkeiten, da führende Funktionäre der Organisation den Rücken kehrten und eine Lücke hinterließen, die bisher nicht geschlossen werden konnte. Die Vorstandswahlen beim Landeskongress am 20. November 1999 in Ludwigsburg bestätigten den bisherigen Landesvorsitzenden Mike LAYER, Freiberg am Neckar, in seinem Amt. Unter seiner Führung ist eine Kooperation der JN mit Neonazis und Skinheads im Land weiterhin kaum zu erwarten. Die Jugendorganisation steht im Land geschlossen zu den Zielen ihrer Mutterpartei. Daran ändert auch die gelegentliche Teilnahme einzelner Neonazis an Veranstaltungen der JN nichts. Am 30. Oktober 1999 fand in Falkenberg/Bayern der "6. Europäische Kongress der Jugend" statt, an dem rund 500 Personen teilnahmen. In einem Internet-Bericht der NPD zum Kongress hieß es, dass die "Führungskräfte der europäischen nationalrevolutionären Bewegungen mit der JN-Führung die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer engeren Kooperation" diskutiert hätten. Ein europaweiter Zusammenschluss verschiedener rechtsextremistischer Gruppierungen erscheint gegenwärtig jedoch völlig ausgeschlossen. Da dieses Spektrum bislang in allen Bereichen den Zusammenhalt vermissen lässt, dürfte auch die Ankündigung einer "Abstimmung künftiger massenwirksamer Großveranstaltungen" kaum mehr als Makulatur sein. 61 6. Sonstige rechtsextremistische Organisationen 6.1 "Gesellschaft für Freie Publizistik e.V." (GFP) Gründung: 1960 Sitz: München, Sekretariat in Oberboihingen/Krs. Esslingen Mitglieder: ca. 40 Baden-Württemberg (1998 ca. 40) ca. 450 Bund (1998 ca. 450) Publikation: "Das Freie Forum" Im Jahr 1960 wurde von ehemaligen SSund NSDAP-Angehörigen die "Gesellschaft für Freie Publizistik" (GFP) mit dem Ziel gegründet, rechtsextremistischen Verlegern, Schriftstellern und Publizisten ein Forum zur Verbreitung ihres Gedankenguts zu geben und "Aufklärungsarbeit" zu leisten. In der Werbeschrift "Wahrheit und Freiheit" heißt es dazu: "Die GFP sieht ihre Aufgabe auch in der Aufklärung über Geschichtsentstellungen, insbesondere in der Frage der Kriegsschuld an beiden Weltkriegen und in der Richtigstellung einseitiger Verzerrungen in der Zeitgeschichte." Vorsitzender der GFP ist seit 1992 der ehemalige "Chefideologe" der NPD, Dr. Rolf KOSIEK. Zu den wenigen Aktivitäten des Vereins gehört der alljährliche GFP-Kongress, der 1999 vom 16. bis 18. April unter dem Motto "Deutschland und Europa - Erneuerung statt Völkermord" in Wernigerode/Sachsen-Anhalt stattfand. Zu den Referenten der Veranstaltung zählte auch der bayerische Verleger und Publizist Dr. Gerd SUDHOLT, der bis 1991 selbst GFP-Vorsitzender war. In seinem Vortrag vor rund 400 Kongressteilnehmern kritisierte er die "Zunft der Geschichtswissenschaftler" und griff ein typisches Thema rechtsextremistischer Agitation auf: die "Umerziehung" der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten. Nach rechtsextremistischem Verständnis wird die "Umerziehung", die die Schaffung 62 der Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft zum Ziel hatte, als aufgezwungen und illegitim angesehen: "... Die Tinte der Umerziehungsdekrete, ... war noch nicht trokken, da machten sie sich schon daran, die Geschichte der neueren und neuesten Zeit ... umzuschreiben und die Ereignisse so darzustellen, dass sie in das Raster der Umerziehung passten. Die Historiker mutierten von Geschichtsschreibern zu Geschichtsverbesserern und Geschichtsverwässerern." (Kongressprotokoll 1999, S. 139) 6.2 "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) Die 1991 gegründete "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DLVH) gab bereits 1996 ihren Parteistatus wieder auf in der Hoffnung, damit die "Einheit der Rechten" voranzubringen. Sinkende Mitgliederzahlen und kaum noch sichtbare Aktivitäten belegen jedoch das Scheitern der Organisation, die bundesweit gerade noch 400 Mitglieder hat. In Baden-Württemberg hält lediglich Jürgen SCHÜTZINGER - einer der drei Bundessprecher - den hier rund 40 Mitglieder zählenden Verein am Leben. Bei der Kommunalwahl im Oktober 1999 gelang es ihm sogar erneut, ein Mandat sowohl im Gemeinderat seiner Heimatstadt Villingen-Schwenningen als auch im Kreistag des Schwarzwald-Baar-Kreises zu erringen. Auf der von ihm angeführten Liste zur Gemeinderatswahl kandidierten auch Neonazis. 6.3 "Vereinigte Rechte" (VR) Die im Oktober 1997 gegründete "Vereinigte Rechte", die sich selbst als Partei bezeichnet, verfügt über einen Bundesverband und lediglich vereinzelte Landesverbände. Sie ist um Einigkeit im rechtsextremistischen Spektrum bemüht und formuliert als selbst gesetztes Ziel: "... Zusammenführen aller national und patriotisch denkenden Deutschen ..." (Präambel des Parteiprogramms der VR). 63 Diesem selbst gesetzten Anspruch konnte sie bislang jedoch nicht gerecht werden, zumal es ihr an personeller Substanz und politischer Akzeptanz innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums fehlt. Auch der Übertritt eines Abgeordneten der "Deutschen Volksunion" (DVU) zur VR, der ihr zu einem Sitz im Landtag von Sachsen-Anhalt verhalf, brachte den Bundesvorsitzenden Mario MEURER, Stuttgart, der zugleich auch Landeschef in Baden-Württemberg ist, seinem Ziel nicht näher. Als Ausdruck der Vereinigungsbemühungen traten VR und NPD gemeinsam in einem Bündnis zur Gemeinderatsund Regionalwahl in Stuttgart an. Das Ergebnis war jedoch mit 0,2 % bzw. 0,1 % der Stimmen unbedeutend. 6.4 "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e. V." (FHD) Auch der 1989 gegründete rechtsextremistische "Freundeskreis 'Ein Herz für Deutschland', Pforzheim e. V." (FHD) strebt eine Vereinigung aller "rechten" Parteien an, um - nach Aussagen führender Mitglied0er - auf der Basis dieser Einigung die Beseitigung des demokratischen Rechtsstaats voranzutreiben. Bei den häufigen Veranstaltungen des FHD referieren regelmäßig bekannte Rechtsextremisten zu einschlägigen Themen. Zu den Besuchern dieser Vorträge gehörten bereits Vertreter der NPD, DVU, REP sowie Angehörige neonazistischer "Kameradschaften". Bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen 1999 leistete der FHD aktive Wahlkampfhilfe für die REP. So plakatierten FHD-Anhänger für die Partei und verteilten deren Wahlkampfmaterial. Außerdem wurde ein Infostand der REP gemeinsam betreut. Mitglieder des Vereins traten zudem auf Wahlvorschlägen der "Republikaner" zur Gemeinderatsund Ortschaftswahl der Stadt Pforzheim sowie zur Kreistagswahl im Enzkreis an. 7. Organisationsunabhängige rechtsextremistische Verlage "GRABERT-Verlag"/"Hohenrain-Verlag" 1953 gründete Dr. Herbert GRABERT unter dem Namen "Verlag der deutschen Hochschullehrerzeitung" einen der größten rechtsextremistischen Verlage in 64 Deutschland. Seit 1978 wird das in Tübingen ansässige, inzwischen "GRABERTVerlag" lautende Unternehmen von Sohn Wigbert geleitet. Der "GRABERT-Verlag" und sein Tochterunternehmen "Hohenrain-Verlag" geben revisionistische Bücher und Publikationen zu den verschiedensten Themen heraus. Außerdem erscheinen eigene Schriften wie die Vierteljahreszeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" (DGG) und das Mitteilungsblatt der "Eurokurier - Aktuelle Buchund Verlagsnachrichten", in dem aktuelle politische Themen kommentiert werden. So polemisiert GRABERT beispielsweise unter der Überschrift "Von der Ehre": " ... Aber welche Gepflogenheiten soll man in einem Staat erwarten, der die eigenen Bürger bespitzelt, um das Wohl Deutschlands besorgte Politiker und Publizisten denunziert und ihnen eine selbst im Strafgesetzbuch zugesicherte Ehre abspricht? Denn für sie soll in der Geschichtsschreibung die grundgesetzlich verankerte Freiheit der Wissenschaft nicht gelten..." ("Euro-Kurier", 10. Jahrgang, Nr. 5, Oktober 1999) In den letzten Jahren wurden mehrere Bücher des "GRABERT"bzw. des "Hohenrain-Verlags" beschlagnahmt oder von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) indiziert. 8. Internationale Verflechtungen des Rechtsextremismus Die Präsenz deutscher Rechtsextremisten bei internationalen Treffen nahm in den letzten Jahren kontinuierlich ab. Am 28. August 1999, dem Vortag der 72. "Ijzerbedevaart", der traditionellen Gedenkfeier flämischer Patrioten, versammelten sich insgesamt 150 Rechtsextremisten aus mehreren Ländern - darunter nur einige wenige Deutsche - im belgischen Diksmuide zu einem "Kameradschaftstreffen". 65 An den Gedenkfeiern zu Ehren des spanischen Diktators Francisco Franco und des Falangistenführers Jose Antonio Primo de Rivera vom 19. bis 21. November 1999 beteiligten sich etwa 50 deutsche Rechtsextremisten. Rund 3.500 Personen aus dem Inund Ausland besuchten den traditionellen Gottesdienst im "Tal der Gefallenen" außerhalb Madrids. Im dänischen Torup (Jütland) trafen sich zu einer Gedenkveranstaltung für General Franco bei einem Rock-Konzert mehrere hundert Neonazis aus Skandinavien und Deutschland. Dänische Behörden hatten 26 Deutschen die Einreise verweigert. Der amerikanische Neonazi und Führer der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Aufbauund Auslandsorganisation" (NSDAP/AO), Gary Rex LAUCK, ist am 23. März 1999 nach Verbüßung seiner Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen und in die USA abgeschoben worden. Nachdem während seiner Inhaftierung die Publikation "NS-Kampfruf" nur noch unregelmäßig erschienen war, wurden von Juli bis Dezember 1999 fünf neue Ausgaben veröffentlicht. Sie enthielten jedoch lediglich historische Beiträge, aktuelle Themen wurden nicht aufgegriffen. Im amerikanischen Bundesstaat Nebraska erließen die US-Justizbehörden zwischenzeitlich einen Haftbefehl gegen LAUCK. Bei der Beantragung eines Waffenscheins soll er seine Verurteilung in Deutschland verschwiegen haben. Im Verlag des britischen Rechtsextremisten Anthony HANCOCK, Uckfield/England, erscheint monatlich die revisionistische Zeitschrift "National Journal". Herausgeber ist eine Redaktionsgemeinschaft "Die Freunde im Ausland" (DFiA), deren personelle Besetzung unbekannt ist. Mehrere Indizien deuten indes darauf hin, dass die Beiträge von Redakteuren in Deutschland erstellt werden. So ist die Verlagsadresse in England identisch mit derjenigen des bis zum Frühjahr 1995 erschienenen "Deutschland-Reports", der Nachfolgepublikation der von dem verstorbenen Altund Neonazi Otto Ernst Remer herausgegebenen gleichnamigen Depesche. Außerdem wurden sowohl Umfang, Aufmachung und Format als auch die inhaltlichen Themen übernommen. Das Blatt verbreitet fast ausschließlich antisemitische und fremdenfeindliche Hetze und propagiert revisionistisches Gedankengut. Schlagzeilen wie "Das ewige Holocaust-Gedenken geht Kanzler Schröder auf den Keks" oder "Wie 66 finden wir den richtigen Glauben an die Vergasungsund Verdampfungs-Urteile?" (jeweils Nr. 39/1999) belegen dies. Das "National-Journal" ist seit Oktober 1996 mit einer eigenen Homepage im Internet vertreten. 9. Revisionismus 9.1 Allgemeines Revisionismus tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf: Als Auschwitz-Lüge oder Holocaust-Leugnung werden Versuche bezeichnet, abweichend von der gesicherten Faktenlage und den anerkannten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung, Tatsache und Umfang des millionenfachen Mordes an Juden in der Zeit des Nationalsozialismus zu relativieren, zu vertuschen oder gar zu leugnen. Die Begriffe Kriegsschuldlüge und Gräuelpropaganda der ehemaligen Siegermächte" stehen für das Bestreben, die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die begangenen Kriegsverbrechen zu negieren. Daneben gibt es Revisionisten, die die deutsche Wiedervereinigung als noch nicht vollendet ansehen, sie agitieren gegen die Anerkennung der Oder-NeißeGrenze und fordern die Herausgabe der ehemaligen deutschen Ostgebiete. 9.2 Revisionisten Der deutsche Holocaustleugner Germar SCHEERER, der als Autor unter seinem Geburtsnamen RUDOLF oder unter seinem Aliasnamen Ernst GAUSS schreibt, hat seine publizistischen Aktivitäten ins Ausland verlegt. Er ist unter anderem Verfasser des 1992 veröffentlichten und nach ihm benannten "RUDOLF-Gutachtens", das anhand einer vorgetäuschten Wissenschaftlichkeit die Judenvernichtung in Auschwitz leugnet. Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn deshalb 1995 zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Durch Flucht entzog er sich der Verbüßung 67 seiner Strafe und hält sich seit einiger Zeit in Großbritannien auf. Dort ist die so genannte Auschwitz-Lüge nicht strafbar, weswegen er nach EU-Recht nicht auszuliefern ist. Die Bücher und Texte des Diplom-Chemikers Germar SCHEERER können über die 1985 gegründete belgische rechtsextremistische Organisation "Vrij Historisch Onderzoek" (V.H.O.), dem zentralen Vertreiber revisionistischer Schriften und Videokassetten in Europa, bezogen werden. Verantwortlich im Sinne des Presserechts sind die belgischen Brüder Siegfried und Herbert VERBEKE. Von der V.H.O. werden seit Anfang 1997 die "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" (VffG), eine revisionistische Publikation mit internationaler Ausrichtung, herausgegeben. Der Versand erfolgte bis Ende 1997 von Belgien aus. Seit 1998 wird die Zeitschrift auch aus Großbritannien verschickt. Germar SCHEERER ist laut Impressum Verantwortlicher im Sinne des Presserechts, Herausgeber ist aber weiterhin die V.H.O. in Belgien. Im Jahre 1999 wurde von der V.H.O. das Flugblatt "33 Fragen und Antworten zum Holocaust", in dem die wichtigsten revisionistischen Thesen zusammengefasst sind, bundesweit als Hauswurfsendung verteilt. Es soll die im Vorjahr massenhaft verbreitete Broschüre "Eine deutsche Antwort auf die Goldhagenund Spielberglügen" als Werbeschrift ablösen. Seit etwa 25 Jahren versorgt der 1958 nach Toronto/Kanada emigrierte Deutsche Ernst ZÜNDEL seine Gesinnungsgenossen im Inund Ausland mit neonazistischem Propagandamaterial. Der weltweit aktive Revisionist gründete 1976 den "SamisdatPublishers Ltd."-Verlag zur Produktion rechtsextremistischer Bücher, Zeitschriften und Videos. Zusammen mit seinen monatlich erscheinenden deutschsprachigen "Germania-Rundbriefen", in denen er u.a. seine antisemitischen und volksverhetzenden Thesen verbreitet, verschickt er neuerdings auch die Broschüre "Ernst ZÜNDEL: Sein Kampf für Deutschland. Ein Lebenslauf in historischen Daten und Stichworten", in der er sich als "selbstdisziplinierten Auslandsdeutschen" darstellt, der sich "für die Wiederherstellung der deutschen Ehre einsetzt, die durch den 'Holocaust' täglich in 68 den Medien beschmutzt und verzerrt beschrieben und historisch tendenziös im Sinne der Sieger des Zweiten Weltkrieges hingestellt wird". 10. Intellektualisierungstendenzen in rechtsextremistischen Kreisen Der intellektuelle Rechtsextremismus hat sich abseits vom organisierten Rechtsextremismus aus Theoriezirkeln, in Zeitschriften und Verlagen und vereinzelt aus Burschenschaften heraus entwickelt. Teilweise wird er mit dem Begriff "Neue Rechte" umschrieben. Unter diesem Begriff wird eine intellektuelle Strömung bzw. Ideologievariante des Rechtsextremismus verstanden, die sich insbesondere an den Ideen der "Konservativen Revolution"5 zur Zeit der Weimarer Republik (Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Edgar Julius Jung) orientiert. Damit wird versucht, auf das politische Geschehen Einfluss zu nehmen und einer Erosion der Abgrenzung zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus Vorschub zu leisten. Die Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) stellt im Sinne der kulturrevolutionären Strategie der "Neuen Rechten" ein wichtiges publizistisches Bindeglied zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsextremistischen Spektrum dar. Die JF ist dabei bemüht, extremistisches Gedankengut als "national-konservatives" zu verschleiern und nutzt hierzu immer wieder geschickt die Bereitschaft von Politikern und sonstigen Personen zu Interviews aus, um so ihre wahren Absichten zu verschleiern. Typisch für die mit teilweise intellektuellem Anpruch auftretende JF ist ihr geschicktes Agieren in einer Grauzone von demokratischem Konservatismus, Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Verschiedene weitere Publikationen bieten intellektuellen Rechtsextremisten ein Forum und tragen somit zu einer Strategieund Theoriebildung bei: 5 Eine Idee, die im Kern zutiefst antidemokratisch ist. Sie hatte sich u.a. zum Ziel gesetzt, das Fundament der parlamentarischen Verfassung der Weimarer Republik mittels einer geistig-kulturellen Revolution zu untergraben. Aufgegriffen und weiterentwickelt wurde die Idee in den 60er-und 70er69 "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE" "SIGNAL - DAS PATRIOTISCHE MAGAZIN" "STAATSBRIEFE" "SLEIPNIR. Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik" "OPPOSITION - Magazin für Deutschland" 1999 waren der Kosovokrieg und ein stärker aufkommender Antiamerikanismus Agitationsschwerpunkte. Die Ablehnung des NATO-Einsatzes in Jugoslawien ist für Rechtsextremisten nur konsequent: Leben und Gesundheit auch nur eines deutschen Soldaten zu riskieren, um die "angeblichen" Menschenrechte von Angehörigen fremder Völker zu verteidigen, sei nicht hinnehmbar und durch nichts zu rechtfertigen. Rechtsextremisten geraten dann in einen Zwiespalt, wenn trotz ihrer historisch bedingten serbenfeindlichen Einstellung gleichwohl der Kampf Serbiens gegen den gemeinsamen Hauptfeind USA und dessen "imperialistischen Machtanspruch" befürwortet wird. Mit dem NATO-Einsatz in Jugoslawien verstärkten sie ihre Agitation gegen eine "Neue Weltordnung", von ihnen als "One-World-Terror" der USA bezeichnet. Das westliche Prinzip der weltweiten Geltung der Menschenrechte steht dem der Rechtsextremisten, die ethnischen Kriterien den Vorzug geben, entgegen. Mit dem Niedergang des Kommunismus rückte der Antiamerikanismus in das Zentrum rechtsextremistischer Propaganda. Die Vorstellung eines "Europas ohne raumfremde Mächte" richtet sich nicht nur gegen den amerikanischen Einfluss, sondern gegen die gesamte westliche Werteordnung, die als aufgezwungen und wesensfremd empfunden wird. So fordert der ehemalige REP-Vorsitzende Franz SCHÖNHUBER eine "Los-vonAmerika-Bewegung", um eine neue Strategie zur Orientierung der europäischen Rechten zu begründen: "... Wir leben in einer Zeit des Neo-Kolonialismus ... Die Kolonialherren sitzen in Amerika ... Das bedeutet, über viele Möglichkeiten eines solchen Kurses nachzudenken, von Aufrufen Jahren durch die französische "Nouvelle Droite" sowie deren Wortführer und Begründer Alain de Benoist, der heute noch als der Vertreter der "Neuen Rechten" angesehen wird. 70 zum Austritt aus der NATO, Bekenntnis zur Neutralität bis hin zum Boykott all dessen, was die amerikanische Einflusssphäre betrifft ..." ( "NATION & EUROPA - DEUTSCHE MONATSHEFTE", Heft 7/8, Juli/August 1999) In diesem Zusammenhang sorgte der Sinneswandel des ehemaligen Linksterroristen und RAF-Anwalts Horst MAHLER, der sich den rechtsextremistischen Vordenkern anschloss, für Aufsehen. In einer von ihm und zwei weiteren früheren Mitgliedern des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" (SDS) veröffentlichten "Kanonischen Erklärung zur Bewegung von 1968" ("STAATSBRIEFE", Nr. 1/1999) versucht er, diesen zu erklären: "..., dass die Bewegung der Jahre 1968 weder für Kommunismus noch für Kapitalismus, weder für drittweltliche oder östliche noch für westliche Wertegemeinschaft aufstand, sondern allein für das Recht eines jeden Volkes auf nationalrevolutionäre wie sozialrevolutionäre Selbstbefreiung ... In der 68er-Bewegung sind zwei nationalrevolutionäre Flügel entstanden, die Neue Linke und die Neue Rechte. Erstere legte ihre Hauptstoßrichtung gegen den Amerikanismus, letztere gegen den Sowjetismus. Die Neue Rechte hat ihr Nahziel erreicht und wendet sich zunehmend gegen den Amerikanismus und Kapitalismus, so dass eine Wiedervereinigung dieser beiden nationalrevolutionären Flügel stattgefunden hat ..." 71 11. Nutzung moderner Informationstechnik durch Rechtsextremisten Allgemeines Die Nutzung des weltweiten Kommunikationssystems Internet nimmt rapide zu. Extremisten, vom Einzelaktivisten über Kleingruppen bis hin zu Parteien, entwickeln parallel zu diesem Trend eine Vielzahl eigener Informationsangebote im Internet, die kaum mehr überschaubar sind und einem ständigen Wandel unterliegen. Die Nutzung vorhandener Mailboxnetze nimmt hingegen stark ab. Der letzte Betreiber des überregional agierenden "THULE-Netzes" stellte zum 1. Juli 1999 seinen Betrieb ein. Als organisationsunabhängiger rechtsextremistischer Mailboxverbund war das Netz nach ca. sechsjähriger Tätigkeit gescheitert. Wurde das Internet zunächst vor allem als Agitationsmedium genutzt, so wird es inzwischen verstärkt auch als Kommunikationsmittel innerhalb der Szene eingesetzt. Die Zahl der von deutschen Rechtsextremisten - in den meisten Fällen anonym über amerikanische Internet-Server - betriebenen Homepages im World Wide Web (WWW) hat sich weiter auf derzeit über 320 erhöht; davon haben etwa 20 % strafbare Inhalte. Im Jahre 1998 lag die Zahl noch bei 200 (1997: 80, 1996: 32). Damit sind fast alle in Deutschland aktiven rechtsextremistischen Parteien, Vereinigungen und organisationsunabhängigen Publikationsorgane mit einem eigenen Angebot im WWW vertreten. Sie nutzen die Möglichkeiten des Internet zur Verbreitung audiovisueller Angebote weitaus stärker als linksextremistische Gruppierungen. Verbreitung von Skinheadmusik im Internet Im Internet werden mittlerweile zunehmend Skinheadmusik und ähnliche NS-AudioAngebote im so genannten Mp3-Format verbreitet. Diese Musikstücke sind einfach herunterzuladen, über jeden gängigen Rechner oder "Mp3-Player" abspielbar und bieten die Möglichkeit, eigene CDs herzustellen. Solche kostenlose, in vielen Fällen bereits indizierte Angebote erfreuen sich bei Teilen der Jugendlichen größter Beliebtheit. 72 Das MP-3-Verfahren Das Fraunhofer-Institut in Erlangen entwickelte bereits Anfang der neunziger Jahre das so genannte Mp3 -Verfahren, mit dem sich Audiodateien, wie man sie zum Beispiel auf Musik-CDs findet, ohne allzu großen Qualitätsverlust auf etwa ein Zehntel ihrer Größe verkleinern lassen. Das Institut arbeitet für die Moving Pictures Expert Group (MPEG), eine Gruppe von Konzernen, die Standards für die Komprimierung von Multimedia-Dateien festsetzen soll. Mp3 ist die Abkürzung für MPEG 1 Layer-3. Ursprüngliches Ziel war, ein platzsparendes Audioformat für die Produktion von Multimedia-CD-Roms zu finden. Doch clevere US-Studenten erkannten rasch, welche Chancen die neue Technik noch eröffnete und verbreiteten das Verfahren über das Internet. Dabei wurden 1999 erstmals volksverhetzende Musikstücke einer bislang unbekannten Skinheadband "Die Härte" von unbekannten Anhängern über das Internet verbreitet. Sie fallen durch aggressive Diktion sowie rassistische und antisemitische Inhalte auf. Der Text des Liedes "Am Tag als Ignatz Bubis starb" wurde vor dessen Tod am 12. August 1999 im Internet veröffentlicht. Die eigentliche CD der Gruppe erschien erst einige Zeit später. Die Härte - Am Tag als Ignatz Bubis starb - (Textauszug) "... Bubis sag, hör gut zu, dein Todeslied könnte dies sein. Ja, irgendwann ist der Schuss im Ziel wir kühlen schon die Flaschen Wein. Die Warnung ist unser Ernst, deine Judenhaut überreif. Die Deutschen kann man nicht besiegen, wie du auch bald an deinem Todestag begreifst. 73 Refrain: Am Tag als Ignatz Bubis starb und alle Juden heulten. Am Tag als Ignatz Bubis starb und alle Gläser klingen, das wird ein schöner Tag, wir pissen auf sein Judengrab." Durch das Bereitstellen von Mp3-Musikdateien können rechtsextremistische Musikstücke und Texte einem breiten, bislang unpolitischen, jugendlichen Interessentenkreis problemlos zugänglich gemacht werden. Internet-Radiosendungen von Rechtsextremisten Die anonym über Provider in den USA betriebene, inzwischen nicht mehr zugängliche Website "Rastenburg" verbreitete zwei ca. halbstündige Radio-Sendungen des "Großdeutschen Rundfunks - Radio Wolfsschanze". Die Inhalte waren eindeutig volksverhetzend, gewaltverherrlichend, antisemitisch und fremdenfeindlich. Diverse indizierte und strafrechtsrelevante Lieder konnten heruntergeladen werden. Bereits seit mehreren Monaten veröffentlicht das Berliner "Radio Germania" in unregelmäßigen Abständen bis zu 60-minütige Beiträge mit szenespezifischen Musikund Redebeiträgen über das Internet. Auch aus Kreisen der Partei "Die Republikaner" (REP) in Baden-Württemberg wird ein Internetradio-Projekt angeboten, das diverse Interviews und Berichte über ihre Veranstaltungen enthält: "Die Verbreitung von Informationen haben sich auch andere auf die Fahnen geschrieben. Sie kommen dieser Aufgabe aber immer schlechter nach. Die Schere im Kopf, der Rundfunkrat oder der Eigentümer des Anbieters sind statt des eigenen Gewissens zum Maßstab der Arbeit geworden. 74 Wir sind statt dessen Gesinnungstäter. Wir sind nationale Aktivistinnen und Aktivisten, die sich und der Szene über einen eigenen Platz im Internet Gehör verschaffen!" Verantwortlicher Leiter von "radio-internet" ist der baden-württembergische REPVorsitzende Christian KÄS . Gewaltaufrufe im Internet Im Internet kursieren anonym verbreitete Listen mit persönlichen Daten bzw. Adressen des jeweiligen politischen Gegners, in denen direkt oder indirekt zur Gewalt gegenüber diesen Personen aufgerufen wird. Mitte 1999 erschienen erstmals zwei konkrete deutschsprachige Mordaufrufe unter Auslobung einer Belohnung von jeweils 10.000 DM. In einem Fall wurde sie später sogar auf 15.000 DM erhöht. Auch wenn solche Listen im Internet kein Einzelfall mehr sind, stellen die direkten Tötungsaufrufe gleichwohl eine neue Qualität der Gewalt in diesem Medium dar. Parteien Regionale Teilgliederungen verschiedener rechtsextremistischer Parteien nutzen inzwischen - neben dem jeweiligen Angebot auf Bundesebene - in unterschiedlichster Intensität die Möglichkeiten einer eigenen Website mit lokalen Inhalten zur Selbstdarstellung im Internet. So wurden im Berichtszeitraum umfangreiche Angebote des hiesigen Landesverbands der REP, der "Republikanischen Jugend" (RJ) Baden-Württemberg und des REP-Ortsverbands sowie der RJ Göppingen neu erstellt. Daneben sind einige Kreisverbände dieser Partei im Internet vertreten. Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) nutzte ihre Seiten intensiv zu Aufrufen und zur Berichterstattung über bundesweite und regionale Aufmärsche und Aktionen. Eines der Hauptthemen war dabei die inzwischen von den Veranstaltern zurückgezogene Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944". Revisionismus 75 Das Internet-Angebot der rechtsextremistischen belgischen Organisation "Vrij Historisch Onderzoek" (VHO - Europäische Stiftung zur Förderung Freier Historischer Forschung) wird nach eigenen Angaben von Germar SCHEERER geb. RUDOLF zu einem umfassenden Archiv revisionistischer Literatur im Internet ausgebaut. Dabei nennt SCHEERER vor allem Jugendliche als zukünftige Zielgruppe revisionistischer Propaganda: "Wir werden uns zudem bemühen, unsere Internetseite zu einer Datenbank zum Kampf gegen die weltweit grassierende Zensur auszubauen ... Unser Kampf gilt der Zensur, indem wir sie einfach unterlaufen! ... Wir sind davon überzeugt, dass wir dadurch die Grundlage für weitere entscheidende Durchbrüche bei den Historikern und anderen Meinungsträgern schaffen. Denn dies ist realistisch betrachtet die einzig sinnvolle Investition, mit der wir auf lange Sicht betrachtet die Wende herbeiführen können, denn das Establishment verlässt sich auf die Urteile der Historiker! Wir sind nur mit vielen unserer Mitstreiter der Meinung, dass ein zweiter sehr wichtiger Ansatzpunkt in unsere Arbeit die Jugend sein muss. Da wir, wie bereits erwähnt, gegen die alten Medien keine Chance haben, im Internet aber - einem Medium der Jugend! - mit so ziemlich allen relativ leicht mithalten können, haben wir uns vor fast zwei Jahren entschlossen, dort ein kühnes Projekt zu starten." ("Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" - VffG - 2/99, Fehler im Original) Auf den Seiten der VHO können fast alle revisionistisch bedeutsamen Texte der letzten 20 Jahre, darunter auch die wegen Leugnung des Holocaust in Deutschland gerichtlich eingezogenen Publikationen "Der LEUCHTER-Report", das "RUDOLFGutachten" und "Grundlagen zur Zeitgeschichte" in vollem Wortlaut abgerufen werden. Germar SCHEERER will seine Aktivitäten mit anderen Revisionisten noch in76 tensivieren. So plant er eine "Fern-Akademie für freie Geschichtsforschung" im Ausland mit angeschlossenem Verlag. "... Momentan bietet Deutschland keinen Vorwand, die zum äußersten Hass aufgestachelten Völker dieser Welt wie eine Meute gieriger Kampfhunde auf das wehrlose Opfer losgehen zu lassen. Aber wehe wenn sich Deutschland regt. Nein, der historische Revisionismus muss seinen Siegeszug von außerhalb Deutschlands beginnen, anders kann er nicht siegen." ("Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" - VffG - 4/99, Fehler im Original) Am 8. April 1999 wurde der deutschstämmige australische Staatsangehörige Dr. Gerald Fredrick TOBEN in Mannheim wegen eines Vergehens nach SS 130 StGB festgenommen. Er befand sich auf einer Reise durch mehrere europäische Länder, um "Beweise" zu sammeln, dass in Auschwitz keine jüdischen Häftlinge vergast worden seien. Als angeblicher Historiker wollte er mit einem Staatsanwalt über seine "Untersuchungen" im Konzentrationslager Auschwitz diskutieren. Ihm wurde als Verantwortlicher der in Australien angesiedelten Website des revisionistischen "Adelaide Institute" vorgeworfen, über diese und Druckschriften seit 1996 den Holocaust leugnende Rundbriefe verbreitet zu haben. Am 10. November 1999 wurde Dr. Frederick TOBEN vom Mannheimer Landgericht wegen Volksverhetzung, Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener in mehreren Fällen zu einer Haftstrafe von zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt. Der Haftbefehl wurde gegen eine Kaution in Höhe von 6.000 DM außer Vollzug gesetzt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das "Adelaide Institute" gehört zu den internationalen Zentren revisionistischer Propaganda. Über die Homepage des Instituts sind u.a. Aufsätze ausländischer Revisionisten wie des Franzosen Prof. Dr. Robert FAURISSON, des Engländers David IRVING, des in Kanada lebenden Deutschen Ernst ZÜNDEL sowie das "RUDOLFGutachten" abrufbar; über "Links" gelangt man zu den Websites anderer Revisionis77 ten. Nach der Verhaftung von Dr. Frederick TOBEN versuchten dessen Anhänger, über australische Menschenrechtsgruppen den Fall als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit im Internet international zu thematisieren. Gelingt es Revisionisten, ihre Texte seriös verbrämt und professionell aufgemacht im Internet zu platzieren, besteht die Gefahr, dass dort z.B. das Thema "Holocaust an den europäischen Juden" in wenigen Jahren weltweit von revisionistischen Angeboten überlagert wird. Internationale Revisionisten verfügen über ein informelles Netzwerk im WWW, in dem sie über eine größere Anzahl von Websites ihre Inhalte verbreiten und über "Links" aufeinander hinweisen. Nationaler Widerstand Baden-Württemberg Die aus dem Umfeld eines Rechtsextremisten aus Villingen-Schwenningen betriebene Website veröffentlicht eine Vielzahl von Informationen für Rechtsextremisten, darunter Konzerttermine und -berichte, juristische Tipps und das Angebot des "White Terror"-Versands aus Reutlingen mit "Fan"-Artikeln des "Nationalen Widerstands Baden-Württemberg". 78 D. LINKSEXTREMISMUS 1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Das Stimmungsbild im deutschen Linksextremismus hat sich 1999 von anfänglicher Genugtuung über die Abwahl der "Kohl-Regierung" im Jahr zuvor in allgemeine Er nüchterung und Enttäuschung über das rot-grüne Regierungsbündnis gewandelt. Mehr noch verfestigte sich schon bald die Auffassung, dass die Politik der neuen Bundesregierung derjenigen ihrer Vorgängerin in ihrer "Systemkonformität" in nichts 6 nachstehe bzw. "an neoliberalem Konservatismus kaum noch zu überbieten" sei. Insbesondere die an "Bündnis 90/ Die Grünen" - gemäß ihrem Selbstverständnis als umweltbewusste und pazifistische Partei - gestellten Erwartungen wurden derart enttäuscht, dass diese Partei vom einstigen Hoffnungsträger zum neuen Feindbild des "linken" Lagers mutierte. Die Bilanz der bisherigen Regierungstätigkeit fiel eindeutig aus: "Innerhalb nur eines Jahres hat Rot/Grün aufgezeigt, was sie unter ihrem Wahlkampfmotto 'Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser' gemeint haben: Die Modernisierung des Staates im Interesse des Kapitals und der damit einhergehenden Politik des weiteren sozialen Kahlschlages, die Perfektionierung des Repressionsund Überwachungsapparates, das Vorantreiben der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung und die erste Beteiligung von Bundeswehrsoldaten am Angriffskrieg in Jugoslawien. Ein Jahr Rot/Grün hat gezeigt, dass alle Erwartungen auf Veränderungen, die sich auf dieses System beschränken, zwangsläufig enttäuscht werden ..."7 6 "Sabotage. Bewegungsmelder für fundamentale Kritik an den bestehenden Verhältnissen", Nr. 44, H. 12/99, S. 4 7 Flugblattaufruf zu einer Demonstration am 2. Oktober 1999 anlässlich des Tags der deutschen Einheit 79 Auf breiter Front, sei es auf den Feldern der Innenund Sicherheitspolitik, der Sozialpolitik, der Asylund Ausländerpolitik, vor allem aber der Außenwie der Atompolitik, fühlte man sich "verraten und verkauft". Dazu hieß es in der Stuttgarter Szeneschrift "AHA! Zentralorgan für bösartige Propaganda", Nr. 9 vom Winter 1998/99, S.2: "Es gibt weiterhin mehr als genügend Gründe gegen Nazischweine, gegen dieses System und diesen Staat zu sein." Der Protest gegen die Beteiligung Deutschlands am Militäreinsatz der NATO im Kosovo rief zwar das gesamte linksextremistische Spektrum auf den Plan, doch vermochte man aus diesem Vorgang wegen der Unfähigkeit, in dieser Frage eine politische Geschlossenheit zu erreichen, kein politisches Kapital zu schlagen. Im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen im Kosovo gewann auch das Thema "Militarisierung" an Bedeutung, was eine vermehrte Agitation gegen die Bundeswehr - insbesondere das "Kommando Spezialkräfte" (KSK) in Calw - vor dem Hintergrund angeblicher deutscher Großmachtallüren einschloss. Vom Kosovokrieg überlagert wurden selbst so bedeutsame Vorgänge von internationalem Rang wie der EU-Gipfel vom 3. - 4. Juni 1999 und der Weltwirtschaftsgipfel vom 18. - 20. Juni 1999, beide in Köln. Entsprechend enttäuschend fiel die Beteiligung an den Protesten aus, obwohl Linksextremisten auf diese Ereignisse in einer langen, bereits 1998 angelaufenen Vorbereitungsund Mobilisierungsphase hingearbeitet hatten. Sie wollten neben der damit gegebenen Möglichkeit öffentlichkeitswirksamen antikapitalistischen Protests die Chance nutzen, die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit sozialer Protestbewegungen voranzutreiben und diese zu dauerhaften "Widerstandsstrukturen" auszubauen. Das Verhalten des Führers der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), Abdullah ÖCALAN, seit seiner Festnahme, insbesondere dessen Propagierung einer Einstellung des "politischen Kampfes", hat im linksextremistischen Lager zu wachsender Distanzierung geführt. Fraglich ist deshalb, wie lange die deutschen KurdistanSolidaritätsgruppen ihre bis dahin nahezu bedingungslose Unterstützung der "kurdischen Befreiungsbewegung" noch aufrecht erhalten. 80 Mit der Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls für den in den USA wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilten Linksextremisten Mumia ABU-JAMAL am 13. Oktober 1999 rückte die Solidarität mit dem ehemaligen "Black-Panther"-Mitglied wieder in den Vordergrund. Nachdem der ursprünglich für den 2. Dezember 1999 festgesetzte Hinrichtungstermin erneut aufgeschoben wurde, setzt die linksextremistische Szene weiterhin alles daran, durch die Erzeugung von weltweitem öffentlichen Druck die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Die bundesweite Durchsuchungsaktion der Polizei vom 6. Juli 1999 im Zusammenhang mit zurückliegenden Hakenkrallenanschlägen auf die Strecken der Deutschen Bahn AG waren den linksextremistischen Teilnehmern an den Anti-"CASTOR"Protesten ein erneuter Anlass, die Anti-AKW-Bewegung ebenfalls als Opfer staatlicher Repression einzuordnen. Kernkraftgegner suchten vor allem nach neuen Protestkonzeptionen, nachdem sich ihre Hoffnung auf einen zeitnahen Ausstieg aus der Kernenergie unter der neuen Bundesregierung zerschlagen hatte und von Betreibern und staatlichen Stellen Alternativen zu den "CASTOR"-Transporten erwogen werden, die die Szene ihres zentralen "Widerstands"-Objekts zu berauben drohten. Seit dem letzten "CASTOR"-Transport sind die Aktivitäten der Kernkraftgegner deutlich zurückgegangen. Die 1999 nur sehr spärlichen Aktionen deuten darauf hin, dass nach wie vor ausschließlich von "CASTOR"-Transporten jene mobilisierende Symbolkraft ausgeht, ohne die die Organisierung einer relevanten Protestbewegung kaum möglich ist. Andere "klassische" linksextremistische Aktionsfelder wie die Asylund Abschiebungsproblematik oder der "Antirassismus" wurden durch die aktuellen politischen Entwicklungen des Jahres 1999 immer wieder überlagert. Ungeschmälerte Bedeutung besaß allerdings weiterhin der "Antifaschismus". Neue Akzente setzte hier die von der "Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO) initiierte "Antifa Offensive 99". Eine ähnliche Zielsetzung - Stärkung der Handlungsfähigkeit der "antifaschistischen" Bewegung durch die Erarbeitung politischer Strategien und einheitlicher Organisierungsansätze - verfolgte ein bundesweiter "Verstärkerkongress" vom 22. - 24. Oktober 1999 in Leipzig. 81 Der Versuch verschiedener linksextremistischer Gruppierungen, gegen die "Expo 2000" als Symbol des Kapitalismus und Imperialismus zu mobilisieren, stieß 1999 allerdings noch auf relativ verhaltenes Interesse. Die Vernetzung des "Widerstands" und Planungen von Aktionen liefen eher zögerlich an. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich das Protestpotenzial in der ersten Hälfte des Jahres 2000 formieren und die Thematik einen deutlichen Aufschwung erfahren wird. Für linksextremistische Parteien stellt sich mehr denn je die Frage nach einer Zukunftsperspektive. Dies gilt für die ohnehin weitgehend isoliert agierende "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD), vor allem aber für die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), der die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) längst den Rang abgelaufen hat. Vereinzelt in den westlichen Bundesländern erzielte Achtungserfolge bei Wahlen gaben der PDS auch hier deutlichen Auftrieb und lassen sie hoffen, als gesamtdeutsche Partei Fuß fassen zu können. Ihr Status als im Bundestag vertretene Partei macht sie zudem ungleich attraktiver für eine Zusammenarbeit mit anderen "linken" Kräften, andererseits stößt ihr auf bundespolitischer Ebene verfolgter "Reformkurs" - selbst in den eigenen Reihen - keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Hier wiederum sieht die DKP eine Chance, sich als "klassische" kommunistische Partei zu profilieren. Terroristische Anschläge von Linksextremisten gab es 1999 nicht. Seit der Auflösungserklärung der "Roten Armee Fraktion" (RAF) vom April 1998 hat sich der Akzent im deutschen Linksterrorismus deutlich in Richtung "Vergangenheitsbewältigung" verschoben, wobei eine konkrete politische Handlungsperspektive weiterhin fehlt. Übrig geblieben ist das Engagement für die Freilassung der "politischen Gefangenen", das sich allerdings schon seit Jahren nicht mehr allein auf die RAFInhaftierten beschränkt. Mit militanten Aktionen der autonomen Szene muss dagegen weiterhin gerechnet werden. 82 2. Übersicht in Zahlen 2.1 Personenpotenzial Auf niedrigem Niveau stagnierende oder gar schwindende Mitgliederzahlen in Verbindung mit finanziellen Engpässen schränken den Aktionsradius linksextremistischer Parteien ein und erschweren zunehmend auch die Teilnahme an Wahlen. Hinzu kommt die deutliche Überalterung der Mitglieder zumindest bei einem Teil des organisierten Linksextremismus, die es umso dringlicher macht, neue, jüngere Anhänger zu gewinnen. Auch 1999 versuchten Linksextremisten bis hin zu militanten Autonomen - bevorzugt unter dem Signum des "Antifaschismus" - Schüler und Jugendliche zu mobilisieren. Gleichwohl hielt sich der Zugewinn neuer Mitglieder in engen Grenzen. Selbst von der allgemeinen Enttäuschung über die Politik der rotgrünen Bundesregierung konnten Linksextremisten kaum profitieren. 83 Zu den wenigen Ausnahmen gehörte die PDS, der es gelungen ist, über einen von den zurückliegenden Wahlen ausgehenden Publizitätsschub ihren Mitgliederbestand in einigen alten Bundesländern leicht auszubauen. Auch im autonomen/"antiimperialistischen" Spektrum gab es keine nennenswerten zahlenmäßigen Veränderungen trotz verstärkter Aktivitäten, z. B. im Rahmen der "Antifa Offensive 99". Andere mobilisierende Themen sind in 1999 teilweise weggefallen ("CASTOR"-Transporte). Solange namhafte "politische Erfolge" der Szene ausbleiben, dürfte auch in Zukunft kein spürbarer Aufschwung zu erwarten sein. Im Bereich des organisierten Linksextremismus ist sogar mit einem weiteren Rückgang zu rechnen. 2.2 Strafund Gewalttaten Bundesweit kam es 1999 zu einem Rückgang linksextremistisch motivierter Gewalttaten um ca. 10 %. In Baden-Württemberg sind die Gewalttaten sogar um ca. 31 % zurückgegangen. Die Ausnahme bildeten wiederum Gewalttaten gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten, deren Zahl um fast 15 % anstieg. Übersicht über Gewalttaten und sonstige Straftaten mit erwiesenem oder zu vermutendem linksextremistischem Hintergrund in Baden-Württemberg 1997 1998 1999 Gewalttaten Tötungsdelikte 0 0 0 Versuchte Tötungsdelikte 1 1 0 Körperverletzungen 10 27 20 Brandstiftungen 3 1 4 Landfriedensbruch 4 15 5 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, 10 6 4 Schiffsund Straßenverkehr Raub/Erpressung 0 1 2 Gesamt 28 51 35 1997 1998 1999 84 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 73 131 166 Nötigungen/Bedrohungen 4 16 15 andere Straftaten 71 118 114 Gesamt 148 265 295 Straftaten insgesamt 176 316 330 In Baden-Württemberg war 1999 bei den Straftaten im Vergleich zum Vorjahr insgesamt eine leichte Zunahme zu verzeichnen. Eine bedeutende Steigerung ergab sich bei den Sachbeschädigungen. Ein Erklärungsaspekt hierfür dürfte die Schließung des "Autonomen Zentrums" (AZ) in Heidelberg Anfang 1999 sein, nach der es zu zahlreichen Farbschmierereien, aber auch zu schweren Sachbeschädigungen kam. Der Beginn der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien löste eine Welle linksextremistisch motivierter Strafund Gewalttaten aus. Ein weiterer vorübergehender Anstieg war im Zusammenhang mit der Unterschriftenaktion der CDU gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft sowie im Umfeld der Europaund Kommunalwahlen festzustellen. Stark zurückgegangen sind hingegen die Strafund Gewalttaten im Zusammenhang mit der Agitation gegen die Nutzung von Kernkraft. Bei einer Wiederaufnahme der "CASTOR"-Transporte muss mit einem erneuten steilen Anstieg von Straftaten gerechnet werden. Die Anwendung von Gewalt im Rahmen des "Kampfs gegen rechts", selbst gegen Personen, hielt 1999 unvermindert an. Als Beispiele für schwere Gewalttaten seien genannt: - Am 28./29. Januar 1999 wurden an der Dresdner Bank sowie dem Gebäude der "Gesellschaft für Grundund Hausbesitz" in Heidelberg (Eigentümerin des AZ-Gebäudes) mehrere Fensterscheiben mit Pflastersteinen eingeworfen. Der Sachschaden betrug ca. 28.000 DM. Zu der Tat bekannte sich ein "Kommando Bimperle". - Unbekannte Täter zerstörten in den frühen Morgenstunden des 28. Mai 1999 vier Fensterscheiben der Geschäftsstelle des Landesverbands BadenWürttemberg der Partei "Bündnis 90/Die Grünen" in Stuttgart und bewarfen die Fassade des Gebäudes mit Farbbeuteln. Der Sachschaden belief sich auf 85 ca. 20.000 DM. In einem Selbstbezichtigungsschreiben bekannte sich eine Gruppierung "Antiimperialistischer Aufbruch" zu der Tat. - In der Nacht zum 1. Juni 1999 wurde auf das Finanzamt in Tübingen ein Brandanschlag verübt. Dabei entstand ein Sachschaden von ca. 200.000 DM. Eine am nächsten Tag eingegangene Taterklärung stellte einen Bezug zum Kosovokonflikt her ("kein geld für die kriegskasse!"). - Am 6. Juli 1999 verletzten in Ludwigsburg vier unbekannte Täter einen mutmaßlichen Rechtsextremisten. Dabei traten die Täter auf ihr bereits am Boden liegendes Opfer ein. Der Geschädigte erlitt Prellungen und eine Verletzung am linken Auge. - Am Rande einer Demonstration in Villingen-Schwenningen am 24. Juli 1999 unter dem Motto "Weg mit dem Nationalen Widerstand" wurde nach einer Verfolgungsjagd durch "linke" Demonstrationsteilnehmer ein Angehöriger der rechtsextremistischen Szene durch den Schlag mit einer Bierflasche am Kopf verletzt. - Mit Pflastersteinen warfen unbekannte Täter in der Nacht zum 3. November 1999 Schaufensterscheiben eines US-Military-Shops in Karlsruhe ein. Außerdem wurde im Eingangsbereich mit schwarzer Farbe die Parole "No Nazi Articles" aufgesprüht. Es entstand ein Sachschaden von ca. 11.000 DM. - In der Nacht zum 1. Dezember 1999 wurden vier Fensterscheiben der Stadtverwaltung Heidelberg eingeworfen. Eine am nächsten Tag eingegangene Selbstbezichtigung von "Autonomen Gruppen" räumte in diesem Zusammenhang noch weitere Gewalttaten ein und forderte u.a. dazu auf, "den Kampf für ein neues AZ (= Autonomes Zentrum) jetzt erst recht wieder aufzunehmen!" 86 3. Gewaltbereiter Linksextremismus 3.1 Linksextremistischer Terrorismus 3.1.1 "Rote Armee Fraktion" (RAF) Am 15. September 1999 wurde das seit 1984 international zur Fahndung ausgeschriebene mutmaßliche RAF-Mitglied Horst Ludwig Meyer bei einem Schusswechsel mit der österreichischen Polizei in Wien erschossen. Meyer wurde verdächtigt, in den 80er-Jahren an Mordund Sprengstoffanschlägen, u.a. auf den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, beteiligt gewesen zu sein. Seine Begleiterin, die mutmaßliche RAF-Terroristin Andrea KLUMP, konnte unverletzt festgenommen werden. Sie wurde am 23. Dezember 1999 nach Deutschland ausgeliefert. Barbara MEYER, die nach eigenen Angaben seit Jahren getrennt lebende Ehefrau des Getöteten, hatte sich bereits im Mai 1999 im Libanon den Behörden gestellt und saß nach ihrer Auslieferung nach Deutschland zunächst in Untersuchungshaft, aus der sie am 11. Oktober 1999 entlassen wurde. Von den noch in Haft einsitzenden RAF-Angehörigen wurden am 1. März 1999 Stefan WISNIEWSKY und am 4. Mai 1999 Sieglinde HOFMANN aus der Haft entlassen. Für Adelheid SCHULZ ist wegen ihrer Erkrankung seit Oktober 1998 bis April 2000 Haftverschonung angeordnet. Die Verurteilung von Birgit HOGEFELD zu lebenslanger Freiheitsstrafe vom 29. Juni 1998 durch das Oberlandesgericht Frankfurt ist seit dem 19. Januar 1999 rechtskräftig. 3.1.2 "Antiimperialistische Zelle" (AIZ) Nach einer Prozessdauer von fast zwei Jahren verurteilte am 1. September 1999 der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf die AIZ-Aktivisten Bernhard FALK und Michael STEINAU zu Haftstrafen von 13 bzw. neun Jahren. Sie wurden für schuldig befunden des versuchten Mordes in vier Fällen (Sprengstoffanschläge auf die Wohnhäuser des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten und Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Volkmar Köhler, am 87 22. Januar 1995, des seinerzeitigen CDU-Bundestagsabgeordneten und Mitglieds des Bundestagsinnenausschusses, Josef Theodor Blank, am 23. April 1995, des CDU-Bundestagsabgeordneten und damaligen verteidigungspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, Paul Breuer, am 17. September 1995, sowie auf das peruanische Honorarkonsulat am 23. Dezember 1995) und der Vorbereitung eines Verbrechens (geplanter Sprengstoffanschlag auf den SPD-Politiker Freimut Duve). 3.1.3 "Revolutionäre Zellen" (RZ) Am 23. November 1999 wurde in Berlin ein in Beirut gebürtiger deutscher Staatsangehöriger verhaftet. Der Tatverdächtige war bereits am 19. Mai 1999 zum ersten Mal festgenommen, jedoch am 7. Juli 1999 gegen Auflagen wieder aus der Haft entlassen worden. Im Keller seiner Wohnung hatte man 4,8 kg Sprengstoff gefunden, der am 4. Juni 1987 in Salzhemmendorf (Niedersachsen) entwendet worden war. Sprengstoff aus diesem Diebstahl war 1988 und 1991 bei Anschlägen der "Revolutionären Zellen" (RZ) in Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen verwendet worden. Dem Beschuldigten werden die Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung, das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und weitere Straftaten zur Last gelegt. RZ-Angehörige verfügen nach Polizeiangaben noch immer über ca. 100 kg Sprengstoff. Der letzte Anschlag der "Roten Zora", einer aus RZ-Zusammenhängen hervorgegangenen linksterroristischen Frauengruppe, datiert vom 24. Juli 1995. Der am 8. September 1998 in Frankreich festgenommene frühere RZ-Angehörige Hans-Joachim KLEIN wurde am 20. Mai 1999 nach Deutschland ausgeliefert. Er wird beschuldigt, an dem Überfall der RZ auf die "Organisation der Erdöl exportierenden Länder" (OPEC) am 21. Dezember 1975 in Wien beteiligt gewesen zu sein. Dabei waren drei Personen getötet und 70 weitere als Geiseln genommen worden. Im Zuge der Ermittlungen konnte im Oktober 1999 noch ein anderes mutmaßliches RZ-Mitglied festgenommen werden. Mit dem Beginn des Strafverfahrens gegen beide Tatverdächtige ist im 2. Halbjahr 2000 zu rechnen. Ermittlungsmaßnahmen Mitte 88 Dezember 1999 in Berlin und Frankfurt am Main führten zu weiteren Festnahmen und Einblicken in die Struktur der RZ. 3.2 "Antiimperialistischer Widerstand" (AIW) Das Lager des "antiimperialistischen Widerstands", d.h. derjenigen Angehörigen des ehemaligen RAF-Umfelds, die der neuen Linie der RAF (Ankündigung der Aussetzung des bewaffneten Kampfs) - veröffentlicht in ihrer Erklärung von 1992 - ablehnend gegenüberstehen bzw. den "bewaffneten Kampf" weiterhin befürworten, befindet sich nach wie vor in einem lethargischen Zustand. Dies belegt nicht zuletzt die zurückhaltende Reaktion auf den Tod ihres "Genossen" Horst Ludwig Meyer. Diese ging über die im "Angehörigen-Info", Nr. 225 vom 4. Oktober 1999, S. 7, veröffentlichte Bekundung von "Wut und Trauer", eine verbale Verurteilung als "auch nach der Beendigung des bewaffneten Kampfes" fortbestehende "Killfahndung als Bestandteil der Vernichtungsstrategie gegen die radikale Linke" sowie die Forderung nach einer rückhaltlosen Aufklärung der Umstände, die zu dessen Tod geführt hatten, nicht hinaus. Solidarität bekundeten sie ebenfalls mit der zu diesem Zeitpunkt in Österreich inhaftierten Andrea KLUMP, deren Auslieferung nach Deutschland verhindert werden sollte, da ihr in diesem Falle angeblich eine Verurteilung durch "Sondergerichte nach Sondergesetzen" drohe. Treffend beschrieben wurde der Zustand der Szene in einem zur Vorbereitung einer internationalen Konferenz in Berlin vom April 1999 (vgl. S. 97f.) zusammengestellten 8 "Reader" : Eine nüchterne Analyse charakterisierte die Haltung der deutschen "Linken" als "passiv und desinteressiert". Eine "gesellschaftliche Kraft für eine Veränderung der Haftbedingungen und für die Freilassung der Gefangenen" sei "nicht existent". Trotz der noch in Resten vorhandenen Solidaritätsbewegung scheine die Freiheit der RAF-Inhaftierten "auf längere Sicht eher durch jeweils individuelle 'Gnadenakte' des Staates denkbar als durch eine radikale und gesellschaftliche Bewegung von unten". Trotzdem stand auch 1999 der Versuch auf der Tagesordnung, die Freilassung der noch einsitzenden RAF-Inhaftierten zu forcieren. In das übergeordnete Engagement 8 Reader "Die Wüste lebt", 1999, S. 51 89 für die Freilassung "politischer Gefangener" weltweit ist auch die Beteiligung an der Kampagne "Freiheit für Mumia ABU-JAMAL" einzuordnen. Das "antiimperialistische" Spektrum in Baden-Württemberg beteiligte sich an den bundesweiten Kampagnen, ohne erkennbare eigene Initiativen zu entwickeln oder Akzente zu setzen. 3.3 Autonome Die linksextremistische autonome Szene in Baden-Württemberg ist seit Jahren zahlenmäßig annähernd konstant. Sie umfasst etwa 650 Mitglieder. Dazu kommt ein schwer einzugrenzendes, jederzeit mobilisierbares Umfeld. Örtliche Schwerpunkte bilden Heidelberg, Karlsruhe, Mannheim, Stuttgart, Freiburg und Ulm sowie der Raum Tübingen/Reutlingen. Die Heterogenität und prinzipielle Organisationsfeindlichkeit dieser Szene ist mit ursächlich für mangelnde Schlagkraft und die insgesamt geringe Wirksamkeit ihrer politischen Aktivitäten. Das Hauptbetätigungsfeld der Autonomen stellt seit Jahren, neben dem Kampf um selbstbestimmte Lebensräume, der "Antifaschismus" dar, der sich häufig in reinem Aktionismus erschöpft. Ein relevanter Versuch, zu organisierten, zumindest aber koordinierten bundesweiten politischen Aktionen zu finden, war die "Antifa-Offensive 99". Ein weiteres Feld zur Ausübung autonomer Militanz, die "CASTOR"-Transporte, ist 1999 - bedingt durch den Transportstopp - vorläufig in den Hintergrund getreten. Bedroht sieht sich die Szene in Baden-Württemberg durch die befürchtete Schließung "autonomer Zentren". Während in Freiburg mit der Eröffnung des neuen KTS ("Kulturtreff in Selbstverwaltung") im Februar 1999 wieder ein fester Treffpunkt zur Verfügung steht, sorgt sich die Szene um den Fortbestand des "Autonomen Zentrums" (AZ) in Mannheim. In Heidelberg war das "Autonome Zentrum" nach Verhandlungen mit der Stadt freiwillig geräumt und das Gebäude Anfang 1999 abgerissen worden. Ein auch von den ehemaligen Bewohnern als geeignet angesehenes Ersatzobjekt wurde bislang nicht gefunden. Sie sahen sich durch "Lügen, Be90 schwichtigungsversuche und Hinhaltetaktik" der Stadt getäuscht und haben inzwischen ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben verbunden mit der Ankündigung, "dass wir solange keine Ruhe geben, bis es ein neues AZ in Heidelberg gibt"9. Mit dieser bislang unerfüllten Forderung wird Heidelberg auch künftig ein Schwerpunkt autonomer Militanz in Baden-Württemberg bleiben. So wurde in einer Taterklärung zu Sachbeschädigungen an mehreren Einrichtungen der Stadt Heidelberg in der Nacht zum 1. Dezember 1999 von "autonomen Gruppen" erklärt, "eine halbe Million für ein neues AZ im Bahnbetriebswerk werden der Stadt bald billig erscheinen im Vergleich zu den Kosten, die ihr ohne AZ entstehen werden! DER KAMPF GEHT WEITER - KEIN FRIEDE OHNE AZ!" 3.4 Aktionsfelder 3.4.1 Kosovokonflikt Die überaus kontroverse Auseinandersetzung mit dem Kosovokonflikt überlagerte seit dem Beginn der NATO-Militäreinsätze am 24. März 1999 sämtliche anderen linksextremistischen Agitationsfelder. Die Beteiligung Deutschlands war gerade auch für die linksextremistische Szene ein Ereignis von geradezu epochaler Bedeutung. Sie beschwor den Vergleich mit der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten im Jahr 1914 herauf, die schließlich zur Spaltung der SPD und in der weiteren Konsequenz zur Entstehung der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) geführt hat. Die historische Parallele, dass erneut Sozialdemokraten mit Militäreinsätzen verantwortlich in Verbindung zu bringen waren, schien die Mission von Linksextremisten nur zu unterstreichen, die Zeichen der Zeit in Richtung einer vermeintlich drohenden "faschistisch-militaristischen" Restauration in Deutschland zu erkennen und sich diesen Tendenzen entgegenzustellen. Mehr noch als die SPD stand dabei ihr Koalitionspartner in der Bundesregierung im Zentrum der Kritik. In der Taterklärung zu einem Anschlag auf die Geschäftsstelle von "Bündnis 90/Die Grünen" in Stuttgart in der Nacht zum 28. Mai 1999 machte die Gruppe "Antiimperialistischer Aufbruch" die Partei "als Teil der blutrot-olivgrünen Bundesregierung verantwortlich für die Beteiligung Deutschlands an der imperialisti- 9 Aufruf zur Demonstration am 30. April 1999 in Heidelberg 91 schen NATO-Aggression gegen die BR Jugoslawien und die Militarisierung der deutschen Politik". Führende Vertreter beider Parteien wurden öffentlich als "Mörder", "Kriegstreiber" oder "Kriegsverbrecher" beschimpft; ferner wurden "Steckbriefe" verbreitet, in denen Mitglieder der Bundesregierung wie gesuchte Gewalttäter "zur Fahndung ausgeschrieben" waren. Eine einheitliche Haltung gegenüber diesen Militäreinsätzen zu finden, erwies sich indes als unmöglich. Wegen der von Serbien als dem angegriffenen Staat ausgehenden Massenexekutionen, Vertreibungen und Deportationen, also massivsten Verstößen gegen die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht, waren sogar Teile der linksextremistischen Szene fast geneigt, vor diesem Hintergrund das Eingreifen der NATO für gerechtfertigt zu halten. Allerdings ist dies aus Sicht kompromissloser "Antiimperialisten" in jedem Falle zu verurteilen, da "imperialistische" Staaten - aus denen sich die NATO angeblich zusammensetzt - nach der Lehre Lenins prinzipiell "ungerechte" Kriege führen. Vermeintlich faschistoide Tendenzen und "nationalistische" Zielsetzungen sowohl bei den Serben wie bei der albanischen "Befreiungsarmee" UCK verboten für viele Linksextremisten wiederum eine einseitige Solidarisierung mit einer der Kriegsparteien. Die Ausländerund Asylproblematik lieferte in diesem speziellen Zusammenhang zusätzliche Argumente, um die "Verlogenheit" der deutschen Politiker zu "entlarven", die angeblich zur Verteidigung der Menschenrechte Krieg führten, hingegen im eigenen Land mit Abschiebungen und Ausweisungen selbst laufend gegen dieses Prinzip verstießen. Organisationen und Gruppierungen des gesamten linksextremistischen Spektrums protestierten in unterschiedlich zusammengesetzten Bündnissen mit zahlreichen Mahnwachen, Infoständen, Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg und die deutsche Beteiligung. Auch die Ostermärsche sowie die traditionellen "1.MaiDemos" standen völlig im Zeichen des Kosovokonflikts. Eine "gewaltfreie Blockade" der Kaserne des "Kommandos Spezialkräfte" (KSK) in Calw am 19. Mai 1999 zählte ebenso zu den Anti-Kriegs-Aktionen wie die Störung des "Feierlichen Gelöbnisses" und des Zapfenstreichs in Horb am 21. Mai bzw. 23. Juli 1999. Die Einleitung von Ermittlungsverfahren bzw. Strafanzeigen hielt führende Aktivisten nicht davon ab, wiederholt öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung bzw. zur Desertion aufzurufen. 92 Nicht zuletzt an den unterschiedlichen Positionen der Linksextremisten gegenüber dem Kosovo-Konflikt scheiterten Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der "Friedensbewegung". Auch in der nicht extremistischen Bevölkerung war die Haltung zum NATO-Einsatz im Kosovo nicht einheitlich. Daher waren auch die Mobilisierungsbemühungen wenig erfolgreich, was sich bei der Vielzahl von Veranstaltungen in einer eher mäßigen Beteiligung niederschlug. Deshalb war Versuchen, das Thema auch nach Beendigung der Kampfhandlungen weiter "am Leben zu erhalten", z. B. durch die bundesweite Antikriegsdemonstration in Heidelberg am 10. Juli 1999, nur wenig Erfolg beschieden. 3.4.2 "Antifaschismus" Das Thema "Antifaschismus" ist nach wie vor geeignet, Bündnispolitik zu praktizieren und bis hinein ins bürgerlich-demokratische Lager politische Wirksamkeit zu entfalten. So beteiligten sich beispielsweise in Karlsruhe in der Zeit vom 6. - 26. März 1999 auch Jugendorganisationen aus dem demokratischen Spektrum ohne erkennbare Vorbehalte an einer Serie von Veranstaltungen im Rahmen so genannter Antifaschistischer Widerstandswochen trotz eindeutiger und offen linksextremistischer Ausrichtung. Eine vergleichbare Veranstaltungsreihe lief im Kreis Ludwigsburg unter dem Titel "Antifaschismus ist kein Fasching. Normalität im gesellschaftlichen Alltag". Verantwortlich zeichnete ein "Antifaschistisches Netzwerk in Ludwigsburg" aus linksalternativen und linksextremistisch beeinflussten Gruppen bis hin zu autonomen und Antifa-Kreisen; aber auch die "Kreis-SchülerInnen-SMV" gehörte dazu. Darüber hinaus wurde die Veranstaltungsreihe von örtlichen Gewerkschaftsgliederungen unterstützt bzw. mitgetragen. Was unter linksextremistischem "Antifaschismus" zu verstehen ist, beschreibt exemplarisch ein Flugblatt der "Antifaschistischen Aktion Heidenheim": "Revolutionärer, antifaschistischer Kampf muss sich immer auch gegen die gesellschaftlichen Bedingungen wenden, aus denen heraus faschistische Bewegungen entstehen: Das kapitalistische Konkurrenzprinzip, das Menschen nur nach ihrer 93 Verwertbarkeit beurteilt und dem Profit als oberstes Prinzip gilt ... Eine antifaschistische, freie Gesellschaft kann nur entstehen, wenn das System mit all seinen Übeln gekippt wird. Denn für alles reaktionäre gilt, dass es nicht fällt, wenn es nicht niedergerissen wird!" (Fehler im Original) Im Mittelpunkt stand 1999 erneut der Kampf gegen "Neofaschisten". Unter der bekannten Losung "Kein Fußbreit den Faschisten" ging es wiederum um die Beoder Verhinderung öffentlicher Auftritte rechtsextremistischer Parteien und ihrer Anhänger, so z. B. bei den Demonstrationen gegen NPD-Aufmärsche am 20. März und 24. Mai 1999 in Bruchsal oder der - gewalttätig verlaufenen - Gegendemonstration zur JN-Kundgebung in Mannheim am 27. März 1999, aber auch gegen Burschenschaften, die von "Antifaschisten" zu den neofaschistischen Organisationen gezählt werden. Stärker akzentuiert als im Vorjahr war 1999 das gewaltsame Vorgehen gegen "NaziLäden", z. B. in Stuttgart, Reutlingen oder Heidenheim, bei dem es teilweise zu erheblichen Sachbeschädigungen kam. Die Militaria-Läden, die angeblich "rechte Propagandaartikel aller Art" verkaufen, sollten durch den massiven Druck zur Geschäftsaufgabe oder Aussonderung des einschlägigen Sortiments gezwungen werden. Neben dem weiterhin praktizierten Ausspionieren des "rechten" politischen Gegners sowie "Outing-Aktionen" fanden öffentliche Informationsveranstaltungen statt. So startete das "Antifaschistische Aktionsbündnis Rhein-Neckar" 1999 zum wiederholten Male eine "Antifa-Mobil-Tour", um über "neofaschistische" Machenschaften aufzuklären. Zum praktizierten "Antifaschismus" gehörten auch durchaus handgreifliche Auseinandersetzungen im Rahmen der CDU-Kampagne gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Neben Sachbeschädigungen und Störaktionen zählte dabei eine "Spaßguerilla"-Aktion in Form einer "alternativen Unterschriftensammlung" zu den als Erfolg gefeierten Aktivitäten. 94 Das Bewusstsein, als "antifaschistische Bewegung" dem "rechten" politischen Gegner seit Jahren wenig phantasievoll und weitgehend reaktiv entgegenzutreten, hat schon seit längerem in der Szene die Frage nach alternativen Handlungsmöglichkeiten aufkommen lassen. Eine Reaktion auf die laufende Diskussion war die bundesweite Kampagne "Antifa Offensive 99 - den rechten Vormarsch stoppen!" durch die "Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation" (AA/BO). Dies ist ein Zusammenschluss autonomer Gruppen, zu denen aus Baden-Württemberg die "Antifaschistische Initiative Heidelberg" (AIHD) gehört. Im Rahmen dieser "Offensive" sollten während des ganzen Jahres bundesweit koordinierte Aktionen durchgeführt und damit der Zersplitterung der "antifaschistischen" Gruppierungen entgegengewirkt, die "antifaschistische Organisierung" vorangetrieben sowie durch selbstgewählte politische Akzentsetzung die eigene Handlungsfähigkeit zurückgewonnen werden. Ziel war es, "die Kräfte zu bündeln, um aus einer Position der Stärke heraus handeln zu können und gemeinsam dem rechten Vormarsch erfolgreiche Konzepte entgegenzusetzen"10. Zu der Kampagne gehörte u.a. ein "Antifaschistischer Aktionstag gegen Rassismus und Neonazis auf der Straße und beim Waldhof" am 26. September 1999 anlässlich des Fußballspiels SV Waldhof Mannheim gegen den FC St. Pauli. Nach dem Motto "Neonazis raus aus den Stadien" sollte nicht länger geduldet werden, dass sich "rassistische Schläger ungestört in der Fankurve tummeln und ihren Nachwuchs rekrutieren". Nur ein massives Polizeiaufgebot konnte eine gewalttätige Konfrontation zwischen "Linken" und den "rechten" Fußballfans verhindern. Höhepunkt und Abschluss sollte nach den Planungen im Rahmen der "Antifa Offensive 99" die Demonstration gegen die NPD-Bundesgeschäftsstelle, damals noch in Stuttgart, unter dem Motto "Den rechten Vormarsch stoppen! Weg mit der NPDZentrale!" am 9. Oktober 1999 sein. Bereits im Vorfeld war es zu zwei Anschlägen gegen das Gebäude gekommen. Allerdings blieb die Beteiligung unter den Erwartungen. 3.4.3 "Kurdensolidarität" Mit der Festnahme von Abdullah ÖCALAN am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia nach seiner monatelangen Irrfahrt quer durch Europa erlangte die Kurdistan10 "AHA! Zentralorgan für bösartige Propaganda", No. 9,5 vom Frühjahr 1999 95 Solidarität für deutsche Linksextremisten erneute Aktualität. Insbesondere die Art der Ergreifung des PKK-Vorsitzenden führte unter dem Zeichen des "Internationalismus" und der Solidarität mit "politischen Gefangenen" zunächst zu einem Schulterschluss mit der PKK und ihrem Vorsitzenden. Allerdings hatte die Haltung von ÖCALAN seit seiner Festnahme schon bald eine zunehmende Distanzierung der "linken" Szene zur Folge, die bereits in der Vergangenheit eine durchaus zwiespältige Haltung gegenüber der PKK eingenommen hatte. So hieß es etwa in der autonomen Stuttgarter Szenepublikation "AHA! Zentralorgan für bösartige Propaganda": "Oft genug hatten wir bei 'kurdischen' oder PKK-nahen Kundgebungen oder Demonstrationen einen säuerlichen Geschmack im Magen, der unsere Solidarität nicht unbedingt beflügelt hat - der 'Führerkult' um APO, hierarchische (Befehls-)Strukturen und 'nationalistische' Getöns." (Fehler im Original) Nicht nur das "Friedensangebot" von Abdullah ÖCALAN stieß bei deutschen Linksextremisten auf Widerspruch. Das "schwächliche" Auftreten des PKK-Vorsitzenden während des Gerichtsverfahrens Mitte des Jahres ließ die Stimmung in völlige Ablehnung umschlagen, wobei ÖCALAN selbst teilweise als "Verräter" bezeichnet wurde. Von daher blieben sowohl bei der Verhängung des Todesurteils als auch nach dessen Bestätigung im Revisionsverfahren spürbare Reaktionen von Seiten deutscher Linksextremisten aus. Lediglich die "Informationsstelle Kurdistan e.V." (ISKU) als Dachorganisation der Kurdistan-Solidaritäts-Gruppen organisierte im Rahmen der Kampagne "Freiheit für ÖCALAN - Für eine politische Lösung in Kurdistan" am 22. Oktober 1999 eine Busreise durch mehrere deutsche Städte, die am 1. November 1999 auch nach Ulm führte. Die u.a. von der "Kurdistan-Solidarität AllgäuOberschwaben" unterstützte Aktion bildete einen Versuch der Vermittlung und Werbung für den von der PKK verfolgten "Friedenskurs". 3.4.4 "Politische Gefangene" Mit ihrer Kampagne "Für die Freilassung der Gefangenen aus der RAF" versuchte die "Rote Hilfe e.V." (RH), das Schicksal der letzten noch inhaftierten RAF-Mitglieder 96 wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken und in einem weiteren Anlauf deren Freilassung zu forcieren. Dabei sollte der seit 1986 alljährlich durchgeführte, schon "traditionelle" bundesweite Aktionstag am 18. März 1999 über den nationalen Rahmen hinausweisen. Das Motto "Gegen das Europa der Repression und Ausgrenzung - Solidarität und Widerstand! Für die Freiheit der politischen Gefangenen" ließ neben der internationalistischen die antieuropäische Ausrichtung als neuen Schwerpunkt erkennen. Den Hintergrund bildeten ohne Zweifel die Kölner Gipfelkonferenzen (EUund Weltwirtschaftsgipfel), aber auch der Ausblick auf die so genannte "Internationale Konferenz für die Freiheit aller politischen Gefangenen weltweit!" unter dem Titel "Befriedung oder Befreiung? Perspektiven internationaler Solidarität" vom 1. - 5. April 1999 in Berlin. Dieses erste größere Treffen des "antiimperialistischen" Spektrums seit dem Kongress "Antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa" von 1986 in Frankfurt am Main traf mit ca. 400 Personen aus 26 Ländern, darunter auch Teilnehmern aus Baden-Württemberg, auf unerwartet starke Resonanz. Dabei wurde der Wille zu einer Verbesserung bzw. Intensivierung von internationalem Informationsaustausch und Zusammenarbeit deutlich, wenngleich konkrete Ergebnisse ausblieben. Eine weitere Großveranstaltung war der Bremer Kongress "Freiheit für alle politischen Gefangenen" vom 23. Oktober 1999. In Baden-Württemberg fand das Thema "politische Gefangene" nur wenig Widerhall. Lediglich in Ulm fand aus diesem Anlass am 20. März 1999 eine Kundgebung statt. An die Spitze der politischen Prioritätenskala rückte nach einem erneuten Aufschub der Hinrichtung des ehemaligen "Black Panther"-Mitglieds Mumia ABU-JAMAL die Forderung nach Wiederaufnahme des Verfahrens. Der 2. Dezember 1999 - der ursprünglich festgesetzte Hinrichtungstermin - wurde zum "internationalen Aktionstag" für ABU-JAMAL erklärt. Anlässlich des bundesweiten Aktionstags "Freiheit für Mumia ABU-JAMAL" am 24. April 1999 zu dessen Geburtstag kam es auch in Stuttgart und Karlsruhe zu Demonstrationen und Kundgebungen. An einer überregionalen Aktion in Kaiserslautern am 13. November 1999 nahmen auch Personen aus dem linksextremistischen und autonomen/"antiimperialistischen" Spektrum Baden-Württembergs teil. 97 4. Parteien und sonstige Organisationen 4.1 "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) Gründung: 1989/1990 Sitz: Berlin Mitglieder: ca. 380 Baden-Württemberg (1998: ca. 330) ca. 94.000 Bund (1998: ca. 96.500) Publikationen: "Disput" "PDS-Pressedienst" "PDS Landesinfo Baden-Württemberg" Die Teilnahme an Wahlen hat der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) 1999 einen Schub verliehen. Das Bild der Partei in Baden-Württemberg war indes weiterhin durch interne Auseinandersetzungen geprägt. An ihrer linksextremistischen, langfristig an Systemüberwindung orientierten Ausrichtung hat sich nichts geändert. Dies belegen nicht nur ihre Aktivitäten und Kontakte zu anderen linksextremistischen Organisationen, sondern auch die unverändert gültigen Aussagen des derzeitigen Parteiprogramms. Aus Sicht der PDS war 1999 ein überaus erfolgreiches Jahr, das die Partei optimistisch in die Zukunft blicken lässt. Bei der Europawahl vom Juni 1999 gelang es der Bundespartei erstmals, die 5 %-Hürde zu überspringen. Damit verbunden sein dürfte auf europäischer Ebene ein deutlicher Zugewinn an Ansehen und Attraktivität im "linken" Lager. Ein grundsätzlicher Aufwärtstrend bestätigte sich auch auf landespolitischer Ebene. Mit ihrer erstmaligen Beteiligung an Kommunalwahlen ist die badenwürttembergische PDS dem Ziel, ihren Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung und damit ihre Wahlchancen in der Zukunft weiter zu erhöhen, ein ganzes Stück näher gekommen. 98 Bei den Kommunalwahlen vom Oktober 1999 errang der Landesverband in Stuttgart, Heidelberg, Tübingen, Konstanz und Freiburg - somit in sämtlichen fünf Städten, in denen er Kandidaten nominiert hatte - ein Mandat. Mit dem besten Ergebnis von beachtlichen 6,8 % für die Listenverbindung "TüL/PDS" gelang es in Tübingen sogar, zwei Parteimitglieder in den Gemeinderat zu entsenden. Über die damit verbundene politische Aufwertung hinausgehend eröffnen diese Ergebnisse nunmehr der Partei die Chance, ihre erklärte politische Konzeption, über die Kommunalpolitik die Gesellschaft "von unten" verändern zu wollen, immerhin in einigen Städten Baden-Württembergs in der Praxis zu erproben. Das Verhältnis der PDS zu anderen linksextremistischen Organisationen wurde bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg deutlich. Die Bereitschaft, Kandidaten der DKP Listenplätze einzuräumen bzw. die örtliche Popularität von DKPFunktionären - wie im Falle Tübingens - zur Verbesserung der eigenen Wahlchancen zu nutzen, zeugt nicht nur von kontinuierlichen beiderseitigen Kontakten. Vielmehr sind maßgebliche Teile der Partei auch bereit, sich über den auf dem Schweriner Parteitag von 1997 gefassten Abgrenzungsbeschluss gegenüber der DKP hinwegzusetzen und sich damit in einen Gegensatz zum offiziellen bundespolitischen Kurs der Partei zu begeben. Während das Verhältnis zur DKP innerparteilich nach wie vor stark umstritten ist, lösen die Kontakte zu weiteren linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen offenbar keine vergleichbaren Diskussionen aus. In örtlichen und regionalen, anlassbezogenen oder längerfristigen Bündniskonstellationen engagierte sich die PDS im Verein mit Autonomen, linksextremistischen Antifagruppen, der "Roten Hilfe e.V.", der DKP, der VVN-BdA und anderen. In der Kurdenproblematik unterstützte die Partei u.a. die Forderung nach einer Aufhebung des PKK-Verbots und räumte aktiven deutschen Unterstützern der PKK ein öffentliches Podium ein, so z.B. auf einer Informationsveranstaltung der PDS-Basisorganisation in Konstanz am 26. Februar 1999. Solidarität mit dem in den USA von der Hinrichtung bedrohten farbigen Linksextremisten ABU-JAMAL zählte ebenso zu den politischen Aktivitäten der Partei wie die Beteiligung am Protest gegen öffentliche Auftritte von "Neonazis" und "Faschisten", die angeblich von der deutschen Polizei protegiert und der deutschen Justiz gefördert werden. Außerdem solidarisierte sich die PDS mit "Flüchtlingen und 99 MigrantInnen", die sich - wie es in einem Aufruf zu einer von der PDS unterstützten Demonstration heißt - einem zunehmenden Rassismus in Deutschland gegenüber sähen (gemeint ist dabei "sowohl der offene Rassismus der Neonazis als auch der institutionelle Rassismus von Behörden, Justiz und Parteien"). Schließlich unterstützte die PDS eine Demonstration mit der Forderung nach einem neuen "autonomen Zentrum" in Heidelberg am 30. April 1999, das Raum schaffen soll "für antifaschistische, revolutionäre, selbstverwaltete Politik und Kultur ohne städtische oder staatliche Kontrolle". Einen besonderen politischen Schwerpunkt bildete für die PDS der Kosovokrieg. Ihn nutzte die Partei zur gezielten Eigenprofilierung als einzige im Bundestag vertretene konsequente "Antikriegspartei". Dabei forderte z.B. die PDS Bruchsal gemeinsam mit der "Autonomen Antifa Bruchsal" in einem Flugblatt "Nein zum Krieg!" u.a. "Entmilitarisierung, Auflösung von NATO, WEU und Bundeswehr, Kampf dem (imperialistischen) Krieg". Die Verbindungen zu anderen linksextremistischen Kräften werden in erster Linie vom derzeit dominierenden "radikalen" Flügel der PDS gestützt. Die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der badenwürttembergischen PDS hielten indes auch 1999 an. Die Richtungskämpfe reichten von einer spannungsreichen Zusammenarbeit im Landesvorstand bis hinunter auf die örtliche Ebene. Dort dokumentieren sich die parteiinternen Querelen, die von politisch-ideologischen bis hin zu persönlichen Auseinandersetzungen reichen, in der Existenz konkurrierender Basisorganisationen, so z.B. in Freiburg und Karlsruhe. Trotz der in der Neuwahl des Landesvorstands Ende November 1999 deutlich gewordenen Intention, neue Gesichter zu präsentieren, ist der Einfluss der BWK/VSPFraktion11 unverändert groß. Wirkliche Handlungsfähigkeit wird die Partei im Land vermutlich erst dann erlangen, wenn der Streit zwischen den weiterhin in stalinistischen Traditionen verhafteten Kräften und den "Reformern", die darauf abzielen, "auf Gegebenheiten des dritten Jahrtausends mit angepassten sozialistischen Strategien zu reagieren, ohne ihre Grundideen zu verraten", entschieden ist. 11 Diese setzt sich zusammen aus ehemaligen Mitgliedern des früheren "Bundes Westdeutscher Kommunisten" (BWK) und der "Vereinigung für Sozialistische Politik" (VSP). 100 Festzuhalten bleibt jedoch, dass die zwischen "Hardlinern" und "Reformern" ausgetragenen Kontroversen nicht etwa Auseinandersetzungen zwischen Extremisten und Demokraten darstellen. Sie sind lediglich Differenzen über Wege und Methoden zur Erreichung eines gemeinsamen, gegen die bestehende politisch-gesellschaftliche Ordnung in Deutschland gerichteten Ziels, wie es in dem derzeit aktuellen und auch für den Landesverband Baden-Württemberg gültigen Bundesparteiprogramm formuliert wird. Darin erklärt sich die PDS bereit, "politische Verantwortung für radikale gesellschaftliche ... Veränderungen zu übernehmen". Sie setzt sich erklärtermaßen dafür ein, "dass die Bewegungen Betroffener zu wirksamen Gegenmächten gegen Kapital, Markt und Staat werden, die grundlegende Veränderungen in der Produktionsund Lebensweise durchsetzen" können. Die Partei wendet sich deshalb gerade an jene, "die den Willen haben, zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen beizutragen". Ausdrücklich heißt es deshalb: "In der PDS haben sowohl Menschen einen Platz, die der kapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegensetzen wollen und die gegebenen Verhältnisse fundamental ablehnen, als auch jene, die ihren Widerstand damit verbinden, die gegebenen Verhältnisse positiv zu verändern und schrittweise zu 12 überwinden." Die PDS im Land ist wegen ihrer fortgesetzten internen Streitigkeiten unverändert wenig attraktiv. Trotzdem ist es der Partei vor allem im Zuge vorausgegangener Wahlkämpfe gelungen, ihren Mitgliederbestand in Baden-Württemberg von 330 im Jahre 1998 auf ca. 380 Personen zu erhöhen. Der organisatorische Aufbau schreitet hingegen nur langsam voran. Die Partei selbst benennt inzwischen über 20 Basisorganisationen. Neben vier Neugründungen in 1999 kündigen sich weitere Zuwächse an. Aus Stuttgart und Karlsruhe kommen Anstöße zur Bildung von Kreisverbänden. Trotz nach wie vor dünner Personaldecke verfügt die Partei in Baden-Württemberg im Vergleich zu anderen Landesverbänden über durchaus funktionsfähige Strukturen gerade in Bereichen, über die neues Potenzial gewonnen werden soll: Die Zusammenfassung bisheriger örtlicher Strukturen der "AG Junge GenossInnen in und bei 12 Programm der "Partei des Demokratischen Sozialismus" vom Januar 1993, herausgegeben von Dietmar BARTSCH, Bundesgeschäftsführer der PDS, Berlin 1998, S. 25. 101 der PDS" (AGJG) durch die Gründung eines Landesverbands stellt bundesweit eine Sonderentwicklung dar. Der neu gegründete Landesverband steht dem bundesweiten sozialistischen Jugendverband "solid", dessen Gründung im Juni 1999 in Baden-Württemberg keineswegs auf ungeteilte Zustimmung gestoßen war, eher kritisch-solidarisch gegenüber. Zu den weiteren mehr oder weniger aktiven AG im Land gehört neben der "AG Antifa" oder der "AG gegen Repression" die "Kommunistische AG". Die Wahlresultate von 1999 haben das Selbstbewusstsein der PDS auf Bundesund Landesebene ebenso gestärkt wie die daraus resultierende Entschlossenheit, anknüpfend an diese Erfolge den Aufbau der Partei im Westen nun bewusst voranzutreiben. Eine eventuelle Beteiligung an den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Jahre 2001 wird im Landesverband bereits thematisiert. Vor diesem Hintergrund bilden der Aufbau einer flächendeckenden Präsenz im Lande und die Formulierung eines schon lange ausstehenden Landesparteiprogramms die vordringlichen Aufgaben des Landesverbands für die Zukunft. 4.2 "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) Gründung: 1968 Sitz: Essen Mitglieder: ca. 500 Baden-Württemberg (1998: ca. 500) mehr als 5.000 Bund (1998: ca. 6.500) Publikation: "Unsere Zeit" (UZ) Die mit den Wahlen des Jahres 1999 verbundenen Chancen zur eigenen Profilierung vermochte die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) nur in sehr begrenztem Maße zu nutzen: Anlässlich der Europawahlen vom Juni 1999 hatte sie auf das Aufstellen einer eigenen Liste in Baden-Württemberg verzichtet und sich nach einer Wahlempfehlung des Parteivorstands zugunsten der PDS lediglich mit einem aussichtslosen 12. Platz auf der PDS-Landesliste beteiligt. An der Kommunalwahl in 102 Baden-Württemberg vom 24. Oktober 1999 beteiligte sich die DKP in fünf Städten mit eigenen Kandidaten, davon lediglich in Mannheim und Heidenheim mit einer eigenen offenen Liste. Ansonsten kandidierten DKP-Mitglieder auf einer gemeinsamen Liste mit der PDS (Tübingen), auf einer offenen PDS-Liste (Stuttgart) oder anderen linksextremistisch beeinflussten Listen (Freiburg, Stuttgart). Das Ergebnis erbrachte drei Gemeinderatsmandate (Tübingen, Heidenheim und Freiburg) und einen Wiedereinzug in den Tübinger Kreistag. Damit konnte die DKP das Ergebnis früherer Jahre nur knapp behaupten. Diese nur vereinzelten Kandidaturen selbst auf kommunalpolitischer Ebene, wo die Partei durch den örtlichen Bekanntheitsgrad ihrer Kandidaten weiterhin einen gewissen Vorsprung gegenüber politischen Konkurrenten aus dem linksextremistischen Lager besitzt, belegen den nur noch geringen Grad an politischer Handlungsfähigkeit. Die eigene Entwicklung gab der DKP tatsächlich kaum Anlass zu Optimismus. Das UZ-Pressefest vom 27. - 29. August 1999 in Dortmund wurde zwar als großer Erfolg gefeiert, bei dem angeblich auch neue Mitglieder und Abonnenten gewonnen werden konnten, jedoch ist die Finanzmisere geblieben; die wöchentliche Herausgabe des Parteiorgans "Unsere Zeit" (UZ) erfordert weiterhin große Anstrengungen. Die begonnene Ausgabe von neuen Mitgliedsbüchern dürfte dazu beitragen, der Partei einen realistischen Überblick über die eigene Stärke zu verschaffen. Wesentlich für die künftigen Entwicklungsperspektiven der DKP ist die unverminderte Notwendigkeit, neue Mitglieder zu gewinnen und durch Abonnentenwerbung den Fortbestand des Parteiorgans zu sichern. Im Vorfeld des Mitte 2000 anstehenden Parteitags dürfte zu den zentralen Aufgaben auch die Klärung ihrer politisch-ideologischen Grundlagen zählen. Eine Schlüsselrolle spielt das unverändert zwiespältig gebliebene Verhältnis zur PDS, die zu einer ernsthaften und selbstbewussten Konkurrenz herangewachsen ist. Der Wille zur Zusammenarbeit mit der PDS ist in Baden-Württemberg - bedingt z.T. auch durch persönliche Animositäten - regional unterschiedlich ausgeprägt, im Ganzen jedoch unverkennbar. In der PDS gibt es allerdings auch Stimmen, die die DKP immer offener als ein "Auslaufmodell" bezeichnen und ihr sogar die Selbstauflösung nahe legen. 103 Obwohl die Nachwuchswerbung bei der DKP zu den immer drängenderen Aufgaben zählt, gelingt es ihrer Jugendorganisation "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) weiterhin nur in geringem Umfang, neue Mitglieder zu gewinnen. Vom 21. - 24. Mai 1999 führte sie ihr Pfingstcamp auf der Güssenburg bei Giengen a.d.Brenz/Krs. Heidenheim durch. Auch die wenigen Aktivitäten der örtlichen Gruppierungen waren offenbar kaum geeignet, ihre Attraktivität für neue Interessenten zu erhöhen. Die "Roten Peperoni" als Kinderorganisation der DKP (früher: "Junge Pioniere") veranstalteten auch 1999 ihre alljährlichen Ferienlager. Ansonsten blieb ihre Öffentlichkeitswirksamkeit unverändert gering. 4.3 "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) Gründung: 1947 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 1.600 Baden-Württemberg (1998: ca. 1.600) ca. 6.200 Bund (1998: ca. 6.500) Publikationen: "Antifa Nachrichten" (Baden-Württemberg) "antifa-rundschau" (Bund) Das seit Jahren schillernde Erscheinungsbild der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) hat sich auch 1999 nicht gewandelt. Auf der einen Seite versucht die Vereinigung - teilweise durchaus erfolgreich - sich im demokratischen Lager ein positives Image als führende Organisation des "Antifaschismus" zu verschaffen, auf der anderen Seite sind jedoch bisher keinerlei Anzeichen einer Distanzierung gegenüber linksextremistischen Kräften sichtbar geworden. Stattdessen bekennt sich die Bundesorganisation 104 ausdrücklich und öffentlich dazu, außer mit demokratischen Kräften "selbstverständlich" auch mit Kommunisten zusammenzuarbeiten13. Die von der VVN-BdA aufgegriffenen Themen wie "Neofaschismus und Rechtsentwicklung", "Frieden" oder - 1999 verstärkt - das Engagement "gegen die Profiteure des NS-Regimes" sowie für die Zwangsarbeiterentschädigung dürften durchaus geeignet sein, auch weiterhin politisch Engagierte für eine Mitarbeit zu gewinnen, denen eine linksextremistische Motivation nicht unterstellt werden darf. Ihrem Selbstverständnis als "Bündnis im Bündnis" entsprechend strebt die VVN-BdA ausdrücklich einen internen Kräftepluralismus im gemeinsamen Kampf gegen "Neofaschismus" und "Rechtsentwicklung" an. Die Rolle nicht extremistischer Mitglieder sollte daher nicht überschätzt werden, zumal die Organisation - eben bei der "selbstverständlichen" Einbeziehung von Kommunisten - unverändert kommunistische Bündnispolitik praktiziert. Diese zielt darauf ab, bis hinein ins "bürgerlich-demokratische" Lager ein breites Spektrum an Mitstreitern anzusprechen für politische Sachthemen, die nicht unbedingt auf Anhieb einen linksextremistischen Hintergrund erkennen lassen. In solchen Bündnisaktivitäten gehörten 1999 neben dem Hauptagitationsfeld "Antifaschismus" beispielsweise die Beteiligung zusammen mit anderen linksextremistischen und linksalternativen Kräften an der Kampagne für die Freilassung von ABU14 JAMAL , den sie schon 1998 zu ihrem "Ehrenmitglied" ernannt hatte, oder die Unterstützung der Forderung nach einem "Autonomen Zentrum" in Heidelberg, in dem es - wie es in einem von der VVN-BdA unterstützten Demonstrationsaufruf hieß - "Raum gibt für antifaschistische, revolutionäre, selbstverwaltete Politik und Kultur 15 ohne städtische oder staatliche Kontrolle!" Auch die "Antifa Nachrichten", das Organ des baden-württembergischen Landesverbands, unterstützt nicht gerade das angestrebte staatstragende Erscheinungsbild der VVN-BdA. Im Zusammenhang mit dem Kosovokonflikt wurde gegen Bundesregierung, Bundeswehr, NATO und die USA polemisiert. Angebliche faschistische Kontinuität suggerierte etwa die Darstellung Deutschlands als "Kriegstreiber" in einer Linie vom Ersten Weltkrieg über das "Dritte Reich", den Zweiten Weltkrieg bis zur Beteiligung am militärischen Einsatz im Kosovo. So hieß es: 13 "antifa-rundschau", Nr. 39 vom Juli-September 1999 14 vgl. auch S. 81, 90, 98 u. 100 15 Flugblattaufruf zur Demonstration am 30. April 1999 in Heidelberg 105 "Vom deutschen Boden geht wieder Krieg aus. Zum dritten Mal in diesem Jahrhundert überfielen deutsche Soldaten völkerrechtswidrig Jugoslawien. Damit sind die Warnungen vor einer erneuten Militarisierung deutscher Außenpolitik, die wir Antifaschisten seit Jahren gemeinsam mit der Friedensbewegung vorgebracht haben, Wirklichkeit geworden. Die Kriegsbeteiligung Deutschlands ist auch Ausdruck einer national gesinnten Gewaltbereitschaft, die sich im Innern der deutschen Gesellschaft gegen Flüchtlinge und Minderheiten 16 richtet." Als eigentliche Motivation des Balkankriegs wurde die Sicherung von Einflusssphären durch die USA und - in Konkurrenz dazu - die Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf eine Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen unterstellt. Mit der Behauptung, dass angeblich nahezu sämtliche politischen Akteure in Deutschland "quasi wie ein Mann zum Krieg" stünden, wurden Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und explizit die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland in Zweifel gezogen, da alle Klagen gegen die Kriegsführung erfolglos gewesen seien, die Justiz jedoch "stattdessen reihenweise KriegsgegnerInnen" verfolgt habe. Letztendlich gehe es um ein umfassendes Konzept, um "die Durchsetzung der deutschen Staatsräson: Die Herausbildung Deutschlands zur europäischen Hegemonialmacht, für die Kriegsfähigkeit und ggf. Krieg als unverzichtbar gelten."17 In den selben Kontext einzuordnen ist die Interpretation von öffentlichen Bundeswehr-Gelöbnissen als Instrument zur "Faschisierung" der Gesellschaft und als "letztlich kriegsvorbereitende Maßnahmen". Das Bild vom "imperialistischen" und immanent bzw. latent "faschistischen" deutschen Staat wird komplettiert durch Betrachtungen über "Funktion und Einfluss des Neofaschismus in der BRD". Demzufolge hat der angeblich staatlicherseits verharmloste ("deutsche Neofaschisten sind oftmals scheinbar eine mehrere tausendköpfige Masse von 'Einzeltätern' ") und protegierte ("Wie schon so oft: Deutsche Polizisten schützen die Faschisten!") "Neofaschismus" neben weiteren Aufgaben eine "langfristige ideologische Umorientierungsfunktion". 16 "Antifa Nachrichten", Nr. 2 vom April 1999 17 "Antifa Nachrichten", Nr. 4 vom Oktober 1999 106 Dies diene als Ergänzung zu einer geistig-moralischen Wende, die "nichts anderes" sei "als der Rückgriff auf überkommene 'deutsche' Werte und Traditionen, die schon in der Vergangenheit mitverantwortlich waren für die faschistische Terrorherrschaft 18 und ihre Vorbereitung" 4.4 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Gründung: 1982 Sitz: Gelsenkirchen Mitglieder: ca. 700 Baden-Württemberg (1998: ca. 700) ca. 2.000 Bund (1998: ca. 2.500) Publikationen: "Rote Fahne" (RF) "Lernen und Kämpfen" (LuK) "Rebell" Nahezu sämtliche Aktivitäten der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" (MLPD) standen unter dem Zeichen der Vorbereitung des VI. Parteitags vom Dezember 1999, dessen Veranstaltungsort wie bisher sorgfältig geheim gehalten wurde. Hierzu zählten über Monate hinweg durchgeführte "öffentliche" Diskussionsveranstaltungen, auf denen der Entwurf des Rechenschaftsberichts des Zentralkomitees und das Konzept eines neuen Parteiprogramms, das die Parteiführung Anfang 1999 vorgelegt hatte, erörtert wurden. Überragende Bedeutung für die Partei erlangte allerdings für Wochen der Kosovokonflikt. Das aus der deutschen Beteiligung am NATO-Einsatz resultierende Agitationsfeld war Anlass, ungewöhnlich aktiv öffentlich in Erscheinung zu treten. Dazu gehörten neben regelmäßigen Veranstaltungen wie den wöchentlichen "DienstagsDemonstrationen" im Rahmen einer bundesweiten MLPD-Kampagne eine Vielzahl von Mahnwachen und Infoständen - begleitet von zahlreichen Presseerklärungen. Damit versuchte die Partei, einen "aktiven Widerstand" der Massen gegen den "im18 "Antifa Nachrichten", Nr. 4 vom Oktober 1999 107 perialistischen NATO-Krieg" zu initiieren und - allerdings vergeblich - die Chance "zur größten Destabilisierung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutsch19 land seit dem II. Weltkrieg" zu nutzen. Zu den herausragenden Aktivitäten der Partei gehörte außerdem das "9. Internationale Pfingstjugendtreffen" vom 22./23. Mai 1999 in Gelsenkirchen. Dass die MLPD nur in Gelsenkirchen und Albstadt zu den Kommunalwahlen kandidierte, wurde mit der Konzentration auf den bevorstehenden Parteitag begründet. Die deutlich geringere Wahlbeteiligung im Vergleich zu den Vorjahren wertete die MLPD als Indiz für "die Distanz eines wachsenden Teils der Massen zum bürgerli20 chen Parlamentarismus, den bürgerlichen Parteien und Institutionen" . Demgegenüber bezeichnete sie ihre zwei eigenen Mandatsgewinne und dabei vor allem den Erfolg der Liste "Zukunftsorientiert - Unabhängig - Gemeinsam" (ZUG) in Albstadt als "bewusste Zuwendung einer wachsenden Minderheit zur kämpferischen Opposition"21. Andernorts hatte die Partei unterschiedliche Wahlempfehlungen abgegeben oder - wie in Stuttgart - dazu aufgerufen, ungültig zu stimmen, um damit "die bewusste Ablehnung dieses bürgerlich-parlamentarischen Betrugs zum Ausdruck zu bringen"22. Im Zuge des Kampfs für "den echten Sozialismus" blieb die unveränderte Zielsetzung der "Aufbau und die Stärkung einer kämpferischen Opposition", als deren Voraussetzung die Entwicklung der Partei zur Massenorganisation gilt. Dabei setzte sie einen klaren Schwerpunkt bei der Werbung neuer Mitglieder sowie von Dauerspendern zur Verbesserung ihrer angespannten Finanzlage. Dessen ungeachtet verfügt die Partei seit dem 1. Dezember 1999 in Stuttgart über ein "Arbeiterbildungszentrum" für den süddeutschen Raum. Dies soll insbesondere Jugendlichen Raum bieten und die "arbeitenden Menschen" zu einer "solidarische(n) Auseinandersetzung und eine(r) kämpferische(n) Opposition zu diesem Gesellschaftssystem"23 befähigen. In dem Objekt soll auch der neue Sitz der Kreisleitung untergebracht werden. 19 "Rote Fahne", Nr. 16 vom 23. April 1999, S. 7 20 "Rote Fahne", Nr. 43 vom 29. Oktober 1999, S. 15 21 "Rote Fahne", Nr. 44 vom 5. November 1999, S. 13 22 "Tatsach'", Stuttgarter Stadtzeitung der MLPD, Nr. 3/99 vom 21. Oktober 1999 23 "Rote Fahne", Nr. 46 vom 19. November 1999, S. 17 108 Die Vorfeldund Nebenorganisation "Solidarität International" (SI) engagierte sich im Rahmen ihrer internationalistischen Ausrichtung weiterhin u.a. auf den Politikfeldern Asyl/Abschiebestopp. 4.5 "Rote Hilfe e.V." (RH) Gründung: 1974 Sitz: Kiel Mitglieder: ca. 200 Baden-Württemberg (1998: ca. 180) ca. 3.500 Bund (1998: ca. 3.000) Publikation: "DIE ROTE HILFE" Die "Rote Hilfe e.V." (RH) gehörte auch 1999 zu den wenigen linksextremistischen Organisationen, deren Werbung um Mitglieder ("Kampagne 5000 plus X") erfolgreich war. Die Organisation nimmt mittlerweile eine anerkannte Stellung im Rahmen der linksextremistischen "Antirepressionsarbeit" ein. Als "linke Schutzund Solidaritätsorganisation" unterstützt sie "politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum" durch vielfältige praktische und finanzielle Hilfe. Zu den Aktivitäten der RH gehören "z.B. das Eintreten für die Ziele der ArbeiterInnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr". Ferner zählt dazu die Solidarität mit dem "kurdischen Befreiungskampf" und "verfolgten Kurdinnen und Kurden in der BRD"24 sowie den "Flüchtlingen innerhalb und außerhalb der Festung Europa". Außerdem unterstützt sie die Kampagne für ABU-JAMAL und tritt für die "politischen Gefangenen"25 oder von Repression, d.h. staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen, betroffene "Antifaschisten" ein. Im Jahr 1999 gab der Bundesvorstand vor dem Hintergrund des Kosovokriegs ausdrücklich bekannt, dass die Organisation im Rahmen ihrer Mög24 Flugblatt "Kampagne 5000 plus X. Werde auch du Mitglied der Roten Hilfe!" vom März 1999 25 Flugblatt zum bundesweiten Aktionstag am 18. März 1999 109 lichkeiten nach Kräften "jede Person" unterstütze, "die Handlungen mit dem Ziel vornimmt, die Aggressionen zu beenden oder zu behindern und dafür vom deutschen 26 Staat strafrechtlich verfolgt" werde. Neben der Beteiligung an dem am 18. März 1999 durchgeführten bundesweiten Aktionstag "Freiheit für alle politischen Gefangenen" stellte die RH im Laufe des Jahres 1999 das Konzept für ihre Kampagne "Für die Freilassung der Gefangenen aus der RAF" vor. Dem RH-Sprachrohr "DIE ROTE HILFE", Nr. 3/99 vom Juli - September 1999, zufolge ist es das Ziel, "mit möglichst vielen Menschen, Gruppen und Organisationen aus den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Spektren die Freilassung der Gefangenen aus der RAF zu erreichen". Um eine entsprechende Breitenwirkung innerhalb der "Linken" zu erzielen, sollten mit Hilfe eines "Dreisäulenkonzepts", d.h. einer "politischen, einer juristischen und einer humanitären" Schiene, unterschiedliche Argumentationsstränge aufgebaut werden. Dazu gehört auch eine schon 1998 als eigenes Projekt initiierte bundesweite Spendenkampagne der Ortsgruppe Heidelberg. 4.6 Sonstige Organisationen Von den kleineren revolutionär-marxistischen Organisationen sind nur wenige erwähnenswert. Das ohne Untergliederungen weiterhin fortbestehende "Forum Kommunistischer Arbeitsgemeinschaften" - der ehemalige "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK) - beschränkte seine Tätigkeit wiederum im Wesentlichen auf die Durchführung der alljährlichen Frühjahrsund Herbsttagungen. Die Mitglieder der früheren Landesverbände konzentrierten ihre Aktivitäten weiterhin auf die PDS. Auch im baden-württembergischen Landesverband der PDS tritt eine "Kommunistische Arbeitsgemeinschaft" in Erscheinung. Die "Vereinigung für Sozialistische Politik" (VSP), die den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit ebenfalls seit Jahren auf ein erfolgreiches Wirken in der PDS legt, hat 26 Flugblatt "Unterstützung von Antikriegs'straftaten' ", 1999 110 offen eingeräumt, dass der Fortbestand ihres Zentralorgans "Sozialistische Zeitung" (SoZ) nicht mehr gesichert sei. Gleichzeitig betonte sie jedoch, "weiterhin als Einigungsprojekt der sozialistischen Linken tätig sein (zu) wollen". Sie hofft, insbesondere mit Hilfe großzügiger Spenden ihre gegenwärtige Schwächephase überwinden zu können. Trotzkistische Gruppen Trotzkistische Gruppierungen sind 1999 - ungeachtet der für sie typischen fortlaufenden Spaltungsund Neugründungstendenzen - im Rahmen der Großdemonstration der "Europäischen Märsche gegen Arbeitslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Rassismus und Krieg" am 29. Mai 1999 anlässlich des Kölner EU-und Weltwirtschaftsgipfels in seltener Einmütigkeit in Erscheinung getreten. An den baden-württembergischen Kommunalwahlen beteiligte sich auch die "Sozialistische Alternative Voran" (SAV). Die von ihr maßgeblich beeinflusste "Internationale Demokratische Liste" (IDL), die ausschließlich in Stuttgart in Konkurrenz zur PDS antrat, erreichte lediglich 0,3 % der Stimmen. Politisch weitgehend unauffällig war die "Partei für Soziale Gleichheit" (PSG), der frühere "Bund Sozialistischer Arbeiter", nachdem sie noch 1998 durch ihre Kandidatur zur Bundestagswahl auf sich aufmerksam gemacht hatte. Dagegen ist die "Sozialistische Arbeitergruppe" (SAG) außer in Konstanz besonders in Freiburg aufgetreten, allerdings unter der Bezeichnung des von ihr gegründeten "Linksruck-Netzwerks". Kaum hervorgetreten sind wiederum der aus der VSP hervorgegangene "Revolutionär-Sozialistische Bund/IV. Internationale" (RSB) sowie die von der SAG abgespaltene "Internationale Sozialistische Organisation" (ISO). 5. Nutzung moderner Informationstechnik durch Linksextremisten Mailboxverbundsysteme wie das "CL-Netz" (Computernetzwerk Linksysteme) werden durch Linksextremisten zwar ebenfalls genutzt, jedoch gewinnt das weltweite Kommunikationssystem Internet auch in diesem Bereich als Propagandaund Kom111 munikationsmedium immer mehr an Bedeutung. Linksextremistische Gruppierungen in Baden-Württemberg verfügen über zahlreiche regionalspezifische Angebote. Projekte im Internet Die Projekte "PARTISAN.net" (Projekte Archive Radikaler Theorie Info System Alternativer Nachrichten) und "NADIR" (überregional) publizieren im Internet eine Vielzahl von aktuellen szenespezifischen und historischen Beiträgen sowie bundesweite aktuelle Veranstaltungstermine. Daneben verfügen sie über umfangreiche Archive mit Recherchemöglichkeiten. Über "Links" sind weitere bundesweite und regionale Projekte zugänglich. Darüber hinaus sind über die Domain von "NADIR" inzwischen mehr als 40 weitere regionale und überregionale Angebote von Gruppen, Initiativen und Periodika aus dem Bundesgebiet, u.a. auch "AQuadrat Online" in Stuttgart, angeschlossen. Die exklusiv über "PARTISAN.net" erscheinende Publikation ,,trend - online zeitung für die alltägliche Wut" hat sich aufgrund ihrer kontinuierlichen Aktualisierungen zur wichtigsten deutschsprachigen "linken" Publikation im Internet entwickelt. PDS In Baden-Württemberg werden von Unterorganisationen der PDS insgesamt 8 regionale Websites angeboten, darunter von der PDS-Basisorganisation SchwarzwaldBaar/Heuberg, der "AG Junge GenossInnen" (AGJG) Donaueschingen sowie der formal unabhängigen "Antifaschistischen Aktion SchwarzwaldBaar/Heuberg", die vom selben Verantwortlichen betrieben werden. Sie bieten für die gesamte regionale "Antifa"-Szene Anlaufadressen und Veranstaltungshinweise an. Außerdem sind die AGJG-Baden-Württemberg, die PDS-Hochschulgruppen Heidelberg, Tübingen und Freiburg sowie die regionalen PDS-Gruppen in Karlsruhe und Freiburg mit eigener Website vertreten. Antifa-Zusammenschlüsse Auf der aus Baden-Württemberg angebotenen Website "Die Linke Seite" findet sich ein umfangreiches Angebot von "Links", z.B. zum Thema "Antifa". Neben Informationen und Texten über "Politische Gefangene" im Inund Ausland ist u.a. ein Aufruf 112 der "Roten Hilfe"-Ortsgruppe Heidelberg für regelmäßige Spenden zugunsten der Gefangenen aus der RAF eingestellt. Eigene Aussagen enthält die Website hingegen nicht. Das Angebot versteht sich als "bundesweites, linkes Kommunikationsund Informationsmedium". Die "Autonome Antifa Heidelberg", die sich im April 1999 selbst aufgelöst hat, ist in der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg"(AIHD) mit neu gestalteter Website aufgegangen. Darin werden deren Grundlagen vom Mai 1999 publiziert: "... Der offensive Kampf gegen rassistische StraßenschlägerInnen und deren politische DrahtzieherInnen in Parteien (wie NPD oder DVU) und die bedingungslose Solidarität mit ihren Opfern ist für uns keine Frage der politischen Wichtigkeit, sondern eine Notwendigkeit. Militanz, die sich durch angemessene Zielgerichtetheit, permanente Selbstreflexion, konsequente Abwägung und hohes Verantwortungsbewusstsein der Agierenden auszeichnet, betrachten wir dabei als ein legitimes Mittel im Kampf um Befreiung ..." (Fehler im Original) Die ehemalige "Antifaschistische Jugendaktion Heidelberg" (AJA), jetzt "Antifaschistische Gruppe (fion) Heidelberg" (AGF), informiert im WWW über aktuelle Termine und Aktionen auf Bundesund Landesebene. In ihrer Selbstdarstellung heißt es: "... Denn da wir der Meinung sind, dass Staat und Regierung nicht demokratisch sind, sondern die Interessen einer kleinen privilegierten Gruppe vertreten, und, statt für Menschenrechte einzutreten die bestehende Weltordnung mit ihren krassen Ungerechtigkeiten verteidigt, können wir auch Widerstandsformen akzeptieren, bei denen das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkannt wird ... Unser Ziel ist es, dieses menschenverachtende System abzuschaffen, und zu einer basisdemokratischen und gerechten Gesellschaftsform zu gelangen, die allen ein 113 menschenwürdiges Leben garantiert und in der für Herrschaftsstrukturen kein Platz ist ..." (Fehler im Original) Anlässlich des öffentlichen Gelöbnisses der Bundeswehr am 18. Oktober 1999 in Stuttgart wurde von unbekannten Personen eine eigene Website erstellt, auf der genaue Lagepläne des Veranstaltungsorts in Stuttgart sowie Verhaltensregeln für Teilnehmer von Störaktionen publiziert wurden. 114 E. SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN VON AUSLÄNDERN 1. Allgemeiner Überblick Von den in Baden-Württemberg gemeldeten rund 1.300.000 Ausländern waren 9.040 (1998: 8.995) Personen in Vereinigungen mit extremistischer oder gar terroristischer Zielsetzung aktiv. Gravierende Verschiebungen zwischen den politischen Lagern wurden nicht festgestellt. Die Gesamtzahl der von extremistischen Ausländerorganisationen verübten Straftaten stieg 1999 bundesweit auf 2.53627 an (1998: 2.356). Dies bedeutet einen Zuwachs von ca. 8 % (1998: + 47 %). Die Zahl der Gewalttaten ist ebenfalls auf 391 1 (1998: 258) angestiegen. Dies entspricht einer Zunahme von ca. 52 %. 27 Quelle: Bundesministerium des Innern 115 Übersicht über Gewalttaten und sonstige Straftaten mit erwiesenem oder zu vermutendem ausländerextremistischem Hintergrund in Baden-Württemberg 1998 1999 Gewalttaten Tötungsdelikte 0 0 Versuchte Tötungsdelikte 0 0 Körperverletzungen 18 25 Brandstiftungen 5 28 Raub/Erpressung 12 12 Landfriedensbruch 3 4 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- 0 1 und Straßenverkehr Gesamt 38 70 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 54 69 Erpressungen 11 12 Nötigungen/Bedrohungen 13 42 Vereinsgesetz 187 195 Androhung von Straftaten 16 47 Andere Straftaten 22 49 Gesamt 303 414 Straftaten insgesamt 341 484 In Baden-Württemberg erhöhte sich die Zahl der Gesetzesverletzungen mit auslän28 derextremistischem Hintergrund auf 484 gegenüber 341 im Vorjahr (ca. + 42 %). Neben den Körperverletzungen und Sachbeschädigungen ist vor allem die Zahl der Brandstiftungen, Nötigungen/Bedrohungen sowie der Androhung von Straftaten (Störung des öffentlichen Friedens) sprunghaft angestiegen. Auch bei den Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen und kriminellen Vereinigungen - wie zum Beispiel Verstößen gegen das Vereinsgesetz, Verbreitung von Propagandamitteln und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie Bildung krimi28 Quelle: LKA Baden-Württemberg 116 neller und terroristischer Vereinigungen - ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Hauptursache für die erhebliche Zunahme sind einerseits Aktionen im Zusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt und andererseits die von PKK-Anhängern verübten Gewalttaten und Anschläge anlässlich der Festnahme des PKK-Vorsitzenden Abdullah ÖCALAN am 15. Februar 1999 in Nairobi/Kenia und seiner Überführung in die Türkei. Eine zweite, kleinere Aktionswelle folgte unmittelbar nach der Verkündung des Todesurteils gegen den PKK-Führer am 29. Juni 1999. Die Straftaten gingen jedoch nach den mäßigenden Appellen von ÖCALAN, die vom PKK-Präsidialrat unterstützt wurden, erheblich zurück. Allerdings ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, weil entweder der politische Hintergrund offen blieb oder sie aus Angst vor Repressalien gar nicht angezeigt wurden. Die Gewaltbereitschaft des türkischen linksextremistischen (nicht kurdischen) Spektrums besteht unverändert fort. Wenn auch ein Teil dieser Organisationen durch zahlreiche Festnahmen und Verurteilungen ihrer in Deutschland tätigen Aktivisten geschwächt wurde, so sind sie doch weiterhin in der Lage, ihre Zurückhaltung sehr rasch aufzugeben und gegebenenfalls wieder militant gegen türkische Einrichtungen oder auch gegen deutsche Interessen vorzugehen. Die Mehrzahl dieser Organisationen unterhält in der Türkei terroristisch operierende Einheiten. Die in islamistischen Kreisen oft anzutreffende Gewaltverherrlichung darf nicht unterschätzt werden. Zwar betonen Repräsentanten islamistischer Dachverbände und Organisationen ihren Willen zur Friedfertigkeit und Einhaltung der Gesetze; dies steht jedoch im Widerspruch zu ihrer Hetzpropaganda. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass so genannte Fatwas29 militante Islamisten zu Aktionen verführen, die über öffentliche Demonstrationen und Verbalradikalismen hinausgehen. Im Jahr 1999 richtete sich erstmals eine Fatwa gegen nicht muslimische Andersdenkende. 29 Islamische Rechtsgutachten 117 2. Kurden "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Gründung: 1978 (in der Türkei) Betätigungsverbot in Deutschland seit 26. November 1993 Sitz: Damaskus (bis Oktober 1998, seit Februar 1999 im Grenzgebiet Iran/Irak) Anhänger: ca. 900 Baden-Württemberg (1998: ca. 800) ca. 12.000 Bund (1998: ca. 11.500) Publikationen: u.a. "Serxwebun" (Unabhängigkeit); Tageszeitung "Özgür Politika" (Freie Politik) als Sprachrohr Die von Abdullah ÖCALAN gegründete "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ist die einflussreichste und mitgliederstärkste unter den extremistischen Kurdengruppen. Dabei handelt es sich um eine straff organisierte und zentralistisch geleitete Kaderorganisation, die seit 1984 insbesondere im Südosten der Türkei trotz wiederholt beteuerter "einseitiger Waffenstillstandserklärungen" einen Guerillakrieg gegen die türkischen Sicherheitskräfte führt. Dieser wurde offiziell im September 1999 aufgegeben und von verstärkten politischen Bemühungen der Organisation abgelöst. Politisches Ziel der PKK ist - nach Aufgabe ihrer ursprünglichen Separatismusvorstellungen - "nur noch" eine die kurdische Identität wahrende regionale Autonomie auf türkischem Territorium. In Deutschland ist die PKK seit 1993 wegen zahlreicher Gewalttaten mit einem Betätigungsverbot belegt. Die PKK-Teilorganisation "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) ist zwar von diesem Verbot ebenfalls betroffen, entfaltet jedoch als streng hierarchisch gegliederte und in zahlreiche Unterorganisationen aufgeteilte Propagandaeinheit weiterhin Aktivitäten. Ihre konspirativ agierenden Kader führen die PKK-Anhänger in Westeuropa. Daneben verfügt die PKK über mehrere Nebenorganisationen, die nicht vom Betätigungsverbot betroffen sind. Dazu zählen u.a. folgende Vereinigungen: - "Union der Jugendlichen aus Kurdistan" (YCK) 118 - "Arbeiterpartei der Frauen aus Kurdistan" (PJKK) sowie "Front der freien 30 Frauen aus Kurdistan" (EJAK) - "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM) als Dachverband örtlicher Vereine, in denen sich vor allem Aktivisten und Sympathisanten der PKK sammeln. Die Gründung des "Kurdischen Nationalkongresses" (KNK) im Mai 1999 in Amsterdam stellt einen erneuten Versuch der PKK dar, eine breitere internationale Anerkennung zu erlangen. Dem Gremium gehören etwa 170 Delegierte aus der Türkei, dem Irak, dem Iran, aus Syrien und Armenien an. Ihm schloss sich am 26. September 1999 das in Brüssel ansässige, von der PKK initiierte und dominierte "Kurdische Exilparlament" (PKDW) an. Dadurch wurde die beherrschende Rolle der PKK in diesem Gremium weiter ausgebaut. Auch 1999 führte der Generalbundesanwalt (GBA) wieder mehrere bundesweite Ermittlungsverfahren gegen PKK-Funktionäre wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Allgemeine Lage Schwächung der PKK durch die Festnahme und Verurteilung von Abdullah ÖCALAN Bereits im Jahr 1998 häuften sich die Anzeichen für eine nachhaltige militärische Schwächung der PKK. Im April 1998 wurde Semdin SAKIK, einst die "Nr. 2" der PKK-Führung, von einem türkischen Kommando im Nordirak festgenommen. Nicht zuletzt seine Informationen ermöglichten es den türkischen Sicherheitskräften, der Guerilla empfindliche Verluste zuzufügen. Die in immer kürzeren Abständen ausgesprochenen Waffenstillstandsangebote von ÖCALAN resultierten aus der prekär gewordenen militärischen Lage der PKK. 30 Hervorgegangen aus der "Union der freien Frauen aus Kurdistan" (YAJK); diese beschloss im März 1999 auf ihrem zweiten Kongress die Umwandlung und Umbenennung in zwei Organisationen. 119 Nach unverhohlenen militärischen Drohungen der Türkei gegenüber Syrien verlor die Organisation die dortigen Stützpunkte sowie ihre Zentrale; ÖCALAN räumte sein Exil in Damaskus. Vorübergehend hielt er sich vom 12. November 1998 bis Mitte Januar 1999 in Rom auf. Die erfolglose Suche nach einem sicheren Zufluchtsort endete nach einer Irrfahrt schließlich in Nairobi/Kenia. Dort wurde er am 15. Februar 1999 nach dem Verlassen der griechischen Botschaft festgenommen und von türkischen Sondereinsatzkräften in die Türkei verbracht. Mit seiner Verhaftung versetzte die Türkei der PKK den bislang schwersten Schlag. In den darauf folgenden Tagen stellte die Organisation ihren Mobilisierungsgrad, ihre Militanz und Schlagkraft sowie die strikte Unterordnung ihrer Anhängerschaft unter die Vorgaben der Führung unter Beweis. In zahlreichen europäischen und insbesondere auch in deutschen Städten kam es ab dem 16. Februar 1999 zu demonstrativen Aktionen und gewaltsamen Übergriffen von PKK-Aktivisten, vor allem auf diplomatische Niederlassungen. Betroffen waren insbesondere Einrichtungen der Türkei, Griechenlands, Israels und Kenias sowie vereinzelt auch Parteibüros der SPD. In Hamburg, Bonn, Den Haag, London, Wien und Zürich nahmen die Besetzer außerdem Geiseln. In Stuttgart besetzten in den frühen Morgenstunden des 16. Februar 1999 etwa 30 PKK-Anhänger das griechische Generalkonsulat. Vor dem Gebäude bildeten etwa 50 Personen einen "menschlichen Schutzwall", durch den die eintreffenden Polizeibeamten am Betreten des Konsulats gehindert werden sollten. Einer der Besetzer übergoss sich mit Benzin und drohte mit Selbstverbrennung. Die Aktion wurde schließlich durch ein Sondereinsatzkommando der Polizei beendet. Daneben wurden zahlreiche Anschläge auf türkische Einrichtungen wie Reisebüros, Imbissstände und Vereinslokale verübt. Insgesamt kam es vom 16. - 18. Februar 1999 in Baden-Württemberg zu neun Brandanschlägen in Stuttgart, Kirchheim unter Teck, Nürtingen, Weilheim und Göppingen. Außerdem überfielen am 18. Februar 1999 in Heilbronn sieben vermummte und mit Baseballschlägern bewaffnete Personen das Gebäude eines türkischen Kulturvereins, warfen Brandsätze und fügten mehreren Anwesenden durch Schlagwaffen schwere Verletzungen zu. Der folgenschwerste Zwischenfall ereignete sich am 17. Februar 1999 in Berlin. Dort versuchten mehrere mit Eisenstangen bewaffnete Kurden das israelische Konsulat zu stürmen. Israelische Sicherheitskräfte erschossen drei Angreifer, ein vierter erlag wenige Tage später seinen Verletzungen. 120 Im Ausland gab es mehrere Fälle von Selbstverbrennungen emotionalisierter PKKAnhänger. In Deutschland versuchte sich am 16. Februar 1999 in Hechigen/ Zollernalbkreis eine 17-jährige Kurdin unter den Rufen "Freiheit für ÖCALAN - es leben die Kurden" selbst zu verbrennen; sie überlebte mit schwersten Brandverletzungen. 31 In der ersten bekannt gewordenen Erklärung der PKK-Führung nach der Festnahme von ÖCALAN war noch "zur sofortigen Mobilmachung aller Kurden" aufgerufen und an diese appelliert worden, "umgehend aktiv und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen offizielle Einrichtungen, Institutionen, Missionen, wirtschaftliche Vertretungen und Niederlassungen der Türkischen Republik sowie sonstige staatliche Organisationen vorzugehen". Der Feind müsse, so das erklärte Ziel dieser Meldung, "aufgerieben, in eine Ecke gedrängt und zur inneren Explosion gebracht werden". In weiteren Stellungnahmen der PKK-Führung wurden die Anhänger jedoch wieder dazu aufgefordert, sich in Europa auf ein friedliches Vorgehen zu beschränken. Anfang März 1999 kündigte die PKK an, ihre Terroraktionen auf den Westen der Türkei auszudehnen. Die türkischen Streitkräfte reagierten darauf mit der Fortsetzung ihrer Offensive gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Am 31. Mai 1999 wurde in der Türkei vor einem Staatssicherheitsgericht der Prozess gegen ÖCALAN eröffnet, der sich mit politischen Argumenten verteidigte und die Gewaltoption aufgab. Das Gericht verurteilte ÖCALAN am 29. Juni 1999 in erster Instanz wegen Hochverrats und mehrfachen Mordes zum Tode. Das Kassationsgericht bestätigte dieses Todesurteil am 25. Oktober 1999. Auf das erstinstanzliche Urteil reagierten die PKK-Anhänger in Deutschland mit Enttäuschung und Wut. Ihre Demonstrationen in zahlreichen deutschen Städten verliefen zumeist gewaltfrei, jedoch kam es vereinzelt auch wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. So überfielen am 29. Juni 1999 fünf teilweise mit PKK-Halstüchern vermummte Personen einen türkischen Kulturverein in Sindelfingen. Drei der Angegriffenen erlitten 31 Erklärung des PKK-Zentralkomitees vom 19. Februar 1999, die noch am selben Tag über den PKKnahen Kurdensender "MED-TV" verbreitet wurde. 121 Verletzungen durch Knüppel-, Messerund Schusswaffeneinsatz. Zudem wurden erneut nächtliche Brandanschläge verübt, von denen am 30. Juni 1999 in Stuttgart ein islamischer Verein sowie am 1. Juli 1999 eine türkische Gaststätte betroffen waren. Diese Aktionen erfolgten jedoch größtenteils nicht auf Anweisung von Funktionären, sondern waren in erster Linie fanatischen Einzeltätern, namentlich aus den Reihen der PKK-Jugendorganisation YCK, zuzurechnen. Die Lage entspannte sich zunehmend nach Appellen deutscher und ausländischer Politiker an die Türkei, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken. Deeskalierend wirkten auch verschiedene Erklärungen der PKK-Führung, beispielsweise vom 30. Juni/ 2. Juli 1999, in denen die kurdische Bevölkerung in Europa aufgefordert wurde, sich in ihrem Protest an die geltenden Gesetze zu halten. Um das Thema "ÖCALAN" weiter im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten, führte die PKK mehrere Großveranstaltungen durch: Am 17. April 1999 gelang es, etwa 80.000 Personen - überwiegend PKKSympathisanten, aber auch Anhänger mehrerer linksextremistischer türkischer Organisationen - für eine Demonstration in Bonn zu mobilisieren. Zum 7. Internationalen Kurdistan-Festival am 28. August 1999 im Dortmunder Westfalenstadion versammelten sich rund 60.000 Teilnehmer. Dort wurden unter anderem Grußbotschaften von ÖCALAN und seinem Bruder Osman, ebenfalls ein hochrangiger PKK-Funktionär, eingespielt. Am 9. Oktober 1999 kam es in Frankfurt am Main zu erneuten Demonstrationen von etwa 20.000 PKK-Anhängern aus dem Bundesgebiet und dem europäischen Ausland unter dem Motto "Nein zur Todesstrafe - Freiheit für Abdullah ÖCALAN - Frieden in Kurdistan". Im Juli gelang den türkischen Sicherheitskräften mit der Ergreifung eines angeblich hochrangigen ERNK-Funktionärs in Moldawien ein weiterer Schlag gegen die PKK. Auch gegen ihn hat die türkische Staatsanwaltschaft wegen Hochverrats die Todesstrafe gefordert. 122 Nach der Festnahme von ÖCALAN übernahm der so genannte Vorstandsrat (auch: 32 Präsidialrat) die Führung der PKK. Dieses vermutlich siebenköpfige Gremium setzt sich aus Kampfkommandanten und hochrangigen Funktionären zusammen. Sie sollen sich überwiegend im nordirakischen bzw. nordiranischen Gebiet aufhalten. Der Vorstandsrat stellte sich in seinen Erklärungen geschlossen hinter die Friedensaufrufe von ÖCALAN. Allerdings liegen auch Hinweise auf unterschiedliche Bewertungen bezüglich des Nutzens dieser Friedensangebote ÖCALANs für die Organisation vor. Das Ergebnis dieser Differenzen spiegelte die Erklärung vom 5. Dezember 1999 wider. Darin wurde dem türkischen Staat gedroht, dass die PKK von ihrem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch machen werde, sofern die eingeleitete "Friedensinitiative" keine positive Resonanz erfahre. "Friedenskurs" von Abdullah ÖCALAN Rückzug der "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK) Während die PKK-Guerillaorganisation ARGK zuletzt noch im September 1998 einseitig einen Waffenstillstand ausgerufen hatte, drohte sie in einer Erklärung vom 15. März 1999 als Reaktion auf die Festnahme von ÖCALAN mit einer Intensivierung des Kampfs gegen den türkischen Staat. Am 3. August 1999 rief jedoch der Generalvorsitzende die ARGK dazu auf, bis zum 1. September 1999 den bewaffneten Kampf einzustellen und ihre Einheiten aus der Türkei zurückzuziehen. Osman ÖCALAN erklärte am 1. September 1999 im PKK-nahen Fernsehsender "MEDYA-TV" den 15 Jahre andauernden bewaffneten Kampf der PKK formell für beendet. Dies gelte selbst dann, wenn das Todesurteil gegen seinen Bruder vollstreckt werde. Die Waffen würden jetzt für immer niedergelegt und die Ziele der PKK nur noch auf politischem Wege verfolgt. Offenbar hat sich tatsächlich zumindest ein Teil der ARGK-Einheiten von dem türkischen Staatsgebiet zurückgezogen. Erste Befürchtungen, wonach Kämpfer dieser Guerillagruppe nach Europa einsickern könnten, haben sich bislang nicht bestätigt. 32 Zu den bekanntesten Mitgliedern zählen Cemil BAYIK und Osman ÖCALAN. 123 Als weiteren Schritt kündigte Abdullah ÖCALAN an, dass sich eine Gruppe von PKKKämpfern mit ihren Waffen den türkischen Sicherheitskräften ergeben werde. Tatsächlich lieferte sich eine erste, aus acht Personen bestehende Gruppe unter Führung eines ehemaligen ERNK-Europasprechers am 1. Oktober 1999 an der irakisch-türkischen Grenze dem türkischen Militär aus. Sämtliche Mitglieder der Gruppe wurden festgenommen. Am 29. Oktober 1999 flog eine weitere achtköpfige "Friedensgruppe der PKK" von Wien nach Istanbul. Auch die Mitglieder dieser Gruppe wurden inhaftiert. Propagandamittel Nachdem die britische Fernsehaufsichtsbehörde (ITC) dem PKK-nahen Fernsehsender "MED-TV" am 23. April 1999 wegen Gewaltaufrufen endgültig die Sendelizenz entzogen hatte, nahm am 30. Juli 1999 "MEDYA-TV" den Betrieb auf. Auch diesen Sender nutzt die PKK wieder als Plattform - wenn auch in abgeschwächter Form. Daneben stellen die Print-Medien ein weiteres wichtiges Propagandainstrument für die PKK dar. Dabei spielt in Deutschland die in Neu-Isenburg hergestellte Tageszeitung "Özgür Politika", die an fast jedem Zeitungsstand erhältlich ist, eine herausragende Rolle. Ergebnisse des 6. Kongresses der PKK Am 8. März 1999 verbreitete das Zentralkomitee der PKK eine Erklärung über den inzwischen erfolgten Abschluss des 6. Parteikongresses. Danach hätten an dem "in Kurdistan" durchgeführten Kongress, der als "triumphale Antwort auf die internationale Verschwörung gegen unsere Führung, unsere Partei und unser Volk" bezeichnet wurde, rund 300 Delegierte teilgenommen. ÖCALAN sei einstimmig und mit stürmischem Applaus wieder gewählt worden. Gleichzeitig wurde eine deutliche Warnung an die Türkei ausgesprochen: "Wenn sie denken, Abdullah ÖCALAN sei wie die kurdischen Führer, die sie in der Vergangenheit geschlachtet haben, machen sie einen schweren Fehler. Wir warnen alle staatlichen, 124 zivilen und militärischen Offiziellen des türkischen Staates zum letzten Mal: Die derzeitigen Maßnahmen gegen unseren Parteivorsitzenden müssen sofort gestoppt werden, und er muss als Führer unseres Volkes behandelt werden." Als weiteren Schritt kündigte das Zentralkomitee am 9. August 1999 die Durchführung eines außerordentlichen Parteikongresses an, der substanzielle Änderungen des Parteiprogramms im Sinne der von ÖCALAN vorgegebenen neuen Linie beschließen sollte. Dieser 7. Parteikongress, der im Januar 2000 stattfand, hatte insbesondere die Erklärung, mit der man den bewaffneten Kampf einstellte, zum Ergebnis. Trennung von der "Plattform der Vereinten Revolutionären Kräfte" (BDGP) Im Oktober 1999 wurde die Trennung der PKK von der BDGP bekannt. Dieses Bündnis, dem auch verschiedene linksextremistische türkische Organisationen angehörten, war 1998 mit dem Ziel gegründet worden, die politischen und militärischen Kräfte gegen den türkischen Staat zu bündeln. Wegen ihrer Abkehr vom bewaffneten Kampf hatte sich die PKK zuletzt einer zunehmenden Kritik der übrigen Gruppierungen ausgesetzt gesehen. Die Aufkündigung der Mitarbeit ist als Ergebnis zunehmender Spannungen und Auffassungsunterschiede über den weiteren Kurs des Bündnisses zu werten. Im Übrigen erklärte die BDGP im November 1999 ihre Auflösung. Finanzierung Die PKK benötigt für ihren Parteiapparat, ihre Propagandatätigkeit sowie für ihre Aktionen in der Türkei beträchtliche finanzielle Mittel. Diese erlangt sie zunächst durch den Einzug von Mitgliedsbeiträgen, den Verkauf von Publikationen und Einnahmen aus Veranstaltungen, zu einem wesentlichen Teil aber auch durch jährlich mindestens eine große Spendenkampagne. Im Gegensatz zu früheren Jahren wurde im Hinblick auf die im Herbst 1999 eingeleitete Spendenkampagne 1999/2000 erstmals an die als Spendensammler eingesetzten PKK-Aktivisten appelliert, keinerlei Druck auszuüben und die Sympathisanten und Unterstützer nicht zu überhöhten Zahlungen zu veranlassen. Sowohl dieser Umstand als auch der bereits damals von der PKK 125 verfolgte, an der Basis nicht unumstrittene Friedenskurs führten zu einem Nachlassen der Spendenbereitschaft. Der Partei ist es trotz intensiver Überzeugungsarbeit offenbar nicht gelungen, an die bundesweiten Vorjahresergebnisse von jeweils etwa 20 Millionen DM anzuknüpfen. Zwar fließen der PKK aus Spenden weiterhin erhebliche Mittel zu, jedoch wurde im Rahmen der Kampagne 1999/2000 weniger als die Hälfte von dem seitens der Organisation in Baden-Württemberg vorgegebenen Spendensoll von rund fünf Millionen DM erzielt. Perspektiven Die Gesamtsituation der PKK hat sich nach dem Verlust ihrer Zentrale in Syrien sowie der Festnahme ihres Parteiführers erheblich verändert. Ihre Zukunft wird maßgeblich von diesen empfindlichen Einschränkungen ihres Aktionsraums bestimmt sein. Bisher hat sich das vom autokratisch schaltenden ÖCALAN hinterlassene Machtvakuum nicht direkt auf Strukturen und Handlungsfähigkeit der Organisation ausgewirkt, zumal dieser auch nach seiner Inhaftierung weiterhin die politische Linie der Partei bestimmt. Das weitere Verhalten der PKK ist maßgeblich mit dem Schicksal von ÖCALAN verknüpft. Er wird auch künftig für große Teile seiner Anhänger die zentrale Integrationsund Identifikationsfigur bleiben. Sollte eine Hinrichtung absehbar sein oder tatsächlich vollzogen werden, dürften selbst dann, wenn die Organisation deeskalierend auf ihre Anhängerschaft einwirkt, schwere Gewalttaten zu erwarten sein. In diesem Fall muss wieder mit Anschlägen fanatisierter gewaltbereiter Einzeltäter gerechnet werden. Die Anhängerschaft der PKK in Deutschland hat auf die ersten Friedensvorstöße von ÖCALAN überwiegend positiv und gelassen reagiert. Seitdem gingen der PKK zuzurechnende Straftaten erheblich zurück. Insbesondere seit der Erklärung zur Einstellung des bewaffneten Kampfs, dem sichtbarsten Zeichen für den eingeleiteten Wandlungsprozess, zeichnete sich jedoch in Kommentaren nicht weniger Parteianhänger deutlich der Zorn über die "befohlene Selbstaufgabe der PKK und der ARGK" ab. Die Europaführung der PKK wird diese 126 Richtungsänderung insbesondere den jugendlichen Anhängern, die schon in der Vergangenheit Träger von Gewaltaktionen waren, auch künftig nur schwer vermitteln können. Insgesamt scheint die neue Linie der PKK, vor allem die erstmals an keine Vorleistungen der Türkei geknüpfte Einstellung des bewaffneten Kampfs - trotz aller taktischen Erwägungen - ernst gemeint zu sein. Dies schließt nicht aus, dass es im Falle enttäuschter Erwartungen zu einer Revision des neuen Kurses und zu einem Wiederaufflammen der Kampfhandlungen in der Türkei kommen könnte, zumal bedeutende Teile der ARGK unter Waffen geblieben sind. Ebenso müssen bereits festgestellte Tendenzen, wonach die ursprüngliche "Einheit" des das Machtvakuum ausfüllenden Vorstandsrats brüchig wird und sich Meinungsverschiedenheiten über die von ÖCALAN verfolgte Friedenspolitik in der Zukunft möglicherweise sogar bis hin zu einer Spaltung der Organisation auswirken, ernst genommen werden. Sie geben Anlass zu größter Wachsamkeit. Struktur und Aktivitäten in Baden-Württemberg Die strukturelle Gliederung in Parteiregionen hat die PKK ohne Rücksicht auf etwaige Landesgrenzen vorgenommen. Der weitaus größte Teil Baden-Württembergs wird von der aus fünf sog. Gebieten bestehenden Region "BADEN" abgedeckt. Lediglich die Gebiete Mannheim und Ulm gehören zu den Regionen "SÜD" bzw. "AUGSBURG". Bei den diesen Gebieten und Regionen vorstehenden Parteifunktionären handelt es sich um Berufsrevolutionäre, die Decknamen benutzen, über verfälschte Ausweispapiere verfügen und in regelmäßigen Zeitabständen ausgetauscht werden. Damit soll einer Enttarnung durch die Sicherheitsbehörden vorgebeugt werden. Trotz des Verbots und den damit verbundenen erschwerten Arbeitsbedingungen gelang es der PKK, ihre Strukturen auch in Baden-Württemberg weitgehend intakt zu halten. Insbesondere in den Gebieten Stuttgart, Mannheim, Ulm, Karlsruhe, Freiburg und Heilbronn dienen ihren Sympathisanten verschiedene von der Organisation beeinflusste Vereine als Anlaufstellen. Außerdem finden dort - verstärkt im Vorfeld und während der alljährlichen Spendenkampagne - wichtige Versammlungen 127 der ERNK sowie ihrer Basisorganisationen statt. Weiterhin gelang es der PKK erneut, Propagandaveranstaltungen in größeren Hallen durchzuführen. Als Anmieter solcher Räumlichkeiten fungierten meist "unverdächtige" Personen, die zum Teil dem deutschen linksextremistischen Unterstützerumfeld oder den Vorständen PKKbeeinflusster Vereine angehörten. Ein Verbot der Veranstaltungen ist oft nicht möglich, da die PKK-Steuerung im Vorfeld nicht vor Gericht beweisbar ist. Die PKK verfügt in Baden-Württemberg über die vergleichsweise hohe Zahl von mindestens 900 Anhängern. Jeder von ihnen kann im Bedarfsfall - zum Beispiel bei Großveranstaltungen - weitere Sympathisanten mobilisieren. Das Mobilisierungspotenzial dürfte in Baden-Württemberg etwa 9.000 Personen umfassen. Die PKK-Jugendorganisation YCK ist in Baden-Württemberg mit etwa 300 Mitgliedern stark vertreten. Von diesen dürften etwa 100 Personen den "Sahinlern" (Falken) angehören. Insbesondere diese Gruppierung, die als Teil der YCK auftritt, verfügt über ein erhebliches Aggressionspotenzial. Ihre Gewaltbereitschaft wird noch gefördert durch die auch in Baden-Württemberg verbreitete, kriegsverherrlichende YCK-Publikation "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend). Der harte Kern der Sahinlerszene schreckt selbst vor Straftaten, die eine hohe kriminelle Energie voraussetzen (zum Beispiel Brandstiftungen), nicht zurück. "Sahinler" waren im Jahr 1999 auch bei PKK-Kundgebungen in Stuttgart präsent, wo sie teilweise in kampfanzugähnlicher Kleidung eine Art Schutzring am Rand des Demonstrationsgeschehens bildeten. Insbesondere bei den hier lebenden jugendlichen PKK-Sympathisanten hat das als zu unterwürfig empfundene Verhalten ÖCALANs Irritationen ausgelöst. Einige bewerten dessen "Friedensbekundungen" sogar als "Verrat an der Partei und am kurdischen Volk". Deshalb sind auch künftig spontane und irrationale Gewaltaktionen dieser Gruppen nicht auszuschließen. 128 Veranstaltungen/Versammlungen/Demonstrationen Aus den zahlreichen Veranstaltungen in Baden-Württemberg ragen die folgenden heraus: 6. Januar 1999: "Märtyrer"-Veranstaltung vor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim für den verstorbenen PKK-Kader Berzan Öztürk, an der etwa 2.500 Parteifunktionäre und Anhänger aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland teilnahmen. Öztürk hatte am 1. November 1998 in der JVA versucht, sich zu verbrennen und war seinen schweren Verletzungen am 4. Januar 1999 im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz erlegen. In einem Abschiedsbrief hatte er sein Handeln als "Protest gegen die Verschwörung, bei der Abdullah ÖCALAN getötet werden sollte", dargestellt. 6. Februar 1999: Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt, an der etwa 600 Parteianhänger aus der PKK-Region "BADEN" teilnahmen. Während des Aufzugs wurden unter anderem drei große ERNK-Fahnen gezeigt. Als ein zuvor identifizierter Fahnenträger im Verlauf der Abschlusskundgebung von Polizeibeamten festgenommen wurde, eilten andere Demonstranten hinzu. Bei den anschließenden Handgreiflichkeiten konnten der Festgenommene befreit und die beschlagnahmte Fahne entrissen werden. Dabei erlitten zwei Polizeibeamte leichte Verletzungen. 14. Februar 1999: Überregionale Versammlung der YCK in Heilbronn zu Ehren des Kadermitglieds Öztürk. Daran nahmen etwa 800 Anhänger aus den PKK-Regionen "BADEN" und "AUGSBURG" teil. 6. März 1999: Demonstration in Karlsruhe aus Protest gegen die Festnahme von ÖCALAN unter dem Motto "Frieden und Freiheit in der Türkei und Kurdistan". Daran beteiligten sich etwa 1.000 Anhänger und Sympathisanten der PKK, die teilweise auch Bilder des Generalvorsitzenden sowie PKK-Fahnen mit sich führten. 15. Mai 1999: Großveranstaltung in Göppingen/Adelberg, an der etwa 3.000 - 3.500 Parteianhänger aus der Region "BADEN" teilnahmen. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde auch eine etwa 20-minütige Diaschau mit Bildern aus dem Leben 129 von ÖCALAN gezeigt. Minutenlang feierten die Besucher ihren Führer mit Parolen wie "Biji Apo" und "Biji PKK" ("Es lebe Apo" und "Es lebe die PKK"). Überhaupt verstanden es die Funktionäre hier geschickt, die Teilnehmer nochmals auf ihren inhaftierten Parteiführer einzuschwören. 19. Juni 1999: Eine in Karlsruhe vorgesehene Demonstration eines Bündnisses "Für Frieden in Kurdistan und Demokratie in der Türkei", zu der die Veranstalter etwa 10.000 Personen erwarteten, konnte aufgrund frühzeitiger Hinweise des Landesamts über eine PKK-Steuerung verhindert werden. Ein Verbot durch die Stadt Karlsruhe wurde vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) bestätigt. 3. Türken (ohne Kurden) 3.1 Allgemeines In Baden-Württemberg bilden die türkischen Staatsangehörigen die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe unter den hier lebenden Ausländern (31. Dezember 1998: 357.54833). Lediglich 7.045 von ihnen gehörten 1999 extremistischen Gruppierungen an (1998: 7.050). Die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen, untereinander rivalisierenden bis verfeindeten politischen Lagern haben sich gegenüber 1998 kaum verändert. Linksextremistische türkische Vereinigungen sind aufgrund ihrer Militanz und Gewaltbereitschaft ein ständig ernstzunehmendes Gefahrenpotenzial, das die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unvermindert beeinträchtigt. Gewalttätig verlaufende Ereignisse in der Türkei können sich rasch und jederzeit auf das Bundesgebiet auswirken und hier zu bedrohlichen Situationen führen. Obwohl im Jahr 1999 in Deutschland von dieser Seite keine Brandanschläge oder Attentate auf politische Gegner verübt wurden, stellt nicht zuletzt der hohe Bewaffnungsgrad zumindest einzelner Aktivisten der beiden Nachfolgeorganisationen der verbotenen "Devrimci Sol - Revolutionäre Linke" ein besonderes Risiko dar. 33 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Stand: 31.12.1998 130 Im Bereich des Islamismus gelang es der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG), ihre Strukturen als einflussreichste Organisation nicht nur zu festigen, sondern sich auch - über die türkisch-islamische Gemeinde von Migranten hinaus - in der Politik und bei sozialen Verbänden in Deutschland verstärkt Gehör zu verschaffen. Diese dominierende Rolle wird auch dadurch verstärkt, dass die IGMG von ihr ideologisch nahe stehenden Holdings, die auf den europäischen Markt drängen, Unterstützung erfährt. 3.2 Linksextremisten Gemeinsame Aktionen türkischer Linksextremisten blieben 1999 aufgrund ihrer divergierenden politischen Anschauungen die Ausnahme. Nachdem sich die am 4. Juni 1998 zustande gekommene "Plattform der Vereinten Revolutionären Kräfte" (BDGP) im November 1999 wieder auflöste, folgten keine weiteren Bündnisbestrebungen. Nur einige wenige Gruppierungen schlossen sich sporadischen Aktionsgemeinschaften an. Bestimmendes Thema in den ersten Monaten des Jahres 1999 war auch unter den türkischen linksextremistischen Organisationen die Festnahme des PKK-Führers ÖCALAN. Nennenswerte Solidaritätsaktionen zu dessen Unterstützung aus dem türkischen (nicht kurdischen) Umfeld blieben jedoch wegen des späteren "Friedenskurses" der PKK aus. Zu verstärkten Aktivitäten führte das Erdbeben am 17. August 1999 in der Türkei. Diese verheerende Naturkatastrophe wurde durchweg von allen türkischen linksextremistischen Organisationen thematisiert und die mangelhafte Organisation der Katastrophenhilfe für ihre eigenen Ziele gegen die türkische Regierung propagandistisch genutzt. Im September 1999, als in türkischen Gefängnissen linksextremistische Häftlinge - ohne Beteiligung der PKK-Inhaftierten - gegen ihre Haftbedingungen revoltierten und hierbei zwölf Gefangene getötet wurden, nahmen Anhänger und Sympathisanten der TKP/ML im Bündnis mit anderen linksextremistischen Gruppen, darunter auch die DHKP/-C und die MLKP, an bundesweiten Solidaritätsaktionen teil. In Baden-Württemberg konnten zu den zahlreichen gewaltfreien Kundgebungen jeweils bis zu 350 Anhänger mobilisiert werden. 131 Einen weiteren Schwerpunkt türkischer Linksextremisten bildeten verschiedene Themen der deutschen Politik. 3.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP/-C)/"Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C) Gründung: 1978 als "Devrimci Sol" (Dev Sol) Anhänger: unter 200 Baden-Württemberg (1998: ca. 200) ca. 1.100 Bund (1998: ca.1.200) Publikationen: "DEVRIMCI SOL" "HALK ICIN KURTULUS" "Vatan" Innerhalb der türkischen Linksextremisten gehören die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP/-C) und die "Türkische Volksbefreiungspartei/-front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C) seit Jahren zu den aktivsten und gewaltbereitesten Organisationen. Beide Vereinigungen betrachten sich als Nachfolger der 1978 in der Türkei gegründeten, bereits am 9. Februar 1983 in Deutschland vom Bundesminister des Innern verbotenen "Devrimci Sol" (Dev Sol - Revolutionäre Linke). Trotz gleich lautender Erklärungen, den bewaffneten Kampf gegen die "faschistische Herrschaft der Türkei" uneingeschränkt fortzusetzen, "eine Gesellschaft und eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Klassen zu schaffen", somit den MarxismusLeninismus zu verwirklichen und den "Aufbau eines sozialistischen Gesellschaftssystems" voranzutreiben, führten verschiedene Kontroversen Ende 1992 zur Bildung zweier rivalisierender Fraktionen. Seitdem bezeichnen sie sich nach ihren jeweiligen Führungsfunktionären Dursun KARATAS und dem im März 1993 in der Türkei von Sicherheitskräften getöteten Bedri YAGAN als KARATASbzw. YAGAN-Flügel. Auf ihrem "Parteigründungskongress" am 30. März 1994 in Damaskus vollzog die DHKP/-C schließlich die endgültige Spaltung. Die Anhänger des YAGAN-Flügels verwenden seit Mitte 1994 in ihren Publikationen die Bezeichnung THKP/-C. 132 Für beide Gruppierungen stellt Deutschland neben der Türkei das wichtigste Betätigungsfeld dar. Die hier geschaffenen, fest gefügten Organisationsstrukturen werden nach einem Strategiepapier der DHKP/-C als "ein Teil der Befreiungsbewegungen auf der Welt und der internationalen Solidarität" angesehen. Primär hätten sie als so genannte Hinterfront die Aufgabe, den "revolutionären Volksbefreiungskampf logistisch und propagandistisch und in jeder Hinsicht" zu unterstützen und somit "die Kampffront zu stärken". Die Vielzahl von in den letzten Jahren verübten Anschlägen und Angriffen gegen staatliche und private - vor allem türkische - Einrichtungen belegt, dass die Organisationen ihre politischen Ziele auch im Bundesgebiet durch Drohungen und Gewalt durchzusetzen versuchen. Zudem haben die mit äußerster Brutalität bis hin zum Mord ausgetragenen Flügelkämpfe zwischen den Anhängern der beiden Gruppierungen die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung Deutschlands gefährdet. Daher erklärte der Bundesminister des Innern am 13. August 1998 die DHKP/-C als Ersatzorganisation der Dev Sol und bezog sie in das frühere Verbot mit ein. Gleichzeitig erließ er gegen die THKP/-C ein Betätigungsverbot. Im Jahr 1999 haben der enorme Fahndungsdruck der Strafverfolgungsbehörden, bundesweite Ermittlungsmaßnahmen der Polizei, Festnahmen von mehr als 30 hochrangigen Führungsfunktionären und Aktivisten beider Lager sowie Verurteilungen zu langjährigen Freiheitsstrafen zu einer spürbaren Schwächung der Führungskader geführt. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den KARATASund YAGAN-Anhängern waren 1999 nicht mehr zu verzeichnen. Zu dieser Entwicklung trug möglicherweise auch bei, dass der Generalsekretär der DHKP/-C, Dursun KARATAS, in einer Erklärung vom 12. Februar 1999 einen sofortigen Gewaltverzicht für das Bundesgebiet verkündet hatte. Gleichzeitig würden die Flügelkämpfe gegen Angehörige der THKP/-C beendet und deren Provokationen nicht mehr beantwortet; lediglich Selbstverteidigung sei gestattet. Der "legitime und gerechte Kampf" seiner Organisation werde allerdings in der Türkei fortgeführt: "...wir kämpfen in der Türkei gegen ein unmenschliches, faschistisches Regime. Gegen solch ein Regime der Ausbeu133 tung, Plünderung und Tyrannei zu kämpfen, ist das legitimste Recht der Welt ..." Seitdem wurden u.a. am 4. Juli 1999 ein "Konterguerilla"-Mitglied in dem türkischen Gefängnis Cankari getötet und am 12. September 1999 in Istanbul Sprengstoffanschläge auf Außenstellen zweier türkischer Ministerien verübt. Den beiden Dev Sol-Nachfolgeorganisationen gehören in Baden-Württemberg vermutlich weniger als 200, bundesweit etwa 1.300 Personen an. Die THKP/-C verfügt allerdings in Baden-Württemberg über keine Stützpunkte, die Zahl ihrer Anhänger ist sehr gering. Das Betätigungsfeld befindet sich fast ausschließlich im norddeutschen Raum. Hingegen agitiert in Baden-Württemberg die DHKP/-C vornehmlich in den Ballungsräumen Stuttgart, Mannheim und Ulm. Dabei verschleiern die dortigen Ortsvereine ihre Zugehörigkeit zur DHKP/-C und führen ihre Zusammenkünfte und Versammlungen äußerst konspirativ durch. Anlassbezogen kann die Organisation bei Zentralveranstaltungen mehrere Hundert Anhänger und Sympathisanten mobilisieren. Europaoder bundesweite Großveranstaltungen werden wegen des Vereinsverbots im benachbarten Ausland durchgeführt. Politische und militärische Vorgänge in der Türkei oder innerdeutsche Ereignisse nahm vor allem die DHKP/-C wiederholt zum Anlass, diese zu thematisieren oder dagegen zu polemisieren. So demonstrierte sie im Februar 1999 in Berlin für die "Doppelte Staatsbürgerschaft", verbreitete im Internet eine Stellungnahme zu den von der NATO gegen Jugoslawien geführten Luftangriffen, die sie als Akte des "USImperialismus" titulierte, und prangerte die Polizeiaktion gegen das Zentralorgan "KURTULUS", gegen die Redaktion und deren Mitglieder in Izmir/Türkei an. Außerdem gedachte sie der gefallenen "Genossen", die vor zwei Jahren in Lima im "Kampf für die Freiheit der Völker gegen Ausbeutung und Unterdrückung" den Tod gefunden hätten und protestierte gegen die Angriffe der türkischen Armee auf die von "Spezialeinheiten" der DHKP/-C geschützte Almus-Talsperre in Tokat/Türkei. Ferner forderte die DHKP/-C den Stopp jeglichen Waffenhandels mit der Türkei, wobei der deutsche "Imperialismus" als "Mittäter des türkischen Faschismus" bezeichnet wurde. 134 Schließlich empörte sie sich anlässlich des Erdbebens über das Verhalten der türkischen Regierung, wo doch "gegen den Befreiungskampf der Kurden hochtechnisierte Panzer und Waffen" eingesetzt würden, aber keine Geräte und Einheiten zur Verfügung gestanden hätten, um den Opfern zu helfen. Außerdem versuchten DHKP/-C-Aktivisten vor dem Hintergrund der Luftangriffe auf Jugoslawien am 4. Juli 1999 in Istanbul einen Anschlag auf das amerikanische Generalkonsulat durchzuführen. Die mit Pistolen und Raketenwerfern bewaffneten Angreifer wurden während des Schusswechsels getötet. Zusammen mit anderen linksextremistischen türkischen Organisationen solidarisierte sich die DHKP/-C am 1. Mai 1999 in Stuttgart mit dem "proletarischen Internationalismus" und beteiligte sich bundesweit an gemeinsamen Protestund Solidaritätsaktionen anlässlich der im September 1999 ausgebrochenen Häftlingsrevolten in der Türkei. Wenngleich das Verhältnis zur PKK seit längerem auch wegen der Nichtbeteiligung der DHKP/-C an dem im Juni 1998 beschlossenen, im November 1999 wieder aufgelösten Aktionsbündnis BDGP (der gehasste YAGAN-Flügel war dem Bündnis beigetreten) belastet ist, hatte die Vereinigung zumindest Ende 1998 in einer Solidaritätserklärung die sofortige Freilassung ÖCALANs in Italien gefordert. Hingegen kritisierte sie später nicht nur die von dem zwischenzeitlich in die Türkei verbrachten PKK-Generalsekretär veröffentlichten Vorschläge zur Lösung der Kurdenfrage, sondern auch dessen Verhalten vor Gericht. In einem am 11. April 1999 im Internet verbreiteten Brief hieß es dazu, dass kein wirklicher Revolutionär für sich und seine "Genossen" um Vergebung bitten dürfe. Schließlich bezeichnete die DHKP/-C das gegen ÖCALAN ergangene Todesurteil in einer weiteren Internet-Erklärung vom 3. Juli 1999 als ungerecht und weiteren Versuch der Türkei, die siebzigjährige Verleugnungsund Genozidpolitik mit dem Galgen fortzusetzen. Weder das Urteil noch seine Vollstreckung würden den nationalen "Befreiungskampf" des kurdischen Volkes vernichten oder aufhalten: 135 "... Die Befreiung unserer Völker kann allein durch die revolutionäre Macht und den Befreiungskrieg unter dem Leitspruch 'Vereinigen, kämpfen und siegen' verwirklicht werden ..." In scharfer Form rügte die DHKP/-C - und dies ist ein weiteres Indiz für das gegenwärtig belastete Verhältnis zur PKK - in ihrem Zentralorgan "KURTULUS" die auf die Zivilbevölkerung verübten Anschläge der PKK ( gemeint war u.a. ein Brandanschlag am 16. März 1999 auf ein Kaufhaus in Istanbul, bei dem 13 Menschen ums Leben kamen). Diese widersprächen den revolutionären Prinzipien des Widerstands und seien nicht geeignet, das Volk für den revolutionären Kampf zu gewinnen, sondern verschlechterten das Verhältnis zusehends. In London kam es in diesem Zusammenhang zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf ein DHKP/-CMitglied schwer verletzt wurde. Vor dem Hintergrund der noch anhängigen oder bereits abgeschlossenen Strafverfahren gegen hohe Führungsfunktionäre und Aktivisten der DHKP/-C bei den Oberlandesgerichten Celle, Frankfurt, Düsseldorf und vor allem Hamburg erhält das DHKP/-C-Verbot eine besondere Bedeutung. Nach einer Presseerklärung der von der "antifaschistischen Linken sowie von vielen MenschenrechtlerInnen in der BRD" gegründeten "Prozessgruppen zum DHKP-C-Prozess" solle beispielweise das "Verbot der Befreiungsbewegung der Völker der Türkei" durch den momentan am Hamburger Oberlandesgericht laufenden "129/a-Prozess gerichtlich manifestiert werden". In einem anderen Beitrag zu diesem Prozess wird der "großdeutsche imperialistische Rechtsstaat BRD" als "Behüter und Schutzengel des faschistischen Folterstaates der Türkei" bezeichnet. 3.2.2 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) Gründung: 1972 Anhänger: ca. 360 Baden-Württemberg (1998: ca. 360) ca. 1.900 Bund (1998: ca. 2.000) Publikationen: "Özgür Gelecek" (Freie Zukunft) "Partizan" (Der Partisan) 136 Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) zählte auch 1999 zu den wichtigsten und mitgliederstärksten revolutionär-marxistischen Organisationen. Seit 1994 ist sie in die beiden rivalisierenden Flügel "Partizan" und "Ostanatolisches Gebietskomitee" (DABK) gespalten. Beide Fraktionen zielen auf die gewaltsame Zerschlagung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung eines sozialistischen Systems. Zu diesem Zweck führt der militärische Arm, die "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO), einen bewaffneten Guerillakampf in der Türkei. Auf europäischer Ebene werden die Belange des "Partizan"-Flügels von der Dachorganisation "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa e. V." (ATIK) wahrgenommen, zu der auch die deutsche Basisorganisation "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF) gehört. Dementsprechend verfügt der DABK-Flügel über die Vorfeldorganisationen "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK) sowie die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF). Zur Finanzierung ihrer politischen Arbeit und des Kampfs in der Türkei führten beide Flügel auch 1999 wieder europaweite Spendenkampagnen durch. Am 24. April 1999 hielt der "Partizan"-Flügel in Gießen seine jährliche Gedenkveranstaltung zu Ehren des Parteigründers Ibrahim Kaypakkaya ab, zu der ca. 4.000 Besucher - z. T. auch aus dem Ausland - anreisten. Der DABK-Flügel veranstaltete am 15. Mai 1999 in Leverkusen ebenfalls eine derartige Gedenkfeier. Unter den ca. 4.000 Teilnehmern befanden sich auch PKKSympathisanten. 137 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) Gründung: 1994 Anhänger: ca. 250 Baden-Württemberg (1998: ca. 250) ca. 700 Bund (1998: ca. 700) Publikation: "Politikada ATILIM" (Der politische Angriff) Die 1994 durch den Zusammenschluss eines Teils der "Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML - Hareketi, eine Spaltergruppe der TKP/ML) mit der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) entstandene MLKP hat auch 1999 nichts von ihrer Bedeutung im linksextremistischen Spektrum eingebüßt. Die MLKP verfolgt in der Türkei unverändert das Ziel, durch einen revolutionären Umsturz die Volksherrschaft zu errichten. So erklärte die MLKP-Zeitung "ATILIM" in ihrer Ausgabe vom 3. April 1999 (auszugsweise Übersetzung): "Imperialismus ist Barbarei und Krieg Imperialismus wird vom Blut trinken nicht satt. Er verursacht regionale sowie überregionale Kriege, bei denen Millionen von Menschen getötet und verstümmelt werden. Er (der Imperialismus) bewaffnet sich bis an die Zähne und baut seine Zerstörungseigenschaft weiter aus. Imperialismus heißt Angriffslust ... Der dritte Weltkrieg wird mit der totalen Zerschlagung des kapitalistisch-imperialistischen Systems und mit dem Sieg des Sozialismus enden." In Deutschland verfügt die MLKP über die Basisorganisation "Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V." (AGIF). Die Jugendorganisation "Kommunistische Jugendorganisation" (KGÖ) dient überwiegend dazu, Parteinachwuchs zu gewinnen. Im Juli 1999 führte sie ein internationales Jugendcamp in den Niederlanden durch. 138 Am 13. November 1999 feierte die MLKP in Leverkusen den 5. Jahrestag ihrer Gründung. Zu dieser Veranstaltung unter dem Motto "Gemeinsam mit der Partei sind wir im 5. Jahr noch stärker" konnten ca. 4.000 Teilnehmer mobilisiert werden. Dabei wies ein Vertreter der MLKP-Auslandsorganisation auf die Bereitschaft der inhaftierten Anhänger hin, für die Verwirklichung der Revolution zu sterben. 3.2.4 "Föderation der Demokratischen Arbeitervereine e. V." (DIDF) Gründung: 1980 (Umbenennung 1999) Anhänger: ca. 200 Baden-Württemberg (1998: knapp 200) ca. 800 Bund (1998: ca. 800) Aus ihrer Pressemitteilung vom 6. Januar 1999 geht hervor, dass sich die "Föderation der Demokratischen Arbeitervereine aus der Türkei in der Bundesrepublik Deutschland e. V." (DIDF) in "Föderation der Demokratischen Arbeitervereine e. V." (DIDF) mit Sitz in Köln umbenannt hat. Die DIDF ist auch 1999 in Baden-Württemberg wieder öffentlich in Erscheinung getreten. Im Vordergrund ihrer Agitation standen neben den politischen Verhältnissen in der Türkei auch Bereiche der deutschen Politik. Dabei zeigte sie sich stets bemüht, die Unterstützung deutscher Gruppen zu gewinnen. Besonders engagierte sich die Vereinigung gegen die Unterschriftenaktion der Unionsparteien hinsichtlich der geplanten Änderung des Staatsbürgerrechts. Ferner standen die Forderung nach einem "Selbstbestimmungsrecht für das kurdische Volk" und Solidaritätsaktionen für die Erdbebenopfer in der Türkei im Vordergrund der Aktivitäten, die von Plakatierungen, Infoständen, Kundgebungen und dem Verteilen von Flugblättern begleitet wurden. Am 20. November 1999 feierte der zur DIDF gehörende "Freundschaftsund Solidaritätsverein Stuttgart" in der Stuttgarter Liederhalle sein 20-jähriges Bestehen. Daran nahmen etwa 2.000 Personen teil. 139 3.3 Türkische Islamistische Vereinigungen 3.3.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG)/"Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Gründung: 1985 als "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) 1995 Aufteilung in die beiden unabhängigen juristischen Personen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft" (EMUG) Sitz: Bonn/Köln Mitglieder: ca. 3.600 Baden-Württemberg (1998: ca. 3.600) ca. 27.000 Bund (1998: ca. 27.000) Publikation: "Milli Görüs & Perspektive" (in türkischer Sprache, vereinzelte Artikel in Deutsch); als Sprachrohr dient auch die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) stellt auch in Baden-Württemberg eine bedeutende Kraft des türkischen politischen Islamismus dar. Die mehr als 60 Vereine sind in den vier regionalen Verbänden Stuttgart, Freiburg, Schwaben und Rhein-Saar organisiert. Zum Verband Schwaben gehören allerdings auch IGMGVereine aus Bayern, während sich der Verband Rhein-Saar bis nach RheinlandPfalz erstreckt. Die IGMG ist als die europäische Vertretung der türkischen Partei anzusehen, die unter den Bezeichnungen "Wohlfahrtspartei" (RP) bzw. ihrer Nachfolgerin "Tugendpartei" (FP) als die entscheidende Organisation der islamistischen Bewegung in der Türkei anzusehen ist. Beobachtern stellte sich die Bewegung als uneinheitliches Gebilde dar; ihre Vertretung in Deutschland unterliegt der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden, da insbesondere Vertreter antiwestlicher und antidemokratischer Tendenzen über einen entsprechenden Einfluss verfügen. Problematisch sind auch Äußerungen zum "Zionismus", die oftmals dem Repertoire des europäischen Antisemitismus entstammen. Durch die enge Verbundenheit der IGMG mit der innertürkischen Politik können die auswärtigen Belange Deutschlands in erheblichem Umfang tangiert werden. 140 Trotz einer regen Tätigkeit in den Vereinen musste die IGMG 1999 einige Rückschläge hinnehmen. Diese betrafen allerdings die weit gefassten Strukturen, in die die IGMG eingebunden ist. So wurden die Hoffnungen der Vereinigung auf einen Erfolg der türkischen Islamisten bei den Parlamentswahlen im April 1999 in der Türkei enttäuscht, da die von ihr unterstützte "Tugendpartei" (FP) starke Verluste erlitt und nicht bei der Regierungsbildung berücksichtigt wurde. Die FP als Nachfolgerin der in der Türkei verbotenen "Wohlfahrtspartei" (RP) wird von der IGMG auf verschiedene Weise gefördert. So soll sie Flüge ihrer Anhänger von Deutschland in die Türkei gesponsert haben, um die FP mit Wahlstimmen zu unterstützen. Schon im Vorfeld der Wahlen hatte der ehemalige RPAbgeordnete und einschlägig bekannte Demagoge Sevki YILMAZ bei einer IGMG-Veranstaltung in Donaueschingen "jeden in Europa lebenden Muslim" aufgefordert, "in die Türkei zu fliegen und dort seine Stimme abzugeben". Das IGMG-Mitglied Eyyüp FATSA, ehemaliger Vorsitzender der in Deutschland aktiven, der IGMG nahe stehenden "Internationalen Humanitären Hilfsorganisation" (IHH), zog als FP-Abgeordneter in das türkische Parlament ein. Die IHH organisiert in Kooperation mit der IGMG Wohltätigkeitsveranstaltungen bzw. führt Spendensammlungen und Hilfsdienste wie bei den jüngsten Erdbeben in der Türkei durch. Der positive Eindruck, den diese menschenfreundlichen Aktivitäten hinterlassen, kommt auch der politischen Organisation zugute. Dem gleichen Ziel dient ein "Human Rights Commitee" der IGMG mit einem eigenen Menschenrechtsbeauftragten, der seit August 1999 im Amt ist. Für Missstimmung insbesondere unter den weiblichen Anhängern sorgte die Heirat des IGMG-Vorsitzenden Ali YÜKSEL mit einer dritten Frau nach islamischen Rechtsvorstellungen. Daraufhin trat er "aus privaten Gründen" von seinem Amt zurück. Als Nachfolger wurde der Geschäftsführer der Zeitung "Milli Gazete", Dr. Yusuf ISIK, benannt. Dies ist ein Beleg für die enge Anbindung dieser Publikation an die IGMG. Es muss jedoch bezweifelt werden, ob ISIK tatsächlich den Vorsitz in der Vereinigung ausübt, zumal in der "Milli Gazete" Professor Necmettin ERBAKAN34 als "der Führer" (lider) der IGMG bezeichnet wird. 34 Ehemaliger Ministerpräsident und Vorsitzender der inzwischen in der Türkei verbotenen "Wohl141 In der Öffentlichkeit und auf politischer Ebene stellt sich die Vereinigung - auch über den von ihr dominierten "Islamrat" - weiterhin als Befürworterin einer Integration türkischer Migranten in die deutsche Gesellschaft dar. Die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache, durchgeführt von in Deutschland ausgebildeten Lehrern, wird begrüßt, wenn grundgesetzliche Regelungen zur Aufsicht und Beteiligung der Religionsgemeinschaften beachtet würden. Offenbar hofft die IGMG als eine der mitgliederstärksten Organisationen auf die Chance, ihren Einfluss zu verstärken. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hielt sich die Vereinigung mit Verlautbarungen, die Zweifel an ihrer Selbstdarstellung wecken konnten, weitgehend zurück. Lob seitens der IGMG gab es für die Zulassung der von der Vereinigung dominierten "Islamischen Föderation Berlin" zur Erteilung von Religionsunterricht. Dies sei "eine schöne Entwicklung", die zeige, "dass die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaften große Ausmaße angenommen hat". Dass es ihr hierbei vor allem um die Beeinflussung und weltanschauliche Ausrichtung von Jugendlichen geht, die sie "vor den Fallen der fremden Kultur und des unmoralischen Lebenswandels ... schützen" will, wird gegenüber Deutschen weniger hervorgehoben. Denn dann müssten die IGMG-Funktionäre erklären, dass sie in einem einheitlichen Glauben das Gegenmittel gegen multikulturelle Vielfalt sehen. In diesem Sinne versucht die IGMG, auch auf die Gestaltung des Religionsunterrichts in BadenWürttemberg Einfluss zu nehmen. Hier arbeitet sie mit anderen Organisationen, wie der von den "Muslimbrüdern" beeinflussten "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), im "Zentralrat der Muslime in Baden-Württemberg e.V." zusammen. Allerdings betrachtet die IGMG die Erteilung von Religionsunterricht ausschließlich an den Schulen als nicht ausreichend. Nach ihrer Ansicht müssten die Korankurse in den Moscheen, ähnlich dem Konfirmandenund Kommunionsunterricht, erhalten bleiben. Ziel dieser Korankurse ist jedoch weniger die religiöse Unterweisung als vielmehr die politisch-extremistische Indoktrination. Das Bildungskonzept der IGMG beinhaltet auch eine klare Abgrenzung zum "westlichen" oder "imperialistischen" System. Dieses Feindbild hebt die eigenen Tugenden umso deutlicher hervor. In einem Interview erklärte dazu der stellvertretende Vorsitzende der IGMG und Leiter der Abteilung für Ausbildung, Mehmet GEDIK: fahrtspartei" (RP); derzeit in der Türkei mit einem Politikverbot belegt 142 "Auch wenn an allen staatlichen Schulen der Islamunterricht durchgeführt wird, werden die Sommerschulen und Sommerkurse fortgesetzt. Als Vorstand der Abteilung für Ausbildung der IGMG haben wir bezüglich der Sommerschulen Umfragen und Untersuchungen durchgeführt. Das Ergebnis dieser Untersuchung legt dar, ... dass das 35 Projekt der Sommerschulen unverzichtbar ist." Dass die IGMG bei ihrer Jugenderziehung nicht nur auf religiöse Unterweisung abzielt, geht aus einem bis heute nicht widerrufenen Ausbildungsprogramm hervor. Unter den Werken, die als grundlegend für die Ausbildung angesehen werden, finden sich nicht nur Schriften des Gründers der "Muslimbruderschaft" (MB), Hasan al Banna, sondern auch eine programmatische Ausarbeitung Necmettin ERBAKANs über die "Gerechte Wirtschaftsordnung". Dem Leser dieser Schrift wird eine "Weltanschauung" geliefert, deren antijüdische Grundhaltung nicht zu übersehen ist. Dass dies nicht auf individuelle Präferenzen des großen Vorbilds ERBAKAN zurückzuführen ist, zeigen Bücherhinweise wie die in der "Milli Gazete" vom 30. Juni 1999. Hier wird ein Autor empfohlen, der mit einem Titel wie "Das Judentum und die Gottlosen" bekannt wurde. Die politischen Vorstellungen dieses Verfassers einer Vielzahl von Buchtiteln zeigen sich auch bei der Verlagswerbung. Diese verspricht nämlich dem Leser, dass ihm bei der Lektüre bewusst werde, "dass die Judenvernichtung eine der größten Lügen der Welt ist". Die von der IGMG veranstalteten Sommerkurse, in denen Kindern und Jugendlichen insbesondere das Wissen über den Islam vermittelt wird, fanden nach Angaben der IGMG auch 1999 wieder verstärkten Zulauf. Eine Vielzahl von IGMG-Vereinen in Baden-Württemberg führte in den Schulferien und teilweise an Wochenenden während der Schulzeit Kurse für Jungen und Mädchen in verschiedenen Altersklassen durch. Seit Herbst 1999 sollten auch in Sindelfingen Wochenendkurse für Mädchen ab 10 Jahren durchgeführt werden. Verbindungen zu Holdings 35 "Milli Gazete" vom 22. September 1999 143 Trotz aller Bemühungen der IGMG, nicht in die Nähe von "Wirtschaftsspekulationen" zu geraten, gibt es immer wieder Hinweise auf Verbindungen von IGMGAngehörigen zu Holdings türkischer Herkunft, deren Nähe zur islamistischen Politik unverkennbar ist. Diese arbeiten nach eigener Darstellung ohne die Erhebung von Zinsen und bedienen sich so genannter islamisch einwandfreier Produktionsmethoden, d.h. sie arbeiten bereits an der von der FP und IGMG favorisierten "gerechten Ordnung" (adil düzen). Diese wirtschaftlichen Aktivitäten können als Schritt hin zu einer vom Religionsgesetz (Scharia) geprägten oder zumindest beeinflussten Gesellschaftsordnung gesehen werden. Berichte über Verbindungen der IGMG zur "Jet-Pa"-Holding dementierte die Vereinigung mit der Begründung, man habe den Landsleuten nicht zu Investitionen in diese Firma geraten, sondern vertraue auf deren "freie Willenskraft". Sollten die Holdings in finanzielle Schwierigkeiten geraten, würde dies negativ auf die IGMG ausstrahlen. Gleichzeitig ist aber auf Initiative Necmettin ERBAKANS die Gründung einer Dachgesellschaft ("Anatolische Löwen/ASKON") verschiedener türkischer Holdings geplant. Veranstaltungen Die IGMG führte am 22. Mai 1999 in Köln ihre 5. Generalversammlung sowie ein Friedensund Kulturfest durch. Dazu waren auch viele Wissenschaftler und politische Persönlichkeiten aus verschiedenen islamischen Ländern zum Informationsund Meinungsaustausch eingeladen worden. ERBAKAN dankte der IGMG in einer telefonischen Zuschaltung für ihre großen Erfolge in Deutschland. Nach seiner Ansicht lasse die deutsche Verfassung eine multikulturelle Gesellschaft zu und der "gesunde Menschenverstand beider Nationen", Deutschlands und der Türkei, ermögliche es, eine "neue Türkei" zu gründen. Danach sprach der IGMG-Vorsitzende Dr. ISIK. Dabei mündete seine Kritik an der internationalen Politik in Krisengebieten wie dem Kosovo, Kaschmir, Algerien sowie 144 Afghanistan in eine Abrechnung mit den politischen Verhältnissen in der Türkei, Frankreich und Deutschland: "Die Türkei beansprucht, ein Staat für den Bürger zu sein, aber (diesem Staat) gelingt es nicht, den Unterschied zwischen einem richtungsweisenden und restriktiven Rechtsstaat und einem Staat der Bürger zu erkennen. In Wirklichkeit ist es ein totalitärer Staat, der grundlegende Menschenrechte und Freiheiten nicht garantiert, ja nicht einmal respektiert. Er vermittelt den Eindruck eines Staates, der zu einer Gangsterbande verkommen ist, oder einer Gangsterbande, die sich als Staat organisiert ... Was den Gebrauch des Kopftuchs angeht, stellen wir fest, dass die mächtigsten und fortgeschrittensten Länder in Europa, Deutschland und Frankreich, manchmal genauso verbohrt, dogmatisch und behaftet mit Vorurteilen sind. Im Bundesland Baden-Württemberg ist die Lehrerin Fereshta Ludin ... 36 nicht als Lehrerin zugelassen worden." Hasan ÖZDOGAN, ein hoher Funktionär der IGMG, zeigte, wie die Doppelstrategie seiner Organisation funktioniert. So hatte er zwar als Vorsitzender des "Islamrats für Deutschland" Persönlichkeiten aus Presse und Politik zu einer Podiumsdiskussion nach Berlin eingeladen, um seine Dialogbereitschaft zu unterstreichen. Andererseits verwehrte er einem Journalisten, der sich in der Vergangenheit kritisch mit den Aktionen der IGMG auseinandergesetzt hatte, den Zutritt mit der Begründung, es handle sich bei ihm "um einen Unruhestifter, Verleumder, schmutzigen Journalisten und radikalen, ungläubigen Aleviten mit einem großen Rachebedürfnis an Muslimen."37 Dieses Beispiel belegt, dass führende IGMG-Funktionäre ein ambivalentes Verhältnis zur Pressefreiheit haben, und dass sie Toleranz nur einseitig für sich einfordern. Wo es möglich scheint, schreckt man vor Diffamierungen des politischen Gegners und Polarisierung nicht zurück. Das Hervorheben der Religionszugehörigkeit des 36 "Milli Görüs & Perspektive" vom August 1999 37 " taz" vom 2. Oktober 1999 145 Journalisten in Verbindung mit Negativurteilen zeigt, dass Funktionäre wie ÖZDOGAN gegenüber Minderheiten, die ihnen nicht genehm sind, jegliche Toleranz vermissen lassen. In Baden-Württemberg kam es auch 1999 wieder zu mehreren Veranstaltungen der IGMG. Regionaler Höhepunkt war die Generalversammlung des Bezirks Stuttgart am 5. Dezember 1999 in Esslingen. Als Gäste und Publikumsmagneten wurden der frühere Gebietsleiter des Regionalverbands Stuttgart und heutige Abgeordnete FATSA sowie der ehemalige RP-Justizminister Sevket KAZAN angekündigt. KAZAN gilt als Hardliner und enger Vertrauter ERBAKANs. Bei dieser Veranstaltung zeigten sich KAZAN und FATSA als Vertreter einer ultranationalistischen Strömung innerhalb der FP und IGMG. Indem sie die "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) wegen ihrer internen Streitigkeiten um den Vollzug der Todesstrafe für ÖCALAN kritisierten, stellten sie sich als die wahren Anwälte des "Volkswillens" dar: "Wenn die MHP die Gefühle des Volkes vertritt, dann soll sie bitte in ihrer Haltung in Sachen Öcalan nicht locker lassen und sich wie ein Mann hinter ihr Wort stellen, denn sie hat ständig für seine Hinrichtung plädiert."38 (Fehler im Original) Die Redner ließen keinen Zweifel an ihrem Eintreten für den Vollzug des Urteils. Gleichzeitig sahen sie kein Hindernis darin, ihre politische Partei, die FP, als "einzige Alternative" für die Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie in der Türkei darzustellen. Dass auf diese populistische Weise Positionen insbesondere der türkischen extremen Rechten besetzt werden, um deren Unterstützer für die Islamisten zu gewinnen, zeigt eher, welch problematische und fragwürdige Alternative den Menschen angeboten wird. 3.3.2 "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V." (ICCB), auch "Der Kalifatsstaat" 38 "Özgür Politika" vom 8. Dezember 1999 146 Gründung: 1985 als Abspaltung aus der AMGT hervorgegangen Sitz: Köln Mitglieder: ca. 300 Baden-Württemberg (1998: ca. 300) ca. 1.100 Bund (1998: ca. 1.200) Publikation: "Ümmet-i Muhammed" (Die Gemeinde Mohammeds, türkisch) Der "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V." (ICCB), von seinen Anhängern als so genannter Kalifatsstaat bezeichnet, gehört zu den auffälligsten Organisationen des islamistischen Spektrums in Deutschland. Dieses erklärt sich nicht nur daraus, dass sich die ICCB-Angehörigen in ihrer äußeren Erscheinung bewusst von der übrigen Gesellschaft abheben, sondern auch, weil die Ideologen dieser Organisation sich offen zu ihren Zielen bekennen und diese in radikaler und aggressiver Weise verkünden. Das Jahr 1999 war für den ICCB geprägt von der Festnahme seines Leiters Metin KAPLAN am 25. März 1999 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft bzw. Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung. Während bei der Festnahmeaktion in Köln mehrere Polizeibeamte verletzt worden waren, verliefen die späteren Demonstrationen der KAPLAN-Anhänger in Karlsruhe für dessen Freilassung friedlich. Daran nahmen teilweise mehr als 2.000 Personen aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden teil, darunter viele Frauen und Kinder. So viele Anhänger hatte KAPLAN selbst bei wichtigen Veranstaltungen in der ICCB-Zentralmoschee in Köln, beispielsweise anlässlich der 6. Wiederkehr der Ausrufung des "Kalifatsstaats", nicht mobilisieren können. Bei den Demonstrationen wurden Transparente und Spruchbänder mit Parolen mitgeführt wie: - "STEHT BRD UNTER DER KONTROLLE DER ZIONISTEN?" - "1938 brannten Synagogen 1999 werden Moscheen überfallen" - "WER SICH AN MOSCHEEN VERGREIFT, ÖFFNET KRIEG GEGEN ISLAM!" - "HIER WIRD DIE MEINUNGSFREIHEIT MIT FÜSSEN GETRETEN!!" - "IST DIE BUNDESSTAATSANWALTSCHAFT DER HANDLANGER DES TÜRKISCHEN TERRORREGIMES?" 147 (Fehler im Original) Für die KAPLAN-Anhänger stehen die Schuldigen für dessen Inhaftierung fest. Neben der "türkischen Republik, den islamfeindlichen USA und Israel" werden auch die Engländer, "welche das Kalifat beseitigen wollen", für die Maßnahmen der deutschen Polizei verantwortlich gemacht. Die Kemalisten seien immer Marionetten der Engländer und der Amerikaner gewesen, bei denen "die Zionisten" das "Sagen" hätten. Israel wird als "Krebsgeschwulst" auf islamischem Boden, insbesondere aber auf dem Territorium Palästinas, bezeichnet. Weder die Gründung noch der Fortbestand dieses Staats wäre möglich gewesen, wenn das Kalifat und die Scharia die Herrschaft über Anatolien gehabt hätten.39 Mehmet Fatih HOCAOGLU, der Sohn KAPLANs, stellt die Einstellung des ICCB zu "den Juden" so dar: "Mohammed sagte vor einigen Jahrhunderten: 'Eines Tages wird zwischen den Muslimen und den Juden ein großer Krieg ausbrechen. Der Jüngste Tag wird erst dann anbrechen, wenn auch der letzte Jude von der Bildfläche verschwunden ist'. Wir sind bereit, diesen großen Krieg anzunehmen."40 Im Übrigen sieht er Deutschland als einen Hauptgegner mit der Begründung: "Diejenigen, die damals den Juden Leiden zufügten, sind heute bedauerlicherweise zum Spielzeug der Juden geworden."41 Bei der Demonstration am 24. April 1999 in Karlsruhe beklagte ein Redner auch die Haltung der eigenen Gemeinde, da die Verhaftung von KAPLAN ebenso "beschämend für uns" sein müsse. Diese Einsicht schien sich für diesen als Hodscha42 vor39 "Ümmet-i Muhammed" vom 26. August 1999 40 "Ümmet-i Muhammed" vom 29. April 1999 41 "Ümmet-i Muhammed" vom 29. April 1999 42 eigentlich "Lehrer", hier führende Position 148 gestellten Anhänger noch dadurch zu vertiefen, dass seiner Ansicht nach KAPLANs Anhängern der Begriff "Märtyrertum" fremd geworden sei. So fehle die Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen. Außerdem habe man sich zu sehr "geduckt" und es an Haltung fehlen lassen, sodass "wir jetzt nicht mehr imstande sind, uns wieder aufzurichten und erhobenen Hauptes zu gehen". Angesichts dieser "Erniedrigung" wurden die Solidarisierung mit KAPLAN und die Forderung nach seiner Freilassung bekräftigt. Während der ICCB die Freiheiten des demokratischen Rechtsstaats für sich beansprucht, wird die Demokratie als Staatsform radikal abgelehnt. Als einzige Alternative biete sich dem Gläubigen an, "sich dem Islam zu ergeben und sich des Kalifats und des Kalifen anzunehmen!" Weiter heißt es in einer im Zusammenhang mit den türki43 schen Parlamentswahlen ergangenen Fatwa : - "Ein Muslim darf nicht an die von der Demokratie aufgestellten Wahlurnen gehen! - Ein Muslim darf nicht seine Stimme in eine von der Demokratie aufgestellte Wahlurne werfen! - Ein Muslim darf nicht gemäß der Demokratie kandidieren! - Ein Muslim darf nicht nach der Demokratie zum Abgeordneten werden! Geh nicht zur Wahlurne! Boykottiere! Verteile die Fetwa!"44 Die prinzipiell demokratiefeindlichen Zielsetzungen des ICCB werden auch in folgenden Passagen der "Ümmet-i Muhammed", Nr. 291 vom 9. September 1999, deutlich: "Wir sind eine politische Religionsgemeinschaft und Organisation. Denn wir wollen die Regierung in eine dem Islam entsprechende Form bringen und uns bemühen, alle Menschen, die Muslime und Nichtmuslime, in ein Zeitalter des Glücks zu führen." 43 Islamisches Rechtsgutachten (arab.) 44 Islamisches Rechtsgutachten (türkische Form), "Ümmet-i Muhammed" vom 4. März 1999 149 Weiter heißt es: "Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, denn der Islam befiehlt, Besitz zu verdienen und auf diesem Weg mit dem Besitz Ji45 had zu führen." Der Jugendarbeit wird auch beim ICCB eine wichtige Rolle eingeräumt. So werden Korankurse für Kinder und Jugendliche durchgeführt, allerdings aufgrund der wesentlich geringeren Anhängerschaft in einem kleineren Rahmen als bei der IGMG. Zu den Unterrichtsfächern gehören neben dem Koran die osmanische Sprache, Computerkenntnisse, der "Glaube an die Einheit Allahs" sowie die "Vielgötterei", wo46 zu der ICCB auch die von ihm abgelehnte Demokratie zählt. Sinn dieser Kurse sei es - so "Ümmet-i Muhammed", Nr. 283 vom 15. Juli 1999 - die türkischen von den deutschen Jugendlichen fernzuhalten, die dem Alkohol und Rauschgift zusprächen. Die Organisationsstrukturen in Baden-Württemberg befinden sich zur Zeit in einem eher zerrütteten Zustand. Der Großraum Stuttgart, der bislang als ein struktureller Schwerpunkt des ICCB in Baden-Württemberg galt, stellt hier keine Ausnahme dar. Außerdem musste die Vereinigung Anfang 1999 ihr bisheriges Domizil in Stuttgart räumen. Als Ersatz wurden in Esslingen statt der vormaligen "Moschee" unscheinbare Räumlichkeiten bezogen, wo sich Ende September 1999 eine geringe Zahl von Anhängern aus ganz Baden-Württemberg traf. Im Zentrum des Interesses der Veranstaltung stand Hasan PALA, ein Prediger aus Augsburg, der wegen des Aufrufs zum Mord an dem "Abtrünnigen" Dr. Sofu zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden 47 war. Es bleibt abzuwarten, ob die Inhaftierung von KAPLAN und sein Fehlen im Verband zu weiteren Differenzen und damit verbundenen Schwächungen führen. 3.4 Extrem-nationalistische Organisationen 45 Wörtlich: Bemühungen, Anstrengungen, Einsatz "auf dem Wege Gottes". Der Begriff umfasst ein Bedeutungsspektrum von individueller geistiger Vervollkommnung bis hin zum gemeinschaftlichen militanten Einsatz. 46 "Ümmet-i Muhammed", Nr. 288 vom 19. August 1999 150 "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V."(ADÜTDF)/"Deutsche Türk Föderation" (ATF) Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Mitglieder: ca. 2.100 BadenWürttemberg (1998: ca. 2.000) ca. 7.800 Bund (1998: ca. 7.500) Publikation: "Türk Federasyon Bülteni" (türkisch) Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) stellt in Deutschland nach wie vor die stärkste Organisation der extremnationalistischen türkischen Bewegung dar. Sie hat sich nunmehr in opportunistischer Anpassung an den Zeitgeist türkisch-islamischem Gedankengut geöffnet, ebenso wie ihre Mutter-Organisation "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) in der Türkei, die von Alparslan TÜRKES gegründet wurde. Unter seiner Führung vertrat die Partei pantürkische, rassistische und neofaschistische Ideen und zeichnete sich durch radikalen Antikommunismus aus. Die Anhänger der militanten MHP-Jugendorganisation "Graue Wölfe" trugen mit ihren terroristischen Aktionen wesentlich zu den bürgerkriegsartigen Verhältnissen Ende der 70er Jahre in der Türkei bei, die schließlich zum Militärputsch von 1980 führten. Nach dem Tod von TÜRKES im Jahr 1997 übernahm Devlet BAHCELI die Führung der MHP. Aggressives Auftreten der Anhänger kontrastiert mit der von ihm vertretenen moderaten Linie. Zweifel im Inund Ausland über den wahren Kurs der MHP begründen sich auf den damaligen Terror der "Grauen Wölfe". Der neue MHPVorsitzende versucht nun, mehr in die politische Mitte zu steuern und das gewalttätige Image der "Idealisten" abzumildern. So erklärte er gegenüber der Zeitung "Türkiye", die der MHP zu ihren Erfolgen bei den türkischen Parlamentswahlen gratulierte, im April 1999: "Wir haben unsere Linie aus den siebziger Jahren nicht geändert, aber wir sind heute weniger aggressiv." BAHCELI tritt zwar für einen laizistischen Staat ein, steht der Religion aber näher als sein Mentor TÜRKES. Während er sich von dem früheren Bild der 47 "Ümmet-i Muhammed" vom 30. September 1999 151 Partei distanziert, ist er gleichzeitig bemüht, die Parteistrukturen und Kandidatenlisten von dubiosen Personen mit Verbindungen zur kriminellen Unterwelt zu säubern. Am 14. Oktober 1999 berichtete die Zeitung "Türkiye", dass die MHP etwa 3.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen habe, weil diese in illegale Geschäfte verwickelt gewesen seien. Der Kurdenkonflikt hat weit über die Anhängerschaft der MHP hinaus nationalistische Gefühle gestärkt, einerseits aus Trauer und Wut um die Opfer der Kämpfe und auch der Terroranschläge Ende 1999, aber auch durch das nationale Hochgefühl nach der Gefangennahme von ÖCALAN. Schwerpunkte des Parteiprogramms bilden die Einheit der Türkei sowie deren Streben nach einer Führungsrolle in der Region. Hingegen werden Sonderrechte für ethnische Minderheiten strikt abgelehnt. Auch das Verhältnis zu Europa soll unter Rücksicht auf nationale Interessen neu bewertet werden. Die Bekenntnisse von BAHCELI zu Menschenrechten und Demokratisierung stehen im Gegensatz zu der ansonsten von nationalistischen Kreisen vertretenen Haltung. Die ADÜTDF leistete einen ansehnlichen Beitrag für den Wahlerfolg der MHP bei den türkischen Parlamentswahlen am 18. April 1999, bei denen diese etwa 18 % der Stimmen und 130 Sitze erreichte. Die Vereinigung organisierte diverse Veranstaltungen im Bundesgebiet, an denen Funktionäre der MHP und der ATF-Zentrale teilnahmen. Außerdem wurden auch aus Baden-Württemberg Anhänger als Wahlhelfer in die Türkei geschickt, darunter ein hoher ADÜTDF-Funktionär. Nach dem MHPWahlerfolg führte die ADÜTDF in Baden-Württemberg eine Vielzahl von Veranstaltungen unter dem Motto "Herzlichen Glückwunsch Türkei" durch, u.a. in Esslingen, Ulm, Oberderdingen, Stuttgart-Untertürkheim und Freiburg. In einzelnen regionalen oder örtlichen Bereichen konnte sie danach auch neue Mitglieder gewinnen. Die wichtigste Veranstaltung im Jahr 1999 war der ADÜTDF-Jahreskongress am 2. Oktober 1999 in Oberhausen mit etwa 10.000 Teilnehmern, darunter vielen Anhängern aus Baden-Württemberg. Dazu waren auch Minister, Abgeordnete und Oberbürgermeister der MHP aus der Türkei angereist. Bei den Vorstandswahlen wurde der bisherige Vorsitzende Mehmet ERDOGAN überraschend nicht mehr für den Vor152 sitz nominiert. An seine Stelle trat der bis dahin noch nicht in Erscheinung getretene Cemal CETIN. Nachweisbar von Anhängern der ADÜTDF verübte politisch motivierte Gewalttaten wurden 1999 nicht bekannt. Allerdings kam es mehrfach zu militanten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Staatsangehörigen und Anhängern der PKK oder linksextremistischer türkischer Organisationen. Diese behaupteten anschließend, bei den Kontrahenten habe es sich um "Graue Wölfe" bzw. "türkische Faschisten" gehandelt. 4. Araber 4.1 Arabische Islamisten "Muslimbruderschaft" (MB) Gründung: 1928 in Ägypten Sitz: international aktiv Mitglieder: ca. 210 Baden Württemberg (1998: ca. 210) ca. 1.200 Bund (1998: ca. 1.100) "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Gründung. 1960 Sitz: München "Hizb Allah" (Partei Gottes) Gründung: 1982 im Libanon Mitglieder: ca. 90 Baden-Württemberg (1998: ?) ca. 800 Bund (1998: ca. 750) Publikation: "Al-Ahd" (Die Verpflichtung) 153 Die Organisationen des politischen Islamismus sind durch zahlreiche Gruppierungen aus Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und Südasiens vertreten. Trotz der vorliegenden - bisweilen beträchtlichen - nationalen, ethnischen und politischen Differenzen verfügen sie über eine gemeinsame ideologische Basis, die sich auf die Religion stützt und die sie auch in der Ablehnung der Werte der westlichen Demokratie eint. Auch ihre Bemühungen, die politischen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern in ihrem Sinne zu beeinflussen, verpflichtet die Verfassungsschutzbehörden, solche Organisationen zu beobachten, weil dadurch auswärtige Belange der Bundesrepublik tangiert sein können. Als wichtigste Organisation dieses Spektrums ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) zu nennen, die unter dem Einfluss der "Muslimbruderschaft" (MB) steht. Eine Zweigstelle der IGD hat ihren Sitz in Stuttgart. Außerdem bestehen Kontakte zu einer Moschee in Karlsruhe. Wie bei den übrigen islamistischen Gruppierungen ist ein Hauptaugenmerk auf die politischen Vorgänge des Herkunftslands gerichtet. In jüngster Zeit mehren sich allerdings Hinweise, dass sie sich auch mit den Verhältnissen in ihren Gastländern auseinandersetzt. Dies hat zur Folge, dass sich die IGD über einen Dachverband wie den "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (Sitz: Köln) bzw. durch Einflussnahme auf andere regionale Verbände bemüht, bei der Lösung von Fragen wie islamischer Schulunterricht oder Schlachten gemäß islamischem Ritus ihre Forderungen einzubringen. Neben diesem vereinsrechtlich organisierten Verband IGD existieren noch Ableger islamistischer Organisationen, die sich abseits der geltenden Bestimmungen für Vereine nicht deutscher Herkunft etabliert haben. Der "Islamische Bund Palästinas e.V." (IBP) vertritt hier die Interessen der militanten palästinensischen "HAMAS" (Bewegung des islamischen Widerstands). Auch diese nationale Organisation ist ein Zweig der MB. Die "Islamische Heilsfront" (FIS) und ihr Ende 1999 aufgelöster bewaffneter Arm "Islamische Armee des Heils" (AIS) zählen ebenso zu den algerischen Islamisten wie die wegen ihrer unkontrollierten brutalen Gewalt in Erscheinung getretene "Islamische Bewaffnete Gruppe" (GIA). 154 Wegen ihrer strikten Ablehnung der Demokratie und Menschenrechte ist auch die "Hizb at-Tahrir" (Partei der Befreiung) zu nennen, die ihren Ursprung in Jordanien hat. Als weiterer Vertreter des Spektrums "Muslimbruderschaft" erscheint die tunesische "En-Nahda" (Die Wiedergeburt/Erneuerung), deren Angehörige in Deutschland lediglich vereinzelt auftreten. Dasselbe gilt für die ägyptische "Djama'a al-islamiya" (Islamische Gruppen), die in den zurückliegenden Jahren wiederholt durch in ihrem Heimatland auch gegen Touristen verübte Anschläge in Erscheinung trat. Die genannten Vereinigungen sind dem sunnitischen Islam zuzurechnen. Bei der libanesischen "Amal" (Gruppen des libanesischen Widerstands) und der wesentlich militanteren "Hizb Allah" (Partei Gottes) handelt es sich ebenfalls um islamistisch ausgerichtete Organisationen, die im Bereich der schiitischen Konfessi48 on ihren Ursprung haben. Die "Hizb Allah" trat in Baden-Württemberg und im Bundesgebiet kaum hervor, da die Parteiführung ihre hier lebenden Anhänger mehrfach zur Zurückhaltung aufforderte. Die Aktivitäten beschränkten sich weitgehend auf interne Treffen und Diskussionsrunden, wobei die finanzielle und moralische Unterstützung der Kämpfer gegen den Erzfeind Israel im Vordergrund stand. Die Spendenmoral wird durch Propagandamaterial aus dem Libanon unterstützt. Allerdings weist die Organisation den Sympathisanten im Ausland eine wichtige Rolle in der Politik zu. Sie sollen als "Botschafter" außerhalb des Libanon fungieren und in der Öffentlichkeit für die "legitimen Rechte" ihres Volkes eintreten, "denn es gibt eine Kampagne der Irreführung, der ein Libanese und insbesondere ein Angehöriger des Widerstandes begegnen sollte im Hinblick auf die Medien in der Welt, die in der einen oder anderen Weise vom jüdischen Kapitalismus regiert werden oder von Unterstützern des Judentums, die sich in diese Medien einschleichen, um die Wahrheit zu verdrehen".49 48 Länder mit bedeutenden schiitischen Bevölkerungsteilen sind der Iran, der Irak und der Libanon. In verschiedenen arabischen Staaten existieren auch schiitische Minderheiten. 155 Den Höhepunkt der Aktivitäten bildete die Beteiligung an der von ca. 2.000 Personen besuchten alljährlichen Demonstration zum so genannten Quds-Tag (JerusalemTag) am 16. Januar 1999 in Berlin. Dabei wurde deutlich, dass die Anhänger hierzulande ideologisch den Vorgaben der Partei mit ihrem kompromisslosen antiisraelischen Kurs folgen. Die Parteizeitung "Al-'Ahd" berichtete in ihrer Ausgabe vom 19. Dezember 1998 ausführlich über den Mitte Dezember 1998 in Damaskus abgehaltenen palästinensischen Nationalkongress, bei dem der Generalsekretär der Vereinigung, Scheich NASRALLAH, eine viel beachtete Eröffnungsrede gehalten habe. Dabei sei u.a. die Rede davon gewesen, dass die Palästinafrage keineswegs allein eine palästinensische Angelegenheit sei, sondern ein Thema aller Araber und Moslems. Zugleich habe NASRALLAH neben seinem Aufruf zum bewaffneten Kampf als dem einzigen Weg zur Befreiung Palästinas betont, dass der Feind, den man bereits im Libanon geschlagen habe, überall besiegt werden könne, wenn der notwendige Wille und Glaube vorhanden seien. Hinsichtlich der Abkommen von Oslo und Wye habe er unterstrichen, kein Mensch dürfe in der Palästinafrage entscheiden, denn sie sei eine "göttliche Angelegenheit" und könne nicht im Rahmen einer Volksabstimmung gelöst werden. Abschließend habe er zum "absoluten Widerstand" und "grenzenlosen Geben" aufgerufen, wobei der Führer und der Kämpfer zu Märtyrern würden und die Frau und das kleine Kind in den Kampf ziehen würden. Die Räume Freiburg, Mannheim und Stuttgart bildeten unverändert die Schwerpunkte der "Hizb Allah"-Anhänger in Baden-Württemberg. Einrichtungen, die als Stützund Anlaufpunkte für Vertreter sunnitischer Islamisten dienen, befinden sich in Karlsruhe, Mannheim, Stuttgart und Ulm. Zwischen den Verlautbarungen, die für die deutsche Öffentlichkeit bestimmt sind, und den wirklichen ideologischen Tendenzen bestehen erhebliche inhaltliche Abweichungen. Doch wurden selten in einer deutschsprachigen islamistischen Publikation die Menschenrechte in aller Offenheit so in Frage gestellt, wie dies in einer Ausgabe der Publikation "explizit" geschah. Hierzu erschien im Impressum dieser Zeitschrift, 49 "Al-'Ahd" vom 26. November 1999, Nr. 528 156 die sich als ein "politisches Magazin für ein islamisches Bewusstsein" versteht, folgende Zielsetzung: "Die Zeitschrift hat das Ziel, ein korrektes Islamverständnis im deutschsprachigen Raum sowohl unter Muslimen als auch unter Nichtmuslimen zu vermitteln. Sie hat die Aufgabe, den Muslimen in Europa ihre Verbundenheit mit der islamischen Um50 mah überall auf der Welt als göttliches Gebot bewusst zu machen. Darüber hinaus soll der Islam als das, was er ist, als umfassende Lebensordnung und im Gegensatz zu den bestehenden Gesellschaftssystemen einzig gangbarer Weg dargestellt werden." Die völlige Distanzierung zu der im Grundgesetz verbürgten Werteordnung kam in 51 einem Artikel "ISLAM oder MENSCHENRECHTE" zum Ausdruck. Der Islam komme auch ohne Menschenrechte aus, und es sei ein definitives Faktum, dass die Schari'a für alle Probleme des Menschen Lösungen enthalte - unabhängig von Ort und Zeit. Der Verfasser stellte die Menschenrechte in Frage, weil die Vorstellung dieser Rechte "untrennbar mit der geistesgeschichtlichen Epoche der Aufklärung, des Humanismus und der Entwicklung des demokratischkapitalistischen Systems verbunden ist. Sie ist somit vor dem spezifischen Hintergrund einer Kultur entstanden, die in ihrer Grundlage jener der islamischen Kultur diametral widerspricht". Vertreter der "Islamischen Bewegung" wissen nur zu genau, dass sie ihre Anhänger erreichen und mit Zuspruch rechnen können, wenn es gelingt, gegen "den Westen" und Israel, dessen "Platzhalter" im Nahen Osten, zu polemisieren. So erklärte der derzeitige oberste Führer der ägyptischen MB, Mustafa MASHUR, dass der noch nicht gelöste Palästinakonflikt eine "ideologische Schlacht um die Zukunft" sei, 50 Gemeinschaft der Gläubigen 51 "explizit", Nr. 21 vom Okt./Nov./Dez. 1998 157 "die nur enden kann durch den Sieg der Wahrheit und der Gerechtigkeit über die Lüge und die Tyrannei und die Aggression; es ist ein totaler Kampf, sowohl spirituell, ideell, als auch ein sittlicher und gesellschaftlicher Kampf; es ist ein Kampf der Wirtschaften und Kulturen, der sich nicht nur auf die Gegenwart bezieht, sondern der sich ausdehnt in die Zukunft der arabi52 schen und islamischen Gemeinschaft". Unter diesem Aspekt ist es nur konsequent, wenn die "Muslimbrüder" versichern, 53 dass "HAMAS" mit ihrer uneingeschränkten Unterstützung rechnen könne. In diesem Zusammenhang ist auch die Rede davon, dass Palästina völlig befreit und die symbolträchtige Stadt Jerusalem mit der Al-Aqsa-Moschee "von dem usurpatorischen zionistischen Dreck" gereinigt werden müsse.54 Im Übrigen wird das Weltbild in der MB immer noch von Verschwörungstheorien bestimmt. Dabei wird die antisemitische/antizionistische Haltung vermengt mit politischen Elementen, die insbesondere in Europa in Zirkeln der extremen "Rechten" gepflegt werden. Für den Verfasser einer Titelgeschichte galt es beispielsweise als gesichert, dass die so genannten 55 Bilderbergtreffen eine Gefahr für die islamisch-arabische Welt darstellten, der man mit einer "Verteidigungsorganisation" begegnen müsse. Um den Grad der Bedrohung hervorzuheben, wurde den Lesern erklärt, dass diese "undurchsichtige Organisation dem Einfluss der weltweit agierenden Freimaurer" unterliege und überdies von der "jüdischen Rockefeller-Stiftung in erster Linie, dann von der Bank des bekannten 56 jüdischen Milliardärs Rothschild" gesponsert werde. Ähnliche, in der Vergangenheit auch in den Medien türkischer Islamisten aufgetauchte Vorwürfe sind ein weiterer Beleg dafür, dass in der islamistischen Bewegung ein einheitliches Feindbild gepflegt wird. Bei der Festnahme von ÖCALAN im Februar 1999 zeigten Islamisten ihre generelle Ablehnung des sich auf Kemal Atatürk berufenden türkischen Staats. Nach Angaben 52 "Risalat ul-ikhwan" vom 11. Juni 1999; die Zeitschrift wird in London verlegt 53 "Al -Mujtama'a" vom 27. Juli 1999 54 "Al-Mujtama'a" vom 5. Oktober 1999 55 Informelles, 1954 von Prinz Bernhard der Niederlande initiiertes Jahrestreffen der einflussreichsten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Europas und Nordamerikas. Benannt nach dem ersten Tagungshotel "Bilderberg" in Oostabek/NL. 56 "AlMujtama'a" vom 21. September 1999. Die Freimaurerlogen werden von Islamisten als "jüdisch beeinflusste Organisationen" angesehen. 158 des von der PKK für Propagandazwecke genutzten Senders "MED-TV" unterzeichneten neben anderen auch Gruppierungen wie "HAMAS", "Islamischer Dschihad" und "Hizb Allah" eine gemeinsame Erklärung, in der u.a. die sofortige Freilassung ÖCALANs gefordert wurde. Wenngleich zwischen PKK und Islamisten eine kaum überbrückbare ideologische Kluft besteht, so wird ein solcher Anlass doch gern dazu benutzt, um das "laizistische System" propagandistisch anzuprangern. Auch der in islamischen Kreisen nicht unumstrittene Kosovo-Krieg57 wurde als Konflikt dargestellt, der alle Muslime betreffe. Anhand der Ereignisse werde deutlich, wie sich Europa bzw. "der Westen" tatsächlich zum "Islam" stellten. Die Vertreibung der Kosovo-Albaner sei in Wirklichkeit eine abgekartete Angelegenheit zwischen dem Serbenführer Milosevic und der NATO, um Europa "vom Islam zu säubern"; eine Übereinstimmung mit dem Palästinakonflikt sei unübersehbar. Auch Palästinenser hausten schon seit Jahren in Flüchtlingslagern und erhielten keine Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren. Auch das russische Vorgehen im Kaukasus blieb hierzulande nicht ohne Resonanz. Dabei zeichneten sich die Konfliktlinien für die Islamisten ausschließlich an der Frage des religiösen Bekenntnisses ab. So hieß es, getötet würden Menschen, "welche unsere Brüder und Schwestern im Islam sind". Der Pflicht, "diesen Geschwistern" zu helfen, solle durch finanzielle Unterstützung der zum Kampf bereiten Mudjahedin Genüge getan werden.58 Bei der Propagierung einer "islamischen Identität" in vielfältigen Schriften zeigt sich immer wieder, dass Islamisten einerseits Religionsfreiheit für sich beanspruchen. Diese Freiheit soll schrankenlos für eine "islamische Lebensweise" gelten, die "alle Bereiche und Ebenen der Lebensgestaltung, nämlich die ideologische, religiöse, kulturelle, politische, wirtschaftliche, soziale, wissenschaftliche usw. impliziert und umfasst."59 Andererseits wird von dem Gläubigen erwartet, dass er alle Elemente dieser "islamischen Lebensweise" verinnerlicht, ohne je an Widerspruch zu denken. Der nicht muslimischen Mehrheit der Gesellschaft wird nahe gelegt, dieser Auffas57 Mit dem antiwestlichen Weltbild der Islamisten waren die Unterstützung der bosnischen Muslime und das Eingreifen der NATO nicht vereinbar. Schließlich wurde es als Schritt ausschließlich im amerikanischen und damit letztendlich jüdischen Interesse interpretiert. 58 aus dem eMail des "Muslim-Markts" vom 23. November 1999 159 sung zu folgen, sodass sie - ohne Berücksichtigung der eigenen verfassungsmäßigen Werteordnung - z.B. "toleriere", dass "ein Muslim in einem westlich-demokratisch orientierten Land mehrere Frauen heiraten dürfe". Wie problematisch diese kompromisslose Forderung der Tolerierung einer Gemeinschaft ist, die ihrerseits eine absolute Geltung ihrer Werte fordert, zeigt sich am Verhalten der islamischen Gruppierung "Alemi Madjlis Taharfzere Khatm-e Nabuwwat" (Weltrat zur Bewahrung des prophetischen Siegels). Die aus Pakistan stammende Vereinigung ist auch in Europa und Deutschland tätig, u.a. mit einem Stützpunkt in Baden-Württemberg. Im Bemühen, eine vom orthodoxen Islam abweichende Glaubensgemeinschaft, die so genannte Ahmadiyya Muslim Djama'at, zu bekämpfen, wird die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland völlig ignoriert. Die Hetzund Schmähschriften machen deutlich, dass europäische Vorstellungen von Menschenrechten und individuellen Freiheiten bei Verfassern und Verteilern der Propagandaschriften wenig bzw. nichts gelten. 4.2 Palästinenser Die Entwicklung im Nahen Osten blieb 1999, insbesondere nach dem Regierungswechsel in Israel, nicht ohne Folgen für die Organisationen, die von Anfang an den in Oslo angestrebten Friedensprozess sowie einen Ausgleich mit Israel ablehnten. Allerdings geht die politische Bedeutung von Vereinigungen wie die "Demokratische Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) und die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) im Vergleich zu der - zwar stark kritisierten - Autonomiebehörde unter dem Vorsitzenden Arafat sowie im Verhältnis zur islamistischen "HAMAS" stark zurück. Der Erfolglosigkeit in der Heimat entspricht der Bedeutungsverlust in der Diaspora. So verfügen beide Organisationen in Baden-Württemberg nur über wenige Dutzend Anhänger. Indes werden weiterhin Anstrengungen unternommen, verlorenes Terrain mittels "Palästinensischer Gemeinden" zurückzugewinnen, jedoch mit nur geringem Erfolg. Der Führer der DFLP, Najif HAWATMEH, versucht seine Position durch eine Annäherung an Arafat zu stärken. Allerdings bekennt sich seine Organisation unverändert zu den Zielen des Kampfs für die nationalen Belange, d. h. 59 aus der "Einführung in das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen" 160 "der Errichtung eines unabhängigen Staates mit seiner Hauptstadt Jerusalem". Dazu sieht es die DFLP als notwendig an, "an allen Formen des politischen Kampfs ... 60 (auch) in bewaffneter (Form)" festzuhalten. Die Unterzeichnung des Vertrags von Oslo wird unverändert als ein Schritt interpretiert, der einen Keil in die palästinensische "nationale Einheit" getrieben und in eine politische Sackgasse geführt habe. Die PFLP äußert sich in ähnlicher Weise. Die bisherigen Absprachen und Übereinkünfte mit Israel hätten offen gelegt, dass sich die Palästinensische Autonomiebehörde den israelischen Bedingungen sowie den Drohungen und Warnungen des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak unterworfen habe. Von Arafat seien in Verhandlungen über bereits geklärte Sachverhalte nur "neue Verzichtsleistungen bei unverrückbaren palästinensischen Rechten" erbracht worden. Die DFLP fordert wei61 terhin, "den Kampf mit allen Mitteln fortzusetzen". 5. Ehemaliger Vielvölkerstaat Jugoslawien 5.1 Allgemeines Die Entwicklung der Kosovo-Krise und die am 24. März 1999 begonnenen NATOLuftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien sowie auf serbische Einrichtungen im Kosovo standen im politischen Mittelpunkt der in Baden-Württemberg lebenden 296.14262 Angehörigen des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien. Neben den Kosovo-Albanern (in Deutschland lebten bis Ende des Krieges etwa 250.000) entwickelten dabei auch die Serben (in Deutschland über 350.000) verstärkte Aktivitäten. Bereits im Vorfeld der "Kosovo-Friedensverhandlungen" Anfang Februar 1999 in Rambouillet63 bei Paris hatten politisch organisierte Kosovo-Albaner und regimetreue 60 "Thesen zur Parteiausbildung", hg. von der DFLP-Sektion Syrien, August 1999 (arabisch) 61 "Democratic Palestine", September 1999 62 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Stand 31. Dezember 1997; umfasst Personen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und der Bundesrepublik Jugoslawien [Serbien/Montenegro]) 63 Die Verhandlungen zwischen Serben und Kosovo-Albanern wurden von der "BalkanKontaktgruppe" geleitet, der die Außenminister von Großbritannien, Italien, Russland, Deutschland sowie der USA angehörten. 161 Serben ihre demonstrativen Aktionen im Bundesgebiet ausgeweitet. So demonstrierten beispielsweise am 3. April 1999 ca. 5.000 und am 10. April 1999 über 10.000 Kosovo-Albaner in Bonn gegen ethnische Säuberungen und Vertreibung der kosovoalbanischen Bevölkerung im Kosovo durch serbische Milizen. Die in Deutschland lebenden Serben protestierten ebenfalls voller Aggressivität und Emotionen gegen die Operationen der NATO. Bei Kundgebungen wurden z.B. Transparente und Plakate gezeigt, auf denen US-Präsident Bill Clinton und Bundeskanzler Gerhard Schröder als neue Hitler dargestellt waren. Im Verlauf von Demonstrationen in Bonn und Stuttgart hatten sich Teilnehmer gelbe "David-Sterne" mit der Aufschrift "SERBE" angesteckt. Als Reaktion auf die zahlreichen demonstrativen Aktionen von Kosovo-Albanern gegen den "Serbenterror" in ihrem Heimatland riefen serbische Vereinigungen auch in Baden-Württemberg zu Protestkundgebungen auf, die am 27. März 1999 in Stuttgart ihren Höhepunkt fanden anlässlich des Beginns der NATO-Luftangriffe auf Ju goslawien am 24. März 1999. Für diese Aktion konnten etwa 4.000 Serben mobilisiert werden. Trotz der äußerst angespannten Lage und der angestauten Aggressionen verlief die Demonstration friedlich. Die Luftangriffe auf Jugoslawien dauerten nahezu drei Monate, bis der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic nach zähen Verhandlungen mit führenden Vertretern der Europäischen Union (EU) und Russlands den vom Westen und von Russland vorgelegten Friedensplan akzeptierte und den Rückzugsbefehl für die im Kosovo eingesetzten jugoslawischen Truppen sowie die Einheiten der Sonderpolizei erteilte. Daraufhin wurden die Luftangriffe am 10. Juni 1999 ausgesetzt (insgesamt hatte die NATO in 79 Tagen mehr als 30.000 Einsätze auf jugoslawische Ziele geflogen) und am 20. Juni 1999 offiziell beendet. Daraufhin hob das jugoslawische Parlament am 24. Juni 1999 den Ausnahmezustand über Jugoslawien wieder auf. 5.2 Die Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien auf Baden-Württemberg Die in Baden-Württemberg lebenden Serben und Kosovo-Albaner nahmen die Beendigung der Luftangriffe mit großer Erleichterung auf. Die lange Zeit sehr emotionsgeladene und aggressive Stimmung unter den Serben hat sich inzwischen wieder 162 erkennbar entspannt. An verschiedenen gegen die NATO-Bombardierung gerichteten Protestveranstaltungen, die von einem in Stuttgart registrierten regimetreuen jugoslawischen Verein auf dem Stuttgarter Schlossplatz organisiert worden waren, hatten zuletzt nur noch etwa 350 Personen teilgenommen. Die in vielen Städten Baden-Württembergs überwiegend von deutschen linksextremistischen Gruppierungen initiierten Mahnwachen gegen die NATO-Luftangriffe wurden eingestellt bzw. unter dem Motto "Zum Gedenken an die Opfer des NATOKrieges" oder "Nie wieder Krieg" noch etwa einen Monat weitergeführt und dann endgültig beendet. Diese Aktionen dürften wohl kaum die Erwartungen der Veranstalter erfüllt haben, zumal sich daran zuletzt nur noch bis zu fünf Personen beteiligt hatten. Über den Mobilisierungsgrad der "Jugoslawen" und Kosovo-Albaner sowie der deutschen Gruppierungen in Baden-Württemberg liegen folgende Zahlen vor64: Demonstrationen, Kundgebungen, Teilnehmer Mahnwachen insgesamt Anzahl Serben 63 ca. 16. 500 Kosovo-Albaner 43 ca. 4. 00065 Deutsche ca. 190 ca. 10. 000 Im Zusammenhang mit den Luftangriffen auf Jugoslawien wurden in BadenWürttemberg 98 Straftaten verübt, u.a. Sachbeschädigungen, Drohschreiben/anrufe, Bombendrohungen, Beleidigungen und Farbschmierereien. Folgende herausragende Straftaten wurden gleich zu Beginn des Krieges angezeigt: * 3. April 1999: Bisher unbekannte Täter steckten im Parkhaus der Deutschen Bank in Stuttgart zwei Fahrzeuge des Bankinstituts in Brand. In unmittelbarer Nähe des Tatorts waren auf eine Gebäudewand zwei Hakenkreuze und dazwischen das Wort NATO gesprüht worden. Es entstand ein Sachschaden von insgesamt ca. 75. 000 DM. 64 Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie umfasst lediglich die dem Landesamt bekannt gewordenen Zahlen. 65 Die Teilnehmerzahl ist relativ niedrig, weil Großveranstaltungen außerhalb von BadenWürttemberg stattfanden, so am 3. und 10. April 1999 in Bonn mit ca. 5.000 bzw. 10.000 Teilnehmern. 163 * 13./14. April 1999: In mehreren Städten Baden-Württembergs kam es im Zusammenhang mit der Kosovo-Hilfe zu Erpressungen gegen Lebensmittelketten, wobei z.B. entsprechende Drohschreiben an einen lokalen Rundfunksender geschickt wurden. Die betroffenen Produkte wurden vom Markt genommen, obwohl der Wirtschaftskontrolldienst keine Manipulation festgestellt hat. Serben und Kosovo-Albaner gehen sich nach wie vor aus dem Weg. Zwar ist bei den Kosovaren die Freude über den Sieg der NATO gegen Jugoslawien nicht zu übersehen, Provokationen gegenüber Serben wurden bisher aber nicht bekannt. Das von den Serben noch im Sommer öffentlich zur Schau gestellte Selbstbewusstsein ist mittlerweile einer gewissen Resignation gewichen. Viele von ihnen, die in BadenWürttemberg leben, sehen es nun als ihre Hauptaufgabe an, Hilfslieferungen für ihre Landsleute in der Heimat zu organisieren. Im Übrigen betrachten beide Konfliktparteien gegenseitige Provokationen bzw. Auseinandersetzungen im Ausland als kontraproduktiv. Dabei wurde Baden-Württemberg einmal mehr als Ruheraum und Finanzierungsbasis zur Unterstützung des Kampfs gesehen und daher das gewährte Gastrecht respektiert. Auch wollen die meist seit Jahrzehnten hier lebenden Serben und Kosovo-Albaner offensichtlich ihre hier aufgebaute Existenz nicht durch militante Aktionen gefährden. 5.3 Aktivitäten der kosovo-albanischen Emigrantenorganisationen "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue" (B.K.D.SH.) Gründung: 1979 im Kosovo Sitz im Ausland: Donzdorf/Krs. Göppingen Mitglieder: ca. 50 in Baden-Württemberg (1998: ca. 50) ca. 150 Bund (1998: ca. 150) Publikation: "Besa Shqiptare" (Albanische Treue) "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) 164 Gründung: 1982 als "Bewegung für eine albanische sozialistische Republik in Jugoslawien" (LRSSHJ) im Kosovo gegründet, 1985 Umbenennung in "Volksbewegung für die Republik Kosovo" 1993 erneute Namensänderung in "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) Sitz: Kosovo (bis Sommer 1999) LPK-Ausland: Schweiz (bis Kriegsende im Juni 1999) Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (bis Kriegsende im Juni 1999) (1998: ca. 60) ca. 500 Bund (bis Kriegsende im Juni 1999) (1998: ca. 550) Publikation: "Zeri i Kosoves" (Die Stimme Kosovos) - bis September 1999 Die extrem-nationalistische "Nationaldemokratische Liga der Albanischen Treue"66 (B.K.D.SH.) und die linksextremistische "Volksbewegung von Kosovo" (LPK) unterstützten vorbehaltlos - unter Beilegung der gravierenden ideologischen Unterschiede - den von der "Befreiungsarmee von Kosovo" (UCK) geführten "Befreiungskampf" gegen die Serben. Dabei standen bis zum Ende des Krieges vor allem bei der LPK, die seit 1996 die UCK ideell, hauptsächlich aber finanziell unterstützt, Geldsammlungen zur Finanzierung des Kampfs im Vordergrund. Daneben wurden anlassbezogen auch so genannte Solidaritätskampagnen unter dem Motto "Heimat in Gefahr" organisiert. Die Verantwortlichen des von der LPK initiierten Spendenfonds "Vendlindja therret" (Das Vaterland ruft)67 riefen die in der Diaspora lebenden Kosovo-Albaner regelmäßig dazu auf - gegen Ende des Krieges mit steigender Intensität - , finanzielle Hilfe für die notleidende Bevölkerung in der Heimat und vor allem für den "Befreiungskampf" der UCK zu leisten. So wurden beispielsweise die Besucher von Informationsveranstaltungen des Fonds in Freiburg, Ludwigsburg, Ravensburg, Waiblingen und Winnenden stets über die aktuelle Lage in der Heimat und die "Erfolge" der UCK informiert; durchgeführte Sammlungen erbrachten in der Regel jeweils Beträge von ca. 5.000 DM bis über 10.000 DM. Außerdem rief die Organi66 Die Organisation trat nicht mit eigenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung; die Aktivitäten beschränkten sich auf interne Veranstaltungen. 67 Dieser Fonds wurde von der Tarn-/Hilfsorganisation der LPK, der "Demokratischen Vereinigung der AlbanerInnen in Deutschland e.V." (DVAD) mit Sitz in Siegburg, verwaltet. Das Büro wurde nach dem Krieg im Ko165 sation vor allem in ihrem Publikationsorgan "Zeri i Kosoves" - das inzwischen nicht mehr erscheint - regelmäßig zu Spenden für den Fonds auf. Von nicht unerheblicher Bedeutung war die Anmietung eines Büros in den Räumen des "Albanischen Vereins für bildende Künste und Theater - Aleksander Moisiu - e.V." in Stuttgart-Feuerbach durch die LPK, um landesweit die Geldsammlungen für den Fonds zu koordinieren. Nachdem der im Kosovo lebende damalige Sprecher des Generalstabs der UCK, Jakup KRASNIQI, Ende März 1999 in einem vom albanischen Fernsehen ausgestrahlten Appell alle im Ausland lebenden arbeitslosen Männer im Alter von 18-50 Jahren zum Kriegsdienst aufgerufen hatte, um die serbische Offensive im Kosovo zurückzuschlagen, fungierte das Büro als Rekrutierungsstelle. Insgesamt wurde die Rekrutierung von mehr als 1.000 Freiwilligen für die UCK koordiniert. Anfang Juli 1999 erklärte die LPK in Pristina/Kosovo ihre Umwandlung in eine politische Partei unter der Bezeichnung "Partei der Demokratischen Vereinigung" (PBD). Bereits im Oktober 1999 gründeten u. a. Mitglieder der "provisorischen Regierung" des Kosovo unter Hasim THAQI68 die "Partei für den demokratischen Fortschritt Kosovos" (PPDK) unter Einschluss der PBD. Der Fonds "Vendlindja therret" stellte Ende Juli 1999 seine Tätigkeit ein. An seine Stelle trat in Deutschland der von der "Übergangsregierung" unter THAQI eingerichtete "Fondi i Kosoves" (Fonds des Kosovo). Gleichzeitig wurden die Landsleute aufgefordert, ihre Spenden ab 1. August 1999 auf ein neu eingerichtetes Konto bei der Dresdner Bank in Stuttgart einzuzahlen. Außerdem unterhält der neue Fonds in Stuttgart ein Büro. Bis Ende Juni 1999 lagen die Aktionsschwerpunkte in den Einzugsbereichen der in Baden-Württemberg existierenden LPK-Volksräte (Ortsgruppen) in Balingen, sovo geschlossen, die Verantwortlichen haben keinen Einfluss mehr auf den Fonds; Einzahlungen erfolgen nicht mehr. 166 Crailsheim/Aalen, Fellbach, Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Ludwigsburg, Mannheim, Mosbach, Pforzheim, Reutlingen/Tübingen, Stuttgart und Tuttlingen. An einer von der LPK organisierten Protestkundgebung gegen die ethnischen Säuberungen der serbischen Milizen im Kosovo am 3. April 1999 in Stuttgart nahmen etwa 1.500 Personen teil. Trotz Umbenennung der LPK in eine politische Partei existieren auch in BadenWürttemberg weiterhin "Reststrukturen" der Organisation. Diese Zirkel sind derzeit inaktiv und verhalten sich abwartend. Die PPDK hat in weiten Teilen der hier lebenden LPK-Anhängerschaft bislang nicht die von ihren Führungspersonen erhoffte Akzeptanz gefunden. In einem Aufruf der "Übergangsregierung Kosovas" vom 12. Juni 1999 wurden "alle kosovarischen Intellektuellen, Arbeiter und Experten aller Berufsgruppen" aufgefordert, "am Wiederaufbau sowie an der Normalisierung des Lebens in Kosova mitzuwirken". Deshalb kehrten in den vergangenen Monaten viele Kosovo-Albaner in ihre Heimat zurück bzw. unterstützen seitdem ihre dort lebenden Angehörigen direkt. Daraus erklärt sich auch die zuletzt stark reduzierte Spendenbereitschaft für den neuen "Regierungsfonds". Mit der Rückkehr vieler Kosovo-Albaner in ihr Heimatland hat sich die Zahl der gewaltorientierten Personen in Baden-Württemberg weiter reduziert. 6. Iraner Die stärksten Aktivitäten des iranischen oppositionellen Spektrums gingen von den Anhängern des "Nationalen Widerstandsrats Iran" (NWRI), dem politischen Arm der "Volksmodjahedin Iran" (PMOI), aus. Sein Aushängeschild stellt hauptsächlich die im August 1993 ohne jegliche politische Legitimation zur "Präsidentin" des Iran designierte Maryam RADJAVI dar. Ihr Ehemann Massoud RADJAVI fungiert sowohl 68 THAQI war Leiter des politischen Direktoriums im Generalstab der UCK. Er wurde im Februar 1999 als Verhandlungsleiter der Delegation der Kosovo-Albaner bei den "Kosovo-Friedensgesprächen" in 167 als Vorsitzender des NWRI sowie als Oberbefehlshaber der am 20. Juni 1987 gegründeten "Nationalen Befreiungsarmee" (NLA), die als bewaffneter Arm der Bewegung die Hauptlast des Kampfs gegen das iranische Regime trägt. Das ideologische Fundament der PMOI besteht aus schiitisch-islamistischem Gedankengut, durchsetzt mit sozialistischen und nationalistischen Elementen. Der NWRI führte 1999 in Deutschland zahlreiche friedlich verlaufene Demonstrationen durch, die jedoch in der Bevölkerung nur auf geringe Resonanz stießen. In Baden-Württemberg fanden Aktionen, die sich gegen die Islamische Republik Iran richteten, in Stuttgart, Karlsruhe, Heidelberg und Mannheim mit jeweils nicht mehr als 50 Teilnehmern statt. Höhepunkte der Propagandaveranstaltungen waren Demonstrationen am 9./10. März 1999 in Rom und am 27. Oktober 1999 in Paris, die sich gegen Staatsbesuche des iranischen Staatspräsidenten Sayed Mohammed Khatami in beiden Ländern richteten. Dabei wurden mehrere Anhänger des NWRI, darunter auch Führungspersonen, nach Aktionen gegen die Fahrzeugkolonne Khatamis festgenommen. In Deutschland fanden im Vorfeld des Italienbesuchs Demonstrationen und Hungerstreiks statt, in Amsterdam wurde das italienische Generalkonsulat von iranischen Demonstranten besetzt. Im Jahr 1999 kam es im Iran wiederholt zu gewalttätigen Aktionen, die offenbar von der PMOI ausgingen. Auch zu einem Mordanschlag, der am 10. April 1999 auf den iranischen Generalstabschef Schirasi verübt wurde, bekannten sich die Volksmodjahedin. Die Begründung lautete, der Getötete habe Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Außerdem sei er für die Ermordung Hunderter Oppositioneller verantwortlich. Gleichzeitig kündigte die PMOI an, die Ermordung Schirasis sei nur der Auftakt zur Eliminierung weiterer Repräsentanten des Systems. Allerdings würden keine Attentate gegen iranische Einrichtungen im Ausland verübt, sondern ausschließlich Ziele im iranisch-irakischen Grenzgebiet angegriffen. Hauptthemen der zahlreichen, gut besuchten internen NWRI-Propagandaveranstaltungen bildeten zumeist Rückblicke auf 20 Jahre Widerstand der PMOI sowie Rambouillet öffentlich bekannt. 168 das Gedenken an die eigenen Märtyrer. Daneben wurden - wie schon in den vergangenen Jahren - auch 1999 wieder Spendensammlungen von zahlreichen Tarnvereinen durchgeführt. Diese wegen fehlender Sammlungsgenehmigungen illegalen Aktionen bilden das finanzielle Rückgrat der Organisation. Die jährlichen Einnahmen sollen mehrere Millionen DM betragen. Hingegen gingen von regimetreuen Verbänden wie der "Union Islamischer Studentenvereine in Europa" (U.I.S.A.) 1999 keinerlei Aktivitäten aus. 169 7. Sikhs 7.1 "Babbar Khalsa International" (BK) Gründung: 1978 in Indien Sitz Merzenich/Krs. Düren Mitglieder Einzelmitglieder in Baden-Württemberg ca. 200 Bund (1998: ca. 200) 7.2 "International Sikh Youth Federation" (ISYF) Gründung: 1984 als weltweite Auslandsorganisation der "All India Sikh Student Federation" (AISSF) 1985 Gründung der "Deutschen Sektion" der ISYF in Frankfurt am Main 1997 Anmeldung einer Teilorganisation der ISYF als Ausländerverein in Tübingen Sitz: Frankfurt am Main Ausländerverein in Tübingen Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (1998: ca. 80) ca. 600 Bund (1998: ca. 600) Publikation: "Des Pardes" 7.3 "Kamagata Maru Dal International" (KMDI) Gründung: 1997 als "Internationale Kamagatamaru Partei" in San Francisco/USA 1998 Zweigorganisation in Baden-Württemberg Sitz: vermutlich München Mitglieder: Funktionärsgruppe in Baden-Württemberg ca. 50 Bund 170 Die extremistischen Sikh-Organisationen, deren Anhänger seit 1982 mit Waffengewalt für einen eigenen unabhängigen Staat "Khalistan" (Land der Reinen) im nordindischen Bundesstaat Pandschab kämpfen, haben ihren Einfluss und ihre dominierende Stellung in der dortigen Öffentlichkeit weitgehend verloren. Als einer der Hauptgründe dürfte das erfolgreiche Vorgehen der indischen Sicherheitsbehörden gegen die Sikh-Terroristen anzusehen sein. Außerdem können die Sikh-Extremisten bei der Durchführung militanter Aktionen nicht mehr auf die uneingeschränkte Unterstützung der dort lebenden Bevölkerung zählen, da die Anschläge in der Vergangenheit stets weitreichende Sanktionen nach sich zogen. Aufgrund des anhaltenden Verfolgungsdrucks in ihrem Heimatland emigrierten viele Aktivisten hauptsächlich in die traditionellen Exilländer der Sikhs wie Kanada, die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, um von dort aus ihre politischen Ziele weiterzuverfolgen. Im Bundesgebiet sind ca. 800 Sikhs in extremistischen Vereinigungen organisiert. Dabei handelt es sich um folgende Gruppen: - die in mehrere Flügel gespaltene "International Sikh Youth Federation" (ISYF) - die "Babbar Khalsa International" (BK)69 sowie - die "Kamagata Maru Dal International" (KMDI)70 Politische Überzeugungsarbeit wird vor allem in den Hauptversammlungsorten der 71 Sikhs, den Tempeln (Gurdwaras ), geleistet. Die bedeutendsten und wichtigsten Zentren bilden die Tempel in Frankfurt am Main und Köln; weitere bestehen u.a. in Leipzig, München, Mannheim und Stuttgart. Auch in den Tempeln Baden-Württembergs wurden die Anwesenden bei dort durchgeführten Märtyrer-Gedenkfeiern72 regelmäßig zu großzügigen Geldspenden für den Kampf in der Heimat aufgefordert. Des Weiteren organisierten Anhänger der ISYF in 69 Diese Bezeichnung wird von der "Babbar Khalsa" für die Auslandsorganisation verwendet. 70 Bei der KMDI handelt es sich um eine neue Sikh-Gruppierung. Der Name der Organisation steht als Symbol für den "Freiheitskampf". Die Führungsspitze setzt sich aus ehemaligen Funktionären anderer extremistischer Sikh-Gruppen zusammen. Zur Neugründung führten ideologische und persönliche Auseinandersetzungen der Funktionäre wegen ihres Führungsanspruchs in den einzelnen Sikh-Vereinigungen. 71 Kultureller, religiöser und politischer Mittelpunkt der Sikhs 72 Beispielsweise werden regelmäßig die bei dem Attentat auf die damalige indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi (1984) und dem missglückten Mordanschlag auf den indischen Botschafter Ribeiro (1991) in Bukarest getöteten Sikhs als Märtyrer gefeiert. 171 Tübingen und Ulm mehrere Flugblattaktionen, um die hiesige Bevölkerung auf die ihrer Meinung nach unhaltbaren Benachteiligungen ihrer Volksgruppe in Indien aufmerksam zu machen. Die ISYF nutzte insbesondere ihr Sprachrohr "Des Pardes", um an das Nationalbewusstsein der Leser appellierende politische Abhandlungen ihrer Funktionäre zu veröffentlichen. Gleichzeitig wurde zur Teilnahme an den jährlich durchgeführten traditionellen Demonstrationen73 gegen die indische Regierung aufgerufen. Zirkel extremistischer Sikhs in Baden-Württemberg wurden im Raum Stuttgart, Mannheim, Tübingen und im südbadischen Raum festgestellt. 8. Tamilen "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) Gründung: 1972 auf Sri Lanka als "Tamil New Tigers" (TNT) 1976 Umbenennung in LTTE Sitz: Mönchengladbach (Deutsche Sektion) Mitglieder: ca. 80 Baden-Württemberg (1998: ca. 80) ca. 750 Bund (1998: ca. 700) Publikation: "Kalathil" (Kampfplatz) Die deutsche Sektion der linksextremistischen gewaltorientierten und auf Sri Lanka terroristisch operierenden "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (LTTE) ist nach wie vor die mitgliederstärkste und politisch aktivste tamilische Ausländerorganisation im Bundesgebiet. Dabei war deutlich zu erkennen, dass 1999 durch eine Neubewertung der bisherigen Aktionsschwerpunkte in der politischen Arbeit im Ausland andere Prioritäten gesetzt wurden. So traten die in den vergangenen Jahren stets großangelegten Sonderspendensammlungen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die bislang im Mittelpunkt der Aktivitäten gestanden hatten, etwas in den Hintergrund. 73 Hierbei handelt es sich um den indischen Nationalfeiertag (26. Januar 1947) und den Jahrestag der Erstürmung des "Goldenen Tempels" in Amritsar/Indien (6. Juni 1984). 172 Dafür mit ursächlich war eine Direktive der Parteizentrale, auf die derzeitigen finanziellen Verhältnisse der in Deutschland lebenden Tamilen Rücksicht zu nehmen. Diese hatten bisher neben den monatlich zu leistenden Mitgliedsbeiträgen zusätzlich noch erhebliche Geldsummen für Sonderspendenaktionen an die LTTE-Zentrale zu entrichten. Politische Überzeugungsarbeit wird von den Funktionären hauptsächlich in den von den LTTE gesteuerten Tarnund Hilfsorganisationen74 sowie deren Nebengruppen wie Freizeitvereinen und tamilischen Schulen geleistet. LTTE-Kader versuchten vor allem, die bestehenden persönlichen Kontakte zu ihren Landsleuten weiter zu intensivieren und gleichzeitig um Verständnis für den in den zurückliegenden Jahren außergewöhnlich hohen Finanzbedarf der Organisation zu werben. Die bei bundesweit durchgeführten Kulturund Propagandaveranstaltungen erzielten Erlöse (Geldsammlungen, Verkauf diverser Publikationen und Propagandamaterial wie Videokassetten, Anhänger, Jahreskalender) sind größtenteils für die Unterstützung der im Heimatland operierenden Guerillas bestimmt. Darüber hinaus fließen der LTTE-Zentrale durch den Vertrieb von Telefonkarten und anderen Serviceleistungen Gewinne in nicht unerheblicher Höhe zu. In Baden-Württemberg organisierten Führungsfunktionäre mehrere Filmvorführungen über den "Kriegsschauplatz Sri Lanka". Dadurch erhofften sie sich eine bessere Akzeptanz der Organisation bei den hier lebenden Tamilen. Eine am 18. September 1999 in Stuttgart-Botnang durchgeführte T.R.O.-Kulturveranstaltung bot den ca. 500 Teilnehmern die Möglichkeit, deutschund englischsprachige Publikationen zur Geschichte der Tamilen zu erwerben. Aktionsschwerpunkte der LTTE in Baden-Württemberg waren Heilbronn/Bad Friedrichshall, Kirchheim unter Teck, Ludwigsburg sowie Stuttgart. 9. Nutzung moderner Informationstechnik durch ausländische Extremisten 74 Hierzu zählen die "World Tamil Movement" (WTM), die "Tamils Rehabilitation Organisation" (T.R.O.) 173 Internet Die von ausländischen Extremisten in das weltweite Datennetz eingesteuerten Texte und Informationen entwickeln sich qualitativ und quantitativ weiter. Besonders in Deutschland aktive Gruppen und Organisationen wie der "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden in Deutschland e.V." (ICCB) und die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) zeigen dabei Aktivitäten, die auf einen verstärkten Einsatz des Mediums Internet hindeuten. Vor allem jüngere, in Deutschland aufgewachsene Anhänger dieser Organisationen verfügen bereits über ausreichende Internet-Kenntnisse. 9.1 Einzelerkenntnisse ICCB Das Webangebot des ICCB wird inzwischen in 9 verschiedenen Sprachen (türkisch, kurdisch, arabisch, farsi, deutsch, englisch, französisch, holländisch und bosnisch) angeboten. Verbreitet werden eine Vielzahl von Texten sowie Auszüge des Organs "Ümmet-i Muhammed". Die Website wurde dabei im Rahmen der Demonstration am 9. April 1999 in Karlsruhe gegen die Verhaftung des ICCB-Führers Metin KAPLAN intensiv zur Propaganda genutzt. Dieser war am 25. März 1999 in Köln festgenommen worden wegen des Verdachts der Mitgliedschaft bzw. Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung. Der Aufruf wurde in den angebotenen Sprachen veröffentlicht. IGMG Die seit etwa eineinhalb Jahren über den Kölner Regionalprovider "netcologne" im Internet vertretene deutschsprachige Website der IGMG wurde inzwischen modernisiert und verfügt jetzt über ein ständig genutztes Forum zum Meinungsaustausch. ERNK und der "Tamilische Studentenverein Deutschland e.V" ( T.S.O.) 174 Die PKK-Propagandaorganisation ERNK ist neben den Websites ihr nahe stehender Sympathisanten bislang direkt nur über die Sektionen ERNK-finland, ERNK-balkan representation/greece und ERNK-spain mit einem minimalen Angebot vertreten. Bereits seit einiger Zeit wurden unter wechselnden Bezeichnungen aktuelle Informationen, Pressemeldungen und Verlautbarungen von PKK, ERNK sowie weiterer Unterorganisationen angeboten. Dieses Angebot wurde im Frühjahr 1999 durch die Internetausgabe der PKK-Zeitschrift "Serxwebun" ersetzt, die sich in Türkisch und Englisch insbesondere mit dem Prozess gegen ÖCALAN auseinandersetzte. Deutsche Sprachrohre der PKK im Internet sind mittlerweile die Pressemeldungen des "Berliner Kurdistan-Informationszentrums" (KIZ) sowie das in Amsterdam angesiedelte "Kurdistan Informatiecentrum" (KIC), das die Verlautbarungen von PKK und ERNK in mehreren Sprachen veröffentlicht. Die überregionale Tageszeitung "Özgür Politika", die unter anderem in Deutschland täglich in türkischer Sprache erscheint und im hessischen Neu-Isenburg gedruckt wird, ist ebenfalls im WWW vertreten. Die Publikation hatte sich nach der Einstellung des Sendebetriebs des PKK-nahen Kurdensenders "MED-TV" zum wichtigsten Propagandainstrument der PKK entwickelt. 175 F. SCIENTOLOGY-ORGANISATION (SO) Gründung: 1954 in den USA, erste Niederlassung in Deutschland 1970 Sitz: Los Angeles Mitglieder: ca. 5.000-6.000 Bund (1998: 5.000-6.000) ca. 1.200 Baden-Württemberg (1998: ca. 1.200) Publikationen: "Dianetik-Post", "Toleranz", "Freiheit", "Impact", "Scientology News", "Source", "The Auditor" u.a. Hilfsund Unter"Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen organisationen: Menschenrechte" (KVPM), "Applied Scholastics" (ApS), "Narconon", "Criminon", "I Help" 1. Einführung Die SO propagiert in offiziellen und internen Schriften nach wie vor die Lehre und Programmatik zur Schaffung einer "neuen Zivilisation", die von dem SO-Gründer Lafayette Ron Hubbard konzipiert wurde. Aus dieser Programmatik ergeben sich tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die SO verunglimpft die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und vergleicht den demokratischen Rechtsstaat - ähnlich wie die frühere Propaganda der KPD - mit dem nationalsozialistischen Deutschland. In der angestrebten scientologischen Gesellschaftsordnung wären fundamentale Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung faktisch außer Kraft gesetzt (z.B. Gewaltenteilung, Demokratieprinzip, parlamentarisches System). 176 Im Standardwerk "Dianetik" wird das utopische Ziel einer perfekten Gesellschaft mit im scientologischen Sinne perfekt funktionierenden Menschen, so genannten Clears, entworfen, in der nur noch Scientology-Trainierte ("Nichtaberrierte") über Bürgerrechte verfügen sollen. Eine scientologische Justiz, scientologische Sanktionen und Gesetze ("Ethik-Kodizes") würden die im Grundgesetz garantierte Unabhängigkeit der Gerichte und die Gesetzmäßigkeit der Exekutive nicht mehr gewährleisten. Nach außen hin versucht die SO, diese Ziele zu verschleiern und sich als harmlose, Demokratie und Gemeinwohl achtende Organisation zu tarnen. In der SO selbst manifestiert sich dies jedoch anders: "WAS ICH AUF DIESEN SEITEN SCHREIBE, WAR IMMER WAHR, IST HEUTE WAHR, WIRD IM JAHRE 2000 IMMER NOCH WAHR SEIN UND WIRD VON DA AN STETS WAHR BLEIBEN. EGAL WO SIE IN DER SCIENTOLOGY SIND, OB MITARBEITER ODER NICHT, DIESER RICHTLINIENBRIEF GEHT SIE AN ... ich sehe nicht, dass populäre Maßnahmen, Selbstverleugnung und Demokratie dem Menschen irgend etwas gebracht haben, außer ihn weiter in den Schlamm zu stoßen ... Die besten Organisationen der Geschichte waren harte, hingebungsvolle Organisationen. Kein einziger weichlicher Haufen Windelhöschen tragender Dilettanten hat jemals etwas zustandegebracht. Es ist ein hartes Universum. Der soziale Anstrich lässt es mild erscheinen. Aber nur die Tiger überleben ... Wenn wir jemanden wirklich ordnungsgemäß ausbilden, wird er mehr und mehr Tiger ... Die richtige Ausbildungseinstellung ist: ,Du bist hier, also bist Du ein Scientologe. Jetzt werden wir Dich zu einem fachmännischen Auditoren machen, was auch immer geschieht. Wir haben Dich lieber tot als unfähig' ... Je größer wir werden, um so mehr wirtschaftliche Mittel und um so mehr Zeit werden wir haben, um unsere Aufgabe zu erfüllen ... Ein Ausbilder oder Überwacher oder eine Führungskraft muss Fälle von ,Nichtfunktionieren' mit unbarmherziger Härte anfechten ... Wir spielen nicht irgendein unbedeutendes Spiel in 177 der Scientology. Es ist nicht nett oder etwas, was man in Ermangelung eines Besseren tut. Die gesamte qualvolle Zukunft dieses Planeten - jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes darauf - und Ihr eigenes Schicksal für die nächsten endlosen Billionen Jahre hängen davon ab, was Sie hier und jetzt mit und 75 in der Scientology tun. Dies ist eine tödlich ernste Tätigkeit." (Fehler im Original) 2. "Feindbild" der SO "... Seit meinem letzten Brief an Sie ist vieles geschehen und es gab viele Erfolge in der Schlacht gegen die Unterdrückung in Deutschland ... Das scharfe Rampenlicht der Welt zeigt auf die unterdrückerischen Machenschaften einiger deutscher Funktio76 näre ... Wir gewinnen und die SPs brechen unter der schonungslosen Untersuchung der Wahrheit zusammen. Aber dies ist ein Krieg, der nicht ohne Sie gewonnen werden wird ... Es ist notwendig, dass Sie in Deutschland Ihren Beitrag leisten 77 und der Sieg wird unser sein." Die SO wähnt sich im Besitz der alleinigen Wahrheit. Ausgehend von diesem Absolutheitsanspruch wird grundsätzlich jede Kritik an der Ideologie der SO, insbesondere von Außenstehenden, als Angriff empfunden. Dies mündet in die Vorstellung, sich in einem Krieg mit Kritikern und Gegnern zu befinden: "In diesem Kampfgetümmel jedoch, wo der Wille auf die Probe gestellt und Mut erlernt wird und wo man entweder stirbt oder siegreich daraus hervorgeht, wurde im Arsenal der Wahrheit eine echte Gruppe geschmiedet ... 'Eine Gruppe, die entschlossen verficht, was richtig ist, unbeirrt durch etwaige Kon75 HCO-PL vom 7. Februar 1965 "Die Funktionsfähigkeit der Scientology erhalten", in: L. Ron Hubbard, Kurs "Feldmitarbeiterspezialist", Kopenhagen, 1992, S. 4 ff. 76 SP = "Supressive Person" (Unterdrückerische Person) 178 sequenzen, und von ihrem Kampf niemals ablässt, bis sie gesiegt hat.'" 78 Scientologische Verhaltenskonzepte zur Auseinandersetzung mit Gegnern sind grundsätzlich darauf angelegt, manipulativ zu täuschen oder aber Widerstand konfrontativ aus dem Weg zu räumen. Schon in der Vergangenheit waren Diskussionen mit Kritikern häufig durch die fehlende Bereitschaft der SO-Funktionäre gekennzeichnet, sich im Sinne eines konstruktiven Dialogs inhaltlich mit Sachargumenten zu befassen. Dieses Verhalten beruht auf von Hubbard festgelegten Anweisungen in seinen unverändert gültigen "Richtlinienbriefen". Dabei handelt es sich insbesondere um "Hubbard Communication Office - Bulletins" (HCO-B's) und "Hubbard Communication Office - Policy Letters" (HCO-PL's). Die jüngst erfolgte Gleichsetzung von kritischen Medien der SO mit "Ratten" durch den ranghöchsten SO-Manager David MISCAVIGE in der SO-Massenpublikation "Scientology News" zeigt erneut schlaglichtartig die Unfähigkeit der SO zur kritischen Auseinandersetzung in der demokratischen Gesellschaft, die Ablehnung von Meinungsfreiheit und freien Medien, den Absolutheitsanspruch und den aggressiven Umgang mit Kritikern auf: "... Tatsache ist, dass wir, je mehr wir uns der Jahrtausendwende nähern, auf den Planeten einen noch so starken Einfluss ausüben wie nie zuvor ... Wenn Sie also die Chaoshändler schreien hören, seien Sie sich darüber bewusst, dass dies eine angemessene Reaktion für sie ist. Gemäß ihrer Anschauung 79 muss die Welt schließlich ein aberrierter und gefährlicher Ort sein. Und dennoch verändern wir all das auf effektive Weise. Schauen Sie sich nur die Reaktion der Ratten an, wenn der 77 SO-Funktionär Guillaume LESEVRE in einem Rundschreiben vom 29. Januar 1997 an deutsche Scientologen 78 Rede von MISCAVIGE anlässlich des 13. Jahrestags der "International Association of Scientologists" (IAS), Zeitschrift "Impact", Nr. 75/1997 79 "aberriert" = Abweichung vom - im scientologischen Sinne - "vernünftigen" Verhalten 179 80 Kammerjäger auftaucht. Das sind die Medien! ..." (Fehler im Original) Hier werden Tendenzen sichtbar, in denen zwischen "wertvollen Menschen" ("Wir sind die goldenen Menschen" 81) und minderwertigen Gegnern unterschieden wird, 82 denen niedere Beweggründe unterstellt werden . Konflikte der SO mit der Gesellschaft sind vorprogrammiert. Begriffe wie Verstand, Freiheit oder Ethik werden mit völlig anderen Inhalten versehen. "Ethik" im scientologischen Sinne hat keinerlei Bezug zu den Grundsätzen sittlichen und moralischen Handelns bzw. zur Werteordnung des Grundgesetzes. Scientologische "Ethik" bedeutet rücksichtslose Durchsetzung eigener Ziele und ebensolche Bekämpfung von Kritikern und Kritik: "Der Zweck von Ethik ist: Gegenabsichten aus der Umwelt zu entfernen." 83 3. Der "Kreuzzug" - PR-Kampagne gegen Deutschland "... Unterstützen Sie unseren Kreuzzug für Freiheit ... Das Schicksal der gesamten Zivilisation hängt davon ab, welche der beiden Seiten gewinnt ... Sowohl innerhalb als auch außerhalb von Scientology befindet man sich in der Schusslinie. Dieses von Verbrechen geplagte, mit Drogen zum Durchdrehen gebrachte, fehlregierte Durcheinander da draußen, das als Zivilisation bezeichnet wird, ist ganz und gar kein Zufluchtsort. Sich dahin zu flüchten, kommt einem Kapitulieren gleich. Auch wenn 80 "Scientology News", Nr. 9/1999, S. 7 81 "Scientology News", Nr. 9/1999, S. 17 82 Kritiker werden als geisteskrank oder kriminell diffamiert, so etwa in dem Hubbard-Aufsatz "Die Kritiker der Scientology" oder im HCO-PL v. 18. Februar 1966 (Copyright 1988) "Angriffe auf Scientology (fortgesetzt)". 83 Hubbard: "Das Handbuch für den Ehrenamtlichen Geistlichen", Kopenhagen, 1980, S. 355 180 Sie nicht direkt mit dem Kampf gegen Unterdrückung zu tun haben, ist es Ihr Krieg." 84 Die beschriebenen Verhaltensmuster der SO finden sich auch bei den im Jahr 1999 durchgeführten PR-Veranstaltungen, Werbeaktionen und Veröffentlichungen wieder. Auf einer Veranstaltung der "International Association of Scientologists" (IAS) im Februar 1999 in München erklärte ein führendes Mitglied dieser Organisation, dass die SO das demokratische System in Deutschland ablehne und die derzeitige Politik nicht akzeptieren könne. Er hoffe, die neue Regierung werde die Diskriminierung von Scientology beenden. Gleichzeitig verglich er die Situation der SO in Deutschland mit der Verfolgung der Juden im "Dritten Reich". Jeder Satz des Redners, der Deutschland neben den USA als den weltweit wichtigsten Standort der SO bezeichnete, wurde von frenetischem Beifall begleitet. Die IAS hat nach eigenen Angaben in diesem Zusammenhang 40 Millionen DM für einen so genannten Kreuzzug in Deutschland zur Verfügung gestellt, bei dem es sich um eine genau geplante massive Werbeund Imagekampagne handelte. Vor allem durch bundesbzw. landesweit durchgeführte "Mahnwachen", gezielte Pressemitteilungen und die im August 1999 herausgegebene Broschüre "Verfassungsschutz als Rufmordinstrument" sowie über das Internet versuchte sich die Organisation als "verfolgte Religionsgemeinschaft" darzustellen. Während die Bevölkerung unter dem entsprechenden Schlagwort zum "Selbst Denken" aufgefordert wurde, versucht die SO, den eigenen Mitgliedern und Anhängern zu verwehren, sich mit den Argumenten der SO-Kritiker auseinanderzusetzen. Dazu gehört beispielsweise bei Scientologen mit Internetzugang und eigener Homepage die Verwendung so genannter "Filter". Auf diese Weise soll der Zugriff auf kritische Informationen über die SO im Internet verhindert werden. Bei ihren öffentlichkeitswirksamen Aktionen zielte die Organisation häufig darauf ab, vor allem Entscheidungsträger und Meinungsführer in Politik, Wirtschaft und Verwaltung anzusprechen. Im Rahmen einer so genannten Bibliothekenkampagne 84 Aufruf in "Scientology News", Nr. 9/1999, S. 46 181 strebte die SO danach, durch systematische Versendung von SO-Literatur auf die Meinungsbildung der Bevölkerung Einfluss zu nehmen. Im Rahmen der Selbstdarstellung verbreitete die Organisation bundesweit Hochglanzbroschüren unter dem Titel "Effektive Hilfe im Dienste der Allgemeinheit". Der Inhalt soll den Eindruck sozialer Kompetenz in den verschiedensten Lebensbereichen vermitteln. Unter der Überschrift "Kirche stellt ein ..." bietet die SO u. a. in Flugblättern Arbeitsplätze an. Nach bisherigen Erkenntnissen dient diese Kampagne hauptsächlich dazu, "neue Kunden" zu gewinnen. Die Scientology-Organisation in Baden-Württemberg Heilbronn Karlsruhe Welzheim Stuttgart Göppingen Ostfildern Ulm Reutlingen Freiburg * "Kirche" ("Class V Org") KVPM "Mission" / "Dianetik-Zentrum" * inaktiv Grafik: LfV BW Dianetik Gruppe (neu gegründet) Stand: Dezember 1999 182 Für SO-Mitglieder aus Baden-Württemberg wurden 1999 auch Tagungen im Ausland durchgeführt, beispielsweise auf dem SO-Schiff "Freewinds". Diese Veranstaltungen wie etwa eine "Clear-Stuttgart-Woche" sollen der "Expansion" der SO dienen. Ein ehemaliges, intensiv geschultes SO-Mitglied berichtete, dass bei einem vergleichbaren Anlass auf der "Freewinds" das Ideal eines scientologischen Staats gedanklich durchgespielt worden sei. Alle Krankheiten würden dann durch "Auditing" geheilt, und es gäbe nur Schulen, die die Lerntechnologie Hubbards anwendeten. Zudem sollten sich die Teilnehmer vorstellen, wie es wäre, wenn man erst an der Regierung sei. Kernstück des Werbefeldzugs im Jahr 1999 war die mit Großflächenplakaten und Hauswurfsendungen im großen Stil angekündigte und professionell durchgeführte Ausstellung "Was ist Scientology?", deren Auftaktveranstaltung für Deutschland am 17. Februar 1999 im Kleinen Kursaal in Stuttgart-Bad Cannstatt stattfand. Diese Ausstellung wurde auch in München, Frankfurt am Main und Hamburg gezeigt. Obwohl die Organisation die Werbekampagne nach außen hin als großen Erfolg verbuchte, fanden die Aktivitäten tatsächlich nur relativ geringe Resonanz in der Bevölkerung. Gegenüber den eigenen Anhängern versuchte die SO, in einem Artikel der Zeitschrift "Impact" (Nr. 85/1999) den "Kreuzzug" in Deutschland als Erfolg darzustellen. Dabei wurde behauptet, dass der "Sturm an Werbung" die deutschen Städte erfasst habe und sich viele Scientologen "zu einer schlagkräftigen Truppe" zusammengeschlossen hätten, "um die Barrieren für die Verbreitung aus dem Weg zu räumen, indem sie LRH-Bücher an zahlreiche Kiosks und andere Buchverkaufsstellen brachten" (Fehler im Original). Gleichzeitig enthielt der Beitrag auch den Hinweis, dass man genötigt gewesen sei, die Werbekampagne für die Ausstellung über Fernsehund Radiostationen im Ausland nach Deutschland auszustrahlen, weil deutsche Gesetze religiöse Werbung angeblich verbieten würden. Im Zusammenhang mit der Verbreitung von SO-Literatur wurde eine besonders aggressive Werbemaßnahme bekannt. Im Februar 1999 sei der Inhaber eines Zeitungsgeschäfts im Großraum Stuttgart von einem Scientologen gefragt worden, ob er bereit sei, in seinem Geschäft Schriften der SO auszustellen bzw. zu vertreiben. 183 Da er dieses Ansinnen rundweg abgelehnt habe, sei er in fast täglichen Abständen noch weitere fünf Male aufgesucht worden. Schließlich seien die beiden letzten Besucher - zwei junge Frauen, die auch gleich einen entsprechenden Buchständer mitgebracht hätten - aus dem Geschäft gewiesen worden, was eine von ihnen zu der Bemerkung verleitet habe: "Sie werden noch von Scientology hören." Der XI. Kongress der "Weltvereinigung der Psychiatrie" (WPA) im August 1999 in Hamburg war Anlass zu einer bundesweiten Protestaktion der SO. Dabei führte deren Hilfsorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) am 7. August 1999 eine Demonstration in Hamburg durch, an der - nach unterschiedlichen Angaben - bis zu 4.000 Personen teilnahmen. Auf mitgeführten Spruchbändern und Plakaten mit Parolen wie "Psychiatrie tötet" oder "Psychiatrie - Tod statt Hilfe" wurde der Berufsstand der Psychiater und Psychologen pauschal diffamiert. Die erhoffte Resonanz bei der Bevölkerung und in den Medien blieb jedoch aus. Die SO versucht über das Thema Psychiatrie, eine gesellschaftspolitische Kontinuität zwischen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem heutigen demokratischen Deutschland zu suggerieren. Damit soll die bestehende verfassungsmäßige Ordnung systematisch verunglimpft werden. Der von der SO initiierte überregionale "Europäische Marathon für Menschenrechte" endete am 25. Oktober 1999 ebenfalls in Hamburg. Bei der Abschlusskundgebung wurde wieder einmal die Behauptung aufgestellt, dass das Recht der Scientologen auf Religionsausübung vom Staat beschnitten würde. Jedoch könne den Repräsentanten des deutschen "Unterdrückungsapparats" versprochen werden, dass dieser Kampf diesmal zugunsten von Scientology ausgehen werde. Zwar hätten die Scientologen Niederlagen einstecken müssen, nun sei jedoch ihre Zeit gekommen. Der Staat könne ihnen noch so viele Schwierigkeiten bereiten, man würde Hürde für Hürde nehmen und immer wiederkommen. Natürlich habe es in den 30er-Jahren eine Zeit gegeben, in der der Staat gesiegt habe, aber jetzt in den 90er-Jahren werde Scientology gewinnen. 184 4. Die Manipulation von SO-Mitgliedern "Handhabung der Wahrheit ist auch ein heikles Geschäft ... Er85 zählen Sie eine akzeptable Wahrheit." Um ihre Mitglieder "auf Linie" zu halten, bedient sich die Organisation umfassender Kontrollund Manipulationstechniken. "Wissensberichte" über Personen im persönlichen Umfeld, die Stigmatisierung von Abtrünnigen sowie das "Auditing", mit dem auf den Betroffenen enormer Druck ausgeübt werden kann, sind die gebräuchlichsten Verfahren. Auditing und Sicherheitsüberprüfungen "... 26. Hast du je Ehebruch begangen? ... 29. Bist du je sexuell untreu gewesen? ... 32. Hast du je mit einem Mitglied einer andersfarbigen Rasse geschlafen? ... 55. Hast du je irgend etwas getan, wovon du fürchtest, die Polizei könnte es herausfinden? ... 79. Warst du je Mitglied der Kommunistischen Partei? ... 90. Weißt du von irgendwelchen geheimen Plänen gegen die Scientology?..." Dies ist eine Auswahl aus dem Fragenkatalog mit insgesamt 94 Fragen für "Sicherheitsüberprüfungen". Mit derartigen Fragebögen sollen Scientologen bis in intimste Bereiche umfassend ausgeforscht werden. Die SO will Macht durch systematische operative "Konditionierung"86 des Einzelnen mittels bewusstseinsverändernder Techniken wie "Auditing" erlangen. Derartig trai85 Hubbard: "The Management Series", 1970-1974; Los Angeles 1976, S. 117; Übersetzung durch das Landesamt 86 Eingriff in die Persönlichkeit mit dem Ziel einer Umformung der Denkund Handlungsweise mittels psychologischer Techniken zur Steuerung und Kontrolle der Person 185 nierte, für die SO "gläserne" Personen, sollen Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft besetzen. "Auditing" ist die maßgebliche Psychotechnik, die von der Organisation zur Veränderung des Menschen eingesetzt wird. Nach Hubbards Theorie sollen schmerzhafte Erfahrungen ("Engramme") durch gedankliches Wiedererleben zum Verschwinden gebracht ("gelöscht") werden. Diese oftmals verhörartigen Sitzungen werden in der Regel mit einer Art Lügendetektor ("E-Meter") durchgeführt. Dieses Gerät wird auch bei "Sicherheitsüberprüfungen" (Security Checks) eingesetzt, bei denen u. a. angebliche "Verbrechen" gegen das System SO festgestellt werden sollen. Bei beiden Verfahren sollen Protokolle mit intimsten Details gefertigt werden. Aussteiger haben hierbei von menschenunwürdigen Prozeduren in Form pausenloser Verhöre berichtet, die sich über Stunden hinziehen würden. Um die Person gänzlich transparent zu machen, soll der "Auditor" den zu "Auditierenden" über Tabuthemen ausfragen: "Das beinhaltet nicht-soziale Themen wie sexuelle Erfahrungen, Einzelheiten über Dinge, die sich auf der Toilette abspielen, unangenehme Erlebnisse, Diebstähle, die man begangen hat, usw., Dinge, über die niemand ohne Weiteres in gemischter Gesellschaft reden würde."87. 88 Ferner soll der "Auditor" nach einem Schema vorgehen, das in der SO "vier Flows" genannt wird: Der "Auditierte" soll im Rahmen des "Auditing" auch solche Personen benennen, die er in seinem Umfeld ins Vertrauen ziehen oder ablehnen würde, wobei auch jeweils die Gründe hierfür abgefragt werden. Es muss daher damit gerechnet werden, dass gegenüber der SO nicht nur der Einzelne "gläsern" wird, sondern auch sein persönliches und berufliches Umfeld. 87 Hubbard: HCO-B vom 8. September 1978RB, revidiert am 16. November 1987, S. 7; revidiert bedeutet, dass diese letzte Fassung weiterhin gültig ist. 88 Gemäß HCO-B vom 4. April 1971RB, revidiert am 3. Februar 1989, handelt es sich um einen aus vier Phasen ("Flows") bestehenden Fragenkomplex an den Auditierten: Flow 1: Etwas geschieht einem selbst (was machen andere mit mir?). Flow 2: Einem anderen etwas tun (was tue ich anderen?). Flow 3: Andere tun andere Dinge (Was tun andere anderen?). Flow 4: Sich selbst etwas tun (Was tue ich mir?). 186 Dem Landesamt ist u. a. ein Protokoll bekannt geworden, in dem darüber berichtet wird, dass der "Auditierte" Drogen genommen habe und sich dem Wehrdienst entziehen wolle. Es liegt auf der Hand, dass eine Person durch die Preisgabe derart intimer Details, insbesondere auch sexueller Art, erpressbar wird. Die SO verweist in diesem Zusammenhang auf die Einhaltung der Vertraulichkeit. An der Glaubwürdigkeit dieser Behauptung muss jedoch gezweifelt werden. Beispielsweise sollen laut HCO-PL vom 10. März 1982 ("Confessionals - Ethics Reports Required") "Geistliche" ihnen gegenüber offenbarte "unethische" Handlungen in schriftlichen Berichten festhalten und an die jeweilige "Ethik"-Abteilung der SO weiterleiten. Wissensberichte von SO-Mitgliedern "Jede Person, die von einem Vorfall wusste, der mit Faulenzen zu tun hatte oder von einer Handlung Kenntnis hatte, die destruktiv, im Widerspruch zu Richtlinien stehend oder unethisch war, und KEINEN WISSENSBERICHT einreichte, wird dadurch in der Einstufung jeglichen später unternommenen Rechtsverfahrens zum MITSCHULDIGEN."89 Nicht nur durch das "Auditing" gelingt es der SO, bis in die intimsten Bereiche ihrer Mitglieder vorzudringen, sondern auch durch so genannte Wissensberichte (Knowledge Reports). Scientologen sind zur Abfassung derartiger Meldungen verpflichtet. Sie umfassen praktisch jeden Lebensbereich, insbesondere jedoch Sachverhalte, die in irgendeiner Weise das Ansehen der SO negativ berühren könnten und daher "unethisch" sind. Die auf den "Wissensberichten" angegebenen Verteiler deuten darauf hin, dass diese teilweise an verschiedene SO-Instanzen - auch im Ausland - übermittelt werden bzw. in den Akten der Betreffenden abgelegt werden. Beispiele aus den 90er-Jahren: - Ein Scientologe meldet der Organisation die Tätigkeit eines Familienangehörigen bei einer staatlichen Sicherheitsbehörde. Aus dem Bericht geht hervor, dass er 89 Hubbard: PTS/SP-KURS "Wie man Unterdrückung konfrontiert und zerschlägt", Kopenhagen, 1989, S. 209 187 versucht hat, Hintergrundinformationen über die sicherheitsempfindliche Tätigkeit zu erfragen. Der Bericht kursierte den handschriftlichen Vermerken zufolge im SO-Nachrichtendienst "Office of Special Affairs" (OSA). - Ein Scientologe berichtet an OSA München, er habe über andere SO-Mitglieder erfahren, dass mehrere Staatsanwaltschaften gegen ein hochrangiges Mitglied der Organisation ermitteln würden. Ein weiteres Schriftstück lässt den Rückschluss zu, dass der betreffende SO-Funktionär hiervon umgehend durch das OSA informiert und dadurch in die Lage versetzt wurde, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. - Ein Scientologe meldet laut Verteiler an das OSA, dass ihm eine Scientologin berichtet habe, ihr ebenfalls scientologisch orientierter Arbeitgeber habe ihr Arbeitsverhältnis beendet, nachdem sie sein sexuelles Angebot abgelehnt habe. - Eine Scientologin beschreibt die Sexualwünsche ihres Ehemanns, die sie ablehnt, und bittet darum, ihren Partner entsprechend "zu handhaben". - Die Mitarbeiterin einer "Class V-Org"90 berichtet von einem Gespräch zwischen dem "Kaplan" der Org und einem Scientologen. Letzterer habe in Erwägung gezogen, ein anderes SO-Mitglied wegen einer Geldforderung zu verklagen (was gemäß den "Ethik"-Richtlinien für Scientologen untereinander nicht erlaubt ist): "... Er überlegt sich, den ... zu verklagen, und es sei ihm scheißegal, ob er dann ausgeschlossen wird ..." - In einem weiteren "Wissensbericht" schreibt ein Mitglied über seinen ebenfalls scientologischen Bruder, dass dieser das häusliche Arbeitszimmer und das Geschäftsbüro des Vaters nach Scientology-kritischen Unterlagen durchsucht habe. Der Bruder rechtfertigte sich mit Worten wie: "Wir stehen im Krieg; der Zweck heiligt die Mittel." - Die Mitarbeiterin einer süddeutschen "Mission" meldet, dass ein Kritiker der SO einen Scientologen zum Ausstieg habe bewegen wollen. Einem weiteren Bericht zufolge wurden bereits am Folgetag Ermittlungen über den Kritiker angestellt. 90 Die einer "Mission" übergeordnete SO-Einheit mit breiterem Dienstleistungsangebot 188 Behandlung Abtrünniger "... UNTERDRÜCKERISCHE HANDLUNGEN ... 19. Öffentliche Äußerungen gegen Scientology oder Scientologen ... 20. Gesetzgebung oder Verordnungen, Vorschriften oder Gesetze, welche auf die Unterdrückung der Scientology ausgerichtet sind, vorzuschlagen, zu empfehlen oder dafür zu stimmen ... 26. Anti-Scientology-Briefe an die Presse zu schreiben oder Daten, die sich gegen Scientology oder Scientologen richten, an die Presse zu geben ... 36. Einen Scientologen auf Verlangen der Ziviloder Strafrechtsbehörden auszuliefern, ohne vertretbaren Schutz zu ge91 ben oder gesetzlichen Protest einzulegen ..." Wie der Katalog ahndungswürdiger Verhaltensweisen ("unterdrückerische Handlungen") aufzeigt, wird von der SO nicht nur das Verhalten des Mitglieds innerhalb der Organisation vorgeschrieben, sondern auch dessen Auftreten in der nicht scientologischen Gesellschaft wie etwa im Medienbereich und in der Politik. Das Fehlen von Meinungsfreiheit führt bei der SO dazu, dass Andersdenkende im scientologischen Sinne regelrecht "kriminalisiert" werden. In dem von Hubbard verfassten Buch "Einführung in die Ethik der Scientology" stellt es bereits ein "Schwerverbrechen" dar, sich öffentlich von Scientology abzuwenden. Daher erhalten Aussteiger oder Abtrünnige aus der Organisation oftmals einen so genannten SPDeclare, der offenkundig innerhalb der SO breit gestreut wird. Es handelt sich dabei um eine formelle Erklärung zur "unterdrückerischen Person", in der detailliert dargelegt wird, welcher so genannter Verbrechen und Schwerverbrechen sich der Betreffende "schuldig gemacht" hat. Dem Landesamt bekannt gewordene "SP-Declares" aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre zeigen beispielhaft den totalitären Charakter und das anmaßende Verhalten der 91 Hubbard: PTS/SP-Kurs, Kopenhagen, 1989, S. 173 ff. 189 SO auf. Die Organisation, die den Mitgliedern und der Öffentlichkeit durch die Anwendung der Scientology-Techniken "völlige Freiheit" verspricht, reagierte beispielsweise wie folgt auf das Verhalten einer Scientologin, die für sich die Freiheit in Anspruch nahm, Kritik zu üben: "Hannelore ... wird hiermit zur unterdrückerischen Person erklärt ... Hannelore ... war in den Versuch verwickelt, mittels moderner elektronischer Kommunikationsmethoden (Internet) das Image der Scientology Kirche herabzusetzen ... Sie hat sich bekannten Abweichlern und Feinden der Kirche angeschlossen und hat öffentlich die Kirche und Kirchenvertreter angegriffen ... sie hat jede Hilfe zurückgewiesen und darauf bestanden, ein ,Recht' zu haben, abzuweichen und andere an dem einzigen Weg zur totalen Freiheit zu hindern. Durch ihre Handlungen hat sich Hannelore ... selbst als Abweichlerin und unterdrückerische Person bloßgestellt und wird hiermit zu einer solchen erklärt. Sie hat sich folgender unterdrückerischer Handlungen schuldig gemacht: 1. Öffentliche Verleugnung von Scientology oder Scientologen, die bei der Organisation der Scientology im Status guten Ansehens stehen ... 4. Fortgesetzt einer Person oder Gruppe anzugehören, die von 92 HCO zu einer unterdrückerischen Person oder Gruppe erklärt worden ist. 5. Eine Person, die nachweislich unterdrückerischer Handlungen schuldig ist, nicht zu handhaben oder sich nicht von ihr loszusagen und nicht die Verbindung mit ihr abzubrechen ... Alle Zertifikate und Anerkennungen, die Hannelore ... erhalten hat, sind hiermit gestrichen ... Sollte Hannelore ... zur Besinnung kommen und widerrufen, führt ihr Weg zurück zu gutem Ansehen über die Schritte A bis E93 gemäß 92 "Ethik"-Abteilung einer SO-Niederlassung 93 Die Schritte A-E umfassen ein formelles mehrstufiges Verfahren gemäß PTS/SP-Kurs, S. 181 ff., in dem sich der Betreffende dem Willen der SO unterwerfen und u.a. angebliches Fehlverhalten in Form von Selbstkritik einräumen soll. 190 HCO PL vom 23.12.1965RB, UNTERDRÜCKERISCHE HANDLUNGEN; UNTERDRÜCKUNG VON SCIENTOLOGY UND SCIENTOLOGEN ..." 94 (Name geändert, Übersetzung durch das Landesamt) Indoktrination "Der Charakter der Regierungen selbst wird durch deren Toleranz und den Gebrauch von Psychiatrie und Psychologie festgelegt. In keiner menschlichen Rasse, die als zivilisiert gilt, gibt es ein Gesetz, das allgemein Mord und Totschlag an seiner Bevölkerung verzeiht. Gleichwohl haben Psychiatrie und Psychologie unter modernen Regierungen nicht nur einen Freibrief, sondern beharren auf deren Gebrauch. Mörder gesellen sich zu Mördern, sagt ein altes Sprichwort. Die Regierungen lächeln nur über das Kainsmal auf ihren Köpfen. Ist das eine zivilisierte Welt, in der wir leben?" 95 Gegenüber den Mitgliedern wird immer wieder behauptet, dass in westlichen Staaten schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen stillschweigend durch die Exekutive oder durch maßgebliche demokratische Politiker geduldet würden. Zum anderen wird von der SO suggeriert, dass eine unabhängige Presse nicht existiere. Hinzu kommt, dass innerhalb der SO durch wirr anmutende Verschwörungstheorien in den Schriften Hubbards Feindbilder gegenüber dem demokratischen System aufgebaut werden. So wird z. B. der Eindruck erweckt, dass die demokratisch legitimierten Regierungen von der Psychiatrie - dem erklärten Hauptfeind der SO - manipuliert bzw. gelenkt würden. Die Auswirkungen in der Praxis zeigen sich z. B. anhand der Selbstdarstellung eines Scientologen im Internet: "... Eine wichtige Sache, die ich durch Scientology herausfand, 94 Quelle: Internet 95 Hubbard: HCO-B vom 29. November 1981 "Dianetics and Scientology Compared to Nineteenth Century Practices" in: "Technical Bulletins", Band XII, Kopenhagen, 1991, S. 363 (Übersetzung durch das Landesamt) 191 war, dass die Dinge nicht so sind, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Regierungen und deren Systeme, Medien und deren Meldungen ... usw. sind Teil einer wohl angelegten Illusionsmaschinerie, die dem Großteil der Bevölkerung etwas vorgaukelt ..." 5. "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) "... WISE ist die Organisation, die die Verantwortung hat, dafür zu sorgen, dass diese Technologie in breiter Weise in die Gesellschaft, in der Tat in jedes Geschäft, Organisation und Regierung der Welt hineingebracht wird ... Bringen Sie eine externe PR-Kampagne auf den Markt, um LRH und die Funktionsfähigkeit seiner administrativen Technologie in wichtige Wirtschaftspublikationen, ins Fernsehen und Radio zu bringen, was führende Scientologen in der Wirtschaft nutzen werden, Führungskräfte in Schlüsselpositionen in Top Corporations der Welt einzufangen, die umgekehrt WISE-Mitglieder und Fürsprecher 96 für die administrative Technologie von LRH werden." (Fehler im Original) Um ihren Einfluss auch auf das Wirtschaftsleben auszudehnen, hat die SO 1979 den Bereich WISE gegründet. Neben den üblichen Beiträgen für die Mitgliedschaft entrichten Firmen, die Schulungen auf der Basis der Hubbard-"Technologie" durchführen, prozentual FranchiseGebühren entsprechend der Umsatzentwicklung. Die angebotenen Seminarinhalte sind nahezu identisch mit einführenden Kursen der SO-"Kirchenlinie". Eine breite Unterwanderung der Wirtschaft ist durch die SO bisher nicht erkennbar. Die Organisation besitzt auch nicht das Mitgliederpotenzial, um in großem Umfang in die Wirtschaft einzudringen. Beachtung verdient dennoch die Konzentration auf die 96 Board of Directors WISE International: "WISE Executive Directive" 258 vom 13. Februar 1993: "Confidential WISE Strategic Planning"; Übersetzung durch das Landesamt 192 Sektoren Unternehmensberatung, Immobilien und Finanzdienstleistungen. Interne Justiz im Bereich WISE Gegen ein SO-Mitglied, das vor mehreren Jahren einen Prozess vor einem ordentlichen Gericht gegen seinen WISE angehörenden Arbeitgeber angestrengt hatte, wurde ein "SP-Declare" verhängt. Grund hierfür war, dass die betreffende Person nicht dem für WISE oder Scientology-Mitglieder vorgeschriebenen Weg SO-interner "Justiz" folgte: "Erklärung zur unterdrückerischen Person Petra ... aus Ulm wird hiermit zur unterdrückerischen Person erklärt. Durch die eigenen Aktionen hat sie sich folgender unterdrückerischer Handlungen schuldig gemacht: ... 2. Einen Zivilprozess gegen irgendeine ScientologyOrganisation oder einen Scientologen ... einzuleiten, wenn man nicht zuerst den internationalen Justiz-Chef auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht und eine Antwort erhalten hat. Alle Zertifikate und Anerkennungen, die Petra ... erhalten haben mag, sind hiermit gestrichen ..." (Name, Ort geändert, Übersetzung durch das Landesamt) Aktivitäten in der Wirtschaft Von den Personen, bei denen in der Vergangenheit Belege bzw. Anhaltspunkte für eine WISE-Mitgliedschaft feststellbar waren, sind gegenwärtig noch etwa 60 in BadenWürttemberg wohnhaft. Sie treten in aller Regel als "Einzelunternehmer" oder im Rahmen kleinerer Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten in Erscheinung. Die Aktivitäten von Unternehmensberatungen mit scientologischem Hintergrund finden mittlerweile auch in der Rechtsprechung ihren Niederschlag: Nach einer rechtskräftigen Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart vom 22. Juni 1999 ist ein im Bereich der Personalberatung tätiges Unternehmen, dessen Inhaber SO-Mitglied ist und erhebliche Mittel in die so genannte Kriegskasse der SO gespendet hat, auch 193 unaufgefordert verpflichtet, Geschäftspartner über diese Zusammenhänge aufzuklären. Das Verschweigen derartiger Umstände stellt ein Verschulden bei Vertragsverhandlungen dar; der Geschäftspartner hat ggf. Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens. Bereits 1994 hatte das OLG Karlsruhe rechtskräftig festgestellt, dass die Verträge bei einer ebenfalls in enger Beziehung zur SO stehenden privaten Schulungsakademie gekündigt werden können, wenn dem Vertragspartner die Kontakte des Unternehmens zu dieser Organisation bei Vertragsabschluss nicht bekannt waren und ein besonderes Vertrauensverhältnis vorlag. Im Jahr 1999 bot sich ein "Unternehmensberater", der die "Technologie" Hubbards befürwortet, einem kleineren Unternehmen, das durch Expansionsvorhaben in Schwierigkeiten geraten war, als "Retter" an. Statt dem Betrieb eine entsprechende Beratung zukommen zu lassen, zog er als Geschäftsführer einer neu gegründeten GmbH erhebliche finanzielle Mittel aus der Firma ab. Ein weiterer, dem Landesamt 1999 bekannt gewordener Fall zeigt auf, dass ein SOMitglied, dessen Firma im Bereich der EDV-Branche angesiedelt ist, von WISE Rundschreiben über ein Kommunikationsseminar mit folgender Zielsetzung erhielt: "Leute aus eurem Arbeits-, Familienoder Freundeskreis lernen hier LRH97 und seine Tech in einem geschäftsmäßigen und ihnen wohlvertrauten Rahmen kennen. So können sie den entscheidenden Schritt, der ihr Leben verändern wird, völlig entspannt gehen. Auch nach dem Seminar wollen wir euch helfen, eure Leute auf den für sie richtigen Weg zu setzen, sei es in der Org, Feldauditorengruppe, WISE oder wo ihr auch immer wollt. Dies ist eine gute Gelegenheit, eure Freunde und Bekannte in lockerem Rahmen mit LRH bekannt zu machen." (Fehler im Original) Hier wird die Absicht erkennbar, Außenstehende, die lediglich ein Kommunikations97 Abkürzung für L. Ron Hubbard 194 seminar erwarten und ggf. den scientologischen Hintergrund der Firma nicht kennen, in die SO einzubinden. 6. Aktivitäten des "Office of Special Affairs" (OSA) "Das ganze Gebiet des Rechts lässt sich für einen Scientologen in vier Teilgebiete unterteilen. Diese sind 1. Nachrichtendienstliche Tätigkeiten 2. Beweisuntersuchung 3. Urteil oder Strafe 98 4. Rehabilitation ..." In der Auseinandersetzung mit Kritikern und Gegnern übernimmt der SO-Nachrichtendienst OSA eine tragende Rolle. So dürften z.B. die im Berichtszeitraum festgestellten Aktivitäten des "Menschenrechtsbüros" der SO in München durch das OSA gesteuert sein. Dabei wurden u.a. Firmen in Schreiben wiederholt gefragt, ob sie "Schutzerklärungen"99 verwenden würden, um sie unter Druck zu setzen. Oder Personen, die sich kritisch über die SO äußern und damit lediglich von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen, werden vom "Menschenrechtsbüro" angegangen. In einem Fall wurde folgendes Schreiben übersandt: "... hiermit teilen wir Ihnen zu Ihrer Information mit, dass Unterlagen im Zusammenhang mit Ihrer Firma/Verein/Institution bezüglich einer Diskriminierung eines Mitgliedes der Scientology Kirche durch das Menschenrechtsbüro an u.a. dem Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen weitergeleitet wurden ... 98 Hubbard: "Handbuch des Rechts", Kopenhagen, 1979, S. 1 99 Eine Erklärung, die festlegt, dass der Mitarbeiter bzw. Vertragspartner die "Technologie" Hubbards nicht anwendet bzw. diese ablehnt. Derartige Erklärungen dienen dem Schutz vor befürchteten Einflussnahmeversuchen durch die SO. 195 Sollten Sie jegliche diskriminierende Maßnahmen gegenüber Mitgliedern der Scientology Kirche eingestellt haben, so lassen Sie uns dies bitte wissen, damit wir diese neuen Informationen bei zukünftigen Eingaben berücksichtigen können." (Fehler im Original) Derartige Schreiben dienen offenkundig dazu, den Adressaten zu verunsichern odergar einzuschüchtern. 7. Scientology im Ausland "... Dies ist genau das, worum es bei den Freewinds-Tagungen der Expansionskomitees geht ... alle Wesen zu retten, die gesamte Gemeinde zu klären und eine Scientology-Welt aufzubauen. Denken Sie mal einen Moment darüber nach. Wie würde Ihre Stadt aussehen, würde jede Schule LRHStudiertechnologie anstatt der gegenwärtigen Programme der Psychiater und Psychologen verwenden? Wie wohlhabend würde Ihre Stadt sein und wie hoch würde der Lebensstandard in Ihrer Gemeinde sein, wenn jede Firma Mitglied von WISE wäre? Wie würde Ihre Nachbarschaft aussehen, wenn es dort zweimal soviele ehrenamtliche Geistliche als Polizisten und 100 Ärzte zusammengenommen gäbe?" In den USA wurde vom Kongress ein Gesetz verabschiedet, das weltweit die Einhaltung der Religionsfreiheit überwachen soll. Nach einer Selbstdarstellung der SO waren der Präsident der "Church of Scientology International" (CSI) und weitere Scientologen an der Verabschiedung dieses Gesetzes beteiligt: "... Rev. JENTZSCH und sein Mitarbeiterstab waren auch in einer Koalition verschiedener Religionsgemeinschaften tätig, die 100 "Scientology News", Nr. 9/1999, S. 45 196 sich erfolgreich um die Verabschiedung des ,Religious Freedom Restoration Act' (Gesetz zur Wiederherstellung der Religionsfreiheit) durch den Kongress der Vereinigten Staaten be101 mühte." Aufgrund der bisherigen Erfahrungen muss damit gerechnet werden, dass die SO versuchen wird, die zuständigen Gremien in den USA zur Anwendung des Gesetzes gegen Deutschland wegen angeblich religiöser Diskriminierung von Scientologen zu bewegen. Das Gesetz, das international gelten soll, sieht für den Fall der Feststellung von Verstößen Sanktionen vor, die von schriftlichen Gegenvorstellungen bis zu harten Wirtschaftsund Finanzstrafmaßnahmen reichen. Wie sehr sich das Augenmerk der SO-Führungskräfte in den USA auf Europa richtet, zeigt sich auch an den Reaktionen auf die Vorkommnisse in Frankreich anlässlich eines Prozesses gegen Scientologen in Marseille. Laut Medienberichten kündigte der CSI-Präsident Heber JENTZSCH in Los Angeles an, dass er die französische Justizministerin persönlich dafür verantwortlich mache, wenn SO-Mitglieder in Frankreich Nachteile erleiden müssten. Des Weiteren wird berichtet, dass die Organisation drei hochrangige Mitglieder nach Marseille entsandt habe, die im Bedarfsfall Scientologen für einen "Kreuzzug" mobilisieren sollten. 8. Resümee und Prognose In einem "offenen Brief" der SO wurde die Publikation des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg "Die Scientology-Organisation" heftig kritisiert. Der zentrale Vorwurf, es seien sinnentstellend "größtenteils jahrzehntealte, willkürlich aus dem Zusammenhang gerissene" Zitate verwendet worden, zeigt beispielhaft die Desinformationsstrategie der SO auf. Dabei wird suggeriert, die Richtlinien Hubbards seien "alt" und daher nicht mehr von Belang. Tatsächlich werden aber die "jahrzehntealten" Schriften weiterhin propagiert bzw. vermarktet und sollen strikt umgesetzt werden. Das geht so weit, dass jedes geschriebene oder gesprochene Wort Hubbards 101 Pressemappe der "Scientology Kirche Deutschland e.V." München, die anlässlich der Ausstellung "Was ist Scientology?" im Jahr 1999 verbreitet wurde. 197 buchstäblich in Stahl gepresst wird: "DIE TECHNOLOGIE FÜR DIE EWIGKEIT BEWAHREN ... Heute ist LRHs geschriebenes Material nicht nur auf 95 Tonnen Archivpapier aufgezeichnet ... sondern wurde auch in 885 Metallbüchern permanent haltbar gemacht, die aus 165 000 einzelnen rostfreien Stahlplatten bestehen und über 50 Tonnen wiegen ... Mittlerweile sind nun 1 500 LRH-Vorträge auf 13 Tonnen völlig unzerstörbaren Schallplatten aus solidem Nickel 102 haltbar gemacht worden." Die SO propagierte auch 1999 die in den internen Schriften und Richtlinien Hubbards niedergelegten verfassungsfeindlichen Ziele. Im PR-Bereich ging die SO, die nach wie vor über ein straff geführtes, intaktes und stabiles organisatorisches Netz verfügt, in die Offensive. Eine dynamische Mitgliederentwicklung wie Anfang der 90er-Jahre ist bei der SO in Baden-Württemberg derzeit nicht festzustellen. Die Organisation dürfte allerdings den seit längerer Zeit zu beobachtenden Abwärtstrend gebremst, wenn nicht gar gestoppt haben. Gegenwärtig ergibt sich das Bild eines mehr oder weniger stabilen Mitgliederstamms, um den herum eine gewisse Fluktuation erkennbar ist. Mitgliederverluste konnten offenbar durch Neuanwerbungen kompensiert werden. 103 In Baden-Württemberg verfügt die SO über eine "Class V Org" in Stuttgart sowie sechs "Missionen" in Freiburg, Göppingen, Heilbronn, Karlsruhe, Reutlingen und Ulm, die in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung treten. Während beispielsweise die in Ulm ansässige besonders aktiv ist, können die "Missionen" in Freiburg und Reutlingen als nahezu bedeutungslos angesehen werden. Die SO-Hilfsorganisation KVPM ist in Baden-Württemberg mit Stützpunkten in Freiburg, Karlsruhe und Stuttgart vertreten, die offensichtlich durch kleinere Gruppen von Aktivisten getragen werden. Während die Gruppierungen in Karlsruhe und Stuttgart 1999 auch Außenwirkung entfalteten, waren in Freiburg keine Aktivitäten festzu102 "Scientology News", Nr. 8/1998, S. 12 198 stellen. Andere Hilfsorganisationen wie etwa "Applied Scholastics" oder "Narconon" sind in Baden-Württemberg nicht vertreten oder traten nicht mehr in Erscheinung. Außerdem versuchte die SO im Jahr 1999 ihr organisatorisches Netz zu erweitern, z.B. durch die Gründung von "Dianetik-Gruppen" in Ostfildern und Welzheim/Rems-MurrKreis. Hierbei dürfte es sich um so genannte Feldauditoren104 handeln. Die SO dürfte auch in Zukunft darauf abzielen, Einfluss in Politik und Gesellschaft - insbesondere bei deren Meinungsführern und Entscheidungsträgern - zu gewinnen und sogar überstaatliche Einrichtungen wie die Vereinten Nationen für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Beeinflussungsversuche wie in den USA sind in Deutschland momentan nicht zu beobachten. Möglicherweise beruht dies auf der Tatsache, dass die SO derzeit in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten wie in Frankreich, einen weitaus schwereren Stand hat als in den USA. Dies sollte allerdings nicht zu der Einschätzung verleiten, die SO würde derartige Ziele in Europa nicht verfolgen. 9. Vertrauliches Telefon Seit Einrichtung des "Vertraulichen Telefons" im Februar 1997 konnten wertvolle Hinweise gewonnen werden. Unter der Nummer 0711/95 61 994 kann von Betroffenen, Aussteigern, Angehörigen oder anderen Personen, die Hinweise zu Scientology geben können, tagsüber mit einem Mitarbeiter des Landesamts 103 Größere SO-Niederlassung mit breiterem Dienstleistungsangebot als in den "Missionen", die nach außen als "Scientology-Kirche" firmiert. 104 "Auditor", der "Auditing" außerhalb der "Org" durchführt und von der SO überwacht wird 199 Verbindung aufgenommen werden. Außerhalb der üblichen Bürozeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Eingehende Hinweise werden selbstverständlich vertraulich behandelt. 200 G. SPIONAGEABWEHR 1. Allgemeiner Überblick 1.1 Aktuelle Lage Es waren auch 1999 im Wesentlichen dieselben Staaten, deren Geheimdienste in den Jahren davor in Baden-Württemberg aktiv gewesen sind. Nach wie vor geht die größte Spionagegefahr von der Russischen Föderation, vom Iran und von China aus. Im Vergleich dazu spielen Aufklärungsbemühungen westlicher Industrienationen bislang eine untergeordnete Rolle. In Anbetracht ständig wachsender internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen und zunehmend verfeinerter Vorgehensweisen fremder Nachrichtendienste wird es immer schwieriger, Spionagehandlungen überhaupt zu erkennen und sie bestimmten Auftraggebern eindeutig zuzuordnen. Die in unterschiedlichen Konstellationen zu beobachtende Vernetzung nachrichtendienstlich gesteuerter Ausspähung mit Organisierter Kriminalität, Korruption und Konkurrenzspionage stellt eine zusätzliche Herausforderung für die Abwehrarbeit dar. Aufgrund der Konzentration innovativer Firmen und leistungsfähiger wissenschaftlicher Einrichtungen in Baden-Württemberg standen die hiesige Wirtschaft und Wissenschaft auch 1999 wieder im Mittelpunkt des nachrichtendienstlichen Ausforschungsinteresses. Hervorzuheben ist die besondere Bedeutung der modernen Informationsund Kommunikationstechnik, die sowohl Zielobjekt als auch vielfältiges Hilfsmittel der Spionage sein kann. Das Beschaffungsverhalten der Krisenländer105 bei embargogeschützten Gütern unterliegt einem anhaltenden Wandel. Die restriktiven Ausfuhrbestimmungen der Industriestaaten führen zum Aufbau veränderter Beschaffungswege für proliferationsrele105 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird 201 106 vante Güter. Es besteht die Gefahr, dass Schwellenländer107, mit denen Deutschland umfangreiche Handelsbeziehungen pflegt und enge Kooperationen im Bereich Forschung und Entwicklung unterhält, in die Kette der Umwegbeschaffung eingebunden werden. 1.2 Schwerpunkte der Abwehrarbeit Das Jahr 1999 stand im Zeichen der präventiven Spionagebekämpfung. Herausragendes Ereignis war das unter dem Motto "Spionageabwehr - ein Beitrag zur Sicherung des Technologiestandorts Baden-Württemberg" ausgerichtete Symposium am 24. Juni 1999 in Stuttgart (s.u. 2.4). Außerdem gelang es durch intensive Zusammenarbeit mit Industrieverbänden, Selbstschutzeinrichtungen der Wirtschaft, international tätigen Consultingfirmen sowie Spezialisten auf dem Gebiet der Unternehmenssicherheit die vielfältigen Aspekte der Prävention an wichtige Multiplikatoren heranzutragen. Als besondere Erfolge der operativen Spionageabwehr sind hervorzuheben: Gewinnung weiterführender Informationen über die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel durch fremde Nachrichtendienste weitere Aufklärung von Tarnpositionen russischer Geheimdienste im Wirtschaftsbereich Erhärtung vorhandener Verdachtsmomente hinsichtlich der Einbindung von Übersetzern und Dolmetschern in die Beschaffungsbemühungen fremder Staaten 106 Proliferation: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendbaren Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Know-how sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen 107 Relativ fortgeschrittene Entwicklungsländer, die aufgrund ihrer hohen wirtschaftlichen Eigendynamik beachtliche industrielle Fortschritte erzielen konnten und in ihrem Entwicklungsstand gegenüber den Industrieländern deutlich aufgeholt haben 202 * Erweiterung der Erkenntnislage über die Nutzung von Tarneinrichtungen, Tarnadressen und Transportwegen zur Umgehung von Ausfuhrbeschränkungen durch Krisenländer * Erlangung neuer Anhaltspunkte hinsichtlich der Verknüpfung von Organisierter Kriminalität und staatlich gelenkter Spionage 2. Daten, Fakten, Hintergründe 2.1 Ausforschungsbemühungen fremder Staaten Russische Föderation Auch 1999 war der höchste Anteil der festgestellten Spionageaktivitäten auf russische Dienste zurückzuführen. Weder die veränderten politischen Beziehungen noch massive wirtschaftliche Unterstützung durch den deutschen Staat vermochten diesen Umstand entscheidend zu beeinflussen. Innerhalb des russischen Staatsgefüges haben die Nachrichtenund Sicherheitsdienste ihre herausragende Position weiter gefestigt. Der hohe Stellenwert der Geheimdienste im politischen Machtzentrum Russlands wurde in den letzten Jahren bereits mehrfach am Karriereverlauf führender Funktionäre der Nachrichtendienste deutlich. Jewgenij Primakow, Sergej Stepaschin und der seit dem Jahreswechsel 1999/2000 als Interimspräsident der Russischen Föderation amtierende Wladimir Putin (mittlerweile gewählter Präsident) waren jeweils vor ihrer Ernennung zum Ministerpräsidenten Leiter eines Nachrichtendienstes. Primakow stand bis Anfang Januar 1996 an der Spitze des Auslandsnachrichtendienstes SWR, Stepaschin (Ende 1994 bis Juni 1995) und Putin (Juli 1998 bis August 1999) führten zeitweilig den Inlandsdienst FSB. Folgende Beispiele belegen die immer wieder festgestellten herausragenden Aktivitäten russischer Dienste im Bereich der Wirtschaftsaufklärung: 203 Ende Juli 1999 wurden in einem spektakulären Fall, der sich in Bayern und Niedersachsen zugetragen hat, zwei deutsche Staatsbürger wegen des Verdachts der Spionage für einen russischen Nachrichtendienst festgenommen. Peter S., Vertriebsund Projektleiter für Panzerabwehrwaffen bei der Tochterfirma eines in Baden-Württemberg ansässigen Weltkonzerns, soll Michael K., Inhaber einer Transportund Handelsgesellschaft, mit rüstungstechnischem Know-how aus seinem Arbeitsbereich beliefert haben, das von K. mutmaßlich an einen russischen Nachrichtendienst weitergeleitet wurde. S. bekleidete seit Mitte der 70er-Jahre verschiedene verantwortliche Positionen in waffentechnischen Bereichen des Konzerns. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand dürften finanzielle Gründe für den Verrat ausschlaggebend gewesen sein. Dieser Vorgang hat angesichts der Tatsache, dass Russland auch heute noch zu den weltweit führenden Rüstungsproduzenten und -exporteuren gerechnet wird, neben der militärischen vor allem auch eine wirtschaftliche Dimension. Er belegt zudem, dass die russischen Nachrichtendienste trotz modernster technischer Aufklärungsmöglichkeiten den wesentlich riskanteren Einsatz menschlicher Quellen keineswegs scheuen. In einem weiteren Fall versuchte ein bereits als Agent des ehemaligen sowjetischen Nachrichtendienstes KGB enttarnter russischer Staatsbürger mit einer Firma in Baden-Württemberg, deren Produktpalette auch High-Tech-Güter umfasst, in Geschäftskontakt zu treten. Aufgrund einer nach wie vor anzunehmenden nachrichtendienstlichen Anbindung wurde sein Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums abgelehnt. Zahlreiche Unternehmen in Baden-Württemberg unterhalten Geschäftsbeziehungen nach Russland. Die dort vorherrschenden Marktbedingungen erfordern besondere formelle und informelle Kontakte. Nicht selten bedienen sich westliche Firmen ortsansässiger Repräsentanten mit entsprechenden Sprachund Systemkenntnissen. 204 Die Verbindungen dieser Personen erstrecken sich meist nicht nur auf gesellschaftliche Bereiche und Institutionen der neuen staatlichen Ordnung, sondern reichen auch in fortbestehende Strukturen ehemaliger Geheimdienste und in die Organisierte Kriminalität hinein. Ein baden-württembergisches Großhandelsunternehmen hat vor einigen Jahren in Russland eine Niederlassung gegründet. Mit der Leitung wurde ein Offizier des früheren KGB betraut. Bei Personaleinstellungen hat er vorzugsweise Mitarbeiter seines ehemaligen Dienstherrn berücksichtigt. Krisenländer Krisenländer des Nahen und Mittleren Ostens, wie z.B. der Iran und der Irak, bemühen sich auch weiterhin, ihr militärisches Arsenal mit Vehemenz auszubauen und gleichzeitig die rüstungstechnische Abhängigkeit vom Ausland zu vermindern. Konsequenterweise interessieren sie sich vor allem für Rüstungsgüter, Dual-useTechnologien108 und Know-how aus dem Konstruktionsbereich. Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen stellt ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Sobald Machthaber in totalitären politischen Systemen über weiterreichende Raketen verfügen, wird grundsätzlich auch Deutschland dieser Bedrohung ausgesetzt sein. In die Beschaffungsstrukturen für proliferationsrelevante109 Güter werden von den fremden Nachrichtendiensten Handelsfirmen und Vertriebsgesellschaften einbezogen, die großteils im deutschsprachigen Raum ansässig sind. Zur Verschleierung des eigentlichen Hintergrunds werden Embargogüter durch eine Reihe separater, für sich genommen unverdächtiger Einzelaufträge ("Kettengeschäfte" oder "Auftragssplitting") beschafft. Häufig werden solche Warensendungen über Drittländer geleitet. Die Deklarierung bisher nicht einschlägig in Erscheinung getretener Firmen in diesen Staaten als angebliche Endnutzer dient der zusätzlichen Tarnung. 108 Produkte, Verfahren und Ausrüstungen mit zivilen und militärischen Einsatzmöglichkeiten 109 s. Fußnote 106 auf S. 202 205 Zu Jahresbeginn 1999 trat ein Student aus Nahost an einen Entwicklungsingenieur eines baden-württembergischen Unternehmens der Nachrichtentechnik heran und bat um Überlassung wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Von der Adresse des Studenten konnte abgeleitet werden, dass sich an seinem Wohnort Entwicklungseinrichtungen für satellitengestützte Navigationsanlagen befinden. Ein nachrichtendienstlicher Hintergrund und die Absicht einer entsprechenden Verwendung der Unterlagen erscheinen naheliegend. Beachtenswert ist das besondere Interesse dieses Studierenden an weitergehenden wissenschaftlichen Ausarbeitungen und sein Bestreben, den persönlichen Kontakt zu dem Entwicklungsingenieur zu vertiefen. Die geschilderte Verfahrensweise bei der Beschaffung von Forschungsergebnissen entspricht einer klassischen nachrichtendienstlichen Methode. Bei den angeforderten Unterlagen handelte es sich um bereits veröffentlichte Forschungsberichte. Wissenschaftler werten das Interesse an ihren Publikationen oft ausschließlich als positive Resonanz auf ihre Tätigkeit und sind insofern gegenüber interessierten Außenstehenden besonders aufgeschlossen. Dabei übersehen sie, dass derartige Kontaktaufnahmen - insbesondere aus Krisenländern - den Auftakt für einen Informationsaustausch mit nachrichtendienstlichem Hintergrund bilden können. Nachfolgender Fall zeigt das systematische Vorgehen dieser Länder bei der Umgehung von Ausfuhrkontrollen in exemplarischer Weise auf: Ein Staatsangehöriger eines Krisenlandes, der einerseits als wissenschaftlicher Mitarbeiter eines dortigen Forschungsinstituts und andererseits als Geschäftsführer einer in diesem Land ansässigen und in die nachrichtendienstliche Beschaffungskette eingebundenen Firma auftritt, steht zu mehreren Firmen im Bundesgebiet, u.a. zu High-Tech-Unternehmen in BadenWürttemberg in Kontakt. Er versuchte im Namen seiner Firma Komponenten zu beschaffen, die zusammen geeignet sind, die 206 Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu fördern. Die der Ausfuhrgenehmigungspflicht unterliegenden Güter sollten über Umwege an den eigentlichen Bestimmungsort ins Krisenland geliefert werden. Sowohl das wissenschaftliche Institut als auch die Firma stehen im Verdacht, in proliferationsrelevante Beschaffungsaktivitäten eingebunden zu sein. Volksrepublik China China ist bestrebt, Wirtschaft, Wissenschaft und Militärtechnik möglichst schnell auf den Stand moderner Industrieländer zu bringen. Dieses ehrgeizige Ziel wird auch unter Einbeziehung der Geheimdienste verfolgt. Die Aufklärungsaktivitäten gehen von Legalresidenturen110, (angeblichen) Journalisten, Wirtschaftsdelegationen sowie Firmen mit chinesischer Beteiligung aus. Daneben nutzen die Dienste qualifizierte Studenten, Doktoranden, Wissenschaftler und Dienstleister, um relevante Informationen aus den Forschungsund Entwicklungsbereichen von Unternehmen, Universitäten und wissenschaftlichen Instituten zu sammeln. Das nachrichtendienstliche Interesse an der Wirtschaft unterstreicht folgender Sachverhalt: Der Inhaber eines baden-württembergischen High-TechUnternehmens wurde aufgrund seiner wissenschaftlichen Qualifikation mehrfach als Referent zu Vorträgen nach China eingeladen. Dort wurden für ihn auch Begegnungen mit hochrangigen Funktionsträgern arrangiert. Überdies bot man ihm eine Professur an einer renommierten chinesischen Universität an. Im Verlauf der Kontakte stellte sich heraus, dass das eigentliche Interesse einer seiner Entwicklungen im Bereich der Raketentechnik galt. 110 Abgetarnte Stützpunkte fremder Nachrichtendienste in den offiziellen Vertretungen (insbesondere Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen) des Auftraggebers im Operationsgebiet 207 Der Fall ist typisch für die langfristig angelegte und psychologisch einfühlsame Vorgehensweise chinesischer Nachrichtendienste. Interessante Zielpersonen werden in verschiedenster Weise "hofiert". Beim Aufbau von Geschäftsbeziehungen räumt man ihnen bürokratische Hindernisse großzügig aus dem Weg. Neben der Wirtschaftsspionage zählt vor allem die Überwachung und Beeinflussung der Auslandschinesen, insbesondere der Dissidentengruppen, zu den Schwerpunktaufgaben der geheimdienstlichen Arbeit. 2.2 Spionage im Wandel Spionage - ein wirtschaftsstrategisches Instrument? Derzeit gehen die Meinungen über die Einschätzung der Risiken durch Spionage weit auseinander. Die einen betrachten sie als ein mittlerweile zu vernachlässigendes Problem, andere sehen in ihr noch immer eine ernste Bedrohung der staatlichen Sicherheit. Ähnlich breit gefächert sind die diversen Aussagen zu den dadurch entstehenden Schäden. Langfristige Analysen lassen den Schluss zu, dass vor allem die Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage die internationale Konkurrenzfähigkeit der heimischen Industrie beeinträchtigt. Ist Spionage also ein bedeutsamer Faktor im Kalkül heutiger Wirtschaftspolitik? Betrachtet man den immensen Stellenwert der wirtschaftlichen Stärke für die Positionierung von Staaten im Weltgefüge sowie den personellen und technischen Aufwand, der in einzelnen Staaten getrieben wird, um an wettbewerbsbestimmendes Wissen zu gelangen, muss diese Frage eindeutig bejaht werden. Die weltweit vor allem bei großen Industrienationen zu beobachtenden Initiativen zum Schutz ihrer Wirtschaft vor Spionageangriffen unterstreichen dies. Während in Deutschland die Verletzlichkeit des "Rohstoffs" Information durch Spionage und die daraus entstehenden Folgen noch nicht ausreichend im Bewusstsein verankert sind, rüstet man sich in Frankreich bereits für einen "Wirtschaftskrieg". An einer eigens für diesen Zweck eingerichteten Schule wird den Kursteilnehmern systematisch das Know-how zur offensiven Informationsgewinnung und für entsprechende Abwehrmaßnahmen vermittelt. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass sich fremde Staaten illegal Wettbewerbsvorteile auf den Weltmärkten verschaffen. Die 208 USA verfügen mit dem Economic Espionage Act von 1996 über ein spezielles Gesetz gegen Wirtschaftsspionage, das drastische Strafen vorsieht und eine weite Begriffsdefinition beim Tatbestand "Diebstahl von Handelsgeheimnissen" zulässt. Risiken der Globalisierung Die Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (Unctad) schätzt, dass sich mittlerweile 60.000 Unternehmen mit über 500.000 Tochtergesellschaften transnational betätigen. Das weltweite Engagement solcher Konzerne oder Unternehmensgruppen mit dezentralen Strukturen bietet Spionageorganisationen interessante neue Ansatzpunkte für ihr Handeln. Zugriffsmöglichkeiten auf modernstes Know-how bestehen nicht mehr nur an heimischen Standorten, sondern auch international. In der Vergangenheit ist verschiedentlich deutlich geworden, dass Nachrichtendienste gezielt bei Produktionsstätten oder Kooperationspartnern im Ausland angesetzt haben, weil dort häufig weniger strenge Sicherheitsvorschriften bestehen bzw. solche laxer gehandhabt werden. Erweiterte Möglichkeiten des Angriffs auf Informationsund Kommunikationssysteme verschärfen die Situation zusätzlich. Informationsund Kommunikationstechnik - ein Brennpunkt der Spionage Für global ausgerichtete und arbeitsteilig organisierte Unternehmen ist die intensive Nutzung leistungsfähiger Informationsund Kommunikationssysteme unverzichtbar. Der Einsatz sowohl lokaler als auch weltumspannender Datennetze hat in fast allen Bereichen sprunghaft zugenommen. Damit hat sich auch die Risikovielfalt deutlich erhöht. Mit dieser Entwicklung hält allerdings das Sicherheitsbewusstsein häufig nicht Schritt. Schutzvorkehrungen weisen nicht zuletzt deshalb Lücken auf, weil oft integrierte Gesamtkonzepte fehlen. Obwohl zumindest hierzulande noch keine spektakulären Fälle von Datenspionage fremder Nachrichtendienste bekannt geworden sind, geben Vorkommnisse in anderen Ländern Grund zur Annahme, dass auch Geheimdienste die Schwachstellen der vernetzten Computertechnik gezielt ausnutzen, um an sensible Informationen zu 209 gelangen. Presseberichterstattungen zufolge soll das amerikanische Verteidigungsministerium etwa ein Jahr lang Ziel eines der größten "Cyber-Angriffe" gewesen sein. Besonders schwierig - und das kann in solchen Fällen als symptomatisch gelten - gestalteten sich die Ermittlungen zur Identifizierung der Täter. Im konkreten Fall sollen Spuren nach Russland zurückverfolgt worden sein. Zu dem im Jahresbericht 1998 ausführlich beschriebenen elektronischen Aufklärungssystem Echelon (Betreiber: USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland) sind mittlerweile neue Einzelheiten bekannt geworden. Im März 1999 hat der Leiter des für die Fernmeldeaufklärung zuständigen australischen Nachrichtendienstes in mehreren Briefen an die Redaktion des TV-Senders "Channel 19" nicht nur die Existenz von Echelon bestätigt, sondern auch Einblicke in die Arbeitsweise des australischen Teils gegeben. Die USA haben zwischenzeitlich den vor allem im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten von Echelon erhobenen Vorwurf, sie würden aus einer Anlage der National Security Agency (NSA) in Bad Aibling oder sonstigen US-Diensten zugeordneten Einrichtungen im Bundesgebiet Spionage gegen Deutschland betreiben, vehement bestritten und dabei nachhaltig betont, dass sich die Aktivitäten der US-Dienste in Deutschland weder gegen deutsche Interessen richteten noch gegen deutsche Gesetze verstießen. In Anbetracht der Erkenntnislage - Einzelheiten lassen sich u. a. den für die EU erarbeiteten Studien entnehmen - wird das Landesamt der technischen Spionage durch westliche Staaten jedoch auch weiterhin seine erhöhte Aufmerksamkeit widmen. Den hohen Nutzwert präventiver Maßnahmen veranschaulicht nachfolgender Sachverhalt: Ein baden-württembergisches Unternehmen, das u.a. HighTech-Produkte mit wehrtechnischer Relevanz herstellt, hat zum Schutz seiner betrieblichen Informations-Infrastruktur gegen externe Hacker-Angriffe eine Firewall installiert. In den ersten Monaten nach der Inbetriebnahme wurden täglich bis zu 20 Eindringversuche von Unbefugten festgestellt. 210 Dieser Fall macht deutlich, dass Angriffe auf DV-Systeme oft erst erkannt werden, nachdem präventive Vorkehrungen ergriffen worden sind. Entsprechende Schutzmaßnahmen sollten daher im Gesamtkonzept der Unternehmenssicherheit hohe Priorität genießen. 2.3 Neue Wege der Spionageabwehr in Baden-Württemberg Um angesichts einer zunehmend multipolar geprägten Weltordnung und ständiger Verfeinerungen in der Vorgehensweise fremder Dienste den Spionagegefahren in Zukunft noch besser begegnen zu können, hat sich das Landesamt entschlossen, "ausgetretene Pfade" zu verlassen. So wurden die bislang eher vereinzelt unterhaltenen Kontakte zu wissenschaftlichen Einrichtungen, international tätigen Unternehmensberatungen, Journalisten und Fachzeitschriften gezielt ausgebaut sowie inhaltlich und qualitativ den gestiegenen Anforderungen angepasst. Dadurch ist es der Spionageabwehr gelungen, das unzureichende Informationsaufkommen unmittelbar aus der Wirtschaft teilweise zu kompensieren, den Praxisbezug der eigenen Arbeit weiter zu verbessern und das Know-how des Verfassungsschutzes an wichtige Multiplikatoren weiterzugeben. Mit einer intensiven Presseund Öffentlichkeitsarbeit sowie einer zielgruppenorientierten Sensibilisierung von Entscheidungsträgern in gefährdeten Bereichen soll auch dem Dienstleistungsgedanken in Zukunft noch stärkere Beachtung geschenkt werden. Ein Nachholbedarf besteht vor allem bei kleineren und mittelständischen Unternehmen sowie bei neu gegründeten Firmen, bei denen das Sicherheitsbewusstsein in weiten Bereichen unzureichend ausgeprägt ist. Hier kommt es vor allem darauf an, Notwendigkeit und Nutzen von Schutzmaßnahmen zu verdeutlichen und damit den Weg für konzeptionelle Vorgehensweisen zu ebnen. Die bisherige Resonanz beweist ein beachtliches Interesse an der Thematik. 2.4 Symposium "Spionageabwehr - ein Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg" Am 24. Juni 1999 wurde von der Landesregierung zusammen mit dem Industrieund Handelskammertag unter Beteiligung des Landesamts für Verfassungsschutz ein 211 Symposium zur Spionageabwehr veranstaltet. Das Ziel der Veranstaltung bestand darin, die Aufmerksamkeit der rund 200 Tagungsteilnehmer aus Politik, Industrie, Handwerk und öffentlicher Verwaltung auf die permanente Gefahr der Ausspähung von Wirtschaft und wirtschaftsnaher Bereiche (z.B. der universitären Forschung) zu lenken. Eine begleitende Ausstellung nachrichtendienstlich relevanter Technik konnte unter Beteiligung des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) präsentiert und erläutert werden. Politisches Konzept Die Landesregierung hat in der Koalitionsvereinbarung von 1996 die "verstärkte Bekämpfung der Industrieund Werksspionage" zu einer bedeutenden Aufgabe und damit zu einem integralen Bestandteil des Konzepts der Inneren Sicherheit für die Hochtechnologie-Region Baden-Württemberg erklärt. Die Tagung war als Initialzündung für eine neue Phase der Kooperation von Staat und Wirtschaft angelegt und vor allem auf mittelständische Unternehmen ausgerichtet. Kernaussagen Das Thema Wirtschaftsspionage/Informationsschutz wurde von Innenminister Dr. Thomas Schäuble, von Wirtschafts-Staatssekretär Dr. Horst Mehrländer und von Referenten der IHK, des Landesamts für Verfassungsschutz sowie der Wirtschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Einigkeit bestand darüber, dass dieses akute Problem ein gemeinsames und entschlossenes Handeln erforderlich macht. Der Innenminister betonte in seiner Ansprache, dass Spionage nicht nur den unmittelbar betroffenen Unternehmen, sondern der gesamten Wirtschaft und somit dem Industriestandort Baden-Württemberg enormen Schaden zufügen könne. Er verband mit dieser Veranstaltung vor allem die Erwartung, dass sich der Informationsaustausch zwischen Wirtschaft und Sicherheitsbehörden des Landes verbessern und verfestigen möge. Als geeignete Plattform hierfür regte er ein Gremium aus hoch212 rangigen Vertretern der Wirtschaft, der Kammern, der Sicherheitsverbände, des Innenund Wirtschaftsministeriums sowie des Landesamts an. Der Leiter der Spionageabwehr des Landesamts für Verfassungsschutz zeigte in seinem Referat das breit gefächerte Risikospektrum, die Fortentwicklung der Spionagetechniken und die Aktivitäten derjenigen Länder auf, die gegen Deutschland Aufklärung betreiben. Zwei Vertreter namhafter Unternehmen beleuchteten das Problem der Wirtschaftsspionage aus der Sicht der betrieblichen Praxis. Sie bezeichneten den Schutz von strategischem Wissen als unverzichtbare Voraussetzung für wirtschaftliche Erfolge. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass neben dem konsequenten Ausbau der gewerblichen Schutzrechte nur die nüchterne Beurteilung der wirklichen Gefahren, die dem jeweiligen Unternehmen in seiner spezifischen Marktstellung drohen, Ansatz eines erfolgversprechenden Informationsschutzes sein könne. Resonanz Das lebhafte Medienecho war Beweis dafür, dass an der Thematik großes Interesse besteht. Die vom Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüren "Wirtschaftsspionage - die gewerbliche Wirtschaft im Visier fremder Nachrichtendienste" und "Schutz vor Spionage - ein praktischer Leitfaden für die gewerbliche Wirtschaft" wurden vermehrt angefordert. Als Folge des Symposiums gab es auch lebhafte Reaktionen aus der Wirtschaft. Dabei handelte es sich in erster Linie um * Inanspruchnahme von Beratungsleistungen Baden-württembergische Unternehmen haben von dem Angebot kostenloser Beratungsleistungen des Landesamts auf dem Gebiet des Wirtschaftsschutzes regen Gebrauch gemacht. Besonderer Bedarf bestand auf dem Sektor ITSicherheit. 213 * Einladungen zu Fachvorträgen Industrieund Unternehmensverbände nutzen auch insoweit das Angebot der Spionageabwehr und fordern zunehmend Referenten zu ausgewählten Themen an. * Hinweise auf Verdachtsfälle Das Hinweisaufkommen aus der Wirtschaft ist 1999 leicht angestiegen. Es ist zu hoffen, dass als Folge der Intensivierung der Kontakte zwischen Spionageabwehr und Wirtschaft Verdachtsfälle künftig seltener in "Eigenregie", sondern gemeinsam mit dem Landesamt fachkundig bearbeitet werden. Dies kommt letztlich der gesamten Wirtschaft zugute. Die Veranstaltung ist auch im übrigen Bundesgebiet auf große Aufmerksamkeit gestoßen und hat bereits zu vergleichbaren Initiativen geführt. Es kann erwartet werden, dass die länderübergreifende Kooperation auf diesem Sektor weiter verbessert wird. Sicherheitsforum Baden-Württemberg - die Wirtschaft schützt ihr Wissen" Die im Rahmen des Symposiums vorgetragene Anregung, die Sicherheitspartnerschaft zwischen Wirtschaft und Staat zu institutionalisieren, wurde von allen Seiten positiv aufgenommen. Am 28. September 1999 konstituierte sich ein Gremium, das die aktuelle Situation analysieren und daraus konkrete Empfehlungen ableiten soll. Die Besonderheit des Sicherheitsforums besteht darin, dass sich Staat und Wirtschaft gemeinsam um die Festlegung der "Spielregeln" ihrer Zusammenarbeit bemühen und dabei auch unkonventionelle Ideen entwickeln wollen. Ziel ist, Wirtschaft und Wissenschaft in Baden-Württemberg für die Problematik zu sensibilisieren und künftig eine aktuellere und umfassendere Hilfestellung beim Schutz ihres Know-how anbieten zu können. 214 3. Ausblick Die veränderte Weltlage nach dem Ende des Kalten Krieges und die vielfältigen Auswirkungen des Informationszeitalters verlangen von den Abwehrdiensten eine grundsätzliche Neuorientierung. Tief greifende und voraussichtlich noch längere Zeit anhaltende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen rund um den Globus lassen erwarten, dass für die nachrichtendienstliche Spionage keine Entwarnung gegeben werden kann. Ferner dürften die Rahmenbedingungen für die Abwehr von Wirtschaftsspionage in der Zukunft noch schwieriger werden. Angesichts solcher Perspektiven kommen einer leistungsfähigen und auf hohem technischen Niveau agierenden Spionageabwehr sowie einer effektiven Prävention ein steigender Stellenwert zu. 4. Erreichbarkeit Wenn Sie Hinweise/Anregungen geben wollen oder selbst Informationsbedarf haben, wenden Sie sich an das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Abteilung 4 Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart Telefon 0711/95 44 00 Telefax 0711/95 44 44 4 Über ein Vertrauliches Telefon können Sie der Spionageabwehr unter der Rufnummer Telefon 0711/9 54 76 26 Fax 0711/9 54 76 27 215 rund um die Uhr Mitteilungen - auch anonym - übermitteln. Weitere Informationen können im Internet unter http://www.baden-wuerttemberg.de/verfassungsschutz abgerufen werden. 216